Was tun mit dem Genossen Lenin? (Geschichte der Sowjetunion)

Lenin hat uns einen Staat gegeben und wir haben ihn versaut.

J. W. Stalin

Sieh dir den gut an. Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel. Ein sehr russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert. Aufgeben wird er nie.

Rosa Luxemburg zu Clara Zetkin

(Die Pariser Kommune hat gezeigt), dass selbst die Redlichsten, könnten sie die Macht ausüben, den Schurken ähnlich werden, die sie einst bekämpften.

Louise Michel, Teilnehmerin an der Pariser Kommune 1871, die daraufhin Anarchistin wurde

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Russen, die ich seit 25 Jahren unausgesetzt, und nicht nur deutsch, sondern französisch und englisch bekämpft habe, immer meine „Gönner“ waren.

Karl Marx, Brief an Kugelmann, 12. Oktober 1868

Diktaturen sind fatalerweise bei all ihren Unternehmungen zu Übertreibungen gezwungen.

Charles de Gaulle

Heuer vor 100 Jahren, am 21. Januar 1924, starb der Genosse Lenin. Ein großes Rauschen im Blätterwald habe ich diesbezüglich nicht vernommen. Vielleicht liegt das an mir … oder daran, dass erst 2017 das Hundertjahresjubiläum der Oktoberrevolution und 2020 der hundertfünfzigste Geburtstag Lenins gewesen ist; Ereignisse, die dann doch entsprechend gewürdigt worden sind, etliche neue Bücher erschienen sind und einiges in die Debatte geworfen wurde? Dabei war auf jeden Fall Lenin vielleicht die wichtigste politische Gestalt im ganzen 20. Jahrhundert. Ohne Lenin wäre Russland wohl kaum kommunistisch geworden bzw. die Sowjetunion hervorgegangen. Ohne die Sowjetunion hätte es den kommunistischen Ostblock nicht gegeben, und es wäre wohl auch China nicht kommunistisch geworden (und auch nicht andere Länder in Asien). Die Frontstellung zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt – und der „blockfreien“ Welt im großen Dazwischen – bildete wohl die definierende Achse des letzten Jahrhunderts. Einige Historiker wollen sogar auf ein „kurzes 20. Jahrhundert“ blicken, dass sich von 1917 bis 1989/91 erstreckt habe. Der Kommunismus, in Form der Sowjetunion, hat im 20. Jahrhundert den Faschismus besiegt. Aber wäre es ohne den Kommunismus überhaupt zum Faschismus gekommen? Hätte Hitler, wenn er an die Macht gekommen wäre, sich nach Osten gewandt; und wenn, hätte er es in Form eines gnadenlosen Vernichtungsfeldzuges getan, wenn es dort kein „Bollwerk des Bolschewismus“ gegeben hätte? Hätten die imperialistischen Länder ihre Kolonialreiche aufgegeben, wenn die Sowjetunion (und Rotchina) nicht gewesen hätte? Hätten die entwickelten kapitalistischen Länder vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Sozialsysteme ausgebaut und eine „sozialdemokratische“ Politik des Ausgleichs zwischen Arbeit und Kapital verfolgt, wenn nicht der Schatten der Sowjetunion über ihnen gelegen wäre? Wäre die Menschheit ins All vorgedrungen: mit dem Russen Juri Gagarin 1961 als ersten Menschen im All und dem Amerikaner Neil Armstrong als ersten Menschen am Mond 1969? Würde es das Internet geben, das ursprünglich zu Verteidigungszwecken entwickelt worden war? Vielleicht wäre das alles passiert, vielleicht auch nicht, wahrscheinlich aber zumindest in erheblich anderer Form. Was ist am Beispiel der Sowjetunion außerdem mit dem Kommunismus und der Idee des Kommunismus geschehen, stellt sich die Frage? War die Sowjetunion eine Pervertierung der Idee des Kommunismus, oder dessen triumphale Erfüllung, oder Übererfüllung? War der spezifische sowjetische Kommunismus einer, der eine solche Form aufgrund der Geschichte des Landes annehmen musste, oder aufgrund der Besetzung bestimmter Positionen mit bestimmten Personen? Oder wäre es auch anders gegangen, hätte er deutlich andere Formen annehmen können? War der Kommunismus in einem rückständigen Land wie Russland eine Bestätigung für die Marxsche Vision, dass ein Land erst eine Phase des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie durchlaufen müsse, um „reif“ für den Sozialismus zu werden? Oder eine Bestätigung dafür, dass nur „rückständige“ Länder, in denen beides kaum vorhanden ist, zum Sozialismus/Kommunismus überhaupt gravitieren, nicht aber entwickelte Industrieländer? War der Sozialismus in all diesen Ländern hauptsächlich als Sozialismus gedacht, oder als Politik der Entwicklung des jeweiligen Landes, mithin also eine „Entwicklungsdiktatur“? Inwieweit muss die Geschichte (und Mentalität) eines ganzen Landes betrachtet werden, um den Sozialismus, in vielen seiner Aspekte zumindest, als ein Element der Kontinuität oder der Diskontinuität begreifen – in dem Fall also die Geschichte Russlands und die spezifischen Gegebenheiten in Russland? War er, der sich als Endziel der menschlichen Geschichte sieht, etwas das dann doch nur innerhalb von Zeit und Raum auftut, und dann endgültig verschwindet, wenn sich die Zeiten und die Räume ändern? Oder waren die kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts Vorboten, Inseln, eines großen, weltumspannenden Sozialismus, einer Weltrevolution, die nach wie vor in der Zukunft verborgen liegt? All diese Fragen führen (neben Marx und Engels selbst) im 20. Jahrhundert auf einen einzigen Menschen zurück: auf Vladimir Iljitsch Lenin.

