Lenin hat uns einen Staat gegeben und wir haben ihn versaut.
J. W. Stalin
Sieh dir den gut an. Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel. Ein sehr russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert. Aufgeben wird er nie.
Rosa Luxemburg zu Clara Zetkin
(Die Pariser Kommune hat gezeigt), dass selbst die Redlichsten, könnten sie die Macht ausüben, den Schurken ähnlich werden, die sie einst bekämpften.
Louise Michel, Teilnehmerin an der Pariser Kommune 1871, die daraufhin Anarchistin wurde
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Russen, die ich seit 25 Jahren unausgesetzt, und nicht nur deutsch, sondern französisch und englisch bekämpft habe, immer meine „Gönner“ waren.
Karl Marx, Brief an Kugelmann, 12. Oktober 1868
Diktaturen sind fatalerweise bei all ihren Unternehmungen zu Übertreibungen gezwungen.
Charles de Gaulle
Heuer vor 100 Jahren, am 21. Januar 1924, starb der Genosse Lenin. Ein großes Rauschen im Blätterwald habe ich diesbezüglich nicht vernommen. Vielleicht liegt das an mir … oder daran, dass erst 2017 das Hundertjahresjubiläum der Oktoberrevolution und 2020 der hundertfünfzigste Geburtstag Lenins gewesen ist; Ereignisse, die dann doch entsprechend gewürdigt worden sind, etliche neue Bücher erschienen sind und einiges in die Debatte geworfen wurde? Dabei war auf jeden Fall Lenin vielleicht die wichtigste politische Gestalt im ganzen 20. Jahrhundert. Ohne Lenin wäre Russland wohl kaum kommunistisch geworden bzw. die Sowjetunion hervorgegangen. Ohne die Sowjetunion hätte es den kommunistischen Ostblock nicht gegeben, und es wäre wohl auch China nicht kommunistisch geworden (und auch nicht andere Länder in Asien). Die Frontstellung zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt – und der „blockfreien“ Welt im großen Dazwischen – bildete wohl die definierende Achse des letzten Jahrhunderts. Einige Historiker wollen sogar auf ein „kurzes 20. Jahrhundert“ blicken, dass sich von 1917 bis 1989/91 erstreckt habe. Der Kommunismus, in Form der Sowjetunion, hat im 20. Jahrhundert den Faschismus besiegt. Aber wäre es ohne den Kommunismus überhaupt zum Faschismus gekommen? Hätte Hitler, wenn er an die Macht gekommen wäre, sich nach Osten gewandt; und wenn, hätte er es in Form eines gnadenlosen Vernichtungsfeldzuges getan, wenn es dort kein „Bollwerk des Bolschewismus“ gegeben hätte? Hätten die imperialistischen Länder ihre Kolonialreiche aufgegeben, wenn die Sowjetunion (und Rotchina) nicht gewesen hätte? Hätten die entwickelten kapitalistischen Länder vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Sozialsysteme ausgebaut und eine „sozialdemokratische“ Politik des Ausgleichs zwischen Arbeit und Kapital verfolgt, wenn nicht der Schatten der Sowjetunion über ihnen gelegen wäre? Wäre die Menschheit ins All vorgedrungen: mit dem Russen Juri Gagarin 1961 als ersten Menschen im All und dem Amerikaner Neil Armstrong als ersten Menschen am Mond 1969? Würde es das Internet geben, das ursprünglich zu Verteidigungszwecken entwickelt worden war? Vielleicht wäre das alles passiert, vielleicht auch nicht, wahrscheinlich aber zumindest in erheblich anderer Form. Was ist am Beispiel der Sowjetunion außerdem mit dem Kommunismus und der Idee des Kommunismus geschehen, stellt sich die Frage? War die Sowjetunion eine Pervertierung der Idee des Kommunismus, oder dessen triumphale Erfüllung, oder Übererfüllung? War der spezifische sowjetische Kommunismus einer, der eine solche Form aufgrund der Geschichte des Landes annehmen musste, oder aufgrund der Besetzung bestimmter Positionen mit bestimmten Personen? Oder wäre es auch anders gegangen, hätte er deutlich andere Formen annehmen können? War der Kommunismus in einem rückständigen Land wie Russland eine Bestätigung für die Marxsche Vision, dass ein Land erst eine Phase des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie durchlaufen müsse, um „reif“ für den Sozialismus zu werden? Oder eine Bestätigung dafür, dass nur „rückständige“ Länder, in denen beides kaum vorhanden ist, zum Sozialismus/Kommunismus überhaupt gravitieren, nicht aber entwickelte Industrieländer? War der Sozialismus in all diesen Ländern hauptsächlich als Sozialismus gedacht, oder als Politik der Entwicklung des jeweiligen Landes, mithin also eine „Entwicklungsdiktatur“? Inwieweit muss die Geschichte (und Mentalität) eines ganzen Landes betrachtet werden, um den Sozialismus, in vielen seiner Aspekte zumindest, als ein Element der Kontinuität oder der Diskontinuität begreifen – in dem Fall also die Geschichte Russlands und die spezifischen Gegebenheiten in Russland? War er, der sich als Endziel der menschlichen Geschichte sieht, etwas das dann doch nur innerhalb von Zeit und Raum auftut, und dann endgültig verschwindet, wenn sich die Zeiten und die Räume ändern? Oder waren die kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts Vorboten, Inseln, eines großen, weltumspannenden Sozialismus, einer Weltrevolution, die nach wie vor in der Zukunft verborgen liegt? All diese Fragen führen (neben Marx und Engels selbst) im 20. Jahrhundert auf einen einzigen Menschen zurück: auf Vladimir Iljitsch Lenin.
Die genauen Ursprünge Russlands und aus welchem Volk die späteren Russen genau hervorgegangen sind, liegen letztendlich im Dunklen. Daher ist der Ursprung Russlands tatsächlich ein wenig „mystisch“. Russland war ab dem 9. Jahrhundert eine lockere Vereinigung ostslawischer Stämme, die vor allem in der heutigen Ukraine beheimatet waren („Kiewer Rus“). Es war bereits damals ein Vielvölkerreich und seine lose Verbundenheit führte zu Reiberein und Konflikten zwischen einzelnen Fürstentümern. Das machte es für die Mongolen leichter, im 12. Jahrhundert Russland zu überrennen. Die mongolischen Herrscher wurden erst gut 250 Jahre später (1472) vom Moskauer Großfürsten Iwan dem Großen entscheidend geschlagen und vertrieben. Die Epoche des „tatarischen Jochs“ gilt vor allem im 13. Jahrhundert als „dunkle Zeit“ Russlands. Russlands Sorge über seine tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit, vor allem gegenüber Westeuropa, die bis heute Züge einer kollektiven Neurose trägt, hat darin ihren Ursprung. Tatsächlich war Russland von Westeuropa und den Entwicklungen dieser Zeit abgeschnitten. Allerdings war das mongolische Imperium nicht nur dumpf und rückständig gewesen. Neben seinem militärischen Genie war das Mongolenreich ein gut funktionierendes Handelsimperium mit effizienter Verwaltung, Steuererhebung und Rechtsprechung (was Russland leider so nie nachmachen konnte). Als überdimensionale Gestalt tritt erstmals nach der Mongolenherrschaft Iwan der Schreckliche (1530-1584) auf. Er begründete das Zarentum und einen radikalen Expansionskurs. Russland hat keine natürlichen Grenzen und ist flaches Land, in das ausländische Heere leicht einfallen können. Eingeklemmt zwischen Europa und Asien wurde es immer wieder zum Spielball fremder Mächte. Russland ist bis heute keine Seemacht, da es keinen (besonders privilegierten) Zugang zum Meer hat. Also versuchte es sich als Landmacht zu konstituieren und seine Grenzen vom Zentrum Moskau weg möglichst weit hinauszuschieben, um es auf diese Weise uneinnehmbar zu machen. Iwan der Schreckliche drang im Osten bis zum Ural vor, nach Süden Richtung Kaspisches Meer und nach Norden zum Polarkreis. In den folgenden Jahrhunderten drangen die Russen über den Ural hinaus in die grenzenlosen Weiten Sibiriens bis schließlich zur Pazifikküste (die Unterwerfung der dort lebenden Völker erfolgte oftmals brutal). Im Inneren stellt sich so bis heute das Problem, wie man ein so riesiges, zu erheblichen Teilen unwirtliches Territorium (und Vielvölkerreich) effizient verwalten könnte. Das Russland des Mittelalters hatte wenig große Städte, kein Bürgertum, keine Universitäten und öffentliche Schulen, es hatte keine Fürstenhöfe (die Kultur und Handel und anderes mehr hätten fördern können), und es hatte keinen Anteil an den maritimen Entdeckungen und den Erfindungen, die damals in anderen Teilen der Welt gemacht wurden. Der Zar hatte Übermacht über die Adeligen, die Bojaren, denen er Lehen und Vermögen nach Gutdünken auch wieder entziehen konnte (ein Muster, das sich heute zwischen dem Präsidenten Putin und den Mitgliedern seiner Regierung bzw. den Oligarchen fortsetzt). Die Innovativität Westeuropas beruhte dabei aber sehr wesentlich auf der beschränkten Reichweite seiner Machtzentren und ihrer Konkurrenz untereinander (bzw. ihrer Freiheit gegeneinander). Innovative Köpfe, die von ihrem Fürsten nicht wohlgelitten waren, konnten sich an einen anderen wenden, der aufgeschlossener war. In Russland (im Osmanischen Reich, in den Kalifaten, in China etc.) gab es diese Möglichkeit nicht. Darüber hinaus war bereits das mittelalterliche Westeuropa „demokratischer“ als Russland, ein Top-Down Feudalsystem, in dem die Leibeigenschaft erst Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Zudem war in Russland die christlich orthodoxe Kirche übermächtig. Während des tatarischen Jochs hatte sie als spirituelles Refugium und Platzhalter für eine russische kulturelle Identität gedient und gedeihte auch darüber hinaus in einem diesbezüglichen relativen kulturellen Vakuum, aus dem heraus ihr wenig Konkurrenz erwuchs. Vor allem nach dem Untergang von Byzanz und dem Fall von Konstantinopel begriff sich Russland als Fortsetzer und Bewahrer der orthodoxen Idee und Religion im Weltmaßstab – und also als „spirituelle“ Macht mit einem spirituellen Weltauftrag. Katharina die Große träumte davon, bis zum ehemaligen Konstantinopel vorzustoßen (nicht allein aus spirituellen Gründen, sondern weil das Russland auch den ersehnten direkten Zugang zum Mittelmeer verschafft hätte). Iwan der Schreckliche war ein intelligenter und vorausschauender Herrscher, der aber auch misstrauisch war und unter starken Stimmungsschwankungen litt. Bereits an ihm zeigte sich, dass ein einzelner Herrscher einem ganzen Reich recht ungefiltert seinen Stempel aufdrücken konnte. Gewalt und Grausamkeit setzte er gleichsam nicht allein gezielt als Herrschaftsmittel ein, sondern wurde auch irrational von ihnen übermannt. Der Legende nach hat er seinen eigenen Sohn im Affekt erschlagen, und sich und Russland somit eines klaren Thronfolgers beraubt. So kam es nach dem Ableben Iwans des Schrecklichen zu drei Jahrzehnten brutaler innerer Wirren und Hungersnöten in Russland – und dem Eindruck, es bedürfe eines starken, gegebenenfalls „schrecklichen“ Herrschers und einer straffen Herrschaft, damit das Land nicht ins Chaos abgleite (Stalin, der sich als eine moderne Version von Iwan dem Schrecklichen sah, sollte Eisenstein – der Iwan in seinem Film charakterlich etwas weicher zeichnen wollte – belehren, dass Iwan „nicht zu schrecklich, sondern zu wenig schrecklich“ gewesen sei: Hätte er tatsächlich rücksichtslos seine „Feinde“ beseitigt, wären Russland die inneren Wirren nach seinem Tod erspart geblieben). Zar Peter der Große (1672 – 1725), ein genialer, aber auch rücksichtslos genialer Herrscher, war der nächste Titan in der Geschichte Russlands. Er gründete das Russische Reich und besiegte die damalige Großmacht Schweden im Großen Nordischen Krieg – Russland wurde damit selbst zur nordischen Großmacht in Europa. Er verfestigte auch die Kontrolle über die Ukraine. Peter war besessen davon, von Europa zu lernen, seine Innovationen zu übernehmen und Russland nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Er gründete als neue Hauptstadt Sankt Petersburg und rückte diese damit auch geographisch nahe an Europa heran. Peter förderte die Wissenschaften, die Künste, reformierte die Verwaltung und auch die Mode; und drang mit seinen Reformen tief in das Leben der Menschen ein. Mit seinem vulkanischen Reformergeist und seiner westlichen Orientierung überforderte Peter jedoch auch viele seiner Untertanen, die darin ihre kulturelle Eigenheit (oder ganz einfach nur ihre sich daraus ergebenden Machtpositionen) gefährdet sahen – und der Konflikt zwischen den „Slawophilen“ unter den Russen und den „Westlern“ ist bis heute ein virulenter. Vor allem aber war auch Peter ein Despot. Katharina die Große (1729 – 1796), die nächste überragende Gestalt in der Geschichte Russlands, war eine vorausschauende und bildungshungrige Frau; aber zu einem guten Teil auch eine reaktionäre Herrscherin und eine Imperialistin (sie war damit eine Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus, so wie einige ihrer westeuropäischen Konterparts auch). Unter ihr erfolgte die Eroberung des Krimkhanats und die Teilung Polens. Damit war Russland auch geographisch endgültig in Europa angekommen und nunmehr ein ständiger Mitspieler im Spiel und im Konzert der europäischen Großmächte. Die Geschichte Europas ist deswegen turbulent und bellizistisch, weil keine europäische Macht stark genug war, sich als eindeutiger Hegemon über den Kontinent zu etablieren, aber alle Mächte das versuchten, oder zumindest versuchten, ihre relative Position gegenüber den anderen zu verbessern – eine unendliche Aufgabe. Napoleon wollte für Frankreich die Weltherrschaft erobern, provozierte damit aber ständige Kriege, die selbst jemand wie er schließlich verlieren musste. Sein eigentlicher Kontrahent war England, das – damals wie heute – die Generallinie verfolgte, auf dem Kontinent keine Hegemonialmacht heraufkommen zu lassen, die England in seiner „splendid isolation“ (und seinem Empire) herausfordern könnte. Mit der Ausschaltung Österreichs und Preußens hielt sich Napoleon diesbezüglich den Rücken frei. Russland ließ sich jedoch dauerhaft nicht so leicht neutralisieren. So sah sich Napoleon gezwungen, aufs Ganze zu gehen, indem er Russland vollständig schlagen und Moskau einnehmen wollte. Das Jahr 1812, in dem die Russinnen mit einer Taktik der verbrannten Erde bis hin zur eigenständigen Vernichtung Moskaus die napoleonische Armee aushungerten, zermürbten und praktisch dezimierten und ihre Reste so sieglos wieder abziehen mussten, zählt zu den großen Fixpunkten in der russischen Gedächtniskultur, und ist ein gleichsam mythisch gewordenes Beispiel für einen Heroismus, der ins scheinbar Wahnsinnige gesteigert ist: deswegen aber eben auch triumphiert. Nach dem Niederringen Napoleons kam es zu einem Jahrhundert des „langen Friedens“ in Europa. Doch auch der kannte seine begrenzten, dennoch aber gewalttätigen und erschütternden Konflikte, wie den Deutsch-Französischen Krieg, oder eben den Krimkrieg, in dem Frankreich und England gegen Russland kämpften und ihm eine Niederlage beibrachten. Die Restauration nach dem Ausschalten Napoleons bedeutete auch eine Zementierung einer reaktionären Politik in den europäischen Ländern im Inneren. Die führte über kurz oder lang zu Unzufriedenheit bei den Bevölkerungen, die am durchschlagendsten in den bürgerlichen Revolutionen von 1848 zum Ausdruck kam. Bei Russland war es der verlorene Krimkrieg 1856, der endgültig die erheblichen Schwächen des Reiches offenlegte und bloßstellte. Wie in den westeuropäischen Ländern war es auch in Russland im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins, der Frage nach der eigenen Identität und der Gestaltung der eigenen Zukunft gekommen. Die Aufklärung, die Frage nach der Gestaltbarkeit der eigenen Geschichte und das Verständnis vom Bürger als Citoyen und nicht mehr bloß als feudalistischer Untertan hatte auch Russland erfasst. Denker, in Russland vor allem aber Dichter traten auf, und versuchten, die großen Fragen ihres Zeitalters zu verhandeln und schufen damit einen neuen, allumfassenden Rahmen für das Denken, das Empfinden und das allgemeine Problemverständnis. Russland hat diesbezüglich einen neuralgischen Punkt, in dem wesentliche Entwicklungen der Vergangenheit zusammenlaufen und von dem wesentliche Entwicklungen für die Zukunft ausgehen in der geistigen Gestalt Puschkins. Es waren im 19. Jahrhundert, und darüber hinaus, die großen Literaten, die Russland zu einem einheitlichen Selbstverständnis verhelfen wollten (und damit, wenngleich auf hochinteressante und charismatische Weise, gescheitert sind). 1825 verweigerten Offiziere den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I., aus Protest gegen das Zarenregime. Aus ihnen gingen die Dekabristen hervor. Die Dekabristen waren eine Art revolutionäre Bewegung (oder zumindest eine Vorstufe dazu), die auch geheimbündlerisch und im Untergrund tätig war, deren Ziel die Liberalisierung Russlands, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung des Zarentums (bzw. dessen Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie) war. Sie waren vorwiegend „westlich“ orientiert. Der Zar verfolgte die Dekabristen und verschärfte die Repressionen im ganzen Land – mit der Wirkung, dass sich weitere Teile der Bevölkerung vom Regime entfremdeten. Unter den Intellektuellen wurde es Mode, sich für das Bauerntum zu interessieren. Sie erhofften, im „unverfälschten“ russischen Bauerntum fündig zu werden, was das wahre, unverfälschte Russentum und die wahre russische Seele denn tatsächlich ausmache. Russische Sozialisten begannen die Hoffnung zu hegen, dass die bäuerliche Dorfgemeinschaft eine Keimzelle für einen Sozialismus der Zukunft sein könnte. Umso mehr hassten diese fortschrittlichen Geister die Leibeigenschaft, tatsächlich ein Symbol für die russische Rückständigkeit und den russischen Despotismus. Aus ihnen gingen die Narodniki („Volkstümler“) hervor, eine revolutionäre Bewegung mit sozialistischer Stoßrichtung, von denen schließlich viele Terroristen wurden. Aufgrund der Niederlage im Krimkrieg kam es unter Zar Alexander II. tatsächlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Alexander II. setzte auch eine umfangreiche Liberalisierung und Reformen in Gang, die jedoch den mittlerweile intransigenter gewordenen Revolutionären – zu denen nunmehr auch die „Nihilisten“ zählten, die sämtliche Autoritäten ablehnten – nicht weit genug gingen. Auch Alexander II. musste schwierige Balancen in seinem Reich der Ungleichzeitigkeit wahren, und vielfach stießen Reformvorhaben an die Grenzen der Machbarkeit. Der reformorientierte „Oswoboditel“ („Zar-Befreier“) wurde tragischerweise Opfer eines Anschlags einer revolutionären Geheimgesellschaft, Narodnaja Wolja. Das bekräftigte in seinen weniger weltoffenen Nachfolgern das Verständnis, dass liberale Reformen sowieso ein Irrweg wären, der nur noch größeren Schaden hervorrufe. Und so verschärften sie wiederum die Repression – was wiederum Revolutionären und Terroristen aller Art Auftrieb gab. Zwischen 1897 und 1917 sollten 17.000 Staatsvertreter, inklusive Ministern, Terroranschlägen zum Opfer fallen. Dennoch hatten selbst Antikommunisten im Ausland Verständnis dafür, dass das russische Repressionsregime Kommunisten und Terroristen ja offensichtlich in großer Zahl hervorbringen musste. Zugleich bliebt Russland auch ökonomisch rückschrittlich und fiel aus dem Rahmen der Zeit. Doch der Karren schien festgefahren. Für viele Russinnen und Russen, vor allem junge, lag daher ein Klima des revolutionären Denkens und Handelns in der Luft. In einem solchen Klima wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert also auch der derjenige Russe auf, der mit der Revolution dann tatsächlich Ernst machen sollte.