Die genauen Ursprünge Russlands und aus welchem Volk die späteren Russen genau hervorgegangen sind, liegen letztendlich im Dunklen. Daher ist der Ursprung Russlands tatsächlich ein wenig „mystisch“. Russland war ab dem 9. Jahrhundert eine lockere Vereinigung ostslawischer Stämme, die vor allem in der heutigen Ukraine beheimatet waren („Kiewer Rus“). Es war bereits damals ein Vielvölkerreich und seine lose Verbundenheit führte zu Reiberein und Konflikten zwischen einzelnen Fürstentümern. Das machte es für die Mongolen leichter, im 12. Jahrhundert Russland zu überrennen. Die mongolischen Herrscher wurden erst gut 250 Jahre später (1472) vom Moskauer Großfürsten Iwan dem Großen entscheidend geschlagen und vertrieben. Die Epoche des „tatarischen Jochs“ gilt vor allem im 13. Jahrhundert als „dunkle Zeit“ Russlands. Russlands Sorge über seine tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit, vor allem gegenüber Westeuropa, die bis heute Züge einer kollektiven Neurose trägt, hat darin ihren Ursprung. Tatsächlich war Russland von Westeuropa und den Entwicklungen dieser Zeit abgeschnitten. Allerdings war das mongolische Imperium nicht nur dumpf und rückständig gewesen. Neben seinem militärischen Genie war das Mongolenreich ein gut funktionierendes Handelsimperium mit effizienter Verwaltung, Steuererhebung und Rechtsprechung (was Russland leider so nie nachmachen konnte). Als überdimensionale Gestalt tritt erstmals nach der Mongolenherrschaft Iwan der Schreckliche (1530-1584) auf. Er begründete das Zarentum und einen radikalen Expansionskurs. Russland hat keine natürlichen Grenzen und ist flaches Land, in das ausländische Heere leicht einfallen können. Eingeklemmt zwischen Europa und Asien wurde es immer wieder zum Spielball fremder Mächte. Russland ist bis heute keine Seemacht, da es keinen (besonders privilegierten) Zugang zum Meer hat. Also versuchte es sich als Landmacht zu konstituieren und seine Grenzen vom Zentrum Moskau weg möglichst weit hinauszuschieben, um es auf diese Weise uneinnehmbar zu machen. Iwan der Schreckliche drang im Osten bis zum Ural vor, nach Süden Richtung Kaspisches Meer und nach Norden zum Polarkreis. In den folgenden Jahrhunderten drangen die Russen über den Ural hinaus in die grenzenlosen Weiten Sibiriens bis schließlich zur Pazifikküste (die Unterwerfung der dort lebenden Völker erfolgte oftmals brutal). Im Inneren stellt sich so bis heute das Problem, wie man ein so riesiges, zu erheblichen Teilen unwirtliches Territorium (und Vielvölkerreich) effizient verwalten könnte. Das Russland des Mittelalters hatte wenig große Städte, kein Bürgertum, keine Universitäten und öffentliche Schulen, es hatte keine Fürstenhöfe (die Kultur und Handel und anderes mehr hätten fördern können), und es hatte keinen Anteil an den maritimen Entdeckungen und den Erfindungen, die damals in anderen Teilen der Welt gemacht wurden. Der Zar hatte Übermacht über die Adeligen, die Bojaren, denen er Lehen und Vermögen nach Gutdünken auch wieder entziehen konnte (ein Muster, das sich heute zwischen dem Präsidenten Putin und den Mitgliedern seiner Regierung bzw. den Oligarchen fortsetzt). Die Innovativität Westeuropas beruhte dabei aber sehr wesentlich auf der beschränkten Reichweite seiner Machtzentren und ihrer Konkurrenz untereinander (bzw. ihrer Freiheit gegeneinander). Innovative Köpfe, die von ihrem Fürsten nicht wohlgelitten waren, konnten sich an einen anderen wenden, der aufgeschlossener war. In Russland (im Osmanischen Reich, in den Kalifaten, in China etc.) gab es diese Möglichkeit nicht. Darüber hinaus war bereits das mittelalterliche Westeuropa „demokratischer“ als Russland, ein Top-Down Feudalsystem, in dem die Leibeigenschaft erst Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Zudem war in Russland die christlich orthodoxe Kirche übermächtig. Während des tatarischen Jochs hatte sie als spirituelles Refugium und Platzhalter für eine russische kulturelle Identität gedient und gedeihte auch darüber hinaus in einem diesbezüglichen relativen kulturellen Vakuum, aus dem heraus ihr wenig Konkurrenz erwuchs. Vor allem nach dem Untergang von Byzanz und dem Fall von Konstantinopel begriff sich Russland als Fortsetzer und Bewahrer der orthodoxen Idee und Religion im Weltmaßstab – und also als „spirituelle“ Macht mit einem spirituellen Weltauftrag. Katharina die Große träumte davon, bis zum ehemaligen Konstantinopel vorzustoßen (nicht allein aus spirituellen Gründen, sondern weil das Russland auch den ersehnten direkten Zugang zum Mittelmeer verschafft hätte). Iwan der Schreckliche war ein intelligenter und vorausschauender Herrscher, der aber auch misstrauisch war und unter starken Stimmungsschwankungen litt. Bereits an ihm zeigte sich, dass ein einzelner Herrscher einem ganzen Reich recht ungefiltert seinen Stempel aufdrücken konnte. Gewalt und Grausamkeit setzte er gleichsam nicht allein gezielt als Herrschaftsmittel ein, sondern wurde auch irrational von ihnen übermannt. Der Legende nach hat er seinen eigenen Sohn im Affekt erschlagen, und sich und Russland somit eines klaren Thronfolgers beraubt. So kam es nach dem Ableben Iwans des Schrecklichen zu drei Jahrzehnten brutaler innerer Wirren und Hungersnöten in Russland – und dem Eindruck, es bedürfe eines starken, gegebenenfalls „schrecklichen“ Herrschers und einer straffen Herrschaft, damit das Land nicht ins Chaos abgleite (Stalin, der sich als eine moderne Version von Iwan dem Schrecklichen sah, sollte Eisenstein – der Iwan in seinem Film charakterlich etwas weicher zeichnen wollte – belehren, dass Iwan „nicht zu schrecklich, sondern zu wenig schrecklich“ gewesen sei: Hätte er tatsächlich rücksichtslos seine „Feinde“ beseitigt, wären Russland die inneren Wirren nach seinem Tod erspart geblieben). Zar Peter der Große (1672 – 1725), ein genialer, aber auch rücksichtslos genialer Herrscher, war der nächste Titan in der Geschichte Russlands. Er gründete das Russische Reich und besiegte die damalige Großmacht Schweden im Großen Nordischen Krieg – Russland wurde damit selbst zur nordischen Großmacht in Europa. Er verfestigte auch die Kontrolle über die Ukraine. Peter war besessen davon, von Europa zu lernen, seine Innovationen zu übernehmen und Russland nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Er gründete als neue Hauptstadt Sankt Petersburg und rückte diese damit auch geographisch nahe an Europa heran. Peter förderte die Wissenschaften, die Künste, reformierte die Verwaltung und auch die Mode; und drang mit seinen Reformen tief in das Leben der Menschen ein. Mit seinem vulkanischen Reformergeist und seiner westlichen Orientierung überforderte Peter jedoch auch viele seiner Untertanen, die darin ihre kulturelle Eigenheit (oder ganz einfach nur ihre sich daraus ergebenden Machtpositionen) gefährdet sahen – und der Konflikt zwischen den „Slawophilen“ unter den Russen und den „Westlern“ ist bis heute ein virulenter. Vor allem aber war auch Peter ein Despot. Katharina die Große (1729 – 1796), die nächste überragende Gestalt in der Geschichte Russlands, war eine vorausschauende und bildungshungrige Frau; aber zu einem guten Teil auch eine reaktionäre Herrscherin und eine Imperialistin (sie war damit eine Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus, so wie einige ihrer westeuropäischen Konterparts auch). Unter ihr erfolgte die Eroberung des Krimkhanats und die Teilung Polens. Damit war Russland auch geographisch endgültig in Europa angekommen und nunmehr ein ständiger Mitspieler im Spiel und im Konzert der europäischen Großmächte. Die Geschichte Europas ist deswegen turbulent und bellizistisch, weil keine europäische Macht stark genug war, sich als eindeutiger Hegemon über den Kontinent zu etablieren, aber alle Mächte das versuchten, oder zumindest versuchten, ihre relative Position gegenüber den anderen zu verbessern – eine unendliche Aufgabe. Napoleon wollte für Frankreich die Weltherrschaft erobern, provozierte damit aber ständige Kriege, die selbst jemand wie er schließlich verlieren musste. Sein eigentlicher Kontrahent war England, das – damals wie heute – die Generallinie verfolgte, auf dem Kontinent keine Hegemonialmacht heraufkommen zu lassen, die England in seiner „splendid isolation“ (und seinem Empire) herausfordern könnte. Mit der Ausschaltung Österreichs und Preußens hielt sich Napoleon diesbezüglich den Rücken frei. Russland ließ sich jedoch dauerhaft nicht so leicht neutralisieren. So sah sich Napoleon gezwungen, aufs Ganze zu gehen, indem er Russland vollständig schlagen und Moskau einnehmen wollte. Das Jahr 1812, in dem die Russinnen mit einer Taktik der verbrannten Erde bis hin zur eigenständigen Vernichtung Moskaus die napoleonische Armee aushungerten, zermürbten und praktisch dezimierten und ihre Reste so sieglos wieder abziehen mussten, zählt zu den großen Fixpunkten in der russischen Gedächtniskultur, und ist ein gleichsam mythisch gewordenes Beispiel für einen Heroismus, der ins scheinbar Wahnsinnige gesteigert ist: deswegen aber eben auch triumphiert. Nach dem Niederringen Napoleons kam es zu einem Jahrhundert des „langen Friedens“ in Europa. Doch auch der kannte seine begrenzten, dennoch aber gewalttätigen und erschütternden Konflikte, wie den Deutsch-Französischen Krieg, oder eben den Krimkrieg, in dem Frankreich und England gegen Russland kämpften und ihm eine Niederlage beibrachten. Die Restauration nach dem Ausschalten Napoleons bedeutete auch eine Zementierung einer reaktionären Politik in den europäischen Ländern im Inneren. Die führte über kurz oder lang zu Unzufriedenheit bei den Bevölkerungen, die am durchschlagendsten in den bürgerlichen Revolutionen von 1848 zum Ausdruck kam. Bei Russland war es der verlorene Krimkrieg 1856, der endgültig die erheblichen Schwächen des Reiches offenlegte und bloßstellte. Wie in den westeuropäischen Ländern war es auch in Russland im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins, der Frage nach der eigenen Identität und der Gestaltung der eigenen Zukunft gekommen. Die Aufklärung, die Frage nach der Gestaltbarkeit der eigenen Geschichte und das Verständnis vom Bürger als Citoyen und nicht mehr bloß als feudalistischer Untertan hatte auch Russland erfasst. Denker, in Russland vor allem aber Dichter traten auf, und versuchten, die großen Fragen ihres Zeitalters zu verhandeln und schufen damit einen neuen, allumfassenden Rahmen für das Denken, das Empfinden und das allgemeine Problemverständnis. Russland hat diesbezüglich einen neuralgischen Punkt, in dem wesentliche Entwicklungen der Vergangenheit zusammenlaufen und von dem wesentliche Entwicklungen für die Zukunft ausgehen in der geistigen Gestalt Puschkins. Es waren im 19. Jahrhundert, und darüber hinaus, die großen Literaten, die Russland zu einem einheitlichen Selbstverständnis verhelfen wollten (und damit, wenngleich auf hochinteressante und charismatische Weise, gescheitert sind). 1825 verweigerten Offiziere den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I., aus Protest gegen das Zarenregime. Aus ihnen gingen die Dekabristen hervor. Die Dekabristen waren eine Art revolutionäre Bewegung (oder zumindest eine Vorstufe dazu), die auch geheimbündlerisch und im Untergrund tätig war, deren Ziel die Liberalisierung Russlands, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung des Zarentums (bzw. dessen Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie) war. Sie waren vorwiegend „westlich“ orientiert. Der Zar verfolgte die Dekabristen und verschärfte die Repressionen im ganzen Land – mit der Wirkung, dass sich weitere Teile der Bevölkerung vom Regime entfremdeten. Unter den Intellektuellen wurde es Mode, sich für das Bauerntum zu interessieren. Sie erhofften, im „unverfälschten“ russischen Bauerntum fündig zu werden, was das wahre, unverfälschte Russentum und die wahre russische Seele denn tatsächlich ausmache. Russische Sozialisten begannen die Hoffnung zu hegen, dass die bäuerliche Dorfgemeinschaft eine Keimzelle für einen Sozialismus der Zukunft sein könnte. Umso mehr hassten diese fortschrittlichen Geister die Leibeigenschaft, tatsächlich ein Symbol für die russische Rückständigkeit und den russischen Despotismus. Aus ihnen gingen die Narodniki („Volkstümler“) hervor, eine revolutionäre Bewegung mit sozialistischer Stoßrichtung, von denen schließlich viele Terroristen wurden. Aufgrund der Niederlage im Krimkrieg kam es unter Zar Alexander II. tatsächlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Alexander II. setzte auch eine umfangreiche Liberalisierung und Reformen in Gang, die jedoch den mittlerweile intransigenter gewordenen Revolutionären – zu denen nunmehr auch die „Nihilisten“ zählten, die sämtliche Autoritäten ablehnten – nicht weit genug gingen. Auch Alexander II. musste schwierige Balancen in seinem Reich der Ungleichzeitigkeit wahren, und vielfach stießen Reformvorhaben an die Grenzen der Machbarkeit. Der reformorientierte „Oswoboditel“ („Zar-Befreier“) wurde tragischerweise Opfer eines Anschlags einer revolutionären Geheimgesellschaft, Narodnaja Wolja. Das bekräftigte in seinen weniger weltoffenen Nachfolgern das Verständnis, dass liberale Reformen sowieso ein Irrweg wären, der nur noch größeren Schaden hervorrufe. Und so verschärften sie wiederum die Repression – was wiederum Revolutionären und Terroristen aller Art Auftrieb gab. Zwischen 1897 und 1917 sollten 17.000 Staatsvertreter, inklusive Ministern, Terroranschlägen zum Opfer fallen. Dennoch hatten selbst Antikommunisten im Ausland Verständnis dafür, dass das russische Repressionsregime Kommunisten und Terroristen ja offensichtlich in großer Zahl hervorbringen musste. Zugleich bliebt Russland auch ökonomisch rückschrittlich und fiel aus dem Rahmen der Zeit. Doch der Karren schien festgefahren. Für viele Russinnen und Russen, vor allem junge, lag daher ein Klima des revolutionären Denkens und Handelns in der Luft. In einem solchen Klima wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert also auch der derjenige Russe auf, der mit der Revolution dann tatsächlich Ernst machen sollte.

Wir haben die Mao-Zedong-Gedanken genutzt, um den Versuchungen einer weitgehend verpönten Attitüde zu unterliegen, der des Eurochauvinismus. Der Maoismus in seiner Geschichte und in seinen näheren und ferneren Ursachen ermuntert zu einem kritischen Blick auf die zahlreichen Dysfunktionalitäten Chinas, und auch die Dysfunktionalitäten Indiens und die kleinerer asiatischer Länder wie Kambodscha gerieten unter den Scheinwerfer. Ja, insofern der Maoismus auf globale Reichweite abzielte (auch wenn er darin meistens nicht erfolgreich war) gab uns das sogar die Möglichkeit, über Afrika und über Südamerika einige abfällige Bemerkungen fallen zu lassen! Russland ist nun sowohl eine europäische als auch eine asiatische Macht. Auch wenn es sich geographisch viel mehr nach Asien erstreckt, liegen sein Schwerpunkt, seine Ursprünge und die Mehrheit seiner Bevölkerung in Europa. Allerdings am Rand von Europa, und weit von den politischen Zentren Europas entfernt. Man könnte also sagen, dass Russland ein europäisch-asiatisches Hybrid ist, ein Bastard. Man könnte aber auch sagen, dass Russland weder asiatisch noch europäisch sei, sondern ein Gebilde für sich – das in seiner Unterbestimmtheit dann dazu tendiert, bestimmte seiner Bedeutungen und Inhalte immer wieder ins Überdimensionale aufzublähen, um sich so Halt und Selbstverständnis zu verschaffen: dass Russland von Natur aus also zu Übertreibungen neigt, die auf umso wackeligeren Beinen stehen. Russland versteht sich nicht als Land, sondern als Imperium, hat aber weder als Land noch als Imperium echte natürliche Grenzen, und kann daher schrumpfen oder anwachsen. Russland ist ein eigener Kulturraum, an und für sich eine eigene Zivilisation, ist aber auch von vielen anderen (stärkeren und ausformulierteren) Kulturen und Zivilisationen umgeben und in notwendigem Austausch, deren Einflüssen es zwar gerne nachgibt, sich aber auch gleichsam trotzig selbst zu behaupten versucht (Japan ist, so gesehen, auch eine Kultur und eine Zivilisation für sich, aber besser abgeschottet bzw. besser abschottbar). Russische Intellektuelle und Sozialisten des 19. Jahrhunderts hegten, wie erwähnt, eine große Faszination für die Bauern, in denen sie die Antwort auf die Frage nach dem echten, unverfälschten Russentum zu finden hofften. Auch wenn diese Annäherungsversuche in einzelnen Fällen gelangen, scheiterten sie auf der größeren Skala. Die russischen Bauern hatten, so konnten diese Gebildeten feststellen, zwar etliche liebenswerte und bewundernswerte Eigenschaften, aber auch solche, die sich zu jedem Intellektualismus und Liberalismus antithetisch verhielten. „Der russische Bauer blieb undurchdringlich“. Vielleicht ist er in dieser Eigenschaft tatsächlich die Seele Russlands. Russland hat immer wieder bedeutende Leistungen erbracht. Dabei gingen all diese Leistungen aber immer wieder mit irgendetwas Grotesken einher. Russland ist, in praktisch allen Aspekten, gleichzeitig stark und schwach zugleich. Insofern Russland all das ist, und dann auch wieder nicht, ist Russland vielleicht vor allem eines: ein Paradox. Das größte Paradox in der Welt. „A riddle, wrapped in a mystery, inside an enigma“, so charakterisierte Winston Churchill Russland (oder zumindest die Sowjetunion, als sie den Hitler-Stalin-Pakt abschloss). An einem Paradox beißt man sich letztendlich die Zähne aus. Was aber, wenn das Paradox dann doch auf einer relativ eindeutigen Grundlage beruht? Wie der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, hat Russland scheinbar endgültig seine dunkleren Seiten enthüllt, die man vorher vielleicht nicht so wahrgenommen hat. War das der fehlende Mosaikstein, der nun endlich einen tatsächlichen, widerspruchsfreien Blick auf ein ansonsten nicht ganz klares, bewegliches Ganzes bietet? Damals habe ein ich Interview mit einem ukrainischen Intellektuellen gelesen, der Russland als „Schatten“ Europas und der europäischen Aufklärung identifiziert hat. Das hätte ich vorher vielleicht nicht so ernst genommen und eine polemische Absicht dahinter vermutet. Aber vielleicht hat der ukrainische Intellektuelle recht: Dass also Russland weniger ein Hybrid ist, das Westeuropa halt ein wenig hinten nach ist, aber schließlich aufschließen wird und will, sondern ein negativer, unheimlicher Schatten, der die westeuropäischen Innovationen immer nur übernommen hat, indem er sie pervertiert hat – zu dem Zweck seiner eigenen Selbstbehauptung. („Zuerst lernen wir von den Europäern – dann schlagen wir ihnen die Tür vor der Nase zu“ – soll das eigentliche Vorhaben von Peter dem Großen gewesen sein.) Russland hat auf vielen Gebieten große kulturelle Leistungen erbracht. Wobei der größte nationale Schatz wohl die klassische russische Literatur ist. Die Einzigartigkeit der klassischen russischen Literatur, ihre ins Allumfassende ausgreifenden Dimensionen, haben ihre Grundlage darin, dass die Literatur das Trägermedium war, über das die großen Fragen der Zeit national ausgehandelt wurden – in Ermangelung anderer Kommunikationskanäle innerhalb der Gesellschaft. Sie ist die „seelenvollste“ unter allen Literaturen und die, die den größten metaphysischen Abgrund auftut. Aber weder eine Seele noch Metaphysik sind notwendigerweise etwas Rationales, und vor allem, wenn sie in einer ewigen Suche nach sich selbst sind, sollte man erwarten, dass sie das letztendlich eben nicht sind. Genauer betrachtet beschreibt die russische Literatur letztlich bis heute immer wieder groteske, gefährliche, traumatische Lebenswelten, in denen die Unvorhersehbarkeit und Unzuverlässigkeit regiert. Trotz ihres Genies waren die russischen Dichter(innen) immer wieder in auffälliger, jenseits der natürlichen Weltfremdheit des Poeten liegenden Weise nicht in der Lage, gut durchs Leben zu navigieren. Gogol hätte seine Toten Seelen als Trilogie geplant, bei der, gleich der Göttlichen Komödie von Dante, der erste Band die „Hölle“ der russischen Verhältnisse beschreibt, der zweite das Fegefeuer/den Läuterungsberg und der dritte das Paradies. Verfasst hat Gogol eben nur den ersten Band. Er, der von allen russischen Dichtern zu den plastischsten Darstellungen fähig war, sah sich nicht in der Lage, Russland jenseits des Höllenkreishaften zu beschreiben – offenbar, weil die russische Realität dafür zu wenig Anschauungsmaterial lieferte. Stattdessen erblickte Gogol in der „inneren Läuterung“ des Individuums den Generalschlüssel zur Erneuerung Russlands. Zarendespotie, Leibeigenschaft, Rückständigkeit usw. seien unerheblich, wichtig sei allein die innere moralische Läuterung des Individuums, dann werde sich die Gesellschaft (auch innerhalb dieser Grenzen, die dann aber nicht mehr wichtig sind) von selbst zum Guten ordnen. Zwar hat er damit wohl recht, aber das ist dann keine politische Vision mehr, vielleicht auch keine moralische mehr, sondern eine esoterische. Spiritueller Schwulst aber ist etwas, worin sich die russische Seele gefällt. Auch heute noch begreift jemand wie Putin Russland als eine „spirituelle“ Supermacht, die mit ihrem einzigartigen spirituellen Empfinden die ganze Welt beglücken wird, ein Selbstverständnis, das mindestens aufs 19. Jahrhundert zurückgeht (beziehungsweise hinsichtlich der Vorstellung, der Nachfolger des oströmischen Reichs zu sein, auf noch viel früher). Spiritualität ist zwar was Gutes, bedeutet ein intensiveres Empfinden für das Sein und größere Sensibilität gegenüber den Dingen und gegenüber sich selbst. Doch sollte das auf der Basis eines klaren Geistes und einer transparenten Persönlichkeit geschehen. Spiritualität bedeutet Luzidität und dass man klare Unterscheidungen treffen kann und nicht eine bloße Selbstüberladung mit „Weltempfinden“ (oder Selbstempfinden). Transparenz ist aber etwas, was in der russischen Kultur fehlt, stattdessen herrscht die Opazität. Außerdem ist bei der russischen Spiritualität nicht klar, was sie sein soll. Anders als die Länder im Westen und Osten hat Russland kein eigenständigen, ausformulierten und systematischen spirituelle Lehren entwickelt oder konstruktiv übernommen; eher handelt es sich um eine übersteigerte Religiosität. Die herrschende Kirche in Russland ist die orthodoxe, die von allen christlichen Kirchen am wenigsten intellektuelle Wandlungen durchgemacht hat, am wenigsten mit der Aufklärung konfrontiert war und die in vergleichsweise starrer Ritualistik besteht. Orthodoxe Messen und ihre Gesänge, ich gestehe, haben eine charismatische, wohltuende Wirkung, man glaubt, dem Weltgeheimnis näher zu kommen und wähnt sich in einer tieferen Kommunion, aber nach einer gewissen Weile (und noch dazu dauern orthodoxe Messen beliebig lange) verliert man die Nerven. Ein genauer innerer Kern ist für mich nicht auszumachen; aber ich verstehe natürlich kein Russisch, kann das daher nicht beurteilen. Allerdings mag das spezifische russische Leben selbst eine spirituelle Erfahrung sein. Zugegebenermaßen muss es ein tiefes Empfinden sein, Russe zu sein. Russinnen fühlen sich im Ausland immer wieder nicht wohl und sie haben Sehnsucht nach dem „Mütterchen Russland“. Trotz aller Segmentierungen und Hierarchien in der Gesellschaft scheint ein starkes und gleichsam egalitäres Gemeinschaftsgefühl in der russischen Seele zu liegen. Vielleicht hätte ich so eine Empfindungsmöglichkeit auch gern (allerdings habe ich so etwas ja, nur halt in einer anderen Form). Russland ist im Vergleich zu Westeuropa aber auch eine vergleichsweise kollektivistische Gesellschaft (allerdings weniger kollektivistisch als die asiatischen). Deswegen zählt das Individuum weniger, das zu politischen Zwecken von den jeweiligen Herrschenden immer wieder verheizt wird. Die Menschenmassen, die Russland aus den unendlichen Weiten seines Inneren immer wieder von Neuem nach vorne an die Front werfen kann, erzeugen keinen Druck, Kriegsführung, Wirtschaft, Verwaltung etc. effizienter und menschenfreundlicher oder -schonender zu machen, der Mangel an Qualität kann durch Quantität, freilich mehr schlecht als recht, ausgeglichen werden. Die Ineffizienz in der Verwaltung und des Polizeiapparats führt zu einer gleichsam absichtlich idiotischen Brutalität von deren Methoden, um die Bevölkerung durch Erzeugung von Angst in Schach zu halten, man Effizienz also so durch Effektivität ersetzt. Dass in Russland alle gleich unterdrückt sind, muss dann tatsächlich für ein Gefühl der egalitären Verbundenheit unter den Russen sorgen. Gleich den endlosen Weiten des Landes erstreckt sich auch das entsprechende Gefühl, russisch zu sein ins Transzendente und uferlose, allumfassende. „Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, sondern eine Menschheit“, heißt es. Was aber soll ein Volk sein, das gleichzeitig eine ganze Menschheit ist? Es wird dann gleichsam eine Konkurrenz-Menschheit sein, die mit aller übrigen Menschheit in einem ständigen Reibeverhältnis steht. Oder so irgendwie. Einfach ist das sicher nicht. Ja, so gesehen ist Russland vielleicht sogar ein eigener Planet? Ist er vielleicht sogar immer wieder einmal in der Lage, gleichsam Signale aus der Zukunft auszusenden? Russland war das erste Land der Welt, das den Kommunismus in die Tat umsetzte! Aber was bedeutet das, wenn ein Land kommunistisch wird? Es kann nur bedeuten, dass es jahrhundertelang eine katastrophale Politik gemacht hat, aus der es keinen rationalen Ausweg gefunden hat! Mit seiner von Anfang an kompromisslosen und harten Linie stieß Lenin bei seinen westeuropäischen marxistischen Konterparts (wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg) einigermaßen auf Unverständnis. Doch diese war nur Ausdruck einer Unmoderiertheit des politischen Prozesses in Russland, wie man sie in Westeuropa schon lange nicht mehr kannte. In ihrer Haudrauf-Mentalität erzeugte die russische Obrigkeit eine Schlagzurück-Kultur bei den Unterdrückten. Die Obrigkeit war bemüht, Ordnung in ihrem Interesse herzustellen, nicht Konflikte zu schlichten. Auch wenn sie scheinbar reichhaltig war, war daher selbst die Geisteskultur Russlands relativ verarmt und reduziert gegenüber der von Westeuropa. Die russische Geisteskultur selbst kennt wenig logische Strenge, inneren Aufbau und deutliche Gliederung, bietet wenig Platz für Skeptizismus und Relativismus, sie kennt zwar den Spott, weniger aber die Ironie (Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.346f.). Von Rosa Luxemburg stammt die Formel „Sozialismus oder Barbarei“. Was aber, wenn die Sozialisten selbst erheblich noch in der geistigen Barbarei leben?  – An der Schwelle zum 20. Jahrhundert stand Zar Nikolaus II. an der Spitze des Russischen Reichs, ein phantasieloser, sehr durchschnittlicher Mann, der Gewalt an und für sich nicht mochte und der sein eigenes Amt als eine Bürde empfand, zu dessen wenigen Ideen aber die fixe Überzeugung gehörte, dass das Zarentum einer göttlichen Sendung entspreche und dass die Autorität des Zaren damit unverrückbar sei. Er war somit kein Reformpolitiker. Diese Einstellung kollidierte jedoch 1905 hart mit der Wirklichkeit. Im Russisch-Japanischen Krieg musste Russland in diesem Jahr eine demütigende Niederlage einstecken. Zum ersten Mal hatte eine asiatische Macht über eine europäische Macht triumphiert. Das Thema von Russlands Rückständigkeit bei der Modernisierung in allen Bereichen kam wieder aufs Tapet. (Tatsächlich war Russland zumindest wirtschaftlich gar nicht so rückständig. Sein industrieller Entwicklungsstand lag 1914 gleichauf mit dem von Österreich-Ungarn. 1910 lag es in seiner Wirtschaftskraft an der 10. Stelle in der Welt (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte, Berlin, VWF 2003 S. 3). Für eine Großmacht ist das aber natürlich nicht genug.) Im selben Jahr kam es zu sozialen Unruhen. Im Januar 1905 begaben sich Zehntausende Arbeiter und Arbeiterinnen, angeführt von dem Priester Georgi Gapon, auf den Weg zum Winterpalast des Zaren in Sankt Petersburg. Sie forderten eine Volksvertretung, Agrarreformen, Abschaffung der Zensur und menschenwürdige Bedingungen in den Betrieben. Es war als eine friedliche Demonstration gedacht, doch die Soldaten des Zaren schossen in die Menge. Als sich diese immer noch nicht zerstreute, richteten sie ein Blutbad an, bei dem es zu hunderten von Toten kam. Der „Petersburger Blutsonntag“ leitete tatsächlich eine Wende und eine Revolution ein – in den Köpfen und Herzen der Russen, die nunmehr breiter das Vertrauen in die Institution des Zarentums verloren. Ihnen wurde zunehmend klar, dass der Zar nicht ihr „Väterchen“ und ihr Beschützer sei. Als solcher sah sich Nikolaus II. aber dennoch. Es kam in den folgenden Jahren landesweit immer wieder zu Aufständen. Der Zar ließ diese niederschlagen, leitete aber auch Reformen ein, die aber halbherzig blieben und einem unentschlossenen Zickzack-Kurs folgten. Eine Duma (ein Parlament) wurde eingeführt, durfte aber selten tagen, bevor sie wieder abgeschafft wurde. 1906 setzte der Zar Pjotr Stolypin als Premierminister ein. Der reagierte auf die Aufstände im Land mit einer Welle von Repressionen, setzte jedoch auch umfangreiche Reformen in Gang. Doch Stolypin war ein einsamer (dafür aber umso selbstherrlicherer) Mann. Dass auch er schließlich einem Attentat zum Opfer fiel, kann man als tieferen Ausdruck dafür sehen, dass er in keiner Bevölkerungsschicht des Russischen Reiches breite Verbündete hatte, und er mit seiner an und für sich vernünftigen (und wirtschaftlich erfolgreichen) Politik dennoch zwischen allen Stühlen saß. Nikolaus II. zog die für ihn naheliegende Konsequenz, indem er alle Reformmaßnahmen zurücknahm und aller Reformpolitik eine Absage erteilte. Das war aus seiner Sicht auch nicht so irrational, wie es scheint. Erhebungen gegen repressive Regime sind in der Mehrheit der Fälle nicht erfolgreich, und speziell durch die russische Geschichte hindurch, inklusive der Sowjetära, konnte der Staat seine Autorität meistens gegenüber Aufständischen aller Art behaupten. Reformen können in einem solchen Fall zwar zu einer Befriedung der Gesellschaft führen, oder aber den Konflikt weiter anheizen und die Macht der Obrigkeit erodieren lassen. Es gibt, so gesehen, für die Herrschenden keine allgemeingültige rationale Blaupause, wie sie in einer solchen Lage reagieren sollen (zudem sie außerdem meistens von einer irrationalen Ideologie beherrscht sind, nach der sie zu erheblichen Teilen auch handeln). 1914 aber brach der Erste Weltkrieg aus, bei dessen Auslösung Russland eine der aggressiveren kriegstreibenden Parteien war. Zwar lagen die Hauptgründe für die Entfesselung des Großen Krieges woanders, jedoch erhoffen sich die gekrönten Häupter Europas, die in einer ständigen zumindest latenten Angst vor Umsturz und Revolution lebten, durch den Krieg und den Sieg nicht zuletzt auch eine Zementierung ihrer Herrschaft im Inneren. Sie gingen damit ein hohes Risiko ein. Russland war die erste Macht, die damit ihr Blatt überreizt und verspielt hatte. Die Soldaten und die Bevölkerung von Russland hatten schließlich genug von den Strapazen, die der Krieg ihnen auferlegte, und der Zar musste abdanken (er und seine Familie wurden später wegen ihrer „Verbrechen gegen das russische Volk“ von den Bolschewiki hingerichtet. Die Nachricht davon wurde von der russischen Bevölkerung dann angeblich „mit der größtmöglichen Gleichgültigkeit“ aufgenommen). Eine provisorische demokratische Regierung (unter der auch Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde) unter der Führung Alexander Kerenskis übernahm die Macht – das war die Februarrevolution von 1917. Doch die Regierung blieb schwach, korrupt, ohne Organisationstalent und ohne Konzept, wie es weitergehen sollte. Außerdem war Russland weiter im Krieg. Die Deutschen wollten daher den Druck auf Russland erhöhen und ein wenig Durcheinander in die Politik bringen, um sie so zum Kriegsaustritt zu bewegen. In dieser Intention (so zumindest der Mythos) ermöglichten sie auch einem außerhalb der eingeschworenen Zirkel an und für sich wenig bekannten Berufsrevolutionär, der auf der Flucht vor den zaristischen Behörden jahrelang im Ausland gelebt hatte, seine Heimreise nach Russland und schickten ihn in einem plombierten Zug nach Petrograd. Sie ahnten noch nicht, was für eine entscheidende Weiche sie damit für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt hatten.