Wir haben die Mao-Zedong-Gedanken genutzt, um den Versuchungen einer weitgehend verpönten Attitüde zu unterliegen, der des Eurochauvinismus. Der Maoismus in seiner Geschichte und in seinen näheren und ferneren Ursachen ermuntert zu einem kritischen Blick auf die zahlreichen Dysfunktionalitäten Chinas, und auch die Dysfunktionalitäten Indiens und die kleinerer asiatischer Länder wie Kambodscha gerieten unter den Scheinwerfer. Ja, insofern der Maoismus auf globale Reichweite abzielte (auch wenn er darin meistens nicht erfolgreich war) gab uns das sogar die Möglichkeit, über Afrika und über Südamerika einige abfällige Bemerkungen fallen zu lassen! Russland ist nun sowohl eine europäische als auch eine asiatische Macht. Auch wenn es sich geographisch viel mehr nach Asien erstreckt, liegen sein Schwerpunkt, seine Ursprünge und die Mehrheit seiner Bevölkerung in Europa. Allerdings am Rand von Europa, und weit von den politischen Zentren Europas entfernt. Man könnte also sagen, dass Russland ein europäisch-asiatisches Hybrid ist, ein Bastard. Man könnte aber auch sagen, dass Russland weder asiatisch noch europäisch sei, sondern ein Gebilde für sich – das in seiner Unterbestimmtheit dann dazu tendiert, bestimmte seiner Bedeutungen und Inhalte immer wieder ins Überdimensionale aufzublähen, um sich so Halt und Selbstverständnis zu verschaffen: dass Russland von Natur aus also zu Übertreibungen neigt, die auf umso wackeligeren Beinen stehen. Russland versteht sich nicht als Land, sondern als Imperium, hat aber weder als Land noch als Imperium echte natürliche Grenzen, und kann daher schrumpfen oder anwachsen. Russland ist ein eigener Kulturraum, an und für sich eine eigene Zivilisation, ist aber auch von vielen anderen (stärkeren und ausformulierteren) Kulturen und Zivilisationen umgeben und in notwendigem Austausch, deren Einflüssen es zwar gerne nachgibt, sich aber auch gleichsam trotzig selbst zu behaupten versucht (Japan ist, so gesehen, auch eine Kultur und eine Zivilisation für sich, aber besser abgeschottet bzw. besser abschottbar). Russische Intellektuelle und Sozialisten des 19. Jahrhunderts hegten, wie erwähnt, eine große Faszination für die Bauern, in denen sie die Antwort auf die Frage nach dem echten, unverfälschten Russentum zu finden hofften. Auch wenn diese Annäherungsversuche in einzelnen Fällen gelangen, scheiterten sie auf der größeren Skala. Die russischen Bauern hatten, so konnten diese Gebildeten feststellen, zwar etliche liebenswerte und bewundernswerte Eigenschaften, aber auch solche, die sich zu jedem Intellektualismus und Liberalismus antithetisch verhielten. „Der russische Bauer blieb undurchdringlich“. Vielleicht ist er in dieser Eigenschaft tatsächlich die Seele Russlands. Russland hat immer wieder bedeutende Leistungen erbracht. Dabei gingen all diese Leistungen aber immer wieder mit irgendetwas Grotesken einher. Russland ist, in praktisch allen Aspekten, gleichzeitig stark und schwach zugleich. Insofern Russland all das ist, und dann auch wieder nicht, ist Russland vielleicht vor allem eines: ein Paradox. Das größte Paradox in der Welt. „A riddle, wrapped in a mystery, inside an enigma“, so charakterisierte Winston Churchill Russland (oder zumindest die Sowjetunion, als sie den Hitler-Stalin-Pakt abschloss). An einem Paradox beißt man sich letztendlich die Zähne aus. Was aber, wenn das Paradox dann doch auf einer relativ eindeutigen Grundlage beruht? Wie der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, hat Russland scheinbar endgültig seine dunkleren Seiten enthüllt, die man vorher vielleicht nicht so wahrgenommen hat. War das der fehlende Mosaikstein, der nun endlich einen tatsächlichen, widerspruchsfreien Blick auf ein ansonsten nicht ganz klares, bewegliches Ganzes bietet? Damals habe ein ich Interview mit einem ukrainischen Intellektuellen gelesen, der Russland als „Schatten“ Europas und der europäischen Aufklärung identifiziert hat. Das hätte ich vorher vielleicht nicht so ernst genommen und eine polemische Absicht dahinter vermutet. Aber vielleicht hat der ukrainische Intellektuelle recht: Dass also Russland weniger ein Hybrid ist, das Westeuropa halt ein wenig hinten nach ist, aber schließlich aufschließen wird und will, sondern ein negativer, unheimlicher Schatten, der die westeuropäischen Innovationen immer nur übernommen hat, indem er sie pervertiert hat – zu dem Zweck seiner eigenen Selbstbehauptung. („Zuerst lernen wir von den Europäern – dann schlagen wir ihnen die Tür vor der Nase zu“ – soll das eigentliche Vorhaben von Peter dem Großen gewesen sein.) Russland hat auf vielen Gebieten große kulturelle Leistungen erbracht. Wobei der größte nationale Schatz wohl die klassische russische Literatur ist. Die Einzigartigkeit der klassischen russischen Literatur, ihre ins Allumfassende ausgreifenden Dimensionen, haben ihre Grundlage darin, dass die Literatur das Trägermedium war, über das die großen Fragen der Zeit national ausgehandelt wurden – in Ermangelung anderer Kommunikationskanäle innerhalb der Gesellschaft. Sie ist die „seelenvollste“ unter allen Literaturen und die, die den größten metaphysischen Abgrund auftut. Aber weder eine Seele noch Metaphysik sind notwendigerweise etwas Rationales, und vor allem, wenn sie in einer ewigen Suche nach sich selbst sind, sollte man erwarten, dass sie das letztendlich eben nicht sind. Genauer betrachtet beschreibt die russische Literatur letztlich bis heute immer wieder groteske, gefährliche, traumatische Lebenswelten, in denen die Unvorhersehbarkeit und Unzuverlässigkeit regiert. Trotz ihres Genies waren die russischen Dichter(innen) immer wieder in auffälliger, jenseits der natürlichen Weltfremdheit des Poeten liegenden Weise nicht in der Lage, gut durchs Leben zu navigieren. Gogol hätte seine Toten Seelen als Trilogie geplant, bei der, gleich der Göttlichen Komödie von Dante, der erste Band die „Hölle“ der russischen Verhältnisse beschreibt, der zweite das Fegefeuer/den Läuterungsberg und der dritte das Paradies. Verfasst hat Gogol eben nur den ersten Band. Er, der von allen russischen Dichtern zu den plastischsten Darstellungen fähig war, sah sich nicht in der Lage, Russland jenseits des Höllenkreishaften zu beschreiben – offenbar, weil die russische Realität dafür zu wenig Anschauungsmaterial lieferte. Stattdessen erblickte Gogol in der „inneren Läuterung“ des Individuums den Generalschlüssel zur Erneuerung Russlands. Zarendespotie, Leibeigenschaft, Rückständigkeit usw. seien unerheblich, wichtig sei allein die innere moralische Läuterung des Individuums, dann werde sich die Gesellschaft (auch innerhalb dieser Grenzen, die dann aber nicht mehr wichtig sind) von selbst zum Guten ordnen. Zwar hat er damit wohl recht, aber das ist dann keine politische Vision mehr, vielleicht auch keine moralische mehr, sondern eine esoterische. Spiritueller Schwulst aber ist etwas, worin sich die russische Seele gefällt. Auch heute noch begreift jemand wie Putin Russland als eine „spirituelle“ Supermacht, die mit ihrem einzigartigen spirituellen Empfinden die ganze Welt beglücken wird, ein Selbstverständnis, das mindestens aufs 19. Jahrhundert zurückgeht (beziehungsweise hinsichtlich der Vorstellung, der Nachfolger des oströmischen Reichs zu sein, auf noch viel früher). Spiritualität ist zwar was Gutes, bedeutet ein intensiveres Empfinden für das Sein und größere Sensibilität gegenüber den Dingen und gegenüber sich selbst. Doch sollte das auf der Basis eines klaren Geistes und einer transparenten Persönlichkeit geschehen. Spiritualität bedeutet Luzidität und dass man klare Unterscheidungen treffen kann und nicht eine bloße Selbstüberladung mit „Weltempfinden“ (oder Selbstempfinden). Transparenz ist aber etwas, was in der russischen Kultur fehlt, stattdessen herrscht die Opazität. Außerdem ist bei der russischen Spiritualität nicht klar, was sie sein soll. Anders als die Länder im Westen und Osten hat Russland kein eigenständigen, ausformulierten und systematischen spirituelle Lehren entwickelt oder konstruktiv übernommen; eher handelt es sich um eine übersteigerte Religiosität. Die herrschende Kirche in Russland ist die orthodoxe, die von allen christlichen Kirchen am wenigsten intellektuelle Wandlungen durchgemacht hat, am wenigsten mit der Aufklärung konfrontiert war und die in vergleichsweise starrer Ritualistik besteht. Orthodoxe Messen und ihre Gesänge, ich gestehe, haben eine charismatische, wohltuende Wirkung, man glaubt, dem Weltgeheimnis näher zu kommen und wähnt sich in einer tieferen Kommunion, aber nach einer gewissen Weile (und noch dazu dauern orthodoxe Messen beliebig lange) verliert man die Nerven. Ein genauer innerer Kern ist für mich nicht auszumachen; aber ich verstehe natürlich kein Russisch, kann das daher nicht beurteilen. Allerdings mag das spezifische russische Leben selbst eine spirituelle Erfahrung sein. Zugegebenermaßen muss es ein tiefes Empfinden sein, Russe zu sein. Russinnen fühlen sich im Ausland immer wieder nicht wohl und sie haben Sehnsucht nach dem „Mütterchen Russland“. Trotz aller Segmentierungen und Hierarchien in der Gesellschaft scheint ein starkes und gleichsam egalitäres Gemeinschaftsgefühl in der russischen Seele zu liegen. Vielleicht hätte ich so eine Empfindungsmöglichkeit auch gern (allerdings habe ich so etwas ja, nur halt in einer anderen Form). Russland ist im Vergleich zu Westeuropa aber auch eine vergleichsweise kollektivistische Gesellschaft (allerdings weniger kollektivistisch als die asiatischen). Deswegen zählt das Individuum weniger, das zu politischen Zwecken von den jeweiligen Herrschenden immer wieder verheizt wird. Die Menschenmassen, die Russland aus den unendlichen Weiten seines Inneren immer wieder von Neuem nach vorne an die Front werfen kann, erzeugen keinen Druck, Kriegsführung, Wirtschaft, Verwaltung etc. effizienter und menschenfreundlicher oder -schonender zu machen, der Mangel an Qualität kann durch Quantität, freilich mehr schlecht als recht, ausgeglichen werden. Die Ineffizienz in der Verwaltung und des Polizeiapparats führt zu einer gleichsam absichtlich idiotischen Brutalität von deren Methoden, um die Bevölkerung durch Erzeugung von Angst in Schach zu halten, man Effizienz also so durch Effektivität ersetzt. Dass in Russland alle gleich unterdrückt sind, muss dann tatsächlich für ein Gefühl der egalitären Verbundenheit unter den Russen sorgen. Gleich den endlosen Weiten des Landes erstreckt sich auch das entsprechende Gefühl, russisch zu sein ins Transzendente und uferlose, allumfassende. „Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, sondern eine Menschheit“, heißt es. Was aber soll ein Volk sein, das gleichzeitig eine ganze Menschheit ist? Es wird dann gleichsam eine Konkurrenz-Menschheit sein, die mit aller übrigen Menschheit in einem ständigen Reibeverhältnis steht. Oder so irgendwie. Einfach ist das sicher nicht. Ja, so gesehen ist Russland vielleicht sogar ein eigener Planet? Ist er vielleicht sogar immer wieder einmal in der Lage, gleichsam Signale aus der Zukunft auszusenden? Russland war das erste Land der Welt, das den Kommunismus in die Tat umsetzte! Aber was bedeutet das, wenn ein Land kommunistisch wird? Es kann nur bedeuten, dass es jahrhundertelang eine katastrophale Politik gemacht hat, aus der es keinen rationalen Ausweg gefunden hat! Mit seiner von Anfang an kompromisslosen und harten Linie stieß Lenin bei seinen westeuropäischen marxistischen Konterparts (wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg) einigermaßen auf Unverständnis. Doch diese war nur Ausdruck einer Unmoderiertheit des politischen Prozesses in Russland, wie man sie in Westeuropa schon lange nicht mehr kannte. In ihrer Haudrauf-Mentalität erzeugte die russische Obrigkeit eine Schlagzurück-Kultur bei den Unterdrückten. Die Obrigkeit war bemüht, Ordnung in ihrem Interesse herzustellen, nicht Konflikte zu schlichten. Auch wenn sie scheinbar reichhaltig war, war daher selbst die Geisteskultur Russlands relativ verarmt und reduziert gegenüber der von Westeuropa. Die russische Geisteskultur selbst kennt wenig logische Strenge, inneren Aufbau und deutliche Gliederung, bietet wenig Platz für Skeptizismus und Relativismus, sie kennt zwar den Spott, weniger aber die Ironie (Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.346f.). Von Rosa Luxemburg stammt die Formel „Sozialismus oder Barbarei“. Was aber, wenn die Sozialisten selbst erheblich noch in der geistigen Barbarei leben? – An der Schwelle zum 20. Jahrhundert stand Zar Nikolaus II. an der Spitze des Russischen Reichs, ein phantasieloser, sehr durchschnittlicher Mann, der Gewalt an und für sich nicht mochte und der sein eigenes Amt als eine Bürde empfand, zu dessen wenigen Ideen aber die fixe Überzeugung gehörte, dass das Zarentum einer göttlichen Sendung entspreche und dass die Autorität des Zaren damit unverrückbar sei. Er war somit kein Reformpolitiker. Diese Einstellung kollidierte jedoch 1905 hart mit der Wirklichkeit. Im Russisch-Japanischen Krieg musste Russland in diesem Jahr eine demütigende Niederlage einstecken. Zum ersten Mal hatte eine asiatische Macht über eine europäische Macht triumphiert. Das Thema von Russlands Rückständigkeit bei der Modernisierung in allen Bereichen kam wieder aufs Tapet. (Tatsächlich war Russland zumindest wirtschaftlich gar nicht so rückständig. Sein industrieller Entwicklungsstand lag 1914 gleichauf mit dem von Österreich-Ungarn. 1910 lag es in seiner Wirtschaftskraft an der 10. Stelle in der Welt (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte, Berlin, VWF 2003 S. 3). Für eine Großmacht ist das aber natürlich nicht genug.) Im selben Jahr kam es zu sozialen Unruhen. Im Januar 1905 begaben sich Zehntausende Arbeiter und Arbeiterinnen, angeführt von dem Priester Georgi Gapon, auf den Weg zum Winterpalast des Zaren in Sankt Petersburg. Sie forderten eine Volksvertretung, Agrarreformen, Abschaffung der Zensur und menschenwürdige Bedingungen in den Betrieben. Es war als eine friedliche Demonstration gedacht, doch die Soldaten des Zaren schossen in die Menge. Als sich diese immer noch nicht zerstreute, richteten sie ein Blutbad an, bei dem es zu hunderten von Toten kam. Der „Petersburger Blutsonntag“ leitete tatsächlich eine Wende und eine Revolution ein – in den Köpfen und Herzen der Russen, die nunmehr breiter das Vertrauen in die Institution des Zarentums verloren. Ihnen wurde zunehmend klar, dass der Zar nicht ihr „Väterchen“ und ihr Beschützer sei. Als solcher sah sich Nikolaus II. aber dennoch. Es kam in den folgenden Jahren landesweit immer wieder zu Aufständen. Der Zar ließ diese niederschlagen, leitete aber auch Reformen ein, die aber halbherzig blieben und einem unentschlossenen Zickzack-Kurs folgten. Eine Duma (ein Parlament) wurde eingeführt, durfte aber selten tagen, bevor sie wieder abgeschafft wurde. 1906 setzte der Zar Pjotr Stolypin als Premierminister ein. Der reagierte auf die Aufstände im Land mit einer Welle von Repressionen, setzte jedoch auch umfangreiche Reformen in Gang. Doch Stolypin war ein einsamer (dafür aber umso selbstherrlicherer) Mann. Dass auch er schließlich einem Attentat zum Opfer fiel, kann man als tieferen Ausdruck dafür sehen, dass er in keiner Bevölkerungsschicht des Russischen Reiches breite Verbündete hatte, und er mit seiner an und für sich vernünftigen (und wirtschaftlich erfolgreichen) Politik dennoch zwischen allen Stühlen saß. Nikolaus II. zog die für ihn naheliegende Konsequenz, indem er alle Reformmaßnahmen zurücknahm und aller Reformpolitik eine Absage erteilte. Das war aus seiner Sicht auch nicht so irrational, wie es scheint. Erhebungen gegen repressive Regime sind in der Mehrheit der Fälle nicht erfolgreich, und speziell durch die russische Geschichte hindurch, inklusive der Sowjetära, konnte der Staat seine Autorität meistens gegenüber Aufständischen aller Art behaupten. Reformen können in einem solchen Fall zwar zu einer Befriedung der Gesellschaft führen, oder aber den Konflikt weiter anheizen und die Macht der Obrigkeit erodieren lassen. Es gibt, so gesehen, für die Herrschenden keine allgemeingültige rationale Blaupause, wie sie in einer solchen Lage reagieren sollen (zudem sie außerdem meistens von einer irrationalen Ideologie beherrscht sind, nach der sie zu erheblichen Teilen auch handeln). 1914 aber brach der Erste Weltkrieg aus, bei dessen Auslösung Russland eine der aggressiveren kriegstreibenden Parteien war. Zwar lagen die Hauptgründe für die Entfesselung des Großen Krieges woanders, jedoch erhoffen sich die gekrönten Häupter Europas, die in einer ständigen zumindest latenten Angst vor Umsturz und Revolution lebten, durch den Krieg und den Sieg nicht zuletzt auch eine Zementierung ihrer Herrschaft im Inneren. Sie gingen damit ein hohes Risiko ein. Russland war die erste Macht, die damit ihr Blatt überreizt und verspielt hatte. Die Soldaten und die Bevölkerung von Russland hatten schließlich genug von den Strapazen, die der Krieg ihnen auferlegte, und der Zar musste abdanken (er und seine Familie wurden später wegen ihrer „Verbrechen gegen das russische Volk“ von den Bolschewiki hingerichtet. Die Nachricht davon wurde von der russischen Bevölkerung dann angeblich „mit der größtmöglichen Gleichgültigkeit“ aufgenommen). Eine provisorische demokratische Regierung (unter der auch Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde) unter der Führung Alexander Kerenskis übernahm die Macht – das war die Februarrevolution von 1917. Doch die Regierung blieb schwach, korrupt, ohne Organisationstalent und ohne Konzept, wie es weitergehen sollte. Außerdem war Russland weiter im Krieg. Die Deutschen wollten daher den Druck auf Russland erhöhen und ein wenig Durcheinander in die Politik bringen, um sie so zum Kriegsaustritt zu bewegen. In dieser Intention (so zumindest der Mythos) ermöglichten sie auch einem außerhalb der eingeschworenen Zirkel an und für sich wenig bekannten Berufsrevolutionär, der auf der Flucht vor den zaristischen Behörden jahrelang im Ausland gelebt hatte, seine Heimreise nach Russland und schickten ihn in einem plombierten Zug nach Petrograd. Sie ahnten noch nicht, was für eine entscheidende Weiche sie damit für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt hatten.
Lenin, geboren 1870 in Simbirsk als Wladimir Iljitsch Uljanow, wurde im Alter von 17 Jahren radikalisiert, als sein älterer Bruder Alexander hingerichtet wurde. Alexander hatte sich als Student bei einer (dilettantischen) Verschwörung beteiligt, mit dem Ziel, den Zaren zu ermorden. Die Familie Uljanow hatte gehofft, der Zar würde Alexander zu einer Haftstrafe begnadigen, da er nur Mitläufer gewesen war. Doch dem wurde, wenig überraschend, nicht stattgegeben. Das entzündete in Lenin einen allumfassenden Hass gegen die russische Autokratie, oder überhaupt alle Autokratie. Dazu kamen die Abweisungen, die die (bürgerliche als auch neuadelige) Familie Uljanow anschließend seitens ihrer eigenen Klasse widerfuhr – was in Lenin auch einen Hass auf das Bürgertum erzeugte. Lenins Vater war ein hoher Beamter im Unterrichts- und Schulwesen gewesen und reformorientiert. Als sich schließlich alle Hoffnungen auf solche Reformen zerschlagen, formierte das einmal mehr im jungen Lenin die Anschauung, dass die russische Autokratie nicht reformfähig war und daher nur kompromisslos gestürzt werden konnte. Zum Marxismus fand Lenin erst einige Jahre nach der Hinrichtung seines Bruders. Der schien ihm schließlich ein konsistentes Paradigma zu offerieren, wie, warum und zu welchem Zweck „Revolution gemacht“ werden sollte. Lenin wurde daher ein marxistischer Revolutionär. Als reiner Revolutionär orientierte sich Lenin, wie viele andere russische Revolutionäre, stark an einer fiktiven Figur aus dem Roman Was tun? von Nikolai Tschernyschweski aus dem Jahr 1863 (den Titel sollte Lenin selbst für seine vielleicht berühmteste Schrift übernehmen). In Was tun? tritt ein Revolutionär namens Rachmetov auf, ein selbstloser, ultraaltruistischer, ganz in der Sache aufgehender Mann, der zum Prototyp für den „besseren sozialistischen Menschen“ wurde (Tschernyschewski wurde auch von Marx eifrig gelesen und geschätzt). Der wurde auch für Lenin zum Vorbild – denn das entscheidende Charakteristikum bei Lenin war, dass er sein ganzes Leben und seinen ganzen Charakter auf Revolution und Umsturz ausrichtete. Man könnte einen entkernten, unnatürlichen Fanatiker in ihm erblicken, wenn er nicht Verstand und Persönlichkeit genug gehabt hätte, die ihm auch noch transzendentere Qualitäten verliehen. Anders als Marx und Engels war Lenin kein Titan des Denkens, wohl aber ein höchstbegabter Intellektueller. Seine „philosophische“ Hauptschrift, Materialismus und Empiriokritizismus, ist das Werk eines mittelmäßigen Intellektuellen (allerdings mittelmäßig auf einem deutlich höheren Niveau, als das uns im täglichen Leben begegnet) und ein Dokument, dass Lenin nicht philosophisch dachte und offenbar auch Schwierigkeiten hatte, sich in Philosophie hineinzuversetzen. Materialismus und Empiriokritizismus ist vorwiegend eine polemische Schrift, die sich gegen eine philosophische Weltanschauung richtet, die mit dem Marxismus unvereinbar erscheint (trotzdem es einige revolutionär gesinnte Denker gegeben hat, die versuchten, das zu tun – was der Grund für Lenins Schrift war). Dabei ist Lenins gesamtes Werk von einem polemischen Stil durchzogen, wenn nicht sogar vom Wesen her Polemik. Einen neurotischen Schimpfstil hat man freilich auch erheblich in den Schriften von Marx und Engels selbst. Doch während Marx und Engels (innerhalb gewisser Grenzen) auch Humor besaßen und die Fähigkeit, die eigenen Anschauungen zu hinterfragen oder zu revidieren bzw. Fragestellungen aus einer sehr komplexen Perspektive heraus zu betrachten, fehlen solche Bereitschaften und Dispositionen bei Lenin weitestgehend. Die Lektüre von Lenins Schriften ist daher unangenehm und unheimlich (wobei noch unheimlicher ist, dass den meisten revolutionär orientierten Menschen dieses Unangenehme gar nicht als solches auffällt oder sie sich auch noch freuen darüber). Lenin verwendet eine dehumanisierende Sprache, deren Ziel die Verächtlichmachung des „Gegners“ ist (wenn nicht sogar, wie man meinen könnte, dessen Vernichtung). Außerdem ist Lenin in seinen gesamten Positionen absolut, apodiktisch und doktrinär, und warnt ständig vor allem, was davon „auch nur im Geringsten“ abweicht und sie damit „schwächt“. Man könnte meinen, Lenin sei ein Ungeheuer, das ganz aus Hass besteht – und das diesen Hass auch noch gutheißt (z.B.: Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischem Hass auf die bürgerlichen „Klassenpolitiker“ … Dieser Hass des Vertreters der unterdrückten und ausgebeuteten Massen ist wahrlich „aller Weisheit Anfang“, die Grundlage einer jeden sozialistischen und kommunistischen Bewegung und ihrer Erfolge. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus S.95)). (Auch Che Guevara sah im Hass ein produktives Agens, z.B.: Der Hass als Faktor des Kampfes, der unbeugsame Hass dem Feind, der den Menschen über die natürlichen Grenzen hinaus antreibt und ihn in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt. Unsere Soldaten müssen so sein, ein Volk ohne Hass kann über einen brutalen Feind nicht siegen.) Wenn man jetzt Hassenswertem wie der zaristischen Autokratie oder dem Kapitalismus in seinen übelsten Formen Hass entgegenbringt, könnte man das natürlich als logisch oder gerechtfertigt, wenn nicht als notwendig betrachten. Immer wieder wird bei solchen Kalkulationen aber übersehen, dass zwei Mal Unrecht nicht Recht ergibt, bzw. dass etwas Hassenswertes nicht notwendigerweise durch was Besseres abgelöst wird, wenn es in seiner Wurzel (ebenfalls, oder vielleicht noch mehr und noch genuiner) aus Hass besteht. Zorn, der aus dem Hass entspringt, gilt nicht zu Unrecht als eine der sieben Todsünden. War aber nun Lenin ein reiner, finsterer Hasser? Schon früh ist an Lenin aufgefallen, dass er mitleidlos sein konnte. Eine große Hungersnot in Russland im Jahr 1891 begrüßte er sogar, weil er hoffte, sie würde eine revolutionäre Stimmung befördern (so wie Marx wirtschaftliche Crashs oder die zerstörerischen Wirkungen des Freihandels und des Kapitalismus im Allgemeinen begrüßte und diese sogar Wirkung genug taten, um ihn aus Depressionen oder Zuständen der Krankheit empor zu heben). Allgemein ist Lenin mit seiner Hartherzigkeit zeit seines Lebens vielen Menschen (auch anderen Revolutionären) unangenehm aufgefallen. Dabei war Lenin (wie bei intellektuell Höchstbegabten allerdings üblich) aber auch zu großer Zärtlichkeit und Anteilnahme fähig, wobei sich solche Erfahrungen, die man mit Lenin machen konnte, allerdings auf seinen Familienkreis und engeren Bekanntenkreis beschränkten. Allgemein ist es nicht das Ziel des Kommunismus und der Kommunisten, Hass in die Welt zu setzen, sondern ihn zu überwinden. Und auch Lenin verfolgte nicht ein solches Ziel. Allerdings gehört es zu den Pathologien des Kommunismus und des Marxismus, dass sie in erheblichem Ausmaß aus Hass bestehen, der sich immer wieder erneuert – nicht zuletzt, wenn sie ihre unrealistischen Ziele nicht erreichen. Es ist schwierig, Menschen, die nicht eindeutig gut oder böse sind – also die meisten von ihnen – eindeutig zu bewerten und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielleicht versteht man Lenin am besten, wenn man sein Verständnis und sein Verhältnis zu Menschen im Allgemeinen als instrumentell begreift: als instrumentell im Sinne der Politik. Politik und Revolution zu machen war der eigentliche Inhalt von Lenins Leben und von seiner Weltsicht – und so betrachtete er Menschen vorwiegend als Instrumente, um Politik und Revolution zu machen, einschließlich sich selbst, so wie es für Revolutionäre wie ihn typisch ist. Lenin und seine Weggefährten hätten ein bequemes und ungefährliches Leben haben können, sie setzen sich jedoch permanenter Gefahr aus, der Revolution halber. Wie man am Beispiel von Lenin sieht, ist das Problem von Revolutionären, auch in allen anderen Menschen ihresgleichen sehen zu wollen, was sie potenziell für diese recht gefährlich macht. An und für sich wird Kapitalisten vorgeworfen, dass sie Menschen als rein instrumentell betrachten, aber bei Antikapitalisten mag das genauso sein. Lenins Säen von Hass und Verachtung folgte jedoch vorwiegend einem propagandistischen Kalkül. Der politische Gegner (eventuell auch in den eigenen Reihen) sollte lächerlich gemacht und desavouiert werden. Anders als Stalin war Lenin jedoch in der Lage, sich (zumindest innerhalb der eigenen Reihen) erstaunlich schnell wieder mit Opponenten zu versöhnen, wenn eine grundsätzliche Übereinstimmung wiederhergestellt war (was, wenn man so will, allerdings ebenfalls etwas Unpersönliches hatte). Bei Lenin kommen noch eine besondere Halsstarrigkeit und Dickköpfigkeit (und Ausschließlichkeit) in seinem revolutionären Bestreben dazu, was bei vielen anderen Revolutionären und Marxisten so dann doch nicht vorhanden war. Dieses war der Grund aber für seinen Erfolg (und auch sein Scheitern, nicht zuletzt in Bezug auf sein ganzes, letztendlich unreformierbares revolutionäres Projekt am Ende). Nachdenklich ist Lenin erst am Ende seines Lebens geworden. Sein Leben lang von der absoluten Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, wurde er erst am Schluss offenerer für die Bedachtnahme darauf, dass er auch im Irrtum sein könnte. Sicherlich ist es tragisch für die Sowjetunion, dass ihr Gründer so früh gestorben ist. Er hat sich buchstäblich für den Sowjetstaat zu Tode gearbeitet und starb nach mehreren Schlaganfällen, die ihn schon zuvor weitgehend handlungsunfähig gemacht hatten, im Januar 1924. Seinen Sowjetstaat hatte er nur gut ein halbes Jahrzehnt geleitet. Diese Leistung hatte jedoch gereicht, um das Gesicht des 20. Jahrhunderts in der entscheidendsten Weise zu verändern.