Lenin, geboren 1870 in Simbirsk als Wladimir Iljitsch Uljanow, wurde im Alter von 17 Jahren radikalisiert, als sein älterer Bruder Alexander hingerichtet wurde. Alexander hatte sich als Student bei einer (dilettantischen) Verschwörung beteiligt, mit dem Ziel, den Zaren zu ermorden. Die Familie Uljanow hatte gehofft, der Zar würde Alexander zu einer Haftstrafe begnadigen, da er nur Mitläufer gewesen war. Doch dem wurde, wenig überraschend, nicht stattgegeben. Das entzündete in Lenin einen allumfassenden Hass gegen die russische Autokratie, oder überhaupt alle Autokratie. Dazu kamen die Abweisungen, die die (bürgerliche als auch neuadelige) Familie Uljanow anschließend seitens ihrer eigenen Klasse widerfuhr – was in Lenin auch einen Hass auf das Bürgertum erzeugte. Lenins Vater war ein hoher Beamter im Unterrichts- und Schulwesen gewesen und reformorientiert. Als sich schließlich alle Hoffnungen auf solche Reformen zerschlagen, formierte das einmal mehr im jungen Lenin die Anschauung, dass die russische Autokratie nicht reformfähig war und daher nur kompromisslos gestürzt werden konnte. Zum Marxismus fand Lenin erst einige Jahre nach der Hinrichtung seines Bruders. Der schien ihm schließlich ein konsistentes Paradigma zu offerieren, wie, warum und zu welchem Zweck „Revolution gemacht“ werden sollte. Lenin wurde daher ein marxistischer Revolutionär. Als reiner Revolutionär orientierte sich Lenin, wie viele andere russische Revolutionäre, stark an einer fiktiven Figur aus dem Roman Was tun? von Nikolai Tschernyschweski aus dem Jahr 1863 (den Titel sollte Lenin selbst für seine vielleicht berühmteste Schrift übernehmen). In Was tun? tritt ein Revolutionär namens Rachmetov auf, ein selbstloser, ultraaltruistischer, ganz in der Sache aufgehender Mann, der zum Prototyp für den „besseren sozialistischen Menschen“ wurde (Tschernyschewski wurde auch von Marx eifrig gelesen und geschätzt). Der wurde auch für Lenin zum Vorbild – denn das entscheidende Charakteristikum bei Lenin war, dass er sein ganzes Leben und seinen ganzen Charakter auf Revolution und Umsturz ausrichtete. Man könnte einen entkernten, unnatürlichen Fanatiker in ihm erblicken, wenn er nicht Verstand und Persönlichkeit genug gehabt hätte, die ihm auch noch transzendentere Qualitäten verliehen. Anders als Marx und Engels war Lenin kein Titan des Denkens, wohl aber ein höchstbegabter Intellektueller. Seine „philosophische“ Hauptschrift, Materialismus und Empiriokritizismus, ist das Werk eines mittelmäßigen Intellektuellen (allerdings mittelmäßig auf einem deutlich höheren Niveau, als das uns im täglichen Leben begegnet) und ein Dokument, dass Lenin nicht philosophisch dachte und offenbar auch Schwierigkeiten hatte, sich in Philosophie hineinzuversetzen. Materialismus und Empiriokritizismus ist vorwiegend eine polemische Schrift, die sich gegen eine philosophische Weltanschauung richtet, die mit dem Marxismus unvereinbar erscheint (trotzdem es einige revolutionär gesinnte Denker gegeben hat, die versuchten, das zu tun – was der Grund für Lenins Schrift war). Dabei ist Lenins gesamtes Werk von einem polemischen Stil durchzogen, wenn nicht sogar vom Wesen her Polemik. Einen neurotischen Schimpfstil hat man freilich auch erheblich in den Schriften von Marx und Engels selbst. Doch während Marx und Engels (innerhalb gewisser Grenzen) auch Humor besaßen und die Fähigkeit, die eigenen Anschauungen zu hinterfragen oder zu revidieren bzw. Fragestellungen aus einer sehr komplexen Perspektive heraus zu betrachten, fehlen solche Bereitschaften und Dispositionen bei Lenin weitestgehend. Die Lektüre von Lenins Schriften ist daher unangenehm und unheimlich (wobei noch unheimlicher ist, dass den meisten revolutionär orientierten Menschen dieses Unangenehme gar nicht als solches auffällt oder sie sich auch noch freuen darüber). Lenin verwendet eine dehumanisierende Sprache, deren Ziel die Verächtlichmachung des „Gegners“ ist (wenn nicht sogar, wie man meinen könnte, dessen Vernichtung). Außerdem ist Lenin in seinen gesamten Positionen absolut, apodiktisch und doktrinär, und warnt ständig vor allem, was davon „auch nur im Geringsten“ abweicht und sie damit „schwächt“. Man könnte meinen, Lenin sei ein Ungeheuer, das ganz aus Hass besteht – und das diesen Hass auch noch gutheißt (z.B.: Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischem Hass auf die bürgerlichen „Klassenpolitiker“ … Dieser Hass des Vertreters der unterdrückten und ausgebeuteten Massen ist wahrlich „aller Weisheit Anfang“, die Grundlage einer jeden sozialistischen und kommunistischen Bewegung und ihrer Erfolge. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus S.95)). (Auch Che Guevara sah im Hass ein produktives Agens, z.B.: Der Hass als Faktor des Kampfes, der unbeugsame Hass dem Feind, der den Menschen über die natürlichen Grenzen hinaus antreibt und ihn in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt. Unsere Soldaten müssen so sein, ein Volk ohne Hass kann über einen brutalen Feind nicht siegen.) Wenn man jetzt Hassenswertem wie der zaristischen Autokratie oder dem Kapitalismus in seinen übelsten Formen Hass entgegenbringt, könnte man das natürlich als logisch oder gerechtfertigt, wenn nicht als notwendig betrachten. Immer wieder wird bei solchen Kalkulationen aber übersehen, dass zwei Mal Unrecht nicht Recht ergibt, bzw. dass etwas Hassenswertes nicht notwendigerweise durch was Besseres abgelöst wird, wenn es in seiner Wurzel (ebenfalls, oder vielleicht noch mehr und noch genuiner) aus Hass besteht. Zorn, der aus dem Hass entspringt, gilt nicht zu Unrecht als eine der sieben Todsünden. War aber nun Lenin ein reiner, finsterer Hasser? Schon früh ist an Lenin aufgefallen, dass er mitleidlos sein konnte. Eine große Hungersnot in Russland im Jahr 1891 begrüßte er sogar, weil er hoffte, sie würde eine revolutionäre Stimmung befördern (so wie Marx wirtschaftliche Crashs oder die zerstörerischen Wirkungen des Freihandels und des Kapitalismus im Allgemeinen begrüßte und diese sogar Wirkung genug taten, um ihn aus Depressionen oder Zuständen der Krankheit empor zu heben). Allgemein ist Lenin mit seiner Hartherzigkeit zeit seines Lebens vielen Menschen (auch anderen Revolutionären) unangenehm aufgefallen. Dabei war Lenin (wie bei intellektuell Höchstbegabten allerdings üblich) aber auch zu großer Zärtlichkeit und Anteilnahme fähig, wobei sich solche Erfahrungen, die man mit Lenin machen konnte, allerdings auf seinen Familienkreis und engeren Bekanntenkreis beschränkten. Allgemein ist es nicht das Ziel des Kommunismus und der Kommunisten, Hass in die Welt zu setzen, sondern ihn zu überwinden. Und auch Lenin verfolgte nicht ein solches Ziel. Allerdings gehört es zu den Pathologien des Kommunismus und des Marxismus, dass sie in erheblichem Ausmaß aus Hass bestehen, der sich immer wieder erneuert – nicht zuletzt, wenn sie ihre unrealistischen Ziele nicht erreichen. Es ist schwierig, Menschen, die nicht eindeutig gut oder böse sind – also die meisten von ihnen – eindeutig zu bewerten und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielleicht versteht man Lenin am besten, wenn man sein Verständnis und sein Verhältnis zu Menschen im Allgemeinen als instrumentell begreift: als instrumentell im Sinne der Politik. Politik und Revolution zu machen war der eigentliche Inhalt von Lenins Leben und von seiner Weltsicht – und so betrachtete er Menschen vorwiegend als Instrumente, um Politik und Revolution zu machen, einschließlich sich selbst, so wie es für Revolutionäre wie ihn typisch ist. Lenin und seine Weggefährten hätten ein bequemes und ungefährliches Leben haben können, sie setzen sich jedoch permanenter Gefahr aus, der Revolution halber. Wie man am Beispiel von Lenin sieht, ist das Problem von Revolutionären, auch in allen anderen Menschen ihresgleichen sehen zu wollen, was sie potenziell für diese recht gefährlich macht. An und für sich wird Kapitalisten vorgeworfen, dass sie Menschen als rein instrumentell betrachten, aber bei Antikapitalisten mag das genauso sein. Lenins Säen von Hass und Verachtung folgte jedoch vorwiegend einem propagandistischen Kalkül. Der politische Gegner (eventuell auch in den eigenen Reihen) sollte lächerlich gemacht und desavouiert werden. Anders als Stalin war Lenin jedoch in der Lage, sich (zumindest innerhalb der eigenen Reihen) erstaunlich schnell wieder mit Opponenten zu versöhnen, wenn eine grundsätzliche Übereinstimmung wiederhergestellt war (was, wenn man so will, allerdings ebenfalls etwas Unpersönliches hatte). Bei Lenin kommen noch eine besondere Halsstarrigkeit und Dickköpfigkeit (und Ausschließlichkeit) in seinem revolutionären Bestreben dazu, was bei vielen anderen Revolutionären und Marxisten so dann doch nicht vorhanden war. Dieses war der Grund aber für seinen Erfolg (und auch sein Scheitern, nicht zuletzt in Bezug auf sein ganzes, letztendlich unreformierbares revolutionäres Projekt am Ende). Nachdenklich ist Lenin erst am Ende seines Lebens geworden. Sein Leben lang von der absoluten Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, wurde er erst am Schluss offenerer für die Bedachtnahme darauf, dass er auch im Irrtum sein könnte. Sicherlich ist es tragisch für die Sowjetunion, dass ihr Gründer so früh gestorben ist. Er hat sich buchstäblich für den Sowjetstaat zu Tode gearbeitet und starb nach mehreren Schlaganfällen, die ihn schon zuvor weitgehend handlungsunfähig gemacht hatten, im Januar 1924. Seinen Sowjetstaat hatte er nur gut ein halbes Jahrzehnt geleitet. Diese Leistung hatte jedoch gereicht, um das Gesicht des 20. Jahrhunderts in der entscheidendsten Weise zu verändern.

Lenin war keine Gestalt des intellektuellen Zuschnitts von Marx oder Engels. Warum spricht man dann vom Marxismus-Leninismus? Grob gesagt, geht der orthodoxe Marxismus davon aus, dass der Kapitalismus aufgrund von „inneren Widersprüchen“ schließlich von selbst zusammenbrechen würde. Während der frühe Marx davon ausgegangen war, dass der Kapitalismus mit einem revolutionären Proletariat seinen eigenen Totengräber schaffen würde, nahm der spätere Marx an, dass der Kapitalismus dereinst an einem Ende seiner Reproduktionsmöglichkeiten anlangen würde und er als eine Art „Hülle“ von einem wunderschönen sozialistischen Schmetterling, der sich derweil in ihr entfaltet hätte, gleichsam weggesprengt werden würde, der dann in den Äther flattert. Bereits Marx selbst dürfte sich am Ende seines Lebens aber wohl insgeheim die Frage gestellt haben, inwieweit auch zweitere Prognose richtig sein könnte (denn die empirischen Entwicklungen waren dazu gegenläufig). Sein Kapital hat er auf jeden Fall aus irgendwelchen Gründen nicht fertiggestellt. Stattdessen beschäftigte sich Marx gegen Ende seines Lebens mit Fragestellungen diversester Art – unter anderem auch – eingeladen dazu von der russischen Terroristin Vera Sassulitsch – mit der Frage, inwieweit in Russland eine Revolution möglich sein könne. Der orthodoxe Marxismus geht davon aus, dass eine sozialistische Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft nur auf der Basis einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft möglich seien. Das waren aber nicht die Bedingungen in Russland. Viele russische Revolutionäre träumten daher davon, dass in Russland stattdessen das kommunale Dorfleben eine Keimzelle für eine sozialistische Umgestaltung sein könnte. Die russischen Marxisten hingegen standen vor dem Problem, dass es in Russland keinen Kapitalismus als eindeutig dominierender Wirtschaftsform gab, und auch in keinem nennenswerten Sinn ein Bürgertum oder ein Proletariat. Lenin bemühte sich hinzuweisen, wie weit der Kapitalismus in Russland schon gediehen sei (Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland) bzw., vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, dass der Kapitalismus ein Stadium erreicht habe, dass sich die Frage nach seiner Überwindung im Weltmaßstab stelle (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus). Was vor allem auf Lenin zurückgeht, ist die Beschäftigung mit der politischen Organisation der Revolution und der Schaffung eines revolutionären Subjekts bzw. einer revolutionären Trägerschicht innerhalb der Gesellschaft. Während bestimmte Lesarten des Marxismus ein geradezu passives Hinwarten auf die Revolution ermöglichen, kann für Lenin die Revolution nur die höchst aktive Tat einer revolutionären Avantgarde, einer Partei von Berufsrevolutionären sein. Auch dem Proletariat spricht Lenin die Fähigkeit ab, ein tatsächliches revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Sich selbst überlassen, könne es allein ein „trade-unionistisches Bewusstsein“, also eines der eigenen, reformistisch orientierten Interessensvertretung innerhalb der Gesellschaft, aber nicht der revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft erlangen. Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. (Was tun?, Berlin, Manifest Verlag 2022 S.42f.) Zur Entwicklung einer revolutionären Perspektive benötige es Intellektuelle, zur Umsetzung der Revolution benötige es eingeschworener Berufsrevolutionäre. Zumindest ersteres wurde von den marxistischen Zeitgenossen Lenins nicht bezweifelt, und auch im Hinblick auf Zweiteres gab es grundsätzlich Übereinstimmung. Allein Rosa Luxemburg war von einem so großen, beinahe mythischen Glauben an die „Spontaneität“ der arbeitenden Massen und daran, dass diese wahre Wunder bewirken und Berge versetzen könne erfüllt, dass sie eine revolutionäre Partei als bestenfalls nachgelagertes Instrument und Erfüllungsgehilfen des Proletariats angesehen hat. Umgekehrt war es aber dann doch der recht unbedingt formulierte Wahrheitsanspruch, den Lenin mit seiner – hypothetischen oder  tatsächlichen – Partei gegenüber dem eigenen angeblichen Klientel (dem Proletariat) formulierte, der auch bei anderen Marxisten für breiteres Unbehagen sorgte. Lenins Verständnis wurde als übertrieben autoritär angesehen und als eines, das nicht nur zu einer tatsächlichen „Diktatur des Proletariats“, sondern vielmehr zu einer Diktatur der Partei (im Zweifelsfall auch gegenüber dem Proletariat) führen müsse. Lenin verweigerte sich solchen Bedenken und Angriffen, indem er die Interessen der Partei mit denen des Proletariats ganz einfach als identisch behauptete. Zwar bejahte er den Zustand einer „Diktatur des Proletariats“ (Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt. (Staat und Revolution, Wien, Eigenverlag 2014 S.29)). Dennoch ging er davon aus, dass am Ende der Revolution und mit der Verwirklichung des Kommunismus der Staat sowieso überflüssig werden würde: Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. (ebenda S.63) In seiner dichotomischen (oder egozentrischen) Weltsicht hat sich Lenin der dümmeren Lesart des Marxismus hinsichtlich der Frage nach dem Staat verschrieben, in der er im Staat allein ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse sah: Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und insofern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind. (ebenda S.10) (Es gibt auch komplexere marxistische Verständnisse von der Rolle des Staates.) Er ging also auch hier davon aus, dass mit der Revolution bzw. der Abschaffung von Klassengesellschaft und Kapitalismus Interessensgegensätze zwischen Menschen einfach verschwinden würden. Er hätte sich wohl gewundert, hätte sich herausgestellt, dass dem nicht so war. So hat sich Lenin über etliche Dinge schließlich wundern müssen, die an und für sich doch irgendwie klar waren. Er führte eine Diktatur ein, und wunderte sich, warum das Proletariat keine vitale „Kritik“ an der Partei mehr äußerte. Er schaffte Kapitalismus und Markt ab und führte eine Superbürokratie ein und wunderte sich über die „Papierflut“ und die Ineffizienz, die all das produzierte. Er unterdrückte die Bauern und requirierte ihre Produkte per Zwang und wunderte sich, warum sie dem Sowjetstaat feindlich gesonnen waren. Er schätzte den jungen Stalin, weil der sich mit seiner tatkräftigen Brutalität von seinen „teetrinkenden“ Genossen abhob, um am Ende verzweifelt festzustellen, dass ebenjener Stalin schließlich auch ihm und seiner Familie gegenüber brutal wurde und dabei drohte, sein Nachfolger zu werden. Kurios, könnte man meinen, waren vor allem seine ständigen Irrtümer und Fehleinschätzungen, wonach eine Revolution unmittelbar bevorstünde (was, zumindest hinsichtlich der Prognose, dass der Kapitalismus vor seinem unmittelbaren Ende stünde, noch kurioserweise bei etlichen Marxisten aber auch noch heute der Fall ist). Allerdings war es eben diese Erwartungshaltung, und Lenins gesamtes Durchdrungensein vom Gedanken an die Revolution, die Lenin schließlich zu einem erfolgreichen Revolutionär machte. Die meisten anderen Marxisten und Revolutionäre im In- und Ausland haben davor zurückgescheut, die Situation in Russland nach der Februarrevolution von 1917 als eine revolutionäre Situation im marxistischen Sinne, und als eine Situation, in der, eine bürgerlich-demokratische-kapitalistische Phase überspringend, unmittelbar eine sozialistische Revolution durchgeführt werden könnte, zu begreifen. Doch geistesgegenwärtig hat der, von der Februarrevolution an sich überraschte Lenin genau das getan, und in seinen Aprilthesen genau das proklamiert. Lescek Kolakowski sah das eigentliche politische Genie Lenins darin, in jeder Situation alle gesellschaftlichen Energien zur Machtübernahme und zur Revolution zu nutzen, und alle Kräfte auf diesen einen Punkt zu konzentrieren. Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an (und, wie ein antikes Sprichwort sagt: Wenn einer den ganzen Tag schießt, wie soll er dann nicht auch mal treffen?) Die Februarrevolution hatte schnell für allgemeine Konfusion und Richtungslosigkeit gesorgt. Lenin hatte Energie, Verwegenheit und innere Orientierung (und eine jahrelang darauf eingeschworene Partei) genug, um nur wenige Monate darauf seine eigene Revolution anzuzetteln.