Lenin war keine Gestalt des intellektuellen Zuschnitts von Marx oder Engels. Warum spricht man dann vom Marxismus-Leninismus? Grob gesagt, geht der orthodoxe Marxismus davon aus, dass der Kapitalismus aufgrund von „inneren Widersprüchen“ schließlich von selbst zusammenbrechen würde. Während der frühe Marx davon ausgegangen war, dass der Kapitalismus mit einem revolutionären Proletariat seinen eigenen Totengräber schaffen würde, nahm der spätere Marx an, dass der Kapitalismus dereinst an einem Ende seiner Reproduktionsmöglichkeiten anlangen würde und er als eine Art „Hülle“ von einem wunderschönen sozialistischen Schmetterling, der sich derweil in ihr entfaltet hätte, gleichsam weggesprengt werden würde, der dann in den Äther flattert. Bereits Marx selbst dürfte sich am Ende seines Lebens aber wohl insgeheim die Frage gestellt haben, inwieweit auch zweitere Prognose richtig sein könnte (denn die empirischen Entwicklungen waren dazu gegenläufig). Sein Kapital hat er auf jeden Fall aus irgendwelchen Gründen nicht fertiggestellt. Stattdessen beschäftigte sich Marx gegen Ende seines Lebens mit Fragestellungen diversester Art – unter anderem auch – eingeladen dazu von der russischen Terroristin Vera Sassulitsch – mit der Frage, inwieweit in Russland eine Revolution möglich sein könne. Der orthodoxe Marxismus geht davon aus, dass eine sozialistische Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft nur auf der Basis einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft möglich seien. Das waren aber nicht die Bedingungen in Russland. Viele russische Revolutionäre träumten daher davon, dass in Russland stattdessen das kommunale Dorfleben eine Keimzelle für eine sozialistische Umgestaltung sein könnte. Die russischen Marxisten hingegen standen vor dem Problem, dass es in Russland keinen Kapitalismus als eindeutig dominierender Wirtschaftsform gab, und auch in keinem nennenswerten Sinn ein Bürgertum oder ein Proletariat. Lenin bemühte sich hinzuweisen, wie weit der Kapitalismus in Russland schon gediehen sei (Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland) bzw., vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, dass der Kapitalismus ein Stadium erreicht habe, dass sich die Frage nach seiner Überwindung im Weltmaßstab stelle (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus). Was vor allem auf Lenin zurückgeht, ist die Beschäftigung mit der politischen Organisation der Revolution und der Schaffung eines revolutionären Subjekts bzw. einer revolutionären Trägerschicht innerhalb der Gesellschaft. Während bestimmte Lesarten des Marxismus ein geradezu passives Hinwarten auf die Revolution ermöglichen, kann für Lenin die Revolution nur die höchst aktive Tat einer revolutionären Avantgarde, einer Partei von Berufsrevolutionären sein. Auch dem Proletariat spricht Lenin die Fähigkeit ab, ein tatsächliches revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Sich selbst überlassen, könne es allein ein „trade-unionistisches Bewusstsein“, also eines der eigenen, reformistisch orientierten Interessensvertretung innerhalb der Gesellschaft, aber nicht der revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft erlangen. Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. (Was tun?, Berlin, Manifest Verlag 2022 S.42f.) Zur Entwicklung einer revolutionären Perspektive benötige es Intellektuelle, zur Umsetzung der Revolution benötige es eingeschworener Berufsrevolutionäre. Zumindest ersteres wurde von den marxistischen Zeitgenossen Lenins nicht bezweifelt, und auch im Hinblick auf Zweiteres gab es grundsätzlich Übereinstimmung. Allein Rosa Luxemburg war von einem so großen, beinahe mythischen Glauben an die „Spontaneität“ der arbeitenden Massen und daran, dass diese wahre Wunder bewirken und Berge versetzen könne erfüllt, dass sie eine revolutionäre Partei als bestenfalls nachgelagertes Instrument und Erfüllungsgehilfen des Proletariats angesehen hat. Umgekehrt war es aber dann doch der recht unbedingt formulierte Wahrheitsanspruch, den Lenin mit seiner – hypothetischen oder tatsächlichen – Partei gegenüber dem eigenen angeblichen Klientel (dem Proletariat) formulierte, der auch bei anderen Marxisten für breiteres Unbehagen sorgte. Lenins Verständnis wurde als übertrieben autoritär angesehen und als eines, das nicht nur zu einer tatsächlichen „Diktatur des Proletariats“, sondern vielmehr zu einer Diktatur der Partei (im Zweifelsfall auch gegenüber dem Proletariat) führen müsse. Lenin verweigerte sich solchen Bedenken und Angriffen, indem er die Interessen der Partei mit denen des Proletariats ganz einfach als identisch behauptete. Zwar bejahte er den Zustand einer „Diktatur des Proletariats“ (Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt. (Staat und Revolution, Wien, Eigenverlag 2014 S.29)). Dennoch ging er davon aus, dass am Ende der Revolution und mit der Verwirklichung des Kommunismus der Staat sowieso überflüssig werden würde: Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. (ebenda S.63) In seiner dichotomischen (oder egozentrischen) Weltsicht hat sich Lenin der dümmeren Lesart des Marxismus hinsichtlich der Frage nach dem Staat verschrieben, in der er im Staat allein ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse sah: Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und insofern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind. (ebenda S.10) (Es gibt auch komplexere marxistische Verständnisse von der Rolle des Staates.) Er ging also auch hier davon aus, dass mit der Revolution bzw. der Abschaffung von Klassengesellschaft und Kapitalismus Interessensgegensätze zwischen Menschen einfach verschwinden würden. Er hätte sich wohl gewundert, hätte sich herausgestellt, dass dem nicht so war. So hat sich Lenin über etliche Dinge schließlich wundern müssen, die an und für sich doch irgendwie klar waren. Er führte eine Diktatur ein, und wunderte sich, warum das Proletariat keine vitale „Kritik“ an der Partei mehr äußerte. Er schaffte Kapitalismus und Markt ab und führte eine Superbürokratie ein und wunderte sich über die „Papierflut“ und die Ineffizienz, die all das produzierte. Er unterdrückte die Bauern und requirierte ihre Produkte per Zwang und wunderte sich, warum sie dem Sowjetstaat feindlich gesonnen waren. Er schätzte den jungen Stalin, weil der sich mit seiner tatkräftigen Brutalität von seinen „teetrinkenden“ Genossen abhob, um am Ende verzweifelt festzustellen, dass ebenjener Stalin schließlich auch ihm und seiner Familie gegenüber brutal wurde und dabei drohte, sein Nachfolger zu werden. Kurios, könnte man meinen, waren vor allem seine ständigen Irrtümer und Fehleinschätzungen, wonach eine Revolution unmittelbar bevorstünde (was, zumindest hinsichtlich der Prognose, dass der Kapitalismus vor seinem unmittelbaren Ende stünde, noch kurioserweise bei etlichen Marxisten aber auch noch heute der Fall ist). Allerdings war es eben diese Erwartungshaltung, und Lenins gesamtes Durchdrungensein vom Gedanken an die Revolution, die Lenin schließlich zu einem erfolgreichen Revolutionär machte. Die meisten anderen Marxisten und Revolutionäre im In- und Ausland haben davor zurückgescheut, die Situation in Russland nach der Februarrevolution von 1917 als eine revolutionäre Situation im marxistischen Sinne, und als eine Situation, in der, eine bürgerlich-demokratische-kapitalistische Phase überspringend, unmittelbar eine sozialistische Revolution durchgeführt werden könnte, zu begreifen. Doch geistesgegenwärtig hat der, von der Februarrevolution an sich überraschte Lenin genau das getan, und in seinen Aprilthesen genau das proklamiert. Lescek Kolakowski sah das eigentliche politische Genie Lenins darin, in jeder Situation alle gesellschaftlichen Energien zur Machtübernahme und zur Revolution zu nutzen, und alle Kräfte auf diesen einen Punkt zu konzentrieren. Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an (und, wie ein antikes Sprichwort sagt: Wenn einer den ganzen Tag schießt, wie soll er dann nicht auch mal treffen?) Die Februarrevolution hatte schnell für allgemeine Konfusion und Richtungslosigkeit gesorgt. Lenin hatte Energie, Verwegenheit und innere Orientierung (und eine jahrelang darauf eingeschworene Partei) genug, um nur wenige Monate darauf seine eigene Revolution anzuzetteln.
Nur wenige Revolutionen (bzw. deren Versuche) sind mustergültig oder erfolgreich. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917 war zwar erfolgreich, dabei aber eher eine nächtliche Überraschungsaktion einiger weniger Revolutionäre, die inmitten einer allgemeinen Lethargie in der Bevölkerung und selbst bei den Herrschenden zunächst gelang. Wenig später ließen die Bolschewiki Wahlen durchführen, die ihre Herrschaft aber nicht bestätigten. Dennoch setzten sich die Bolschewiki über dieses Ergebnis hinweg und übernahmen die Herrschaft schließlich trotzdem. Die Arbeiter und die Bauern in Russland standen dabei zunächst hinter den Bolschewiki. Überhaupt gab es in der russischen Bevölkerung zu dieser Zeit einen grenzenlosen Hass gegen alle Privilegierten. Lenin war dabei klar, dass er mit dieser Entscheidung dennoch einen Bürgerkrieg riskierte, was dann auch eintrat. Er betrachtete den Bürgerkrieg aber als „notwendig“ auf dem Weg zur erfolgreichen Revolution und als Möglichkeit, die Macht der Bolschewiki zu vergrößern. Im Bürgerkrieg kämpften die bolschewistischen Roten gegen die reaktionären Weißen, die auch vom Ausland unterstützt wurden. Umgekehrt suchten die Bolschewiki ihre Revolution zu exportieren, und fielen z.B. in Polen ein (wurden dort aber zurückgeschlagen). Dass die Roten nach drei Jahren (1921) den Bürgerkrieg schließlich gewannen, zeugt davon, dass die Bolschewiki bereits mächtig genug im Land waren, um eine schlagkräftige Armee zu organisieren, und energisch und skrupellos genug, um sie zusammenzuhalten (unter anderem mit Mitteln des Terrors). Der Sieg ist auch dem militärischen Genie von Leo Trotzki zu verdanken. Und schließlich, dass die Weißen keine einheitliche Vision von der Zukunft des Landes hatten und nicht bereit dazu waren, den Bauern Zugeständnisse zu machen. Obwohl speziell die Bauern unter dem Bürgerkrieg und der Herrschaft der Bolschewiki stark zu leiden hatten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges herrschte im bolschewistischen Russland eine hohe Versorgungsknappheit und ein Mangel an allem. Schwarzmärkte und Tauschhandel machten sich breit und erfüllten eine vitale Funktion. Diese waren den Bolschewiki aber allein schon einmal aus ideologischen Gründen suspekt. Für die Festigung ihrer Staatsmacht und auch für den Bürgerkrieg erachteten es die Bolschewiki als entscheidend, die Lebensmittelversorgung zu kontrollieren. Noch mehr, zielte ihr Klassenkrieg auch darauf ab, die Bauernschaft zu unterwerfen. Der „Kriegskommunismus“ setzte ein. Da die Bauern nicht bereit waren, zu sehr niedrigen festgesetzten Preisen ihre Produkte an den Staat zu veräußern, begann der Sowjetstaat diese mit terroristischen Mitteln zu requirieren, um sowohl die Rote Armee als auch Arbeiter in den Städten damit zu versorgen bzw. die industrielle Produktion und die Bürgerkriegsführung zu sichern. Mehr noch, stärkte das Rationierungssystem die Macht der Regierung über die Bevölkerung. Die Bauern produzierten aus diesem Mangel an positiven Anreizen weniger, und in den Jahren 1921 und 1922 kam es zu einer gravierenden Hungersnot im Land, die die Versorgungslage ein weiteres Mal gefährdete. Dennoch blieben die Weißen reaktionär genug, um es zu verabsäumen, die Bauern mit ins Boot zu holen. Die Bauern hassten zwar, ihrer eigenen Logik zufolge, die Bolschewiki, nicht aber den Kommunismus, von dem sie sich eine bessere Zukunft erhofften. Die Weißen konnten nur eine Rückkehr zur noch mehr verhassten Vergangenheit anbieten. Und so wandten sich die Bauern gegen die Weißen – um sich nach deren Besiegung gegen die Bolschewiki zu wenden. Auch die Arbeiter waren mehr als unzufrieden. Genauso wie die Kommunisten selbst hatten auch die russischen Arbeiter von einem Sowjetsystem der umfassenden Selbstbestimmung geträumt. Dieses sorgte in der Realität allerdings nicht dafür, dass die selbstbestimmten Betriebe auch akkordiert und in gemeinsamem Interesse für gesamtwirtschaftliche Erfordernisse produzierten. Und so beschnitten die Bolschewiki die Selbstbestimmung und zentralisierten die Macht über wirtschaftliche Entscheidungen. Sie wollten die Gewerkschaften auflösen und diese dem Parteistaat unterordnen. Dies zunächst im Sinne des Kriegskommunismus. Wie die Bolschewiki aber erleben mussten, wurden sie diese unheilvolle – von ihnen selbst als unheilvoll durchschaute – Tendenz zur Zentralisierung über die gesamte Geschichte der Sowjetunion nie mehr los. Die Arbeiter erlebten das als krassen Verrat an den eigentlichen Idealen der Kommunisten – vor allem aber ganz unmittelbar nicht als „Diktatur des Proletariats“ sondern als eine Diktatur über das Proletariat – und rebellierten. Am exemplarischsten war das im Kronstädter Aufstand von 1921 der Fall, der von den Bolschewiki blutig niedergeschlagen wurde. Einmal mehr hatten die Bolschewiki triumphiert. Aber zu welchem Preis? Der Bürgerkrieg verursachte 10.8 Millionen Tote. Die Hungersnot von 1921/22 forderte 5 Millionen Menschenleben. Die Weißen waren niedergeschlagen worden, doch in weiten Teilen des Landes war die Sowjetmacht praktisch nicht mehr präsent. Vor allem über die Bauernschaft hatten die Bolschewiki die Kontrolle verloren. Die Arbeiter fühlten sich verraten, und tatsächlich war die Niederschlagung der Räte ein krasser Schönheitsfehler in einem kommunistischen System. Die erhofften Revolutionen im Ausland – oder gar die Weltrevolution – blieben aus, oder wurden, wie in Deutschland oder in Ungarn, rasch niedergeschlagen. Damals hatten die Bolschewiki noch keine Vorstellung davon, wie die Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat überlebensfähig bleiben könnte, wenn nicht auch in anderen Schlüsselländern Revolutionen stattfinden würden. Viele wirtschaftlich und administrativ fähige Russen, Wissenschaftler und Intellektuelle flohen ins Ausland. Der Bürgerkrieg hatte auch zu Terror der Bolschewiki gegen die orthodoxe Kirche geführt, der gegenüber Lenin ursprünglich eine zurückhaltende Politik verfolgt hat. Die Zahl der geöffneten Gotteshäuser war von 80.000 auf knapp 11.500 gesunken; 14.000 orthodoxe Geistliche waren erschossen worden. Trotzdem waren die Bolschewiki siegreich geblieben. Mehr noch, war es ihnen gelungen, einen Großteil der Territorien des Russischen Reiches wieder zu vereinen und als sozialistischer Vielvölkerstaat aufzutreten. Im Dezember 1922 wurde so die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet – oder eben kurz: die Sowjetunion. Sowieso nicht von Eigendünkel und einem missionarischen Selbstbewusstsein frei, verschaffte der Sieg im Bürgerkrieg den Bolschewiki ein neues Selbstbewusstsein. Das galt nicht nur für die Altbolschewiki, sondern auch für die vielen jungen Männer (und Frauen), die im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten gekämpft hatten und die nun eine privilegiertere Stellung in der Gesellschaft einnahmen. Mit der Konsolidierung der neuen Macht kehrten jedoch alte Phänomene in Russland wieder. So grassierte zum einen die Korruption (Lenin und die meisten seiner engen Mitstreiter lebten zwar vergleichsweise asketisch und waren nicht auf materiellen Vorteil bedacht, das galt jedoch dann doch nicht für eine Vielzahl anderer, vor allem der jüngeren bolschewistischen Funktionäre). Zum anderen begannen sich die Bolschewiki als eine Art neuer Adelsstand wahrzunehmen, der ja schließlich ursprünglich aus den Härten von Kriegen hervorgeht. Die erfolgreiche Verteidigung und Absicherung der Revolution gab den Bolschewiki das Gefühl, auch übermenschliche Anstrengungen unternehmen zu können (oder, in der Praxis, unmenschliche), wenn nur Willenskraft und ideologische Geschlossenheit das Handeln leiteten. Tatsächlich hatten die Bolschewiki auch übermenschliche Anstrengungen unternommen und würden es weiterhin tun – diese Anstrengungen allerdings auch dem Volk auferlegen. Trotzdem war das Land 1922 aber erschöpft, der Sieg der Bolschewiki war ein Pyrrhussieg gewesen. Neue Maßnahmen waren erforderlich, um das Land wieder auf die Beine zu bringen. Und vor allem die Bauernschaft und die Lebensmittelversorgung.
Die 1921 beschlossene „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) ersetzte die Zwangsrequirierungen der Produkte der Bauern durch eine Naturalsteuer und erlaubte den Bauern in begrenztem Umfang Handel zu treiben. Trotzdem sie ein Gebot der Stunde war, wurde sie von vielen Bolschewiki abgelehnt und Lenin musste sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um sie in der Partei durchzusetzen. Doch auch Lenin selbst wäre eigentlich gegen eine solche Politik gewesen. Noch 1920 schrieb er: Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus, Berlin, Manifest Verlag 2021, S.139) …. Es ist tausendmal leichter, die zentralisierte Großbourgeoisie zu besiegen, als die Millionen und aber Millionen der Kleinbesitzer „zu besiegen“, diese aber führen durch ihre tagtäglich, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende Tätigkeit eben jene Resultate herbei, welche die Bourgeoisie braucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert wird. Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (ebenso während seiner Diktatur) auch nur im Geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat. (ebenda S.50) Wieder einmal fällt die absolutistische Sprache auf („eiserne Disziplin“ der Partei, die „ausnahmslos“ „nicht im Geringsten geschwächt“ werden darf, ansonsten helfe man der „zersetzenden“ Bourgeoisie etc.). Wer so rigoros empfindet und solche zentralistischen Tendenzen hat, für den muss etwas so Lebhaftes und leicht Chaotisches wie der Handel tatsächlich etwas Störendes und Umstürzlerisches sein. Eine solche Perspektive, die auch den kleinen Handel und die selbständige Kleinproduktion als „im Kern bourgeois“ betrachtet, liegt allerdings in der Denkbahn des Marxismus, da das ja tatsächlich stimmt. Die meisten kommunistischen Regime haben daher beides, zumindest für lange Zeit, abgeschafft. Auch wenn dieses nicht notwendigerweise in der Denkbahn des Marxismus liegt, denn Marx betrachtet allein Produktion im großen Stil als genuin kapitalistisch und als sozialistisch zunächst nicht mehr als die Vergesellschaftung der großen Produktion. Zumindest heute würden auch die meisten Marxisten Handel und Kleinproduktion befürworten. Dennoch stehen sich hier zwei Welten annähernd unversöhnlich gegenüber, und dass dem so ist, verweist auf einen inneren Widerspruch in der Vision vom Kommunismus selbst, der sich schwertut, eine Vielzahl von an und für sich natürlichen (wirtschaftlichen) menschlichen Handlungsweisen zu tolerieren. Dennoch tat die NÖP ihre Wirkung. Mehr Produkte kamen auf den Markt, was letztendlich nicht nur die Bauern, sondern auch die Arbeiter zufriedenstellte. Die ökonomische Liberalisierung führte auch zu einer gewissen gesellschaftlichen Liberalisierung. Die Wirtschaft wuchs vor allem ansehnlich, was im Sinne der Partei war. Führende Bolschewiki, auch wenn sie der NÖP ursprünglich ablehnend gegenübergestanden waren, wie Nikolai Bucharin, begannen sich mit ihr anzufreunden, und priesen sie als ein neues Stadium auf dem Weg zum Kommunismus (der auf Requirierungen beruhende Kriegskommunismus sei nicht mehr notwendig, da der Krieg ja gewonnen und die Gesellschaft sozialistisch konsolidiert sei, so die neue Argumentation). Gleichzeitig dauerte es aber nicht lange, bis dass im Rahmen der NÖP „neureiche“ wirtschaftliche Gewinner, geschickte Bauern und Händler und Konjunkturritter, die das Umfeld zu ihrem ganz persönlichen Vorteil zu nutzen wussten, ans Tageslicht traten. Diese waren nicht nur den Bolschewiki, sondern auch der Bevölkerung zunehmend ein Dorn im Auge. 1928 sollte die NÖP wieder abgeschafft werden, wenngleich aus vorwiegend anderen Gründen (in erster Linie, um eine radikale Industrialisierung zu ermöglichen). Heute ist man geneigt zu sehen, dass die Sowjetunion wohl besser gefahren wäre, hätte man die NÖP und die damit verbundene wirtschaftliche Liberalisierung beibehalten. Schließlich war eine ähnliche Politik der Grundstein für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung Chinas nach dem Ableben von Mao Zedong. Lenin, der diese Weichenstellungen hätte beeinflussen können, war zu deren Zeitpunkt aber nicht mehr am Leben. Was für Lehren er aus der NÖP gezogen hätte und wie er die Zukunft des Sowjetstaates gesehen hätte, ist ungewiss. Zu den Problemen bei (quasi-) monarchistischen Staatsoberhäuptern steht die oft schwierige Frage nach ihrer Nachfolge. Lenin war von seinem frühen Ausscheiden aus der Politik und seinem folgenden Tod überrascht worden. Die Frage nach seiner Nachfolge beziehungsweise wie es mit dem Sowjetstaat weitergehen solle, hatte er nicht geregelt. In seinem mit letzter Kraft diktierten „Testament“ musste er implizit einräumen, dass er auch die beiden begabtesten Männer, Trotzki und Stalin, letztendlich als für die Leitung des Sowjetstaates ungeeignet erachte: Trotzki sei zu eitel, Stalin sei zu grob. Er empfahl seinen Genossen, nach jemand anderen Umschau zu halten, konnte aber niemand benennen. Daher verwundert es auch nicht völlig, dass die Parteiführung Stalin von seinem damaligen Posten nicht entfernte (Stalin hatte auf das Testament Lenins hin seinen Rücktritt angeboten, der von seinen Genossen aber nicht angenommen wurde). Stalin war ein begabter und geschätzter Organisator, und er machte damals keine Anstalten noch den Eindruck, übermäßig nach der Macht zu streben. Er ordnete sich geradezu brav der Parteidisziplin unter und bezog in etlichen Fällen gemäßigte politische Positionen. Dass Stalin „grob“ und brutal, dabei aber auch entschlossen in seinem Handeln war, hat ursprünglich nicht nur Lenin durchaus gefallen. Lenin war umgekehrt wohl der einzige Mensch gewesen, zu dem der narzisstische Stalin je in seinem Leben aufgesehen hatte und dessen Überlegenheit er anerkannte und bewunderte (ansonsten blickte er auf andere Menschen immer nur mit mehr oder weniger großer Verachtung herab). Grobheiten (im Rahmen von politischen Meinungsverschiedenheiten) leistete er sich gegenüber Lenin und seiner Familie erst, als dieser krank geworden war (eine dieser Grobheiten sorgte sogar für den finalen Krankheitsschub bei Lenin). Dass Stalin nach Lenin an die Macht gekommen ist, ist ein ebenso folgenschweres Ereignis im letzten Jahrhundert wie die Begründung des Sowjetstaates durch Lenin selbst. Wie wäre die Geschichte der Sowjetunion verlaufen, wenn Lenin länger gelebt hätte (und Stalin hätte vermieden werden können)? Wodurch zumindest unterschieden sich Lenin und Stalin? Lenin war der intelligentere und intellektuellere der beiden, allerdings nicht in einem so gravierenden Ausmaß, wie es gemeinhin angenommen wird (oder wie es auch Lenin angenommen hat, der Stalin lange unterschätzt hatte). Lenin war (innerhalb gewisser Grenzen) ein produktiver Intellektueller, der zu neuen Gedanken fähig war, während Stalin mehr oder weniger ein reproduktiver Intellektueller blieb und wenig phantasievoll. Vielleicht wäre Lenin kreativer in der Bewältigung von Problemen gewesen, allerdings ist bei politischen Problemen immer fraglich, wie viel kreativen Spielraum sie einem eigentlich lassen (oder ob Kreativität nicht vielleicht sogar fehl am Platz ist). Während Lenin ein (sehr) neurotischer Mensch war, war Stalin ein schwer (an der Wurzel) gestörter Mensch, zumindest im übertragenen Sinn war er ein Psychopath. Wenn Lenin giftig gegenüber seinen Genossen werden konnte, beließ er es in der Hinsicht bei der Rhetorik und er versöhnte sich rasch wieder mit ihnen, wenn ein Streit ausgeräumt war. Säuberungen und Schauprozesse im großen Stil hätte Lenin wohl nicht veranstaltet. Lenin war – zumindest in der Hinsicht – nicht rachsüchtig und er behandelte Leute nicht verächtlich. Er war nicht, im krankhaften Sinn, paranoid, er war nicht eitel und er kannte kein großes persönliches Machtstreben. Lenin war zwar einigermaßen verliebt in den Terror, betrachtet ihn aber als vorübergehende Notwendigkeit (wenngleich man bei seiner Einstellung und Ideologie nie sagen könnte, wann dieses Vorübergehende tatsächlich vorübergegangen war oder immer wieder von neuem sein Haupt erheben würde), während es in Stalins Persönlichkeit lag, ein dauerhaftes Schreckensregime um sich herum zu errichten. Aber auch Lenins Bilanz unter seiner Herrschaft waren über 15 Millionen Tote gewesen. Die Errichtung einer Diktatur und eines allmächtigen zentralistischen Staates war sein Werk gewesen und ging auch aus seiner Theorie hervor. Die Politik Stalins war nur eine Fortsetzung dieses Weges. Stalin war auch lange kein Alleinherrscher gewesen. Die Kollektivierung, die Industrialisierung, der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ waren etwas, was von den führenden Bolschewiki beschlossen wurde, und nicht von ihm allein. Lenin hat am Schluss an Stalin kritisiert, dass dieser „zu grob“ sei – gegenüber seinen Genossen (was Lenin dann dämmerte, als Stalin zu ihm selber erstmals grob geworden war). Er har nicht gemeint: gegenüber der Sowjetbevölkerung (auch wenn Lenin das harte Vorgehen Stalins in der Nationalitätenfrage zum Beispiel nicht gefiel). Aber all diese „was wäre wenn“-Fragen erledigten sich eben mit Lenins Tod.