Nur wenige Revolutionen (bzw. deren Versuche) sind mustergültig oder erfolgreich. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917 war zwar erfolgreich, dabei aber eher eine nächtliche Überraschungsaktion einiger weniger Revolutionäre, die inmitten einer allgemeinen Lethargie in der Bevölkerung und selbst bei den Herrschenden zunächst gelang. Wenig später ließen die Bolschewiki Wahlen durchführen, die ihre Herrschaft aber nicht bestätigten. Dennoch setzten sich die Bolschewiki über dieses Ergebnis hinweg und übernahmen die Herrschaft schließlich trotzdem. Die Arbeiter und die Bauern in Russland standen dabei zunächst hinter den Bolschewiki. Überhaupt gab es in der russischen Bevölkerung zu dieser Zeit einen grenzenlosen Hass gegen alle Privilegierten. Lenin war dabei klar, dass er mit dieser Entscheidung dennoch einen Bürgerkrieg riskierte, was dann auch eintrat. Er betrachtete den Bürgerkrieg aber als „notwendig“ auf dem Weg zur erfolgreichen Revolution und als Möglichkeit, die Macht der Bolschewiki zu vergrößern. Im Bürgerkrieg kämpften die bolschewistischen Roten gegen die reaktionären Weißen, die auch vom Ausland unterstützt wurden. Umgekehrt suchten die Bolschewiki ihre Revolution zu exportieren, und fielen z.B. in Polen ein (wurden dort aber zurückgeschlagen). Dass die Roten nach drei Jahren (1921) den Bürgerkrieg schließlich gewannen, zeugt davon, dass die Bolschewiki bereits mächtig genug im Land waren, um eine schlagkräftige Armee zu organisieren, und energisch und skrupellos genug, um sie zusammenzuhalten (unter anderem mit Mitteln des Terrors). Der Sieg ist auch dem militärischen Genie von Leo Trotzki zu verdanken. Und schließlich, dass die Weißen keine einheitliche Vision von der Zukunft des Landes hatten und nicht bereit dazu waren, den Bauern Zugeständnisse zu machen. Obwohl speziell die Bauern unter dem Bürgerkrieg und der Herrschaft der Bolschewiki stark zu leiden hatten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges herrschte im bolschewistischen Russland eine hohe Versorgungsknappheit und ein Mangel an allem. Schwarzmärkte und Tauschhandel machten sich breit und erfüllten eine vitale Funktion. Diese waren den Bolschewiki aber allein schon einmal aus ideologischen Gründen suspekt. Für die Festigung ihrer Staatsmacht und auch für den Bürgerkrieg erachteten es die Bolschewiki als entscheidend, die Lebensmittelversorgung zu kontrollieren. Noch mehr, zielte ihr Klassenkrieg auch darauf ab, die Bauernschaft zu unterwerfen. Der „Kriegskommunismus“ setzte ein. Da die Bauern nicht bereit waren, zu sehr niedrigen festgesetzten Preisen ihre Produkte an den Staat zu veräußern, begann der Sowjetstaat diese mit terroristischen Mitteln zu requirieren, um sowohl die Rote Armee als auch Arbeiter in den Städten damit zu versorgen bzw. die industrielle Produktion und die Bürgerkriegsführung zu sichern. Mehr noch, stärkte das Rationierungssystem die Macht der Regierung über die Bevölkerung. Die Bauern produzierten aus diesem Mangel an positiven Anreizen weniger, und in den Jahren 1921 und 1922 kam es zu einer gravierenden Hungersnot im Land, die die Versorgungslage ein weiteres Mal gefährdete. Dennoch blieben die Weißen reaktionär genug, um es zu verabsäumen, die Bauern mit ins Boot zu holen. Die Bauern hassten zwar, ihrer eigenen Logik zufolge, die Bolschewiki, nicht aber den Kommunismus, von dem sie sich eine bessere Zukunft erhofften. Die Weißen konnten nur eine Rückkehr zur noch mehr verhassten Vergangenheit anbieten. Und so wandten sich die Bauern gegen die Weißen – um sich nach deren Besiegung gegen die Bolschewiki zu wenden. Auch die Arbeiter waren mehr als unzufrieden. Genauso wie die Kommunisten selbst hatten auch die russischen Arbeiter von einem Sowjetsystem der umfassenden Selbstbestimmung geträumt. Dieses sorgte in der Realität allerdings nicht dafür, dass die selbstbestimmten Betriebe auch akkordiert und in gemeinsamem Interesse für gesamtwirtschaftliche Erfordernisse produzierten. Und so beschnitten die Bolschewiki die Selbstbestimmung und zentralisierten die Macht über wirtschaftliche Entscheidungen. Sie wollten die Gewerkschaften auflösen und diese dem Parteistaat unterordnen. Dies zunächst im Sinne des Kriegskommunismus. Wie die Bolschewiki aber erleben mussten, wurden sie diese unheilvolle – von ihnen selbst als unheilvoll durchschaute – Tendenz zur Zentralisierung über die gesamte Geschichte der Sowjetunion nie mehr los. Die Arbeiter erlebten das als krassen Verrat an den eigentlichen Idealen der Kommunisten – vor allem aber ganz unmittelbar nicht als „Diktatur des Proletariats“ sondern als eine Diktatur über das Proletariat – und rebellierten. Am exemplarischsten war das im Kronstädter Aufstand von 1921 der Fall, der von den Bolschewiki blutig niedergeschlagen wurde. Einmal mehr hatten die Bolschewiki triumphiert. Aber zu welchem Preis? Der Bürgerkrieg verursachte 10.8 Millionen Tote. Die Hungersnot von 1921/22 forderte 5 Millionen Menschenleben. Die Weißen waren niedergeschlagen worden, doch in weiten Teilen des Landes war die Sowjetmacht praktisch nicht mehr präsent. Vor allem über die Bauernschaft hatten die Bolschewiki die Kontrolle verloren. Die Arbeiter fühlten sich verraten, und tatsächlich war die Niederschlagung der Räte ein krasser Schönheitsfehler in einem kommunistischen System. Die erhofften Revolutionen im Ausland – oder gar die Weltrevolution – blieben aus, oder wurden, wie in Deutschland oder in Ungarn, rasch niedergeschlagen. Damals hatten die Bolschewiki noch keine Vorstellung davon, wie die Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat überlebensfähig bleiben könnte, wenn nicht auch in anderen Schlüsselländern Revolutionen stattfinden würden. Viele wirtschaftlich und administrativ fähige Russen, Wissenschaftler und Intellektuelle flohen ins Ausland. Der Bürgerkrieg hatte auch zu Terror der Bolschewiki gegen die orthodoxe Kirche geführt, der gegenüber Lenin ursprünglich eine zurückhaltende Politik verfolgt hat. Die Zahl der geöffneten Gotteshäuser war von 80.000 auf knapp 11.500 gesunken; 14.000 orthodoxe Geistliche waren erschossen worden. Trotzdem waren die Bolschewiki siegreich geblieben. Mehr noch, war es ihnen gelungen, einen Großteil der Territorien des Russischen Reiches wieder zu vereinen und als sozialistischer Vielvölkerstaat aufzutreten. Im Dezember 1922 wurde so die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet – oder eben kurz: die Sowjetunion. Sowieso nicht von Eigendünkel und einem missionarischen Selbstbewusstsein frei, verschaffte der Sieg im Bürgerkrieg den Bolschewiki ein neues Selbstbewusstsein. Das galt nicht nur für die Altbolschewiki, sondern auch für die vielen jungen Männer (und Frauen), die im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten gekämpft hatten und die nun eine privilegiertere Stellung in der Gesellschaft einnahmen. Mit der Konsolidierung der neuen Macht kehrten jedoch alte Phänomene in Russland wieder. So grassierte zum einen die Korruption (Lenin und die meisten seiner engen Mitstreiter lebten zwar vergleichsweise asketisch und waren nicht auf materiellen Vorteil bedacht, das galt jedoch dann doch nicht für eine Vielzahl anderer, vor allem der jüngeren bolschewistischen Funktionäre). Zum anderen begannen sich die Bolschewiki als eine Art neuer Adelsstand wahrzunehmen, der ja schließlich ursprünglich aus den Härten von Kriegen hervorgeht. Die erfolgreiche Verteidigung und Absicherung der Revolution gab den Bolschewiki das Gefühl, auch übermenschliche Anstrengungen unternehmen zu können (oder, in der Praxis, unmenschliche), wenn nur Willenskraft und ideologische Geschlossenheit das Handeln leiteten. Tatsächlich hatten die Bolschewiki auch übermenschliche Anstrengungen unternommen und würden es weiterhin tun – diese Anstrengungen allerdings auch dem Volk auferlegen. Trotzdem war das Land 1922 aber erschöpft, der Sieg der Bolschewiki war ein Pyrrhussieg gewesen. Neue Maßnahmen waren erforderlich, um das Land wieder auf die Beine zu bringen. Und vor allem die Bauernschaft und die Lebensmittelversorgung.