Josef Stalin gilt in seiner Destruktivität und Inhumanität gemeinhin als unergründlich. Dabei ist er ein Paradebeispiel für einen malignen Narzissten. Der maligne Narzissmus ist ein kombinierte Persönlichkeitsstörung, die sich aus drei Elementen zusammensetzt. Zum ersten sind maligne Narzissten paranoid. Paranoia bedeutet, dass eine hohe Aggressivität, die in einem selbst ist, in die Außenwelt projiziert wird, beziehungsweise einen Verfolgungswahn, der sozusagen spiegelbildlich zur eigenen Verfolgungswut ist. Paranoide Menschen wollen sich anderen Menschen gegenüber in einer dominanten Position erleben, und sehen sich über alle Maßen bedroht, wenn sie dieses Gefühl nicht haben können. Sie können mit Zurücksetzungen aller Art kaum umgehen, und entwickeln gegenüber ihren „Beleidigern“ einen lange anhaltenden, intensiven Groll und ein Revanchebedürfnis. Aufgrund ihres Misstrauens und ihrer Streitsucht sowie ihrer Unfähigkeit zu erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen vereinsamen sie im Laufe ihres Lebens immer mehr (was ihre Paranoia weiter befeuern dürfte). Zum zweiten sind maligne Narzissten narzisstisch. Allerdings nicht im grandiosen Sinn und in flamboyanter Erscheinungsweise. Vielmehr treten sie als durchschnittlich und bescheiden auf. Ihre narzisstische Gratifikation beziehen sie weniger aus der Vorstellung, sich über andere zu erheben und von ihnen bewundert zu werden, als andere unter sich zu sehen und sie abwerten zu können. In dem Sinn sind sie auch sadistisch. Zum dritten sind maligne Narzissten soziopathisch und antisozial. Es bereitet ihnen Lust, (Revolutionären gleich) Gesetze zu übertreten und Regeln zu brechen. In diesem Sinn sind sie risikofreudig und abenteuernd und haben kein Problem, sich außerhalb der konventionellen Gesellschaft zu stellen. Oder sie sind gewöhnliche habituelle Kriminelle. Mitleid, Empathie und Liebesfähigkeit kennen solche Menschen kaum. Gemäß einiger Experten ist der maligne Narzissmus die gefährlichste Persönlichkeitsstörung überhaupt. Alle diese Eigenschaften hat man bei Josef Stalin. Trotzdem gibt es ganz unterschiedliche Ansichten, wie er in seinem Handeln als Politiker zu bewerten sei. Während einige Forscher die Wurzel für seine Politik in seiner Persönlichkeit sehen wollen, will diese für andere Forscher kaum eine Rolle spielen: Stalins Politik sei im Wesentlichen durch die Umstände diktiert worden. Zweiteres könnte man aber als Hinweis verstehen, dass die Umstände, in den Stalin agierte, und innerhalb derer er sich etablierte, pathologisch gewesen waren. Die Bolschewiki versuchten eine umfassende, über Jahrhunderte gewachsene soziale, politische, ökonomische, kulturelle und mentale Ordnung in einem gesamten Kulturraum zu zerstören und sie durch eine neue zu ersetzen, für die es nirgendwo in der Welt noch ein Beispiel gab. Es war ein extremes Unterfangen, das naheliegenderweise wohl extreme Mittel erfordert. Derart wurde der Einsatz von letzteren von vielen Kommunisten im In- und Ausland auch begrüßt oder zumindest akzeptiert. Mehr noch, gab es für diese neue Ordnung, den Kommunismus, aber auch keine theoretische Grundlage. Mit kritischem Blick hätte man aussortieren können, dass das wohl deswegen so war und ist, weil der Kommunismus eben auch gar keine rationale Grundlage hat, und er offensichtlich kaum eine rationale Wirtschafts- und Gesellschaftsform sein kann. Mit besonders triumphierendem und suggestivem Ton tritt der traditionelle Marxismus aber dann auf, wenn er dem Kapitalismus die Rolle des großen Irrationalen zuweist, und sich selbst die des großen rationalen Ordners und geradezu Heilsbringers, darin auch Verkünder unumstößlicher und absoluter Wahrheiten. (Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt dem Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat. (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, 1913)) Wenn ein derartiger Mangel an Reflexivität aber bereits in einem System immanent ist, was soll es dann anderes produzieren als große Pathologien? Ein solches Denksystem, und umgesetzt als politisches System, wird Erscheinungen, die ihm nicht entsprechen, als ärgerliche Aberrationen ansehen und Menschen, die sich ihm nicht konform verhalten, tendenziell als „Verräter“. Ein einigermaßen paranoides Denksystem ist der Marxismus auch in der Hinsicht, indem er wesentlich um ein Feindbild kreist (und um ein ebenso paranoides imaginäres Bild von seiner eigenen verheißungsvollen Größe und der seiner Lösungen). Er befördert die Idee, dass die Gesellschaft am maliziösen Wirken von klar definierten Feinden, gleich einer Krankheit leide, von der man diese Gesellschaft klinisch „säubern“ könne. Zwar sind auch andere Lesarten des Marxismus möglich, aber solche Säuberungsideen, umgesetzt in Politiken, kommen in kommunistischen Staatsgebilden immer wieder vor. Gerd Koenen nennt den Kommunismus gar eine „Utopie der Säuberung“. Mit seiner individuellen Paranoia fügte sich Stalin als diesbezüglicher Verstärker in die Paranoia eines kommunistischen Staatsgebildes ein. Tatsächlich war dieses sowjetische Staatsgebilde aber auch schwach und von inneren und äußeren Feinden zumindest latent bedroht. Insofern kann man die ganze paranoide Politik Stalins als rational begründet, oder gar als von genialer, profunder Einsicht und Voraussicht geleitet ansehen. Noch Jahrzehnte später begriffen seine damaligen Mitstreiter Stalin als „Genie, das die Fünfte Kolonne zerschlagen hat“, und der mit seiner üblen Politik nicht nur für die Sowjetunion sondern für die Welt noch größere Übel verhindert habe. Das Eigenartige ist, dass man das auch gar nicht ausschließen kann. Paranoia reflektiert auf eine tatsächlich vorhandene Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit in der Welt. Paranoiker sind oftmals tatsächlich gute Menschenkenner. Allerdings sind sie einseitige Menschenkenner. Sie haben meist ein scharfes Auge für die Schwächen und die Gefahren, die von anderen ausgehen – weniger aber für deren Stärken und dass von ihnen ja auch Gutes ausgehen könne. Unbestreitbar und welthistorisch sind die Leistungen und Erfolge der Sowjetunion bei der Industrialisierung und im Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg unter der jeweiligen Leitung Stalins. Auch der im Wesentlichen antikommunistische Herausgeber des Schwarzbuch des Kommunismus, Stéphane Courtois, vermutet, dass Stalin als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Er habe aus dem unbedeutenden Agrarland, das die Sowjetunion anfänglich war, ein Industrieland gemacht, eine Weltmacht und eine Atommacht. Was freilich wäre gewesen, wenn die NÖP beibehalten worden wäre und eine sanftere Industrialisierungspolitik verfolgt worden wäre? Hätte das zu ähnlichen, geringeren oder gar größeren Erfolgen geführt? Diese Frage wird von der Forschung unterschiedlich beantwortet. Stalin war sehr intelligent, in seinem äußeren Auftreten sehr wandlungsfähig und charismatisch und konnte sich gut auf sein Gegenüber einstellen. Selbst Hitler bewunderte sein sowjetisches Diktatoren-Pendant und (der an und für sich antikommunistische) Churchill beschreibt in seinen Bestsellern über den Zweiten Weltkrieg plastisch die Klugheit und Geistesgegenwärtigkeit des Woschd und offeriert auch menschliche Einblicke in ihn. Roosevelt und Truman mochten den jovial und humorvoll sich gebenden „Uncle Joe“ sogar. Stalin gilt den einen als machthungriger Despot. Andere bewundern ihn für seine Lauterkeit. Er habe tatsächlich an den Kommunismus geglaubt und sich tatsächlich lange der Revolution und der Parteidisziplin untergeordnet, und nicht vorgehabt, in die Rolle des Diktators zu schlüpfen. Die Umstände hätten ihn dazu bewogen, es schließlich doch zu tun: um die Revolution zu retten. Großartige materielle Interessen hatte Stalin auch nicht und er war auch nicht korrumpierbar. Er arbeitete beinahe ständig und schien in dieser hingebungsvollen Tätigkeit für den Sowjetstaat und für die Revolution allein aufzugehen. All das schließt aber nicht aus, dass es Stalin in all seinen Unternehmungen tatsächlich um Macht ging, zumindest (unbewusst und) auf der emotionalen Ebene. Dass es ihm allein schon einmal bei Kommunismus und Revolution darum ging, seine (ihn scheinbar einengenden) „Feinde“ zu stürzen und den eigenen Aktionsradius und Machtkreis zu erweitern. Dass er bei seiner Persönlichkeit sich schließlich aus einer inneren Konsequenz heraus zum Diktator entwickelte. Dass nicht nur die Politik, sondern sämtliche menschliche Affären für ihn primär ein Machtspiel waren. Und seine auftrumpfende Industrialisierung- und Rüstungspolitik der Bestätigung der eigenen Macht bzw. der der Sowjetunion galt. In seiner inneren Verarmtheit galt vielleicht sein ganzes Arbeiten dem Bestätigen eines Machtgefühls (auch wenn ihm das, in eben dieser inneren Verarmtheit, so nicht notwendigerweise bewusst war). Das Land, das er so manisch zu gestalten suchte, schien ihn, der noch dazu doch alles wissen wollte und alle Informationen auf dem Tisch liegen haben wollte, in der Praxis dann nicht zu interessieren. Selbst so spektakuläre sowjetische Errichtungen wie der Stahlkomplex von Magnitogorsk besichtigte er nicht. Er verließ den Kreml oder seine Datschen kaum, und wenn, dann um, vor allem in seinen späteren Jahren, auf Urlaub zu fahren. Zwar entspricht das der zurückgezogenen, sich einigelnden Lebensweise von Paranoikern, ein irritierender Kontrast bleibt aber doch. Wenn man so will, ist der politische Erfolg des Woschd, des so bewunderten genialen Sowjetführers, vielleicht kein so großes Wunder: er hat ja alle, die nicht hart dafür arbeiteten, oder sich gar entgegenstellten, umbringen lassen, und alle restlichen permanent damit bedroht. Wie sollte das nicht zum Erfolg führen? Aber auch das ist wohl nicht so leicht, wie man sich vielleicht denkt. Und so bleibt Stalin, gleich Lenin, eine überdimensionale historische Gestalt, und mit der Sowjetunion und dem 20. Jahrhundert eng verwoben.
Mitte der 1920er Jahre mussten die Bolschewiki einsehen, dass auf die eigene Oktoberrevolution keine weiteren (erfolgreichen) Revolutionen im Ausland folgen würden, so wie sie es sich ursprünglich erhofft hatten. Stalin gab daher die Parole vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ aus. Das war auch eine Breitseite gegen Trotzki und seine Idee von der „permanenten Revolution“. In den folgenden Jahren sollte Stalin seinen verhassten Erzfeind innerhalb der Partei demontieren, was dieser in einer für ihn untypischen Willensschwäche über sich ergehen ließ. Trotzki wurde schließlich nach Kasachstan, und dann überhaupt aus der Sowjetunion verbannt. Er begann im Exil von einer „verratenen Revolution“ zu sprechen und zu schreiben, zog jedoch nicht in Betracht, dass am Aufbau des Sowjetstaates, so wie er eben war, und am Terrorapparat er wesentlich beteiligt gewesen war. Welche Entwicklung die Sowjetunion unter Trotzki genommen hätte, ist eine Frage, die kaum gestellt wird. Trotzki war, trotz seiner sektoriellen Brillanz, ein Mann von vielen verschrobenen Ansichten, und er war wohl vom Typ her kein Politiker. Dass Stalin Trotzki 1940 im fernen Mexiko ermorden ließ, kann als Beispiel seiner unversöhnlichen Rachsucht gelten (rational kann diese Tat allerdings gedeutet werden, dass Stalin 1940 niemanden mehr brauchen konnte, der auf der Weltbühne gegen die Sowjetunion und speziell gegen ihn Stimmung machte; wahrscheinlich wusste er, dass er vor allem die Amerikaner bald als Freunde benötigen würde). Was aber nun sah der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ vor? Zunächst eine massive Industrialisierung. Alle Ressourcen des Landes sollten in die Industrialisierung gesteckt werden. Das besiegelte das Ende der NÖP. Die Bauernschaft sollte wieder primär das städtische Proletariat versorgen. Die neureichen Konjunkturritter, die die NÖP hervorgebracht hatte, waren den Bolschewiki zunehmend ein Dorn im Auge. Ein noch größerer Dorn im Auge war ihnen aber wohl, dass der Sowjetstaat die Bauern kaum kontrollieren konnte und die Bauernschaft, wie sich gezeigt hatte, zur Rebellion neigte. Schließlich sah auch der orthodoxe Marxismus im Kleinbauerntum keine Klasse mit Zukunft. Die Zukunft sah er in der industriellen Bewirtschaftung in landwirtschaftlichen Großbetrieben. Die Partei beschloss daher, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Ihr Kampf, zu dem sie auch die Bauernschaft selbst anstachelte, richtete sich gegen „Kulaken“, wohlhabende und besitzende Bauern (die allerdings auch am effizientesten produzierten). Diese sollten enteignet werden. Die Festlegung, wer Kulak war und wer nicht, war allerdings einigermaßen willkürlich, folgte darin aber der Logik des Vorhabens, eine willkürliche Ordnung aus dem Boden zu stampfen und seiner intransigenten Vorgehensweise. Letztendlich gingen die Kommunisten immer wieder so vor – in China, in Vietnam, in Kambodscha, bis hin zum „Leuchtenden Pfad“ in Peru – dass sie „Klassenkonflikte“ auf dem Land provozierten oder postulierten, um so einen Fuß in die Bauernschaft und in die Dorfgemeinde hineinzubringen und als Ordnungsmacht auftreten zu können. Die Bauern wehrten sich gegen die Kollektivierung, die ihnen unnatürlich erschien, und gegen die erneuten Zwangsabgaben, und so kam es Anfang der 1930er Jahre erneut zu einer Hungerkatastrophe mit Millionen von Toten und noch mehr Millionen von Unterversorgten im Land. Das Territorium der Ukraine war besonders betroffen, und so vermuten zumindest ukrainische Nationalisten einen „Holodomor“, eine absichtlich provozierte Hungerkatastrophe, die sich gegen eine unbotmäßige Bevölkerung richtete. Obwohl die Kollektivierung derartige kriegsähnliche Züge hatte, kann dieser Verdacht aber dann doch nicht erhärtet werden. Missmanagement und Gleichgültigkeit von oben hatten die Katastrophe verursacht (wenig bekannt ist, dass Kasachstan damals noch stärker vom Hunger betroffen war als die Ukraine, wobei zwischen Kasachstan und Russland traditionell aber keine politischen Friktionen bestehen). Trotz des Hungers im eigenen Land exportierte die Sowjetunion weiterhin Getreide ins Ausland, da sie für die Industrialisierung Kapital und Maschinen importieren musste. Die Industrialisierung verlief ähnlich brutal. Mit oftmals einfachen Mitteln errichteten Arbeiter Industrieanlangen und Infrastrukturen. Für die oft gefährlichen Arbeiten in unwegsamen Territorien wurden Zwangsarbeiter und „Klassenfeinde“ herangezogen, die das Terrorsystem in großer Zahl produzierte. 1928 wurde der erste Fünfjahresplan verabschiedet, bis zu deren Ende das zentrale wirtschaftspolitische Steuerungsinstrument in der Sowjetunion. Tatsächlich gelangen in der Industrialisierung spektakuläre Erfolge. Allerdings waren, neben den unmittelbaren menschlichen Kosten, auch die Ineffizienzen groß: die Anlagen waren oftmals mit primitiven Mitteln errichtet worden und auf der Basis von willkürlichen Planvorgaben, die oftmals klammheimlich unterlaufen wurden. Die Nemesis einer Planwirtschaft und einer Top-Down Bürokratie ist die Schummelei, die sie an allen untergeordneten Instanzen produziert (oder aber das egoistische Erfüllen und Übererfüllen von Vorgaben auf Kosten anderer Bereiche). Auch in den kapitalistischen Ländern war die Geburt der Industrie gewalttätig und chaotisch gewesen; allerdings ging sie langsamer vor sich und entwickelte sich organischer (in die Gesellschaft hinein). Genau das aber glaubte Stalin ausgleichen zu müssen. Unter anderem in der ewigen russischen Besessenheit ob der eigenen Rückständigkeit, wollte Stalin die Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit an die vorderste Front der westlichen Industrieländer anschließen lassen. Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um fünfzig bis hundert Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zusammen, oder wir werden zermalmt. (vgl. z.B Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) 1931 ausgesprochen, wirkten diese Worte Stalins später geradezu prophetisch. Die Millionen von Opfern der Industrialisierung und der Kollektivierung erschienen so gerechtfertigt, da sie den Sieg über den Faschismus ermöglichten und eine Kolonialisierung und Versklavung riesiger sowjetischer Gebiete durch die Nazis verhinderten, die sich diesbezüglich in Auslöschungspläne von bis zu 30 Millionen Menschen verstiegen, um „Lebensraum“ für sich selbst zu schaffen. Aber hat Stalin das tatsächlich so genau vorhergesehen (so genau konnte er das natürlich gar nicht)? In seiner Paranoia witterte Stalin bekanntlich immer und überall Feinde. Dennoch: „Auch Paranoiker haben Feinde“, wie er selbst bonmotmäßig bemerkt haben soll. Der „Aufbau vom Sozialismus in einem Land“ bedeutet natürlich auch, dass dieses Land und dieser Sozialismus wehrfähig sein sollten, umso mehr, wenn Kapitalismus und Sozialismus als unversöhnliche Gegensätze angesehen werden, die letztendlich auf Konfrontation hinauslaufen. Auch ein sozialistisches Land wird Außenpolitik betreiben und versuchen, Beziehungen zu anderen Ländern im eigenen Interesse zu gestalten, wenn nötig auch mit miesen Tricks oder mit Gewalt. Auch wenn die Bolschewiki stets den Imperialismus der kapitalistischen Länder verdammten, waren ihnen ihre Revolution und ihr Sowjetstaat heilig, und sie kannten auch in ihren ausländischen Beziehungen wenig Skrupel, ganz vorwiegend in dessen eigenem Interesse zu handeln. Dermaßen gestalteten sie auch die Komintern, den internationalen Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien, die sie stets zur Übernahme von Politiken, die der Sowjetunion nützlich waren anhielten, auch wenn das ihren eigenen Interessen entgegenlief. In einer gewissen Weise (vielleicht sogar viel deutlicheren Weise, als man gemeinhin meint), waren der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, die Kollektivierung, die Industrialisierung und die Aufrüstung, auch ein imperialistisches Projekt. Imperialistisch wurde die Sowjetunion in jenen Jahren auf jeden Fall im Inneren. Es wurde eine umfassende Diktatur errichtet, freie Presse wurde verboten, Universitäten wurden an die Leine genommen. Während in den Anfangsjahren der Sowjetunion interessante und avantgardistische Kunst produziert wurde, wurde sie jetzt im Wesentlichen zu konservativen Formen und unmittelbaren politischen Inhalten verdonnert. Die Partei versuchte viel tiefer in das Leben ihrer Bürger einzudringen, als das die Faschisten, inklusive der Nationalsozialisten, taten. Im Dritten Reich wurde der Fachmann geschätzt und blieb der Bürger unbehelligt, wenn er politisch neutral blieb und sich nicht gegen die Regierung wandte. In der Sowjetunion arbeitete man auf ein aktives Bekenntnis aller zum Kommunismus und zum Sowjetstaat hin. Mehr noch, wollte man aus dem Sowjetbürger einen „neuen Menschen“, einen besseren sozialistischen Menschen schaffen. Während das in der Praxis auf die Konditionierung eines genügsamen Arbeitstieres, das sich für den Sowjetstaat aufopferte, hinauslief, war der utopisch-ideologische Überschuss dramatisch. Auch die traditionellen Familienbande versuchte man umzugestalten, um den Menschen ganz als Kollektivwesen aufgehen zu lassen. Später erkannten die Bolschewiki, dass sie mit all dem – und mit so vielem anderen – zu weit gegangen waren und zu weltfremd agiert hatten. Was jedoch andere Kommunisten nicht hinderte, dasselbe in teilweise noch extremerer Form zu versuchen, vor allem in China unter der Kulturrevolution und unter den Roten Khmer in Kambodscha. Gleichzeitig war diese Phase der Diktatur und die Kampagne vom „Neuen Menschen“ aber auch ein Instrument, um die Bevölkerung in der schwierigen Phase der Kollektivierung und des ersten Fünfjahresplans auf Spur zu halten. Als die ersten Etappen genommen worden waren, trat wieder eine Veränderung, und auch eine Erschöpfung in der Gesellschaft ein. Die Bolschewiki sahen ein weiteres Ziel im Klassenkampf und im Aufbau des Sozialismus erreicht. Tatsächlich hatte sich die Gesellschaft verändert, und sie hatte sich für viele Sowjetbürger zum Positiven verändert. Die Bolschewiki hatten von Anfang an das Schul- und Unterrichtswesen massiv ausgebaut. Abgesehen von der humanistischen Mission der aufklärerischen Kommunisten benötigte der Sowjetstaat Funktionäre für seinen riesigen Beamtenapparat, darüber hinaus Wissenschaftler, Ingenieure, Ökonomen und Agrarexperten. Millionen von jungen Menschen hatten während des Weltkrieges oder des Bürgerkrieges ihre Eltern verloren, oder es wurden während des Kriegskommunismus oder der Kollektivierung ihre dörflichen Gemeinschaften zerstört. Sie fanden jedoch im Bildungswesen und im Sowjetstaat Aufnahme und hatten die Möglichkeit, vom unteren Ende der Gesellschaft in respektable Positionen aufzusteigen. Dafür waren sie dem Sowjetstaat und seinen Führern dankbar und wurden loyale, wenn nicht begeisterte Sowjetbürger und überzeugte Kommunisten. Natürlich war auch die Ausbildung dieser Leute nicht perfekt. Kritiker meinten vielmehr, dass die neuen sowjetischen Funktionäre zwar alle Laster der Klassenfeinde – der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, der zaristischen Beamten – hatten, aber keine von deren Tugenden. Zudem waren viele dieser Funktionäre korrupt. Dennoch trafen sie paradoxerweise auf eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung und der Bauernschaft als die früheren zaristischen Beamten, da sie als „einer von ihnen, der es geschafft hatte“ angesehen wurden. Insgesamt war aber auch die Bildungspolitik der Sowjets ein Erfolg. Viele der hohen KPdSU-Funktionäre waren Kinder aus der Provinz, die so nie hätten studieren können oder in den Genuss einer höheren Ausbildung gekommen wären, hätte es den Sowjetstaat nicht gegeben: unter ihnen Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow. In den 1930er Jahren drang der Konsum in die urbanen Zentren ein, und Moskau wurde teilweise wieder mondän. Zu repräsentativen Zwecken wurden in Moskau Prachtbauten und Wolkenkratzer errichtet, sowie die Moskauer Metro. 1936 gab sich die Sowjetunion eine Verfassung. Während die kapitalistische Welt unter der Weltwirtschaftskrise ächzte, aus der sie scheinbar keinen Ausweg fand, und die auch den Rest der Welt in Mitleidenschaft zog, sah man im In- und Ausland die Sowjetunion bewundernd als immun dagegen an (aus irgendeinem Grund wurde übersehen, dass die Hungerkatastrophe und die Versorgungskrise Anfang der 1930 Jahre ja noch schlimmer waren, und das Versorgungsniveau allgemein sehr niedrig geblieben war). Doch wie immer unter Stalin ließ das nächste Unheil nicht lange auf sich warten.