Die 1921 beschlossene „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) ersetzte die Zwangsrequirierungen der Produkte der Bauern durch eine Naturalsteuer und erlaubte den Bauern in begrenztem Umfang Handel zu treiben. Trotzdem sie ein Gebot der Stunde war, wurde sie von vielen Bolschewiki abgelehnt und Lenin musste sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um sie in der Partei durchzusetzen. Doch auch Lenin selbst wäre eigentlich gegen eine solche Politik gewesen. Noch 1920 schrieb er: Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus, Berlin, Manifest Verlag 2021, S.139) …. Es ist tausendmal leichter, die zentralisierte Großbourgeoisie zu besiegen, als die Millionen und aber Millionen der Kleinbesitzer „zu besiegen“, diese aber führen durch ihre tagtäglich, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende Tätigkeit eben jene Resultate herbei, welche die Bourgeoisie braucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert wird. Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (ebenso während seiner Diktatur) auch nur im Geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat. (ebenda S.50) Wieder einmal fällt die absolutistische Sprache auf („eiserne Disziplin“ der Partei, die „ausnahmslos“ „nicht im Geringsten geschwächt“ werden darf, ansonsten helfe man der „zersetzenden“ Bourgeoisie etc.). Wer so rigoros empfindet und solche zentralistischen Tendenzen hat, für den muss etwas so Lebhaftes und leicht Chaotisches wie der Handel tatsächlich etwas Störendes und Umstürzlerisches sein. Eine solche Perspektive, die auch den kleinen Handel und die selbständige Kleinproduktion als „im Kern bourgeois“ betrachtet, liegt allerdings in der Denkbahn des Marxismus, da das ja tatsächlich stimmt. Die meisten kommunistischen Regime haben daher beides, zumindest für lange Zeit, abgeschafft. Auch wenn dieses nicht notwendigerweise in der Denkbahn des Marxismus liegt, denn Marx betrachtet allein Produktion im großen Stil als genuin kapitalistisch und als sozialistisch zunächst nicht mehr als die Vergesellschaftung der großen Produktion. Zumindest heute würden auch die meisten Marxisten Handel und Kleinproduktion befürworten. Dennoch stehen sich hier zwei Welten annähernd unversöhnlich gegenüber, und dass dem so ist, verweist auf einen inneren Widerspruch in der Vision vom Kommunismus selbst, der sich schwertut, eine Vielzahl von an und für sich natürlichen (wirtschaftlichen) menschlichen Handlungsweisen zu tolerieren. Dennoch tat die NÖP ihre Wirkung. Mehr Produkte kamen auf den Markt, was letztendlich nicht nur die Bauern, sondern auch die Arbeiter zufriedenstellte. Die ökonomische Liberalisierung führte auch zu einer gewissen gesellschaftlichen Liberalisierung. Die Wirtschaft wuchs vor allem ansehnlich, was im Sinne der Partei war. Führende Bolschewiki, auch wenn sie der NÖP ursprünglich ablehnend gegenübergestanden waren, wie Nikolai Bucharin, begannen sich mit ihr anzufreunden, und priesen sie als ein neues Stadium auf dem Weg zum Kommunismus (der auf Requirierungen beruhende Kriegskommunismus sei nicht mehr notwendig, da der Krieg ja gewonnen und die Gesellschaft sozialistisch konsolidiert sei, so die neue Argumentation). Gleichzeitig dauerte es aber nicht lange, bis dass im Rahmen der NÖP „neureiche“ wirtschaftliche Gewinner, geschickte Bauern und Händler und Konjunkturritter, die das Umfeld zu ihrem ganz persönlichen Vorteil zu nutzen wussten, ans Tageslicht traten. Diese waren nicht nur den Bolschewiki, sondern auch der Bevölkerung zunehmend ein Dorn im Auge. 1928 sollte die NÖP wieder abgeschafft werden, wenngleich aus vorwiegend anderen Gründen (in erster Linie, um eine radikale Industrialisierung zu ermöglichen). Heute ist man geneigt zu sehen, dass die Sowjetunion wohl besser gefahren wäre, hätte man die NÖP und die damit verbundene wirtschaftliche Liberalisierung beibehalten. Schließlich war eine ähnliche Politik der Grundstein für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung Chinas nach dem Ableben von Mao Zedong. Lenin, der diese Weichenstellungen hätte beeinflussen können, war zu deren Zeitpunkt aber nicht mehr am Leben. Was für Lehren er aus der NÖP gezogen hätte und wie er die Zukunft des Sowjetstaates gesehen hätte, ist ungewiss. Zu den Problemen bei (quasi-) monarchistischen Staatsoberhäuptern steht die oft schwierige Frage nach ihrer Nachfolge. Lenin war von seinem frühen Ausscheiden aus der Politik und seinem folgenden Tod überrascht worden. Die Frage nach seiner Nachfolge beziehungsweise wie es mit dem Sowjetstaat weitergehen solle, hatte er nicht geregelt. In seinem mit letzter Kraft diktierten „Testament“ musste er implizit einräumen, dass er auch die beiden begabtesten Männer, Trotzki und Stalin, letztendlich als für die Leitung des Sowjetstaates ungeeignet erachte: Trotzki sei zu eitel, Stalin sei zu grob. Er empfahl seinen Genossen, nach jemand anderen Umschau zu halten, konnte aber niemand benennen. Daher verwundert es auch nicht völlig, dass die Parteiführung Stalin von seinem damaligen Posten nicht entfernte (Stalin hatte auf das Testament Lenins hin seinen Rücktritt angeboten, der von seinen Genossen aber nicht angenommen wurde). Stalin war ein begabter und geschätzter Organisator, und er machte damals keine Anstalten noch den Eindruck, übermäßig nach der Macht zu streben. Er ordnete sich geradezu brav der Parteidisziplin unter und bezog in etlichen Fällen gemäßigte politische Positionen. Dass Stalin „grob“ und brutal, dabei aber auch entschlossen in seinem Handeln war, hat ursprünglich nicht nur Lenin durchaus gefallen. Lenin war umgekehrt wohl der einzige Mensch gewesen, zu dem der narzisstische Stalin je in seinem Leben aufgesehen hatte und dessen Überlegenheit er anerkannte und bewunderte (ansonsten blickte er auf andere Menschen immer nur mit mehr oder weniger großer Verachtung herab). Grobheiten (im Rahmen von politischen Meinungsverschiedenheiten) leistete er sich gegenüber Lenin und seiner Familie erst, als dieser krank geworden war (eine dieser Grobheiten sorgte sogar für den finalen Krankheitsschub bei Lenin). Dass Stalin nach Lenin an die Macht gekommen ist, ist ein ebenso folgenschweres Ereignis im letzten Jahrhundert wie die Begründung des Sowjetstaates durch Lenin selbst. Wie wäre die Geschichte der Sowjetunion verlaufen, wenn Lenin länger gelebt hätte (und Stalin hätte vermieden werden können)? Wodurch zumindest unterschieden sich Lenin und Stalin? Lenin war der intelligentere und intellektuellere der beiden, allerdings nicht in einem so gravierenden Ausmaß, wie es gemeinhin angenommen wird (oder wie es auch Lenin angenommen hat, der Stalin lange unterschätzt hatte). Lenin war (innerhalb gewisser Grenzen) ein produktiver Intellektueller, der zu neuen Gedanken fähig war, während Stalin mehr oder weniger ein reproduktiver Intellektueller blieb und wenig phantasievoll. Vielleicht wäre Lenin kreativer in der Bewältigung von Problemen gewesen, allerdings ist bei politischen Problemen immer fraglich, wie viel kreativen Spielraum sie einem eigentlich lassen (oder ob Kreativität nicht vielleicht sogar fehl am Platz ist). Während Lenin ein (sehr) neurotischer Mensch war, war Stalin ein schwer (an der Wurzel) gestörter Mensch, zumindest im übertragenen Sinn war er ein Psychopath. Wenn Lenin giftig gegenüber seinen Genossen werden konnte, beließ er es in der Hinsicht bei der Rhetorik und er versöhnte sich rasch wieder mit ihnen, wenn ein Streit ausgeräumt war. Säuberungen und Schauprozesse im großen Stil hätte Lenin wohl nicht veranstaltet. Lenin war – zumindest in der Hinsicht – nicht rachsüchtig und er behandelte Leute nicht verächtlich. Er war nicht, im krankhaften Sinn, paranoid, er war nicht eitel und er kannte kein großes persönliches Machtstreben. Lenin war zwar einigermaßen verliebt in den Terror, betrachtet ihn aber als vorübergehende Notwendigkeit (wenngleich man bei seiner Einstellung und Ideologie nie sagen könnte, wann dieses Vorübergehende tatsächlich vorübergegangen war oder immer wieder von neuem sein Haupt erheben würde), während es in Stalins Persönlichkeit lag, ein dauerhaftes Schreckensregime um sich herum zu errichten. Aber auch Lenins Bilanz unter seiner Herrschaft waren über 15 Millionen Tote gewesen. Die Errichtung einer Diktatur und eines allmächtigen zentralistischen Staates war sein Werk gewesen und ging auch aus seiner Theorie hervor. Die Politik Stalins war nur eine Fortsetzung dieses Weges. Stalin war auch lange kein Alleinherrscher gewesen. Die Kollektivierung, die Industrialisierung, der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ waren etwas, was von den führenden Bolschewiki beschlossen wurde, und nicht von ihm allein. Lenin hat am Schluss an Stalin kritisiert, dass dieser „zu grob“ sei – gegenüber seinen Genossen (was Lenin dann dämmerte, als Stalin zu ihm selber erstmals grob geworden war). Er har nicht gemeint: gegenüber der Sowjetbevölkerung (auch wenn Lenin das harte Vorgehen Stalins in der Nationalitätenfrage zum Beispiel nicht gefiel). Aber all diese „was wäre wenn“-Fragen erledigten sich eben mit Lenins Tod.