Was der letztendliche Grund oder Auslöser für die Säuberungswelle und den Großen Terror von 1936 bis 1938 gewesen ist, ist (wie so vieles andere) ein Geheimnis, das der verschlossene Stalin mit ins Grab genommen hat. Obwohl dabei weniger Menschen umgekommen sind als bei anderen Aktionen der Sowjets (man geht von ca. einer Million Toter und 2,5 Millionen Verhafteter aus), irritiert der Große Terror besonders durch seine Bizarrerie und scheinbare Unerklärlichkeit, seine offenbar mangelnde Notwendigkeit. Tatsächlich hatte so etwas wie die Moskauer Schauprozesse, in denen sich altgediente Bolschewiki und Veteranen der Oktoberrevolution als jahrelange „Konterrevolutionäre“ und „Agenten des faschistischen Auslands“ entlarvten (und dafür zum Tode verurteilt wurden), die Welt noch nicht gesehen. Was war der Grund dafür, dass Stalin gegen die eigene Partei, und in weiterer Folge gegen die Rote Armee und gegen die einfache Bevölkerung vorging? Die Kollektivierung, überhastete Industrialisierung und die Hungerkatastrophe hatten Anfang der 1930er Jahre Widerstand gegen Stalin in der eigenen Partei hervorgerufen, der jedoch recht begrenzt geblieben war. Auf dem XVII. Parteitag der WKP im Februar 1934 wurde Stalin jedoch angeblich in einer Abstimmung in erheblichem Maße das Vertrauen entzogen. Ein hohes Vertrauen wurde jedoch dem allgemein beliebten und charismatischen hohen Funktionär Sergei Kirow zugesprochen. Stalin habe das Ergebnis geheim gehalten, es aber als akute Bedrohung seiner Macht betrachtet, außerdem habe es starke Neidgefühle in ihm gegenüber Kirow provoziert. Kirow, an und für sich ein Freund Stalins, wurde im Dezember desselben Jahres von einem Attentäter ermordet. Dass Stalin hinter dem Attentat gesteckt hätte, konnte bis heute nicht bewiesen werden; gewisse Gründe sprechen für eine solche Annahme, andere dagegen. Ebenso gibt es keinen Beweis für das Abstimmungsergebnis vom XXVI. Parteitag, so dass auch dieses mögliche Motiv im Dunklen bleibt. Auf jeden Fall nutzte Stalin die Ermordung Kirows aber, um eine umfassende Säuberung der Partei vor „inneren Feinden“ in Gang zu setzen. Damit beauftragt wurde Nikolai Jeschow, ein gnomenhafter, versteckt homosexueller Mann, in dem Stalin wohl den Minderwertigkeitskomplex erkannte und das Bedürfnis, sich auszuzeichnen. Fraktionsbildung (und damit freie Meinungsäußerung) innerhalb der KPdSU war bereits unter Lenin verboten worden und Parteimitglieder wie Trotzki oder Bucharin (der die NÖP verteidigte und daher als „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt wurde) wurden zumindest aus der Partei ausgeschlossen. Jeschow betonte in Artikeln, wie wichtig und überlebensnotwendig Einigkeit in der Partei sei, und wie gefährlich jegliches Abweichlertum, das mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Besser sei es, auch Unschuldige zu liquidieren, als Schuldige unentdeckt zu lassen. Mit dieser Ideologie setzte Jeschow eine manische Verfolgungsjagd in Gang, die sich nicht nur auf die Partei, sondern auch auf die Armee und auf die einfache Bevölkerung erstreckte. Plansolle wurden ausgegeben und das Denunziantentum befördert, um in allen Bevölkerungsgruppen „Verräter“ ausfindig zu machen. Da man Dissidenten nicht über Plansolle ausfindig machen kann, liegt der Schluss nahe, dass die Einschüchterung sämtlicher Schichten der Sowjetbevölkerung gegenüber der politischen Führung das eigentliche Ziel der Kampagne gewesen war. Natürlich aber untergräbt eine solche Politik aber auch jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkt kumulativ zerstörerisch. Als Stalin das erkannte, enthob er Jeschow 1938 seines Postens. Der war mit dem Prozedere bekannt und wusste, dass seine eigene Verhaftung und Hinrichtung nur mehr eine Frage der Zeit sein würden, und so kam es dann auch. Wie schon zuvor, als er seinen Chefhenker Genrich Jagoda durch Jeschow absetzen und hinrichten ließ, „säuberte“ sich Stalin, indem er nun Jeschow fallen ließ, und ihn durch den noch schrecklicheren, aber methodischer vorgehenden Lawrenti Berija als Chef des NKWD ersetzen ließ. Das machte für Stalin auch Sinn, ebenso, wie dass er treue Altbolschewiki wie Bucharin oder Kamenev als „Verräter“ und „faschistische Agenten“ in den Schauprozessen vorführen ließ. Tatsächlich hielten weite Teile der Bevölkerung Stalin für einen „guten Zaren“ und wohlmeinenden Patriarchen, während für den Terror, die Korruption und die Repressalien, die sie erlebten, allein niederrangige Funktionäre verantwortlich seien. Weniger verständlich bleiben die Säuberungen bei weiten Teilen der Offiziere der Roten Armee, inklusive etlicher ihrer ranghöchsten Generäle. Stalin-Apologeten meinen, Stalin habe den Krieg gegen den Faschismus vorhergesehen, und die Gefahr einer illoyalen Armee als größere Gefahr eingeschätzt als die einer personell und intellektuell vorübergehend dezimierten. Allerdings gibt es keinen Grund anzunehmen, warum nicht das Umgekehrte eher der Fall sein sollte (wenngleich in den Augen eines Paranoikers wohl eher die erstere Kalkulation gilt). Wenn Stalin den nahenden Krieg gegen Deutschland (oder Japan) vorausgesehen hätte, warum hätte er die Rote Armee derart geschwächt? All das bleibt im Dunkeln – genauso wie die Frage, ob den Krieg denn tatsächlich vorhergesehen hat, und der ganze Große Terror nur der verzweifelte Versuch war, das Land auf den Krieg vorzubereiten und für Geschlossenheit in den eigenen Reihen zu sorgen, so wie (nicht nur) von Stalin-Apologeten behauptet. Am Ende der Säuberungen auf jeden Fall stand Stalin in der Fülle von absoluter Macht da. Vorher war er doch kein Alleinherrscher, sondern der Parteidisziplin unterworfen. Nunmehr gab es diese Partei so nicht mehr, all die Altbolschewiki, die Stalin einigermaßen auf Augenhöhe begegnen konnten, lebten nicht mehr. Stattdessen nahmen deren Posten nunmehr junge Funktionäre ein, die Stalin treu ergeben waren (auch in der Roten Armee war das so). Stalin konnte sich nicht nur allmächtig, sondern (zumindest für eine Weile) auch vor „Bedrohungen“ sicher fühlen, die er dauernd wo erblickte und die er tatsächlich als gleichsam tödliche Gefahr für die eigene psychologische Integrität wahrnahm. Man kann wohl sagen, dass jemand wie Stalin in eine solche Richtung gravitieren wird. Seine Pathologie wird ihn dazu führen, sein Umfeld, seine Lebenswelt und sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen dementsprechend zu gestalten. Glücklicherweise ist es selten, dass Individuen wie Stalin oder Hitler maßlose Machtmittel in die Hand bekommen und in einer gewissen Zeit und in bestimmten Situationen auftauchen, wo sie ganze Erdteile mit Verheerungen überziehen können.
Der Hitler-Stalin-Pakt löste den Zweiten Weltkrieg aus. Nazideutschland und die Sowjetunion fielen jeweils in Polen ein und teilten sein Territorium untereinander auf. Damit hatten sie nunmehr eine gemeinsame Grenze. Die Sowjetunion versuchte daher auch das Baltikum und Finnland unter seine militärische Kontrolle zu bringen. Stalin war vorher bemüht gewesen, mit England und Frankreich ein Anti-Hitler-Bündnis zu schließen, was von beiden Mächten aber abgewiesen wurde. Das wird vielerorts als Hinweis verstanden, dass die Westmächte eine Ableitung der Hitlerschen Aggression Richtung Sowjetunion erhoffen oder zumindest kalkulierten (allerdings stellte Stalin angeblich aber auch inakzeptable Forderungen an ein solches Bündnis). Mit dem Hitler-Stalin-Pakt dachte sich Stalin, er könnte die Hitlersche Aggression seinerseits von sich ablenken, zumindest für eine gewisse Zeit. Nachdem er Polen erobert hatte, wandte sich Hitler tatsächlich daraufhin nach Westen. Dass die Wehrmacht Frankreich so schnell einnehmen konnte, kam für Stalin als Schock. Nunmehr war es England und das britische Empire, das gegen Nazideutschland Widerstand leistete. Hitler, dessen Drittes Reich kein Empire hatte und unter Ressourcenknappheit litt, befürchtete, ein anhaltender Krieg gegen England würde ihn schwächen, und das würde schließlich die Sowjetunion dazu provozieren, ihn ihrerseits anzugreifen. Mehr noch, hatte er es auf die Ressourcen abgesehen, die im Osten lagen, vor allem die Kornkammern der Ukraine und die Ölquellen in Baku. „Lebensraum“ im Osten zu schaffen, war sowieso sein ursprüngliches Ziel gewesen, genauso wie die Ausrottung des Bolschewismus. Taktisch sah Hitler im Frühjahr 1941 eine „einmalige“ Gelegenheit gekommen, die Sowjetunion erfolgreich angreifen zu können und befahl den Start des „Unternehmen Barbarossa“ am 22. Juni des Jahres. Einem an und für sich zu späten Termin. Doch tatsächlich gelang es der Wehrmacht, in den folgenden Monaten bis an die Tore Moskaus vorzustoßen – dann erst stoppte sie der russische Winter. Stalins eigentümliche Weigerung, die Bedrohung rechtzeitig anzuerkennen, hatte zur Schwäche der Roten Armee, die von der Wehrmacht überrannt wurde, beigetragen. Im allgemeinen Verständnis war sich Stalin dessen bewusst, dass die Rote Armee noch zu schwach gewesen wäre, um der Wehrmacht begegnen zu können. Deshalb hoffte er den Angriff möglichst hinauszögern zu können und verhielt sich über alle Maßen passiv und wollte „Provokationen“ gegenüber der Wehrmacht vermeiden. Außerdem habe er sich, als klassischer Realpolitiker, nicht vorstellen können, dass Hitler tatsächlich eine zweite Front eröffnen würde. In dem Fall hätte Stalin nicht zur Kenntnis genommen, dass Hitler aber kein Realpolitiker war. Seine gesamte politische Karriere über war Hitler ein Hasardeur und ein Va Banque Spieler gewesen, der mit seiner Frechheit und seinem radikal unkonventionellen Vorgehen stets alle Welt überrumpelte, die auf so etwas mental nicht vorbereitet war. Gleichzeitig verstand sich Hitler als rationaler Akteur zu geben und auch dadurch anderen den Eindruck zu vermitteln, sein aktuelles Husarenstück sei sein letztes gewesen (alles andere wäre auch tatsächlich zu gefährlich und irrational gewesen). In dieser Hinsicht, und weil Kriege ihre eigenen Logiken mit sich bringen und ständig neue Dilemmata erzeugen, entschloss sich Hitler also zum Angriff auf die Sowjetunion. Was heute als so offensichtlicher Fehler erscheint, erschien kaum einem seiner Generäle damals als unmögliches Unterfangen (Ziel wäre es gewesen, die europäische Sowjetunion einzunehmen, die Russen hinter den Ural zurückzudrängen und die deutschen Positionen dementsprechend zu befestigen). Unkonventionell war auch die von Hitler befohlene Kriegsführung. Der Krieg gegen die Sowjetunion sollte ein Vernichtungskrieg sein. Zumindest als solcher war er bis zuletzt konsequent. Als die Wehrmacht Ende 1941 vor Moskau steckenblieb, konnte sich Hitler noch realistische Hoffnungen auf die erfolgreiche Fortsetzung der Offensive im Frühjahr 1942 machen. Doch auch diese blieb dann stecken. Der Hasardeur hatte sein Blatt überreizt, nun folgte umso konsequenter die Niederlage. Auch hatte sich Hitlers Menschenkenntnis vorwiegend darauf beschränkt, die Schwächen anderer Menschen gut zu erkennen, um sie in seinem Sinn manipulieren zu können. Weniger Sinn hatte er für die Stärken anderer Menschen, die nunmehr die Alliierten, und vor allem die Sowjetbürger(innen) und Sowjetsoldat(inn)en gegen ihn in Anschlag brachten. Die Tapferkeit, die die Sowjetunion und ihre Völker im Kampf gegen den Faschismus aufboten, gehört zum Glanzvollsten, was im 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist. Auch Stalin schien sich, nach seinen anfänglichen Fehlern, als oberster Befehlshaber verdient zu machen. Er wurde zum Marschall und schließlich zum Generalissimus ernannt, und es wird allgemein davon ausgegangen, dass er einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat. Er war aber auch ein grausamer Heerführer, setzte, wie immer, auf Terror und befahl zum Beispiel, dass jeder Soldat, der zurückweiche, erschossen zu haben werde (was die Offiziere an der Front jedoch meist nicht ausführten, da sie wussten, dass man so keine Armee führen konnte). Völker im Westen, die er der möglichen Kollaboration mit den Deutschen verdächtigte, ließ er in seiner üblichen rücksichtslosen Weise deportieren – und tatsächlich waren nicht wenige Sowjetbürger bereit, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, da der jahrzehntelagen Sowjetterror sie erschöpft hatte. Allerdings stellten sich die Deutschen schnell als noch schlimmer heraus. Gleichzeitig erlaubte Stalin während des Krieges eine Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft und eine freiere Atmosphäre, um den gewaltigen Druck, der auf ihr lastete ein wenig abzulassen. Auch wenn Hitler wohl gewusst hat, dass sich das Blatt entscheidend gegen ihn gewendet hat, setzte er den Krieg fort, da er in seiner eigenen paranoiden Emotionalität bis ganz zuletzt auf einen glanzvollen „Endsieg“ hoffte, auf ein Auseinanderbrechen der Alliierten, und weil er Rückschläge stets als Fehler (oder Verrat) seiner Generäle betrachtete, also als etwas, was an und für sich, und vor allem mit den nötigen „Willensstärke“, die er von allen einforderte, vermeidbar gewesen wäre (und nicht als ein Resultat der nunmehr veränderten Kräfteverhältnisse). Während Stalin als oberster Befehlshaber sein Volk zum Sieg führte, führten Hitlers irrationale Einmischungen in die eigene Kriegsführung zur Niederlage. Allerdings auch dazu, dass der Krieg bis ganz zuletzt mit unerbittlichster Härte geführt werden musste. Ihren Vernichtungskrieg führten die Deutschen im Osten unbeirrt. Nicht nur aus rassenideologischen und antisemitischen Gründen (als erstes und am Totalsten richtete der Vernichtungskrieg gegen jüdische Sowjetbürger), sondern auch, weil die Deutschen aufgrund ihrer Ressourcenknappheit die Bevölkerungen in den eroberten Territorien nicht ernähren konnten. Sie mussten ihre eigene Bevölkerung und die Wehrmacht versorgen und lenkten die Getreideexporte aus der Ukraine in ihre eigene Richtung. Damit schnitten sie erhebliche Teile der Sowjetbevölkerung, vor allem in Weißrussland, von der Lebensmittelzufuhr ab. In einem zynischen Plan kalkulierten die Nazi-Planer ganz offen mit Millionen von Toten, die diese Maßnahmen verursachen würden. Vor allem wollten die Deutschen riesige Gebiete für sich selbst urbar machen – unter Ausrottung der dortigen Bevölkerung. Zum Beispiel Göring entwickelte Visionen einer Kolonialisierungspolitik, die 30 Millionen Tote mit sich gebracht hätte. Tatsächlich forderte der Zweite Weltkrieg nach heutigem Erkenntnisstand 27 Millionen Tote in der Sowjetunion. Die Verheerungen, die der Krieg auf sowjetischem Territorium verursachte, entspricht der Zerstörungskraft von 200 Atombomben (der Größe der Bombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde). Trotzdem gelang es der Roten Armee, Hitler bis an die Tür seines Bunkers zu verfolgen, in dem er im letzten Moment Selbstmord begangen hatte; zuletzt in einem hoffnungslos-sinnlos von den Deutschen brutal geführten Häuserkampf um Berlin. Tatsächlich steht wohl die Moskauer Siegesparade von 24. Juni 1945 für den größten Tag in der Geschichte Russlands. Sie war auch eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Sowjetbürger Stalin öffentlich zu sehen bekamen: wie immer nur bei solchen Gelegenheiten als kleine, winkende Figur auf einer hohen Tribüne.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Machtfülle Stalins und der Personenkult, der um ihn im In- und Ausland betrieben wurde, ins Unermessliche. Darüber, wie die internen Prozesse in der Führung des Landes und seiner Armee während des Krieges waren und welche Kämpfe Stalin auszufechten gehabt hatte, bleibt vieles im Dunklen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass Stalin einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat (anders war seine Machtfülle dann doch auch nicht zu erklären). Mehr noch, war die Rote Armee nach halb Europa vorgedrungen. Anfangs waren das Elend und die Entbehrungen in der Sowjetunion groß. 1946 kam es zu einer weiteren Hungersnot (die von Stalin ärgerlich ignoriert wurde, da er nicht wusste, wie er Abhilfe schaffen sollte), 1947 erfolgte eine Neubewertung der Währung, die die Kaufkraft der Bevölkerung massiv beschnitt. Dennoch schien sich das Land rasch zu erholen – nicht zuletzt auch deswegen, weil man in Europa, vor allem im besetzen Teil Deutschlands, massiv Industrieanlangen demontierte und übernahm. Stalin schien bei Sportparaden regelrecht aufzublühen, in denen er stellvertretend die Jugend und die Regenerationskraft des Landes, sein Athletentum und seine verheißungsvolle heroische Zukunft wahrzunehmen schien. Dennoch nahm Stalin die Maßnahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung während des Krieges schnell wieder zurück und etablierte wieder eine repressive Diktatur. Durch den Krieg war die Sowjetunion näher ans kapitalistische Ausland gerückt, und die vielen dort stationierten Sowjetsoldaten konnten den viel höheren Lebensstandard und die dort herrschenden politischen Freiheiten erleben. Mit der Folge, dass Stalin sie in großem Stil internieren ließ, als sie zurückkehrten. Trotzdem saß Stalin fester im Sattel denn je, nicht zuletzt auf der Weltbühne. Er hatte Osteuropa in seine Gewalt gebracht und betrachtete es nun als „sein“ Herrschaftsgebiet. Angeblich hatte er ursprünglich nicht vorgehabt, die Länder Osteuropas in kleine Spiegelbilder der Sowjetunion zu verwandeln, sondern hätte sich mit einer laxeren Form der Hegemonie zufriedengegeben. Doch die amerikanische Atombombe veränderte sein Kalkül und veranlasste ihn, die Zügel straffer anzuziehen. Der offiziellen Lesart zufolge beanspruchte die Sowjetunion Osteuropa als „Pufferzone“, um erneute Einmärsche durch westeuropäische Mächte abzuwehren. Dennoch war das Projekt klar (und nicht nur im defensiven Sinn) imperialistisch. Dass ein Eiserner Vorhang über Europa niederging, in dessen Folge Institutionen wie die Nato und der Warschauer Pakt geschaffen wurden, lag ursprünglich wohl nicht in der Intention der beteiligten Mächte. Aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sich, bei anderer personeller Besetzung, die kumulativen Dynamiken in eine grundsätzlich andere Richtung hätten entwickeln können. Damit stand Stalin aber vor einem Problem neuer Art: Nachdem die Bolschewiki ursprünglich auf eine Weltrevolution gehofft hatten, stellte sich jetzt die Frage, wie mehrere kommunistische Länder untereinander ihre Beziehungen regeln sollten, vor allem, wenn unterschiedliche Länder unterschiedliche Visionen vom Kommunismus hatten und diese umso leidenschaftlicher verteidigten. Damals wie heute träumen Kommunisten vom Weltfrieden unter ihrer Ägide, obwohl sie ja selbst in der Geschichte ihrer eigenen nationalen Parteien nicht zuletzt eine Geschichte der Fraktionskämpfe, der Streitigkeiten, bis hin zu fast kriegsähnlichen Auseinandersetzungen erblicken könnten. Stalin setzte, wie immer, auf eine Politik der politischen und ideologischen Geschlossenheit der kommunistischen Welt unter seiner Führung. Tito war seinerseits Kommunist und ein Bewunderer Stalins gewesen, dem er auch einiges zu verdanken hatte. Dennoch war er jemand, der Hitler und der Wehrmacht die Stirn geboten hatte und sein Land im Wesentlichen selber befreit hatte. Er sollte schließlich weder Lust noch Grund dazu verspüren, zu einer Marionette Stalins und der Sowjetunion zu verkommen, und schlug schließlich seinen eigenen, blockfreien Weg ein. Stalin schäumte seiner Natur gemäß enorm über diese Insubordination, umso mehr, als er gegen den verwegenen Partisanenführer letztendlich nichts ausrichten konnte. Tito hatte ihm die Grenzen seiner Macht, und der Macht der Sowjetunion, zu definieren, was Kommunismus sei und was nicht, aufgezeigt. Eine potenziell viel stärkere kommunistische Macht etablierte sich aber 1949 mit Rotchina unter Mao Zedong. Die Kommunisten Chinas waren von Anfang an von der Sowjetunion unterstützt worden (und verdankten ihr letztendlich alles), allerdings stets auch als Variable in deren eigene strategischen Gleichungen eingebaut gewesen. Zuletzt noch versuchte Stalin Mao von einem Vorpreschen auf dem schließlichen Weg zur Machtübernahme abzuhalten, da ihm das für die aktuellen geostrategischen Bedürfnisse der Sowjetunion günstiger erschienen war. Dennoch eroberte Mao 1949 die Macht, und das im Prinzip aus eigener Kraft. Mao war ein Bewunderer Stalins. Der jedoch begegnete ihm recht von oben herab (eine Marotte, die sich Stalin vor allem nach dem Krieg jedem Staatsoberhaupt gegenüber zulegte, um es „auszutesten“ und zu sehen, wie weit er gehen könnte). Stalin war bewusst, dass China mittelfristig eine ebenbürtige und längerfristig wohl eine überlegene kommunistische Hegemonialmacht werden dürfte. Umso mehr, als der Kommunismus nunmehr auch in Asien Fuß fasste, abermals einer Weltregion, in der es wenig Kapitalismus gab, und in der die Sozialstrukturen noch verschiedener waren als die von Marx für den Kommunismus vorausgesetzten, als es in Russland der Fall gewesen war. Stalin unterstützte das junge Rotchina zwar bei der industriellen und technologischen Entwicklung, war jedoch auch versucht, es in seinem Eifer zu bremsen. Nicht zuletzt führte er als Argument die Verwerfungen der eigenen Industrialisierungsgeschichte und die hohen menschlichen Kosten an, auch wenn er Mao mit einem solchen Argument nicht erreichte. Der war jedoch von der Sowjetunion einstweilen noch abhängig, und dass eine allzu überhastete Umgestaltung seines Landes wohl keine so gute Idee war, leuchtete ihm (damals) auch noch selber ein. Es war auch Stalin, der hauptsächlich den Koreakrieg anzettelte (um die Amerikaner, wie er meinte, von ihm selbst abzulenken), sich aber gleichzeitig offiziell aus dem Krieg heraushielt und vielmehr China dazu drängte, dort einen Stellvertreterkrieg zu führen. Im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion kurz davor gestanden, in Japan einzufallen. Dem allerdings kamen die Amerikaner mit dem Abwurf der beiden Atombomben zuvor, auf den hinauf Japan kapitulierte. Doch auch der Sowjetunion gelang es daraufhin, Atomwaffen zu entwickeln. Der Nahe Osten war eine weitere Weltregion, wo die Karten der Geostrategie neu gemischt wurden. 1948 kam es zur Gründung des Staates Israel. Stalin hatte das anfänglich begrüßt, da er annahm, dass Israel ein enges Verhältnis zur Sowjetunion eingehen würde. Als sich Israel aber schnell primär den USA zuwandte, brachte das bei Stalin seinen sowieso latent immer vorhanden gewesenen Antisemitismus zum Überlaufen, mit dem er die sowjetische Gesellschaft in seinen letzten Jahren überzog. Er klagte auch darüber, dass er die Juden in der Sowjetunion nicht assimilieren könne, was für jemand wie ihn, der so sehr auf Homogenität, Uniformität und Berechenbarkeit seiner Umgebung Wert legte, tatsächlich ein Ärgernis sein musste. Seine Entourage hielt Stalin in seinen letzten Jahren fest im Griff, indem er sie zu allnächtlichen Saufgelagen bei ihm verdonnerte, um sie daran zu hindern, mögliche Intrigen gegen ihn zu spinnen. Er schien mit ihr auch nicht zufrieden zu sein. Stalin war nunmehr ein alter Mann von schlechter Gesundheit. Er musste sich Gedanken darüber machen, wie es mit der Sowjetunion weitergehen sollte, wenn er nicht mehr da war. Es gibt Anzeichen, dass Stalin vor seinem Tod eine erneute Parteisäuberung in Gang setzen wollte, um erneut eine „junge“ Generation von entschlossenen Kommunisten an die Macht zu bringen, von der er sich die notwendige Intransigenz im weltweiten Klassenkampf und in der Führung des Sowjetimperiums erhoffte (er erachtete seine aus jahrzehntelang altgedienten Bolschewiki bestehende Entourage als „blind, blind wie junge Katzen“ für die angeblichen Ränkespiele der Feinde im In- und Ausland). Auf jeden Fall wurde eine (antisemitisch konnotierte) Kampagne hinsichtlich einer angeblichen „Ärzteverschwörung“ in Gang gesetzt (seine Leibärzte hatten den ungesund lebenden Stalin mit ihren Prognosen und Empfehlungen verunsichert und so vermutete er einen Anschlag auf sein Leben dahinter). War das ein isoliertes Phänomen oder wäre es als Auftakt einer neuen Säuberungswelle gedacht gewesen? Die Welt musste es nicht mehr in Erfahrung bringen.
Stalin starb am 6. März 1953 nach einigen Tagen der Agonie an einem Schlaganfall. Entgegen der Befürchtungen der Stalin-Verehrer im In- und Ausland, dass der Tod des genialen Woschd das Ende der Sowjetunion überhaupt bedeuten würde, passierte nichts dergleichen. Allerdings war sogleich die Frage nach der Nachfolge und nach der Richtung, in die sich die Sowjetunion nun bewegen sollte eröffnet. Obwohl man es gerade von ihm wohl am wenigsten erwartet hätte (oder am ehesten, da er kein Kommunist, sondern ein Karrierist gewesen war), sprach sich der sinistre Geheimdienstchef Beria für einen radikalen Umbau der Sowjetunion aus. Er wollte die Beziehungen zu den Westmächten harmonisieren und die Gesellschaft liberalisieren und löste zunächst weitgehend die Gulags auf, in denen die Menschen als politische Gefangene gehalten wurden (nicht zuletzt, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass das System der Zwangsarbeit teuer und unökonomisch war). Er glaubte, dass die Sowjetunion keine prosperierende wirtschaftliche Zukunft haben könne, wenn kein Privateigentum zugelassen würde. Wie Lenin schien auch Beria in Deutschland ein Land des Vorbildes zu sehen. Während es für Lenin allerdings die Diszipliniertheit, das Organisationstalent und die technologische Avanciertheit der Deutschen waren, für die er sich begeisterte, schien Beria die Sowjetunion insgesamt in einen „sozialdemokratisch“ organisierten Staat mit einem entsprechenden wirtschaftlichen Mischsystem transformieren zu wollen, so wie eben die Bundesrepublik. Wie wäre wohl die Geschichte verlaufen, wenn Beria sich durchgesetzt hätte? Seinen Genossen ging das aber natürlich zu weit. Überhaupt hatte sie allen Grund, den grausamen und unappetitlichen Beria (der unter anderem habituell junge Frauen und eventuell auch Mädchen vergewaltige) zu fürchten. Also ließen sie ihn kurzerhand bestimmter Verbrechen wegen verurteilen und hinrichten, und Beria wurde schließlich zum Opfer von dem, was er selbst seine politische Karriere über so massenhaft veranlasst hatte. Auch hatten die Genossen Grund zu verhindern, dass jemals wieder ein einzelner so viel Macht über sie akkumulieren konnte wie Stalin. Aus den Fraktionskämpfen ging schließlich Nikita Chruschtschow siegreich hervor, ein impulsiver, etwas grobschlächtiger Mann aus der Provinz, der aber auch aufgeschlossen und neugierig war. Er war ein überzeugter Kommunist und ein Bewunderer Stalins, schämte sich jedoch auch für seine Verstricktheit in den Stalinschen Terror und hatte moralische Skrupel. In seiner „Geheimrede“ von 1956 klagte er Stalin posthum zahlreicher seiner Verbrechen an und verurteilte dessen „Personenkult“. Es war ein Signal an die Welt, nicht zuletzt an die kommunistische Welt, dass der sowjetische Hegemon in eine andere Richtung gehen wollte. Anders als Stalin ging Chruschtschow nicht von einer unvermeidlichen Konfrontation des kapitalistischen und des kommunistischen Weltlagers aus, sondern glaubte an die Möglichkeit einer „friedlichen Koexistenz“. Auch gegenüber Osteuropa wollte er die Zügel lockern und er wollte wieder auf Tito zugehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Stalinsche Arroganz schließlich nur alle gegen einen aufbringen würde. In dem Sinn begann er sich auch Mao Zedong beinahe übertrieben freundlich und großzügig zu nähern. Allerdings verfehlte er damit im weiteren Verlauf die gewünschte Wirkung, denn Mao war letztendlich selbst ein Stalin, und konnte allein schon einmal mit entgegenkommendem Verhalten wenig anfangen (er sah es als Zeichen von Schwäche, die er verachtete). Dass Chruschtschow Stalin demontierte und „Personenkult“ aus der kommunistischen Welt entsorgen wollte, kam Mao gar nicht entgegen. Vor allem konterkarierte es das Vorhaben einer eigenen Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung Chinas nach stalinistischem Vorbild, so wie Mao es vorhatte. Chruschtschow hingegen erklärte den Klassenkampf in der Sowjetunion als im Wesentlichen für beendet. Es war im klar, dass er endlich die Konsumgüterindustrie ausbauen müsse, um den Sowjetbürgern einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen. Vor allem wird ihm wohl klar gewesen sein, dass die Sowjetunion nunmehr, zumindest in den urbanen Zentren, ein modernes und durchgehend alphabetisiertes Land war, das man nicht mehr mit grobschlächtigen und groben stalinistischen Methoden führen konnte – vor allem, wenn man es wirtschaftlich diversifizieren wollte. Dieser „Revisionismus“ stieß nicht nur Mao, sondern vielen Marxisten und Kommunisten sauer auf. Als primitives, totalitäres, gleichzeitig umfassendes wie geschlossenes „Denksystem“ vermittelt der Stalinismus Menschen Geborgenheit, die Komplexitäten und Nuancen hassen oder fürchten, und bei denen wohl weniger die Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen, denn der ewige Klassenkampf und die totale Frontstellung gegen die „Bourgeoisie“, mit dem Ziel der absoluten Machtentfaltung ihres eigenen ideologischen Prinzips in der Welt der emotionale Inhalt ihres Lebens ist. In dem Sinn, und in seiner diesbezüglichen „Eleganz“, muss ihnen der Stalinismus auch als gleichsam „ästhetische“ Leistung erscheinen. Unter Chruschtschow begann, so gesehen, hingegen die Ära der „Formlosigkeit“ und der Uneindeutigkeit. Ähnlich wie alle anderen Kommunisten war Chruschtschow aber von der Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem Kapitalismus überzeugt. Er wollte mit der kapitalistischen Welt auf wirtschaftlichem und technologischem Gebiet konkurrieren, und glaubte, sie darin schließlich „einholen und überholen“ zu können. Mit dem Abschuss des ersten Satelliten, des ersten Lebewesens ins Weltall (der Hündin Laika) und des ersten Menschen ins Weltall (des Armeepiloten Juri Gagarin) Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre, verpasste die Sowjetunion der Welt tatsächlich den „Sputnik-Schock“. Der führte allerdings dazu, dass die USA ihre dann doch überlegenen Kapazitäten besser bündelten, und ihre folgende technologische Überlegenheit mit dem ersten Mann im Mond dann zunächst auch symbolisch zementierten. Einstweilen führten die wirtschaftspolitischen Reformen, um die Wirtschaft zu modernisieren und den Lebensstandard zu heben, nicht zum gewünschten Erfolg. Chruschtschow hatte in einem Kernbereich Versprechungen gemacht, von denen sich herausstellte, dass er bzw. das Sowjetsystem sie nicht halten konnte, was Unmut innerhalb der Parteiführung über ihn provozierte. Gleichzeitig fiel die Zeit der Auflösung der Kolonialreiche wesentlich in die Ära Chruschtschows. Naturgemäß unterstützte die Sowjetunion die Unabhängigkeitsbestrebungen, nicht zuletzt aus geostrategischen Gründen. Einige Länder wie Ghana, Mosambik oder Tansania wandten sich auch recht deutlich dem Sozialismus und der Sowjetunion zu. Die unterstützte auch linksgerichtete politische Führer wie Nasser in Ägypten, Sukarno in Indonesien oder Lumumba im Kongo. Das rief die USA auf den Plan, die ihrerseits überall auf der Welt ihnen genehme Regime errichten oder halten, und die Ausbreitung von kommunistischen oder sowjetfreundlichen verhindern wollte, und führte zur unappetitlichen Ära der Kalten Kriegsführung in der ganzen Welt, die ihren traurigen Höhepunkt im Vietnamkrieg fand. Überdies hinaus mussten die Sowjets im Lauf der Zeit feststellen, dass ihre großzügigen und kostspieligen finanziellen und militärischen Hilfeleistungen für diverse Länder und deren Führer dann doch nicht den gewünschten Erfolg brachten. Die zogen es dann doch vor, der Sowjetunion gegenüber relativ autonom zu bleiben. Derweil nahm die Verachtung, die Mao Zedong für Chruschtschow und die Sowjetunion entwickelte, annähernd irrationale und gefährliche Formen an. Es kam zu einem totalen Zerwürfnis der beiden kommunistischen Supermächte und auch zu einem Grenzkrieg zwischen ihnen. Ein strahlender Stern war in Kuba aufgegangen, als Fidel Castro dort das Batista-Regime gestürzt hatte. Ursprünglich kein Kommunist, wurde er aber schnell von den Amerikanern als ein solcher verdächtigt, was ihn dann tatsächlich zu einem machte und ihn in die Arme der Sowjetunion trieb. Die sollte Atomraketen auf Kuba stationieren, eine für die USA nicht hinnehmbare Bedrohung, auf wenn die ihrerseits in der Türkei Raketen stationiert hatte, die eine ähnliche Bedrohung für die Sowjetunion darstellten. Als der Kalte Krieg drohte, ganz heiß zu werden, einigten sich beide Seiten in geheimen Gesprächen auf der Topebene darauf, ihre Raketen jeweils abzuziehen, wobei die Sowjetunion allerdings Stillschweigen bewahren musste über die Nato-Raketen und deren Abzug aus der Türkei. Das ließ Chruschtschow vor den Kubanern und vor seinen eigenen Genossen wie ein Verlierer dastehen, der einseitige Zugeständnisse gemacht hatte. Insgesamt aber hatte Chruschtschows etwas zerfahrener Führungsstil keine so eindeutigen Resultate für die Sowjetunion mit sich gebracht. So wurde er von seinen Genossen 1964 gestürzt und in Pension geschickt. Als sein größtes Vermächtnis sah er es an, dass er ein Klima in der Sowjetunion geschaffen hatte, in dem er deswegen nicht erschossen worden war.
Die Sowjetunion propagierte sich als „friedliebend“, und tatsächlich scheinen die Aggressoren und Bellizisten über ihre Geschichte hinweg primär auf der anderen Seite gewesen zu sein. Aber wie friedliebend kann ein politisches Gebilde wohl sein, dessen ideologisches Fundament der (Klassen-) Kampf ist? Zwar sind diverse Verständnisse und Lesarten des Marxismus möglich, aber in erheblichen Teilen ist er militant und agonal und geht von großen Prinzipien aus, die einander unversöhnlich sind, und partiell oder total auf Konfrontation zusteuern. Den Kampf zwischen diesen beiden Prinzipen (Kapitalismus und Kommunismus) versteht er beinahe als etwas Metaphysisches und Eschatologisches, wenn nicht gar Chiliastisches. Der Marxismus hat großes Potenzial zu einer neurotischen Weltsicht und daher zu etwas Gefährlichem. Lenin selbst verstand sich durchaus nicht als Pazifist. Er, der Kriege im Inneren angezettelt hat, die den eigenen ideologischen Interessen dienten, hatte eine analoge Sicht auf Kriege nach außen hin. Diese könnten gerechtfertigt sein – und zwar unabhängig, ob es sich um einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg handelt – wenn nur die kriegsführende Partei den richtigen Klassenstandpunkt (im Sinne des Proletariats) einnehme. Dies betonte er nicht einmal, sondern immer wieder (Nicht der Angriffs- oder Verteidigungscharakter des Krieges, sondern die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats … (sind entscheidend…) Oder: Der Charakter eines Krieges …. hängt nicht davon ab, wer Angreifer ist und in wessen Land der „Feind“ steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik durch diesen Krieg fortgesetzt wird… vgl. LesceK Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.553) Schließlich hatte Lenin während des Bürgerkrieges versucht, die Revolution mit kriegerischen Mitteln auch ins Ausland zu tragen. Nach dem diesbezüglichen Misserfolg stellte sich dann die Frage nach dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Dieser Aufbau musste natürlich auch den Aufbau von Wehrkapazitäten in sich schließen. Doch allein zu defensiven Zwecken, oder nicht doch vielleicht auch zu offensiven? Auch für Stalin war die entscheidende Qualität bei einem Krieg nicht, ob er Angriffs- oder Verteidigungscharakter hatte, sondern dessen „Klassencharakter“. Stalin lebte als Paranoiker noch dazu in einer quasi-apokalyptischen Welt, in der mit Krieg, Gewalt, Heimtücke und Verrat ständig zu rechnen ist (insofern das ja auch alles von einem selbst ausgeht). Zeit seines Lebens ging er davon aus, dass es zu Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten, oder der imperialistischen Mächte gegen die Sowjetunion kommen würde. An eine Welt der friedlichen Koexistenz glaubte er nicht. Sollte es auch zu Kriegen der imperialistischen Mächte untereinander kommen, würde sich die Frage stellen, wie sich die Sowjetunion dazu verhalten sollte. Stalin hoffte dabei, dass sich die imperialistischen Mächte gegenseitig schwächen würden, so dass sich die Sowjetunion dann aus einer Position der relativen Stärke in ihrem eigenen Interesse in das Gemengelage einmischen konnte – eventuell durch Kriegseintritt: Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können – wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte… (Vgl. Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) Diese Idee formulierte Stalin schon in den 1920er Jahren. Inwieweit war sie auch das eigentliche Kalkül hinter dem Hitler-Stalin-Pakt? Hatte Stalin gehofft, die Sowjetunion zunächst aus einem Krieg heraushalten zu können, in dem sich die imperialistischen Mächte Europas gegenseitig schwächten – um dann „das entscheidende Gewicht in die Waagschale“ zu werfen, also Deutschland anzugreifen? Wäre somit der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zwar kein präventiver Krieg gewesen, aber ein präemptiver? Stalins eigentümlich halsstarrige und aggressive Weigerung, die Vorzeichen und Warnungen vor dem deutschen Einmarsch richtig zu interpretieren, könnte so erklärt werden (allerdings auch anders). Stalins narzisstische Psychologie hätte ihm dann auch ein Bein gestellt, insofern er wohl sehr stolz darauf war, alle ausgetrickst zu haben und sich von keinem austricksen lassen zu würden. Die Warnungen vor dem deutschen Einmarsch kamen auch aus England, das mit Deutschland im verzweifelten Krieg war. Stalin nahm eventuell an, dass England mit diesen Warnungen versuchen würde, die Sowjetunion in einen Krieg mit Deutschland zu treiben, um seine eigene Front zu entlasten. Aber er würde auf diesen Trick nicht hereinfallen – sondern darauf warten, bis sich das imperialistische Westeuropa geschwächt hätte – um dann was zu tun? Eine Frage der Geschichte, die sich nicht mehr beantworten lässt, da die Geschichte ihren eigenen Verlauf genommen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Stalin naturgemäß in der Erwartung eines dritten. In dem Sinn ermunterte er das kommunistische Nordkorea, in Südkorea einzufallen. Nicht nur, um das Territorium der kommunistischen Welt zu erweitern, sondern um die Amerikaner hineinverwickeln zu können, um sie so, wie er glaubte, eine Weile von der Sowjetunion selbst ablenken zu können. Als stellvertretende Macht zog er vor allem das junge Rotchina in den Krieg hinein. Dem kamen tatsächlich Bedenken, es könnte zu einem Dritten Weltkrieg kommen. Stalin antwortete (ob es ein Bluff war oder nicht, weiß man nicht), dass er mit dieser Möglichkeit tatsächlich rechnete; sollte es dazu kommen, käme es, inmitten der aktuellen Kräfteverhältnisse für die kommunistische Welt, für diese zumindest zu einem guten Zeitpunkt (Mao sollte später ähnlich denken, und abseits von seiner irritierenden und unklaren „Die Atombombe ist ein Papiertiger“-Rhetorik konkrete Provokationen gegen die USA setzen, die eventuell in einen Atomkrieg eskaliert wären – wie von ihm als Option vorbehalten). Der Koreakrieg war so blutig, dass alle Beteiligten bereits 1951 sein Ende verhandeln wollten. Nur Stalin nicht, der die Amerikaner weiter in Schach damit halten wollte. So kam es erst nach Stalins Tod zum Ende des Krieges. Chruschtschow leitete zwar eine Politik der „friedlichen Koexistenz“ ein, dennoch kam es während seiner Amtszeit zur Kubakrise. Mit solchen Krisen ist aber inmitten eines so kritischen Verhältnisses zweier sich feindlich gegenüberstehender Supermächte immer wieder zu rechnen. Auch Anfang der 1980er Jahre kam es wieder zu einer gefährlichen Zuspitzung, deren Eskalation auf einen Atomkrieg hinausgelaufen wäre. Bis zum Ende der Sowjetunion kam es im Verhältnis mit den USA zu wechselnden Phasen der Entspannung und der Zuspitzung, der Aufrüstung und der Abrüstung. Die meisten Strategen (und auch wir damals noch als Kinder in den 1980er Jahren) waren davon ausgegangen, dass inmitten dieses Gemengelages es früher oder später, irgendwann einmal, zu einem tatsächlichen Dritten Weltkrieg, einem Nuklearkrieg kommen würde. Vielleicht war das immer zu übertrieben gedacht, da die Atombombe ein zu schreckliches Mittel ist, um tatsächlich eingesetzt zu werden (vielleicht war sie sogar deshalb auch ein Garant für den Frieden). Vielleicht haben wir aber auch nur Glück gehabt. Einstweilen.
Mit der Ära Breschnew spätestens endet die „heroische“ Ära der Sowjetunion. Der Sowjetstaat und die Sowjetgesellschaft wurden als konsolidiert erachtet, und vor Experimenten sowohl in Richtung mehr Diktatur oder mehr in Richtung Liberalismus (wie unter Chruschtschow) wollte man Abstand nehmen. Allein schon der Zustand der ökonomischen „Basis“ der Gesellschaft, der Sowjetwirtschaft, zeigte, dass der Spielraum für Reformen an und für sich gering wahr (wenn man nicht das ganze System aus den Fugen geraten lassen wollte), und so setze man auch auf Konservatismus im Hinblick auf den gesellschaftlichen „Überbau“. Diejenigen, die die Sowjetunion erlebt haben, erinnern sich jedoch immer wieder positiv, wenn nicht nostalgisch, an die Breschnewzeit. Zumindest in den urbanen Zentren wurde ein gewisses Level des Wohlstands erreicht, der auch eine stabile Grundlage zu haben schien (tatsächlich wäre die Sowjetunion in den 1970er Jahren wohl Bankrott gegangen, wenn ihr nicht die Ölpreisschocks zu unerwartetem neuem Reichtum verholfen hätten). Über die kleinen Wohnungen beispielsweise der allermeisten Sowjetbürger mag man sich aus westlicher Sicht erstaunen. Doch bis weit in die Stalinzeit hinein hatten viele Sowjetbürger in einer überbelegten Gemeinschaftswohnung mit dementsprechend begrenzter Privatsphäre – einer sogenannten Kommunalka – gewohnt (anders wusste sich die Sowjetregierung auch nicht zu helfen: Die Landflucht in dieser Zeit war die größte, die die Menschheit jemals gesehen hatten; in den von Menschen überquellenden Städten konnte so rasch nicht genug Wohnraum geschaffen werden). Güter und Kulturgüter (wie Rock- und Popmusik) aus dem Westen drangen auch in die Sowjetunion vor und wurden schick. In eigenen Geschäften für die Nomenklatura gab es, zumindest unter dem Tisch und zu horrenden Preisen, alles zu haben. Dementsprechend informell verlief auch der Zugang zu diesen Gütern. Entgegen der Ideale des Kommunismus war die sowjetische Gesellschaft eine durchaus stratifizierte Gesellschaft. Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler, Funktionäre oder Ärzte hatten auch untereinander, je nach ihrer Funktion, einen zugewiesenen Status, aus dem sich auch der Zugang zu Privilegien oder eben bestimmten Gütern ergab. Das wiederum führte zu einer informellen Tauschgesellschaft, in der auch Beziehungen eine große Rolle spielten. Wenn man so will, brachte diese informelle Tauschgesellschaft auch die Sowjetmenschen einander näher, die so ein gewisses Maß an Zufriedenheit erreichten. Breschnew war ursprünglich ein wahres Arbeitstier gewesen. Alter und Krankheit forderten schließlich ihren Tribut und so schwelgte Breschnew mit der Zeit eher in Selbstherrlichkeit und – recht unkommunistisch – in einer Liebe für das luxuriöse Leben. Ansonsten gingen von ihm nunmehr wenig Initiativen aus. Weniger aufgrund des totalitären Charakters des Sowjetregimes, sondern aus Gründen der Eitelkeit wollte auch Breschnew im Leben und im Bewusstsein der Sowjetbürger stets präsent sein und nutzte jede Gelegenheit, um sich öffentlich oder im Fernsehen zu präsentieren. Nicht zuletzt aufgrund dieser menschlichen Schwächen war Breschnew bei der Sowjetbevölkerung aber auch relativ beliebt, die mit gutmütigen Witzen über seine Skurrilitäten eine liebevoll-ironische Sicht auf ihn pflegte. Dennoch blieb es gefährlich, sich mit der Sowjetmacht anzulegen. Der Spielraum für nonkonformistisches Verhalten blieb begrenzt, und tatsächliche oder vermeintliche Dissidenten wurden zwar nicht mehr liquidiert, aber es wurden ihnen praktisch die Lebensgrundlagen entzogen. Die sowjetischen Zensoren hatten wenig Toleranz für Individualismus (wahrscheinlich auch ein Ressentiment dagegen, da sie ihn ja selbst nicht ausleben durften), darunter hatten nicht zuletzt viele sowjetische Kulturschaffende zu leiden, denen gegenüber sich der Sowjetstaat nach wie vor teilweise beinahe idiotisch brutal verhielt. Normale Sowjetbürger mussten um ihren Arbeitsplatz besorgt sein, wenn sie zu sehr aus der Reihe tanzten. Da Menschen in der Regel aber auch nicht aus der Reihe tanzen, gab es in der Sowjetunion (und das nicht nur zu der Zeit) Raum für ein relativ amikales Verhältnis zwischen den Funktionären des Sowjetstaates und seinen Bürgern. Selbst in Fernsehserien wurden Sowjetfunktionäre, Betriebsführer oder Polizisten als beengte, überforderte, aber gutmütige Figuren karikiert. Das war freilich ein systemimmanenter Humor (der für die Träger des Systems auch die entgegenkommende Funktion hat, die Grenzen des Systems offener erscheinen zu lassen, als sie sind, und die Toleranz für das System zu erhöhen). Aber auch dazu, dass es systemimmanenten Humor zulässt, kommt ein System nicht von selber (der Gründer der Sowjetunion, Lenin, hatte praktisch keinen Humor, Stalin hatte einen zynischen und brutalen). In den 1970er Jahren erfolgte auch außenpolitisch eine Phase der Entspannung, der Détente. Zur selben Zeit profitierte die Sowjetunion von den Ölpreisschocks, die enorme Einnahmen auch in ihre Kassen sprudeln ließen. Auch die kommunistischen Satellitenländer des Ostblocks schienen davon zu profitieren, indem sie von westlichen Banken mit billig scheinenden Krediten überhäuft wurden. Die OPEC-Länder legten ihre riesigen Einkünfte bei westlichen, vor allem amerikanischen Banken an (was angeblich auch der Deal war, dass die westliche Welt die Ölpreiserhöhungen überhaupt erlaubt hat), so dass diese nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchten. Daher vergaben sie Kredite an Entwicklungsländer, auch solche in der kommunistischen Welt, die, im Gegensatz zunächst zur ressourcenreichen Sowjetunion, sich darauf angewiesen sahen, um die auch bei ihnen unproduktive Wirtschaft am Laufen zu halten und den eigenen Bürgerinnen und Bürgern einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Diese glückliche Kombination fand jedoch Anfang der 1980er Jahre ein Ende, als die USA zur Bekämpfung ihrer Inflation eine Zinswende einleiteten, mit der sie die ganze Welt in Mitleidenschaft zogen. Länder – auch solche des Ostblocks oder Jugoslawien – die die Kredite aufgrund der gestiegenen Kosten nicht mehr bedienen konnten, kamen unter die Fuchtel des IWF, sowieso keinem Befürworter sozialistischer Wirtschaftspraktiken, sondern vielmehr dessen Zerstörer. Breschnew starb 1982. Die massive Überalterung der politischen Führungsschicht, deren Gerontokratie, kam auch darin zum Ausdruck, dass Breschnews Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, jeweils nach nur wenig mehr als einem Jahr im Amt verstarben. Anzeichen für eine Liberalisierung des Systems gab es unter ihnen keine. Vielmehr gab es eher Bemühungen, das Andenken an die Stalinzeit wieder zu reaktivieren (so wie es freilich, gegenüber der Chruschtschow-Ära, schon unter Breschnew stattgefunden hatte). Der herrschende Zirkel der KPdSU suchte sein Glück nun in einem deutlich jüngeren und charismatischen Generalsekretär an der Spitze.
Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion zu seiner Zeit ein „Obervolta mit Atomraketen“ (ironischerweise sollte 1983 auch in Obervolta ein echter Revolutionär an die Macht kommen (der es dann in Burkina Faso umbenennen ließ: „aufrechter Mann“): Thomas Sankara, dessen Geschichte ebenso glorreich wie tragisch war). Damit war gemeint, dass die Sowjetunion zwar nach wie vor eine militärische (und militärtechnologische) Supermacht war, in allen anderen Bereichen der Produktion und der Distribution aber weit hinter die entwickelten kapitalistischen Länder zurückgefallen. Dabei war das nicht immer so gewesen. Chruschtschows Losung vom „Aufholen und Überholen“ gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern schien damals durch die Zahlen unterstützt zu werden. In der Stalinzeit war die Sowjetwirtschaft stark gewachsen, aufgrund der Industrialisierung, des Wohnungsbaus, des massiven Ausbaus der Infrastruktur und der Rüstungswirtschaft, durch die Kollektivierung wurde auch die Landwirtschaft industrialisiert. Das Wachstum war jedoch nicht nur extensiv, sondern auch intensiv. Auch bei den Produktivitätszuwächsen erzielte die Sowjetunion höhere Raten als die entwickelten kapitalistischen Länder. Das galt zunächst auch für die Länder des kommunistischen Osteuropa. Dann jedoch geriet der eigentlich entscheidende Indikator für den wirtschaftlichen Fortschritt, das Produktivitätswachstum, ins Stocken. Auf Produktivität und Effizienz war die Sowjetwirtschaft aber auch nie primär angelegt gewesen – sondern auf die zentrale Entscheidungsgewalt des Staates über die Wirtschaft und über die Verwendung der Ressourcen (auch wenn das so nicht stimmt. Die Kampagne rund um den „Neuen Menschen“ in den 1920er Jahren hatte auch die Stoßrichtung, einen effizienten sowjetischen Arbeiter heranzuzüchten, und nicht nur die Großindustrie in den USA, sondern auch die sowjetischen Wirtschaftsplaner interessierten sich sehr für den Taylorismus: die Wissenschaft, die darauf abzielte, „Humankapital“ möglichst produktiv einzusetzen). Die Zentralisierung der Wirtschaft, die Auflösung der Arbeiterräte und Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei waren ursprünglich als ungeliebte Methoden des Kriegskommunismus gedacht gewesen, und selbst der gnadenlose Felix Dserschinksi (der erste Geheimpolizeichef der Sowjetunion) sollte in ihnen nachher „ein höchst schädliches Überbleibsel“ aus dieser Zeit sehen. Dennoch wurde die Sowjetwirtschaft diesen Charakter nie mehr los. Wir wollen alle Dezentralisierung, aber in der Praxis zieht irgendein Magnet alles zur Zentrale … gegen unser aller Willen, klagte ein sowjetischer Funktionär in den späten 1920er Jahren (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.21). Dieser zentrale Magnet war jedoch die als Fabrik (und auch militärmäßig) organisierte Sowjetwirtschaft und -gesellschaft. Der Kommunismus zielt auf die Befreiung der arbeitenden Menschen ab. Im Verständnis des Marxismus besteht das Leidwesen der Arbeiter im Kapitalismus darin, dass sie ihre Arbeitskraft wie eine Ware veräußern müssten. Deswegen schafften die Sowjets den Warencharakter des Arbeitskrafteinsatzes, der zu einem bestimmten Marktpreis veräußert wird, ab. Wenn dieses Motiv wegfällt, was bleibt dann aber als Grund, warum Menschen ihre (oftmals ungeliebte) Arbeit verrichten sollten (diese Frage behandelt der traditionelle Marxismus nicht ernsthaft, sondern hauptsächlich in der Form von utopischen Ausflüchten)? Bleibt nur mehr der Zwang. Und wenn weder Arbeiter noch Kapitalisten die Wirtschaft zum Zwecke des Gesamtwohls organisieren könnten, bleibt nur mehr der Staat. Der Sowjetstaat schaffte auch den Warencharakter der von ihm produzierten Produkte ab. Angebot und Nachfrage wurde also nicht mehr („anarchistisch“) über den Markt und den Marktpreis geregelt, sondern über den Plan. Zu den Absonderlichkeiten der sowjetischen Planwirtschaft zählte, dass das Plansoll von den Betrieben nur die Produktion einer bestimmten Menge (oder den Verbrauch einer bestimmten Menge an Ressourcen) regelte, aber nicht, wie effizient die Produkte produziert wurden oder ob die Produkte (z.B. als Zwischenprodukte an andere Betriebe) auch ausgeliefert oder konsumiert wurden. Marx und Engels hegten eine Verachtung für den Handel, und ihnen zufolge wird in der Zirkulationssphäre kein eigentlicher „Wert“ geschaffen. Außerdem betrachtet der traditionelle Marxismus die arbeitenden Menschen immer nur als Produzenten und praktisch nie als Konsumenten. Trotzdem erscheint es unglaublich, dass die sowjetischen Wirtschaftsplaner so zentrale Aspekte kaum beachtet haben. Weil es keine Anreize gab, die Produkte in Zirkulation zu bringen und sie ihrem eigentlichen Zweck zuzuführen, kam es zur Mangelwirtschaft in der bekannten Form. Betriebe bekamen ihre nötigen Ressourcen oder Vorprodukte nicht, was dazu führte, dass sie diese, wenn sie dann doch verfügbar waren, horteten und dadurch den Mangel wiederum verschärften. Es kam zu einem umfassenden Tauschsystem. Auf informellen Wegen halfen sich die Betriebe ad hoc untereinander mit Ressourcen über Tauschgeschäfte aus, und auf der Ebene des Endverbrauchs dominierte der Schwarzmarkt: Das System der Planwirtschaft funktionierte in der Praxis über Märkte – allerdings über (weniger effiziente und transparente) Schwarzmärkte. Bis in die 1960er Jahre wurde die Planerfüllung zudem allein an der produzierten Menge gemessen, und nicht an der Qualität der Produkte. Neue Reformen sahen dann vor, dass die Betriebe auch profitabel zu wirtschaften hätten. Da es aber keine Marktpreise gab, sagte ein betriebliches Bilanzergebnis nichts über die eigentliche Rentabilität aus. Die Reformer suchten ihr Heil darin, dass sie ihr Plansystem fortwährend differenzierten und neue Kontrollziffern zur Planerfüllung einführten. Der erhoffte Gewinn an Rationalität und Praktikabilität wurde jedoch dadurch zunichte gemacht, indem das System vor lauter Planziffern vollkommen unübersichtlich wurde. Bis zuletzt hatten die klugen und gut ausgebildeten sowjetischen Wirtschaftsplaner das Prinzip von Angebot und Nachfrage, das über den Preis geregelt wird, tatsächlich nicht begriffen, es lag für sie außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten. Für die arbeitenden Menschen wurden zwar schon früh individuelle Leistungsanreize geschaffen. Diese waren nicht nur ideell (heldenhafter „Stachanow-Arbeiter“), sondern auch mit Privilegien verbunden, damit auch mit dem Zugang zu bestimmten Gütern und Ressourcen. Wie schon erwähnt, herrschte in der Sowjetunion diesbezüglich eine recht differenzierte Sozialstruktur. Allerdings fehlten die eindeutigen materiellen Anreize zur Mehrarbeit, zur Planübererfüllung, und auch die eigenen Produkte wurden als nicht attraktiv erachtet und daher wenig gekauft. Gute individuelle wirtschaftliche Leistungen wurden in der Sowjetunion nicht wirklich belohnt, schlechte Leistungen wurden nicht bestraft. Nicht nur individuelle Leistungsanreize wurden so auf Dauer erstickt, in dem strikten Top-Down-System verflüchtigte sich auch die Kreativität und damit die Innovationskraft der Sowjetwirtschaft auf allen Ebenen. Auf der Makroebene hat die Sowjetunion ursprünglich eine welthistorische Leistung bei der Industrialisierung erbracht (was jedoch keine eigentliche innovative Leistung war, da sie das Industriesystem von den fortgeschrittenen Ländern nur übernehmen musste). Den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, zur Informationsgesellschaft und zur „kreativen“ postindustriellen Gesellschaft hat sie jedoch nicht bewerkstelligt. Wahrscheinlich auch nicht angedacht, da das außerhalb der traditionellen marxistischen Industrialisierungsheilslehre gelegen ist. In ganz praktischem Sinne hätte eine derartige wirtschaftliche Transformation auch die Freisetzung von Arbeitskräften bedeutet (und einen Form- und Substanzverlust beim heroischen Trägersubjekt der Sowjetunion, dem traditionellen Industriearbeiter), dagegen wehrten sich die sowjetischen Gewerkschaften. Auf eine moderne Konsumgesellschaft hatten es die Sowjetplaner sowieso nicht abgesehen (zumindest als sie mit den Schwierigkeiten konfrontiert wurden, im Rahmen ihres Systems eine solche zu schaffen). Sie hielten an ihrem Bild vom Sowjetbürger als besserem sozialistischen Menschen fest, was in der Praxis bedeutet: ein idealistisch motiviertes Arbeitstier, das genügsam und bedürfnislos war. Versorgungsschwierigkeiten kamen immer wieder aus der Landwirtschaft. Gleichsam als Rache für die brutale Kollektivierung blieb die sowjetische Landwirtschaft ein chronisch ineffizientes System. Man hatte den Bauern eine Wirtschafts- und Lebensweise aufoktroyiert, die sie nicht wollten und in der sie sich nie wirklich zurechtfinden sollten (und in der es auch keine individuellen Leistungsanreize gab). Allgemein zeigte sich, wie zerstörerisch die Kollektivierung und die Industrialisierung, die ganze Sowjetisierung der Gesellschaft gewesen war. Aufgrund ihrer Brutalität und ihrer rasenden Geschwindigkeit führten sie nicht nur zu Fortschritt, sondern auch zu einem umfassenden Regress. Umfassendes, jahrhundertealtes und organisch gewachsenes traditionelles Wissen und dessen Verkörperung in Sozialstrukturen, die zerstört wurden, wurde vernichtet. Die Gesellschaft wurde nicht komplexer, sondern einfacher. Der Kommunismus brachte in erheblichem Maße keine Bereicherung in die Gesellschaft, sondern auch ein erhebliches Maß an Verarmung und Entdifferenzierung. Von enttäuschten linken Kritikern wurde das Sowjetsystem aber nicht als kommunistisch erachtet, sondern als eines des „Staatskapitalismus“. Diesbezüglich gibt es aber zunächst einmal zu viele Unterschiede zwischen einem kapitalistischen System und dem Sowjetsystem. Wenn man als „Kapitalisten“ aber jemand sieht, der andere zum Zwecke seiner eigenen Bereicherung arbeiten lässt, und der Arbeitsprozesse den Arbeitenden aufoktroyiert, anstatt sie diese selber gestalten lässt, dann ergeben sich Analogien. Auch in der Sowjetunion wurde den arbeitenden Menschen nachweislich Mehrwert abgepresst, und sie wurden vom Staat ausgebeutet. Vor allem soll das in noch viel stärkerem Maße der Fall gewesen sein als in kapitalistischen Ländern. Es lassen sich Berechnungen anstellen, wonach, bei einem hypothetisch angenommenen Mehrprodukt von 100 in den USA, das Mehrprodukt der Sowjetunion bei 164 gelegen wäre; die sowjetischen Arbeitenden hätten also 1,64 mal soviel Mehrprodukt geschaffen wie ihre US-amerikanischen Konterparts (Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.92-96). Zwar ließe sich einwenden: dieses Mehrprodukt haben die sowjetischen Arbeitenden für das Gemeinwesen, für den Staat, und daher auch für sich selbst geschaffen (was sie allerdings auch im Kapitalismus nicht unwesentlich tun). Rein marxistisch ist aber jede Abpressung eines Mehrprodukts durch irgendwen anderen Ausbeutung. Was aber tat der Sowjetstaat erheblich mit diesem Mehrprodukt? Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion ein „Obervolta mit Atomraketen“. Tatsächlich war es der Rüstungssektor und der militärtechnologische Sektor, der in der UdSSR unverändert stark geblieben war. Auf diesem Gebiet blieben die Sowjets konkurrenzfähig – allerdings nicht unbedingt innovativ, wie in den USA, wo Innovationen im Rahmen der Militärtechnologie viel weitere Kreise zogen und in die zivile Wirtschaft Eingang fanden, diese schließlich revolutionierten. In der Sowjetunion blieben solche Spillover-Effekte aus. Der Rüstungssektor war ein Teil der Produktionsgüterindustrie. Schon unter Lenin wurde der Ausbau der Produktionsgüterindustrie gegenüber der Konsumtionsgüterindustrie forciert worden. Auch das wurde damals als zeitweiliges Erfordernis angesehen. Doch auch dieses Ungleichgewicht wurde die Sowjetwirtschaft nie mehr los. Was wohl auch daran lag, dass das Zentrum der politischen Kontrolle der Sowjets über die Volkswirtschaft in der Produktionsgüterindustrie gelegen ist, der daher Schwerkraft genug hatte, um alle Ressourcen immer wieder vorwiegend auf sich zu ziehen. Schließlich waren die Produktionsgüterindustrie und der Rüstungssektor auch die Sektoren des sowjetischen Prestiges. Mit ihren teuren Militärparaden und den vielfältigen Zurschaustellungen ihrer imperialen Macht konnte sich die Sowjetunion selbst beweihräuchern. Mit ihrem Bedürfnis, sich selbst zu glorifizieren stellen kommunistische Regime auch den allfällig ausgeprägten Patriotismus in kapitalistischen Ländern wie den USA oder Frankreich deutlich in den Schatten. Für diese kostspielige Selbstglorifizierung haben die arbeitenden Menschen der Sowjetunion nicht zuletzt ihr Mehrprodukt an den Staat abgegeben.
Auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre soll es ein kleines Segment von gebildeten Sowjetbürgern gewesen sein, die einem liberalen Reformkurs positiv gegenüberstanden. Die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung hatte zwar alle möglichen Anliegen, war jedoch grundsätzlich konservativ. Auch Michail Gorbatschow hatte es ursprünglich nicht darauf abgesehen, die Sowjetunion grundlegend zu reformieren. Verschiedene Entwicklungen schienen das Sowjetsystem aber in eine entsprechende Richtung zu treiben. Im kommunistischen Osteuropa war es immer wieder zu antisowjetischen Erhebungen gekommen: 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und um die Wende der 1980er Jahre in Polen. Die Sowjetunion hatte letztendlich auch keine anderen Optionen gehabt, als diese Erhebungen gewaltsam niederzuschlagen, und in den jeweiligen Ländern die Diktatur zu verschärfen, wollte sie nicht riskieren, dass das ganze osteuropäische Imperium tatsächlich aus den Fugen geraten könnte. Der Fall Polen jedoch hatte zumindest einige ranghohe Funktionäre nachdenklich gemacht, inwieweit ein solches auf reiner Repression und eisernen Vorhängen beruhendes System eine große Zukunft haben könnte. 1986 kam es zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die die Sowjetregierung zunächst vertuschen und herunterspielen wollte und bei der sie zu langsam mit Hilfsmaßnahmen in die Situation eingriff. Die gefährliche Intransparenz und die Vertuschungskultur innerhalb des Sowjetsystems und seiner Parteidiktatur wurde entblößt und ins Scheinwerferlicht gerückt. Über die 1980er Jahre hinweg führte die Sowjetunion einen Krieg gegen Afghanistan, den sie dann auch noch verlor. Auch die Spirale des Rüstungswettlaufs, an der die US-Regierung diesbezüglich gezielt drehte, verursachte für die Sowjetunion kaum mehr noch tragbare Kosten. Allerdings war der US-Präsident Reagan kein reiner antikommunistischer Aufrüstungspolitiker gewesen. In seiner zweiten Amtszeit wurde vielmehr eine Abrüstung eingeleitet, und Gorbatschow und Reagan näherten sich einander an. Reagan wollte Gorbatschow von Reformen überzeugen und Gorbatschow dazu veranlassen, das Sowjetsystem zu liberalisieren (oder, schließlich, es überhaupt aufzugeben). Reagan selbst stand ja für einen (neoliberalen) Reformkurs, der, nach anfänglichen Härten, für Aufschwung, frischen Wind und ein Klima des Optimismus zu sorgen schien. Auf wirtschaftlichem Gebiet mussten die Sowjets einsehen, dass sie den Anschluss an die entwickelte kapitalistische Welt und deren neuartige Technologien verpasst hatten, und dass es offensichtlich das Sowjetsystem selber war, das sich daran hinderte, diesbezüglich aufzuholen. Moralische Skrupel kamen etlichen Sowjetfunktionären wohl auch, die die weitgehend unmoralische Kultur in der sowjetischen Führung, die dann auf die ganze Gesellschaft ausstrahlte, durchschauten und sie überwinden wollten. Der Geist des Marxismus und des Kommunismus ist insgesamt einer der Aufklärung und des ständigen Fortschritts, aber die Sowjetunion musste sich eingestehen, dass sie hinsichtlich dieser Prinzipien keine Leuchtfackel auf der Weltbühne mehr war. Tatsächlich blieb auch ein erheblicher Teil der Parteifunktionäre, bis in Führungskreise hinauf, konservativ oder wollte vielmehr noch das Rad der Zeit zurückdrehen. Aber Gorbatschow und sein Zirkel gravitierten aus all diesen guten Gründen eben in eine andere Richtung. Eine Politik der Perestroika (Reform) und der Glasnost (Transparenz) wurde in die Wege geleitet. Das Klima wurde im ganzen Sowjetimperium Ende der 1980er Jahre deutlich freier. Das allerdings führte dazu, dass nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den kommunistischen Ländern Osteuropas starker Unmut artikuliert wurde, den man in seiner Großflächigkeit nicht mehr eindämmen konnte. Der Politik der Glasnost war keine Politik der Perestroika, der wirtschaftlichen und politischen Reformen, vorausgegangen (China sollte den umgekehrten Weg gehen, und zuerst wirtschaftliche Reformen einleiten, um sich erst graduell politisch zu öffnen, was es bis heute weit weniger radikal tut). Und peinlicherweise kam es in den späteren 1980er Jahren abermals zu einer Versorgungskrise bei den Lebensmitteln. Die Sowjetbürger mussten sich einmal mehr stundenlang für Brot anstellen, und bekamen eventuell auch dann keines. Die stolze Industriemacht Sowjetunion hatte nach so vielen Jahrzehnten die Wirtschaft an der landwirtschaftlichen Basis, bei der Lebensmittelversorgung, noch immer nicht in den Griff bekommen. Das schien ihre Legitimität geradezu insgesamt in Frage zu stellen. Praktisch niemand, auch nicht von den westlichen Experten und Planern in den innersten Abteilungen des Pentagon, hatte einen Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesehen (mit der Ausnahme von Zbigniew Brzezinski, der eine solche Möglichkeit allerdings auch erst 1988 einräumte). Aber 1989 kam es in Deutschland zum Fall des großen Symbols für den Eisernen Vorhang, der Berliner Mauer. Der kommunistische Ostblock löste sich politisch auf. Und so verflüchtigte sich praktisch auch die Sowjetunion, nicht durch eine Revolution, sondern indem sie de facto implodierte. Die Macht war den Sowjetführern einfach entglitten. Nicht der Kapitalismus war, wie von Marx prophezeit, an seinen „inneren Widersprüchen“ zusammengebrochen, sondern der Kommunismus sowjetischer Prägung. Dennoch war da aber zunächst noch die Sowjetunion, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Aus dieser Union scherte jedoch der „kleine russische Bruder“, die Ukraine, aus, gefolgt von den baltischen Ländern. Sie wollten nicht mehr Teil eines erweiterten russischen Imperiums sein, sondern unabhängig. Der Schock darauf bei den großen russischen Brüdern war groß (mit den traumatischen Folgen bis heute). Vor allem die zentralasiatischen Sowjetrepubliken wären bei dem Gebilde aber gerne dabeigeblieben. Doch es war dann die Führung in Moskau selbst, die die Sowjetunion auflöste, und alle Sowjetrepubliken in die Unabhängigkeit entließ (weil sie sich ein solches Imperium – ohne die Ukraine – auch nicht mehr leisten konnte). Am 26. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion, die fast ein ganzes Jahrhundert in Atem gehalten und es so wesentlich mitbestimmt hatte, auf zu existieren.
Diese vollkommen unvereinbaren ideologischen Referenzen, die reinen Zitat- und Signalcharakter tragen, eröffnen vielleicht einen neuen, klareren Blick auf das, was der Kommunismus des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich gewesen ist und bedeutet hat … War das übergeordnete Ziel der Kommunisten überhaupt „der Kommunismus“ im Sinne einer schönen, unangreifbaren Marx´schen Vorstellung einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ wäre? Oder war die „kommunistische“, sprich: die kollektivistische, staatliche Zusammenfassung aller menschlichen und materiellen Ressourcen in den Händen einer angeblich wissenschaftlich erleuchteten, diktatorisch herrschenden Partei und Machtelite nicht eher nur ein Mittel zu anderen, viel handgreiflicheren sozialen, nationalen und imperialen Zielsetzungen, die diesen Parteien und Staaten auch den entscheidenden Teil ihrer historischen Binde- und Durchschlagskraft geliefert haben? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. (Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München, C.H.Beck 2017 S.1006) Nun ja, eine Frage, die sich stellt, ist vielleicht ein entscheidender Hinweis auf etwas, aber inkludiert noch nicht ihre eigene Beantwortung (der der Autor, so gesehen, damit dann ja ebenfalls ausweicht). War der sowjetische Kommunismus (primär ) ein Projekt der „Befreiung“ des Menschen, oder, in der Praxis, die selbstgenügsame Entfaltung eines alternativen Machtprinzips, in durchaus auch imperialistischer Absicht? War er überhaupt primär nur eine Methode zur Entwicklung des eigenen Landes (zumindest die asiatischen Kommunisten, von Mao Zedong über Ho Chi Minh bis zu Pol Pot, waren wesentlich, wenn nicht sogar in erster Linie daran interessiert, ihr eigenes darniederliegendes Land zu modernisieren und es renaissancehaft zu „alter Größe“ zurückzuführen: der Kommunismus erschien ihnen als brauchbarstes Mittel dazu). Oder war er (offensichtlich) all das gleichzeitig, beziehungsweise versuchte er all das gleichzeitig zu sein und kam sich dadurch erheblich selbst die Quere (bzw. führte sich selbst dadurch zunächst einmal zum Erfolg)? Beantworten können diese Frage in letzter Instanz nur diese dafür verantwortlichen Kommunisten selbst – oder auch nicht, denn es kann ja sein, dass sie hinsichtlich des Charakters ihres eigenen Systems und ihres eigenen Tuns einer Selbsttäuschung unterliegen – die sich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft des Sozialismus immer wieder perpetuiert? Auf den erregten Einwand einer Linksextremen (Ende der 1980er Jahre), warum er Lenin mit Stalin praktisch gleichsetze, wo doch die Perversion des Sowjetsystems auf Stalin zurückgehe, reagiert Noam Chomsky (in diesbezüglich einfach nur bemerkens- und bewundernswerter Weise) aus dem Stand mit einer langen, elaborierten und durchstrukturierten Antwort, wonach bereits Lenin ein „Rechtsabweichler“ gegenüber dem ursprünglichen sozialistischen Gedankengut gewesen sei: mit seiner Idee, die „Diktatur des Proletariats“ müsste praktisch von einer Partei errichtet werden, und nicht über die „Selbstorganisation“ des Proletariats selbst. Lenin habe genau diese Selbstorganisation der Gesellschaft überall ausgeschaltet und die ganze Gesellschaft dem Staat und der Partei untergeordnet. Der Stalinismus sei nur eine Fortsetzung dieser Politik gewesen. Dabei geht aber auch Chomsky, ein sozialistischer Anarchist, davon aus, dass es einen „ursprünglich reinen“ Sozialismus geben könne: der in der Selbstorganisation sozialer Einheiten liege, die ein solches Level an Kompetenz und Stringenz erreiche, dass keine dazu heteronom sich verhaltenden herrschenden und herrschaftlichen Instanzen mehr nötig seien. Das hat man in der („bürgerlichen“) Demokratie zwar, aber auch eine Demokratie schließt nicht aus, dass einige Mitglieder wesentlich mächtiger oder einflussreicher sind als andere. Der Sozialismus will auch diese Möglichkeit abschaffen (indem er dann allerdings auch die Möglichkeit, unbegrenzt Eigentum anzuhäufen – und anderes mehr – abschaffen müsste, was dann aber wiederum nicht demokratisch wäre). Immer wieder schwärmt der Sozialismus vom Vorbild einer „Kommune“ als Form der Selbstorganisation sozialer Einheiten. Zwar sind solche Kommunen bzw. solche Formen der sozialen Organisation nicht notwendigerweise instabil oder ohne größere Zukunft. Aber sie zerfallen immer wieder oder verändern sich im Lauf der Zeit bis zur Unkenntlichkeit. Vor allem aber auch: wie regeln diese Kommunen und selbstverwalteten sozialen Einheiten ihre mannigfachen Verhältnisse zueinander und untereinander? Ist das Konfliktpotenzial oder das zur Desorganisiertheit nicht möglicherweise höher, als wenn es stattdessen eine übergeordnete Instanz gäbe? Das Problem der ursprünglich selbstverwalteten Betriebe in der ganz frühen Sowjetunion war, dass sie nicht aufeinander akkordiert produzierten (und bis ans Ende und bis heute müssen auch kommunistische Regimes feststellen, dass nicht nur kapitalistische Betriebe egoistisch sind und auf Eigennutzmaximierung ausgerichtet, sondern dass es auch staatliche Unternehmen und Behörden sind). Märkte und Marktpreise hätten diese Akkordierung geregelt, aber das wollten die Bolschewiki aus ideologischen Gründen nicht, und so unterstellten sie die gesamte Wirtschaft unter staatliche Aufsicht und Planung. Allerdings eben nicht allein deswegen, sondern auch aus Gründen der Staatsräson. Der Staat, und zwar egal, wer ihn anführt, hat naturgemäß seine eigenen Logiken und Interessen und bringt Notwendigkeiten mit sich, die nicht mit denen aller seiner Bürger deckungsgleich sein müssen. Deswegen (allerdings meistens aus einer viel verengteren Perspektive heraus) wollen Anarchisten als auch Sozialisten/Kommunisten den Staat „abschaffen“: die einen unmittelbar und sofort, die anderen in einer (beliebig) längerfristigen Perspektive und als Endziel. Dann erst könne der Mensch, das Individuum, wirklich frei sein. Diese Vision übersieht, dass da neben dem Individuum aber eben immer noch die Gesellschaft ist, die sich auf verschiedenen Levels organisieren wird und sich über verschiedene, unter anderem auch untereinander konfligierende Instanzen manifestieren wird. Indem der Mensch ein Individual- als auch ein Kollektivwesen ist, sprich eines, das auf andere und anderes angewiesen ist, kann er nie wirklich „frei“ sein – und es gilt aufzupassen, inwieweit Freiheitsversprechungen und -utopien einlösbar sein können, oder nicht möglicherweise noch größere Unfreiheit mit sich bringen. Eine Gesellschaft hat notwendigerweise einen gewissen Zwangscharakter, und Gesetze sind keine „freiwillige Selbstbeschränkung“ des Menschen, sondern funktionieren als Zwang. Der Kommunismus versucht, so gesehen, das „Individuum vs Gesellschaft“-Problem zu lösen, indem er aus der Gesellschaft eine Art Gemeinschaft machen will (und sich eher noch für „Gleichheit“ interessiert, als möglicherweise für Freiheit). Allerdings ist eine Gemeinschaft eben etwas Verschiedenes von einer Gesellschaft. Sie ist kleinteiliger und besteht aus aufeinander eingeschworenen, sich irgendwie nahestehenden und ähnlich denkenden Mitgliedern. Eine Gemeinschaft ist egalitär – allerdings nur vom Prinzip her (in der Praxis mag es ganz anders sein). Eine Gemeinschaft ist nicht notwendigerweise liberal. Außenseiter mögen dort einen umso schwereren Stand haben: weswegen eine Gemeinschaft dann nicht notwendigerweise die große Keimzelle der Kreativität sein muss, so wie von Kommunisten vorgestellt, sondern eher deren Verhinderer. Vor allem aber ist eine Gemeinschaft etwas natürlich Gewachsenes und Organisches. Der Versuch, eine ganze Gesellschaft in eine Gemeinschaft umzuwandeln, wird daher letztendlich auf Gewalt beruhen. Vergemeinschaftungsutopien haben implizit etwas Totalitäres, das kann man bereits aus den utopischen Romanen von Thomas Morus oder Tommaso Campanella herauslesen (oder aber eben: schaffen Sozialisten aller Art das immer wieder nicht). (Dennoch sollte man nicht außer Acht lassen, wie wichtig Gemeinschaft, oder Illusion von Gemeinschaft, für das menschliche Wohl ist. „Wir waren damals alle Genossen“, ist eine immer wiederkehrende Begründung für die Nostalgie früherer Sowjetbürger. Dabei ist aber eben auch die russische Gesellschaft (gemeinsam mit sehr vielen anderen in der Welt) eine kollektivistische Gesellschaft, und keine individualistische wie die des Westens, in denen ein Genossesein wohl weniger dem allgemeinen Lebensverständnis und -gefühl entspräche.) Die Sowjetunion hat diese vergemeinschaftete Gesellschaft versucht herzustellen über Propaganda und radikaler sozialer Umgestaltung im gesellschaftlichen „Überbau“ und der Zentralisierung der Produktionsmittel an der ökonomischen „Basis“. Für einen orthodoxen Marxisten und Kommunisten ist die Enteignung der Produktionsmittel aus den privaten Händen der Kapitalistinnen bzw. der besitzenden Schichten bereits die eigentliche große Befreiung. Der orthodoxe Marxismus begreift aus irgendwelchen Gründen immer nur ökonomische Macht als entscheidendes Machtverhältnis zwischen Menschen, und steht anderen Machtformen relativ gleichgültig gegenüber oder ist bemüht, diese allesamt als Erscheinungsformen der ökonomischen Machtverhältnisse zu begreifen und sie so auf eine einheitliche Wurzel zurückzuführen – weswegen sich für einen orthodoxen Marxisten mit dem Ausreißen dieser Wurzel auch alle anderen Machtverhältnisse und überhaupt Probleme zwischen Menschen gleichsam erledigen. Für solche orthodoxen Marxisten im In- und Ausland war dann auch die Sowjetunion kein problematisches Gebilde, sondern vielmehr ein vorbildliches. Sozialistisch war die Sowjetunion tatsächlich: nur war es eben ein despotischer Sozialismus. Selbst begriffen sich ja alle kommunistischen Regime als „sozialistisch“ (und ursprünglich belegten sich die kommunistischen Parteien, auch die bolschewistische Partei Lenins, mit der heute so ganz anders konnotierten Qualifizierung „sozialdemokratisch“). Sie seien ein sozialistisches Übergangregime zum Kommunismus, der sich erst in der Zukunft, dafür dann aber eben aus dieser Form ganz sanft, organisch und folgerichtig ergeben würde. Archie Brown (Aufstieg und Fall des Kommunismus, Propyläen 2009) begreift die kommunistischen Regimes aber eben doch als kommunistisch. Alle entsprechenden Parteien hätten sich dem Kommunismus (zumindest als Endziel) verschrieben, Wirtschaft und Gesellschaft sozialistisch umstrukturiert und entsprechende andere Parteien im Ausland mit demselben Ziel – und dem insgesamten Ziel der „Weltrevolution“ – gefördert und die Welt entsprechend umzugestalten versucht. Sie mussten damit – entgegen von einem ganz abstrakten Ideal einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ – von den ganz konkreten Bedingungen ihres Landes und ihrer Kultur und deren Eingebettetheit in die größere Region, oder eben, im Fall von Supermächten wie Russland oder China, in den Weltmaßstab, ausgehen; sich in einer Umwelt behaupten, die ihnen im Inneren wie im Äußeren zumindest latent feindlich gesonnen war; und sie sahen sich mit Logiken und Notwendigkeiten – wie eben Staatsräsonen oder Verteidigungsdoktrinen – konfrontiert, die ganz allgemeiner Natur sind, und nicht bloß die Dichotomie von Kapitalismus vs Sozialismus betreffen. Dass der „Antiimperialismus“ der Kommunisten vielleicht nur ein „Anti-Imperialismus“, also ein bloßes Konkurrenzprojekt zum kapitalistischen Imperialismus ist, unter dem Banner der „Weltrevolution“, ist in einem solchen Zusammenfallen zumindest implizit möglich, wenn nicht sogar naheliegend. Sein ständiges, gleichsam neurotisches Kreisen um das Thema Macht und Machtverhältnisse legt nahe, dass hinter dem Marxismus selbst – zumindest zu einem guten Teil – ein „Wille zur Macht“ steckt, und er dem Bedürfnis nach – zumindest zu einem guten Teil – ein egomanischer und egozentrischer Hahnenkampf gegen einen (kapitalistischen) Gegner ist, dem man beweisen wolle, dass die eigene (kommunistische) Machtentfaltung die bessere Machtentfaltung sei. Damit ist er dann aber, aus dem Auge Gottes betrachtet, auch kein Endziel in der Geschichte, sondern eine relative Erscheinung innerhalb eines ewigen menschlichen Gerangels innerhalb von Raum und Zeit. In einer Dokumentation über die Thälmann-Pionierjugend in der DDR wird es so formuliert, dass die Jugend in der DDR schließlich keine Lust mehr dazu hatte, für starrsinnige alte Männer an der Staatsspitze ihre ewigen Klassenkämpfe zu führen (nur weil sie diese für das höchste Prinzip der Geschichte hielten), noch dazu, wo die Versprechungen der eignen Überlegenheit nicht eingehalten werden konnten. So kam es zum Untergang der DDR, des gesamten Ostblocks und der Sowjetunion. Und damit scheinbar auch zum welthistorischen ad acta Legen der Idee des Kommunismus. War das, was man in der Sowjetunion hatte, eine „verratene Revolution“ oder eine glorreiche Erfüllung ihrer? Aus linker Perspektive und aus den entsprechenden politischen Sehnsüchten heraus kann man es als das eine oder auch als das andere sehen (und sich, wie in diesem politischen Spektrum nicht unüblich, dann heftig in die Wolle kriegen, welche Sicht auf den Sozialismus denn nun die richtige sei). Allerdings präsentieren sich die diversen sozialistischen oder kommunistischen Regimes als etwas ziemlich Ähnliches und doch irgendwie Einheitliches. In ihren Exzessen, in ihren Kulturrevolutionen und ihren Kampagnen vom „Neuen Sowjetmenschen“ erscheinen die kommunistischen Länder als von einer ähnlich beklemmenden, irrationalen Ideologie und Pseudowissenschaft getragen wie der Faschismus und seiner Rassenlehre und einem noch darüber hinausgehenden Bedürfnis nach umfassenden Social Engineering. Allerdings ist das nicht bloß in den Exzessen der kommunistischen Regimes vorhanden, sondern immer schon latent an der Basis. Dennoch bleibt der Sozialismus eine Idee von erheblicher Strahlkraft. Freilich, weil er die Idee von einer endlich friedlichen und freundlichen Menschheit, für die alle Bedürfnisse befriedigt werden ist, die ja jede irgendwie sympathisch findet. Auch ich kann mich von der Hoffnung auf einen „Sozialismus“ irgendwann in der Zukunft gar nicht vollständig freimachen. Dennoch sollte der kritische Blick, den Sozialisten aller Art für sich beanspruchen, zur Frage führen, inwieweit aus etwas so Fadenscheinigem, Unausgereiften und vielfach offensichtlich innerlich Widersprüchlichen wie der marxistischen Theorie, der sozialistischen oder der anarchistischen Theorie jemals – ins Große gerechnet – etwas Gutes herauskommen könne.
Das Sowjetsystem war auf extremer Gewalt und extremem Betrug aufgebaut. So gut wie alles, was Lenin und die Leninisten taten, ging mit Mord und Totschlag einher; so gut wie alles, was sie sagten, basierte auf halb ausgegorenen Theorien, mangelnder Integrität und nackten Lügen. (Norman Davis: Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa, Darmstadt, WBG 2015, S. 805) So würde man das aus westlicher Sicht wohl sehen. Daher mag es die westliche Beobachterin erstaunen, wie ausgeprägt dennoch die Sowjetnostalgie im heutigen Russland (bzw. in weiten Teilen der Ex-Sowjetunion) noch ist. Diese Nostalgie bezieht sich vorwiegend auf die politisch vergleichsweise ruhige Breschnewzeit, die auch ökonomisch für die meisten Sowjetbürger einen gewissen Lebensstandard mit sich brachte. Heute stehen viele Betriebe und Fabriken in Russland leer, und viele Ortschaften sind verlassen. Sie existieren tatsächlich nur mehr in der Erinnerung. Was auf den Untergang der Sowjetunion und des kommunistischen Wirtschaftssystems folgte, war grausam. Die volkswirtschaftlichen Verheerungen, die nicht nur die Ex-Sowjetunion, sondern auch etliche osteuropäische Länder trafen, waren schlimmer als das, was der kapitalistische Westen in den langen Jahren der Großen Depression erleiden musste. Vielfach wirkten sie auf die dortigen Bevölkerungen traumatisch. Unter dem Kommunismus war der Staat zwar ein Verfolger, aber auch ein Beschützer gewesen, der außerdem eine klare Linie vorgab und für einen Orientierungsrahmen sorgte. Nunmehr fühlten sich Abermillionen von Menschen nur mehr noch schutzlos. In Russland traf die neoliberale Schocktherapie noch dazu auf einen Zustand einer allgemeinen Gesetzlosigkeit. Das ergab dann das Chaos der Jelzin-Jahre. Die führten zu der Ansicht, dass eine resolute Ordnung in Russland besser sei als das Chaos, das man mit der westlichen Lebensweise (und der offenbar heimtückischen Empfehlungen seitens westlicher Organisationen) nunmehr assoziierte – nicht nur bei weiten Teilen der Bevölkerung im Allgemeinen, sondern speziell auch bei einem entmachteten Ex-KGB-Agenten namens Wladimir Putin. Der charismatische Reformer Gorbatschow wurde zu einer der meistgehassten Figuren in Russland. Die Russen gaben ihm die Schuld daran, dass er die Sowjetunion und das Sowjetimperium verspielt hatte. Die Russen sind ein nach wie vor ein patriotisches Volk, das sich jedoch gleichzeitig nicht als Nation begreift, sondern als Imperium, mit erweiterbaren Außengrenzen. Ein solches war es nun nicht mehr. Nostalgisch blicken viele Russen auch auf die Stalinzeit. „Ein Mann des Volkes“ sei Stalin gewesen, der unermüdlich am Aufbau seines Landes gearbeitet habe (was so gesehen ja auch stimmt). Tatsächlich führten die sozialen Transformationen während der Stalinzeit, wo aus armen Bauern (denen in der Kollektivierung oftmals wenig genommen wurde, weil sie sowieso fast nichts hatten) bzw. deren Kindern vielfach Angehörige einer Art Mittelschicht wurden (und teilweise noch steilere Karrieren möglich waren). Die Anstrengungen, die der Sowjetbevölkerung in der Stalinzeit und im Großen Vaterländischen Krieg abverlangt wurden, waren enorm – aber sie waren auch heroisch. Dass sie unter Stalin so was geschafft haben, erfüllt bis heute viele Russinnen mit Stolz. Der obsessive Stalinkult in dessen letzten Lebensjahren hatte seine wahre Grundlage darin, dass Stalin als ein Symbol für eine große Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach all den Entbehrungen gesehen wurde. Deswegen verweigern sich viele Russinnen auch bis heute einer kritischen Sicht auf die Stalinzeit und einer Aufarbeitung ihrer Verbrechen: es würde ihnen psychologisch zu viel genommen werden dadurch. Und der Initiator von all dessen, bei dem alles seinen Ausgang nahm? Dessen sterbliche Überreste werden im Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau nach wie vor tagtäglich von vielen besucht. Er hatte ein Imperium geschaffen, das immerhin ein Menschenalter Bestand hatte. Heute erscheint der Untergang der Sowjetunion geradezu folgerichtig. Sie bezog ihre Legitimität dadurch, die entwickelte kapitalistische Welt „einzuholen und zu überholen“, im Rahmen des großen Systemwettbewerbs. Den hat sie verloren. Allerdings ist dieser Projektcharakter ja nicht die einzige Grundlage ihrer Legitimität und ihres Selbstverständnisses gewesen. Vielmehr ruhte die Sowjetunion ja auch in sich und für sich. Die Sowjetunion war ein totalitäres Regime mit einem raffiniert ausgebildeten Überwachungsstaat. Ganze Staatsbankrotte und wirtschaftliche Zusammenbrüche haben immer wieder auch dahingehend weniger kompetente Diktaturen überstanden. Wären Hardliner an der Macht gewesen, hätte die Sowjetunion wohl weiter Bestand gehabt und hätte die wirtschaftlich schwierigen 1980er und 1990er Jahre übertaucht, bevor ihr, wie dann dem Putin-Regime in den 2000er Jahren, der erneute Anstieg der Ölpreise wieder auf die Beine geholfen hätte. Oder was wäre geworden, wenn die Sowjetunion den Weg Chinas gegangen wäre: zuerst wirtschaftliche Reformen einführen, und dann eine graduelle gesellschaftliche Liberalisierung (die, falls sie den Herrschenden zu ungemütlich wird, dann auch wieder zurückgefahren werden kann)? Das hätte das Land, wie in China, bis zur Unkenntlichkeit verändert, mit der Konstante allerdings ebenfalls, dass der Staat und die Partei dort nach wie vor die Kommandohöhen über Wirtschaft und Gesellschaft innehaben. Was wäre umgekehrt passiert, wenn es Lenin nicht gegeben hätte, oder wenn die Bolschewiki die Wahlen nach der Oktoberrevolution anerkannt hätten, die ihnen kein Vertrauen ausgesprochen haben? Das Kerenski-Regime schien der Lage zwar nicht Herr zu werden, aber es wäre (so oder in einer ähnlichen Form) in Kraft geblieben. Vielleicht hätte Russland eine ähnliche Entwicklung genommen wie die Türkei, deren Osmanisches Reich ebenfalls im Ersten Weltkrieg zerbrach. Oder aber hätte es die Entwicklung Chinas genommen, das ebenfalls zu dieser Zeit, und immer wieder durch seine Geschichte hinweg, eine lange Phase des Chaos, des inneren Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat? Das erscheint kaum beantwortbar, da Russland einfach ein Gebilde für sich ist. Immer wieder meint man, die Sowjetunion sei schließlich an der „unpraktischen“ und „weltfremden“ russischen Mentalität zugrunde gegangen. So gesehen ist sie dann aber auch aus einer solchen zunächst hervorgegangen, aus dem Zerfall einer anachronistischen Autokratie, die von einer demokratischen Regierung abgelöst wurde, die (naheliegenderweise) orientierungslos und verwirrt war. „Unpraktisch“ und „weltfremd“ waren auch die Bolschewiki gewesen, die ja gar nie angenommen hätten, in einer solchen Situation unmittelbar die Macht zu übernehmen, sondern dass die Gesellschaft zuerst eine Phase der kapitalistischen und bürgerlich-demokratischen Entwicklung und eines dementsprechenden Lernprozesses durchmachen müsste, um für den Sozialismus die nötige Reife zu erlangen. Sollte der Sozialismus so gesehen vor seiner Zeit sich versuchen zu etablieren, würde er von der Zeit zermalmt werden. Er hätte noch keine ausreichende Definitionsmacht über die herrschenden Verhältnisse, vielmehr laufe er in Gefahr den herrschenden Verhältnissen zum Opfer zu fallen und durch sie wesentlich definiert zu werden. Am XI. Parteitag der KPdSU von 1922, dem letzten, an dem er teilnahm, sinnierte ein nachdenklicher Lenin: Wenn das Eroberervolk eine höhere Kultur hat als das besiegte Volk, dann zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, dann kommt es vor, dass das besiegte Volk seine Kultur dem Eroberer aufzwingt. Ist nicht was Ähnliches in der Hauptstadt der RSFSR geschehen, ist hier nicht der Fall eingetreten, dass 4700 Kommunisten … einer fremden Kultur unterlegen sind? Allerdings könnte hier der falsche Eindruck entstehen, dass die Besiegten eine hohe Kultur besitzen. Nichts dergleichen. Ihre Kultur ist armselig, sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige. Lescek Kolakowski, bei dem sich diese Worte zitiert finden (Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.584f.), führt weiter aus: Das ist eine der scharfsichtigsten Bemerkungen Lenins über den neuen Staat. Die Losung „bei der Bourgeoisie lernen“ wurde in tragischer und zugleich grotesker Weise Wirklichkeit. Die technischen Errungenschaften der kapitalistischen Welt übernahmen – und übernehmen sie noch immer – die Bolschewiki mit gewaltiger Mühe und nur mit halbem Erfolg. Die Herrschafts- und Regierungsmethoden, die sie den zaristischen Beamten absahen, machten sie sich dagegen mühelos, rasch und ohne Halbheiten zu eigen und verfeinerten sie beträchtlich. Von den revolutionären Träumen blieben Phrasen übrig, mit denen ein totalitärer Imperialismus sich schmückt. Vielleicht ist das auch eine der scharfsinnigsten Bemerkungen, die Kernwahrheit über dieses rätselhafte, charismatische Gebilde: die Sowjetunion.
29. September – 25. Oktober 2024