Josef Stalin gilt in seiner Destruktivität und Inhumanität gemeinhin als unergründlich. Dabei ist er ein Paradebeispiel für einen malignen Narzissten. Der maligne Narzissmus ist ein kombinierte Persönlichkeitsstörung, die sich aus drei Elementen zusammensetzt. Zum ersten sind maligne Narzissten paranoid. Paranoia bedeutet, dass eine hohe Aggressivität, die in einem selbst ist, in die Außenwelt projiziert wird, beziehungsweise einen Verfolgungswahn, der sozusagen spiegelbildlich zur eigenen Verfolgungswut ist. Paranoide Menschen wollen sich anderen Menschen gegenüber in einer dominanten Position erleben, und sehen sich über alle Maßen bedroht, wenn sie dieses Gefühl nicht haben können. Sie können mit Zurücksetzungen aller Art kaum umgehen, und entwickeln gegenüber ihren „Beleidigern“ einen lange anhaltenden, intensiven Groll und ein Revanchebedürfnis. Aufgrund ihres Misstrauens und ihrer Streitsucht sowie ihrer Unfähigkeit zu erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen vereinsamen sie im Laufe ihres Lebens immer mehr (was ihre Paranoia weiter befeuern dürfte). Zum zweiten sind maligne Narzissten narzisstisch. Allerdings nicht im grandiosen Sinn und in flamboyanter Erscheinungsweise. Vielmehr treten sie als durchschnittlich und bescheiden auf. Ihre narzisstische Gratifikation beziehen sie weniger aus der Vorstellung, sich über andere zu erheben und von ihnen bewundert zu werden, als andere unter sich zu sehen und sie abwerten zu können. In dem Sinn sind sie auch sadistisch. Zum dritten sind maligne Narzissten soziopathisch und antisozial. Es bereitet ihnen Lust, (Revolutionären gleich) Gesetze zu übertreten und Regeln zu brechen. In diesem Sinn sind sie risikofreudig und abenteuernd und haben kein Problem, sich außerhalb der konventionellen Gesellschaft zu stellen. Oder sie sind gewöhnliche habituelle Kriminelle. Mitleid, Empathie und Liebesfähigkeit kennen solche Menschen kaum. Gemäß einiger Experten ist der maligne Narzissmus die gefährlichste Persönlichkeitsstörung überhaupt. Alle diese Eigenschaften hat man bei Josef Stalin. Trotzdem gibt es ganz unterschiedliche Ansichten, wie er in seinem Handeln als Politiker zu bewerten sei. Während einige Forscher die Wurzel für seine Politik in seiner Persönlichkeit sehen wollen, will diese für andere Forscher kaum eine Rolle spielen: Stalins Politik sei im Wesentlichen durch die Umstände diktiert worden.  Zweiteres könnte man aber als Hinweis verstehen, dass die Umstände, in den Stalin agierte, und innerhalb derer er sich etablierte, pathologisch gewesen waren. Die Bolschewiki versuchten eine umfassende, über Jahrhunderte gewachsene soziale, politische, ökonomische, kulturelle und mentale Ordnung in einem gesamten Kulturraum zu zerstören und sie durch eine neue zu ersetzen, für die es nirgendwo in der Welt noch ein Beispiel gab. Es war ein extremes Unterfangen, das naheliegenderweise wohl extreme Mittel erfordert. Derart wurde der Einsatz von letzteren von vielen Kommunisten im In- und Ausland auch begrüßt oder zumindest akzeptiert. Mehr noch, gab es für diese neue Ordnung, den Kommunismus, aber auch keine theoretische Grundlage. Mit kritischem Blick hätte man aussortieren können, dass das wohl deswegen so war und ist, weil der Kommunismus eben auch gar keine rationale Grundlage hat, und er offensichtlich kaum eine rationale Wirtschafts- und Gesellschaftsform sein kann. Mit besonders triumphierendem und suggestivem Ton tritt der traditionelle Marxismus aber dann auf, wenn er dem Kapitalismus die Rolle des großen Irrationalen zuweist, und sich selbst die des großen rationalen Ordners und geradezu Heilsbringers, darin auch Verkünder unumstößlicher und absoluter Wahrheiten. (Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt dem Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat. (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, 1913)) Wenn ein derartiger Mangel an Reflexivität aber bereits in einem System immanent ist, was soll es dann anderes produzieren als große Pathologien? Ein solches Denksystem, und umgesetzt als politisches System, wird Erscheinungen, die ihm nicht entsprechen, als ärgerliche Aberrationen ansehen und Menschen, die sich ihm nicht konform verhalten, tendenziell als „Verräter“. Ein einigermaßen paranoides Denksystem ist der Marxismus auch in der Hinsicht, indem er wesentlich um ein Feindbild kreist (und um ein ebenso paranoides imaginäres Bild von seiner eigenen verheißungsvollen Größe und der seiner Lösungen). Er befördert die Idee, dass die Gesellschaft am maliziösen Wirken von klar definierten Feinden, gleich einer Krankheit leide, von der man diese Gesellschaft klinisch „säubern“ könne. Zwar sind auch andere Lesarten des Marxismus möglich, aber solche Säuberungsideen, umgesetzt in Politiken, kommen in kommunistischen Staatsgebilden immer wieder vor. Gerd Koenen nennt den Kommunismus gar eine „Utopie der Säuberung“. Mit seiner individuellen Paranoia fügte sich Stalin als diesbezüglicher Verstärker in die Paranoia eines kommunistischen Staatsgebildes ein. Tatsächlich war dieses sowjetische Staatsgebilde aber auch schwach und von inneren und äußeren Feinden zumindest latent bedroht. Insofern kann man die ganze paranoide Politik Stalins als rational begründet, oder gar als von genialer, profunder Einsicht und Voraussicht geleitet ansehen. Noch Jahrzehnte später begriffen seine damaligen Mitstreiter Stalin als „Genie, das die Fünfte Kolonne zerschlagen hat“, und der mit seiner üblen Politik nicht nur für die Sowjetunion sondern für die Welt noch größere Übel verhindert habe. Das Eigenartige ist, dass man das auch gar nicht ausschließen kann. Paranoia reflektiert auf eine tatsächlich vorhandene Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit in der Welt. Paranoiker sind oftmals tatsächlich gute Menschenkenner. Allerdings sind sie einseitige Menschenkenner. Sie haben meist ein scharfes Auge für die Schwächen und die Gefahren, die von anderen ausgehen – weniger aber für deren Stärken und dass von ihnen ja auch Gutes ausgehen könne. Unbestreitbar und welthistorisch sind die Leistungen und Erfolge der Sowjetunion bei der Industrialisierung und im Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg unter der jeweiligen Leitung Stalins. Auch der im Wesentlichen antikommunistische Herausgeber des Schwarzbuch des Kommunismus, Stéphane Courtois, vermutet, dass Stalin als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Er habe aus dem unbedeutenden Agrarland, das die Sowjetunion anfänglich war, ein Industrieland gemacht, eine Weltmacht und eine Atommacht. Was freilich wäre gewesen, wenn die NÖP beibehalten worden wäre und eine sanftere Industrialisierungspolitik verfolgt worden wäre? Hätte das zu ähnlichen, geringeren oder gar größeren Erfolgen geführt? Diese Frage wird von der Forschung unterschiedlich beantwortet. Stalin war sehr intelligent, in seinem äußeren Auftreten sehr wandlungsfähig und charismatisch und konnte sich gut auf sein Gegenüber einstellen. Selbst Hitler bewunderte sein sowjetisches Diktatoren-Pendant und (der an und für sich antikommunistische) Churchill beschreibt in seinen Bestsellern über den Zweiten Weltkrieg plastisch die Klugheit und Geistesgegenwärtigkeit des Woschd und offeriert auch menschliche Einblicke in ihn. Roosevelt und Truman mochten den jovial und humorvoll sich gebenden „Uncle Joe“ sogar. Stalin gilt den einen als machthungriger Despot. Andere bewundern ihn für seine Lauterkeit. Er habe tatsächlich an den Kommunismus geglaubt und sich tatsächlich lange der Revolution und der Parteidisziplin untergeordnet, und nicht vorgehabt, in die Rolle des Diktators zu schlüpfen. Die Umstände hätten ihn dazu bewogen, es schließlich doch zu tun: um die Revolution zu retten. Großartige materielle Interessen hatte Stalin auch nicht und er war auch nicht korrumpierbar. Er arbeitete beinahe ständig und schien in dieser hingebungsvollen Tätigkeit für den Sowjetstaat und für die Revolution allein aufzugehen. All das schließt aber nicht aus, dass es Stalin in all seinen Unternehmungen tatsächlich um Macht ging, zumindest (unbewusst und) auf der emotionalen Ebene. Dass es ihm allein schon einmal bei Kommunismus und Revolution darum ging, seine (ihn scheinbar einengenden) „Feinde“ zu stürzen und den eigenen Aktionsradius und Machtkreis zu erweitern. Dass er bei seiner Persönlichkeit sich schließlich aus einer inneren Konsequenz heraus zum Diktator entwickelte. Dass nicht nur die Politik, sondern sämtliche menschliche Affären für ihn primär ein Machtspiel waren. Und seine auftrumpfende Industrialisierung- und Rüstungspolitik der Bestätigung der eigenen Macht bzw. der der Sowjetunion galt. In seiner inneren Verarmtheit galt vielleicht sein ganzes Arbeiten dem Bestätigen eines Machtgefühls (auch wenn ihm das, in eben dieser inneren Verarmtheit, so nicht notwendigerweise bewusst war). Das Land, das er so manisch zu gestalten suchte, schien ihn, der noch dazu doch alles wissen wollte und alle Informationen auf dem Tisch liegen haben wollte, in der Praxis dann nicht zu interessieren. Selbst so spektakuläre sowjetische Errichtungen wie der Stahlkomplex von Magnitogorsk besichtigte er nicht. Er verließ den Kreml oder seine Datschen kaum, und wenn, dann um, vor allem in seinen späteren Jahren, auf Urlaub zu fahren. Zwar entspricht das der zurückgezogenen, sich einigelnden Lebensweise von Paranoikern, ein irritierender Kontrast bleibt aber doch. Wenn man so will, ist der politische Erfolg des Woschd, des so bewunderten genialen Sowjetführers, vielleicht kein so großes Wunder: er hat ja alle, die nicht hart dafür arbeiteten, oder sich gar entgegenstellten, umbringen lassen, und alle restlichen permanent damit bedroht. Wie sollte das nicht zum Erfolg führen? Aber auch das ist wohl nicht so leicht, wie man sich vielleicht denkt. Und so bleibt Stalin, gleich Lenin, eine überdimensionale historische Gestalt, und mit der Sowjetunion und dem 20. Jahrhundert eng verwoben.

Mitte der 1920er Jahre mussten die Bolschewiki einsehen, dass auf die eigene Oktoberrevolution keine weiteren (erfolgreichen) Revolutionen im Ausland folgen würden, so wie sie es sich ursprünglich erhofft hatten. Stalin gab daher die Parole vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ aus. Das war auch eine Breitseite gegen Trotzki und seine Idee von der „permanenten Revolution“. In den folgenden Jahren sollte Stalin seinen verhassten Erzfeind innerhalb der Partei demontieren, was dieser in einer für ihn untypischen Willensschwäche über sich ergehen ließ. Trotzki wurde schließlich nach Kasachstan, und dann überhaupt aus der Sowjetunion verbannt. Er begann im Exil von einer „verratenen Revolution“ zu sprechen und zu schreiben, zog jedoch nicht in Betracht, dass am Aufbau des Sowjetstaates, so wie er eben war, und am Terrorapparat er wesentlich beteiligt gewesen war. Welche Entwicklung die Sowjetunion unter Trotzki genommen hätte, ist eine Frage, die kaum gestellt wird. Trotzki war, trotz seiner sektoriellen Brillanz, ein Mann von vielen verschrobenen Ansichten, und er war wohl vom Typ her kein Politiker. Dass Stalin Trotzki 1940 im fernen Mexiko ermorden ließ, kann als Beispiel seiner unversöhnlichen Rachsucht gelten (rational kann diese Tat allerdings gedeutet werden, dass Stalin 1940 niemanden mehr brauchen konnte, der auf der Weltbühne gegen die Sowjetunion und speziell gegen ihn Stimmung machte; wahrscheinlich wusste er, dass er vor allem die Amerikaner bald als Freunde benötigen würde). Was aber nun sah der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ vor? Zunächst eine massive Industrialisierung. Alle Ressourcen des Landes sollten in die Industrialisierung gesteckt werden. Das besiegelte das Ende der NÖP. Die Bauernschaft sollte wieder primär das städtische Proletariat versorgen. Die neureichen Konjunkturritter, die die NÖP hervorgebracht hatte, waren den Bolschewiki zunehmend ein Dorn im Auge. Ein noch größerer Dorn im Auge war ihnen aber wohl, dass der Sowjetstaat die Bauern kaum kontrollieren konnte und die Bauernschaft, wie sich gezeigt hatte, zur Rebellion neigte. Schließlich sah auch der orthodoxe Marxismus im Kleinbauerntum keine Klasse mit Zukunft. Die Zukunft sah er in der industriellen Bewirtschaftung in landwirtschaftlichen Großbetrieben. Die Partei beschloss daher, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Ihr Kampf, zu dem sie auch die Bauernschaft selbst anstachelte, richtete sich gegen „Kulaken“, wohlhabende und besitzende Bauern (die allerdings auch am effizientesten produzierten). Diese sollten enteignet werden. Die Festlegung, wer Kulak war und wer nicht, war allerdings einigermaßen willkürlich, folgte darin aber der Logik des Vorhabens, eine willkürliche Ordnung aus dem Boden zu stampfen und seiner intransigenten Vorgehensweise. Letztendlich gingen die Kommunisten immer wieder so vor – in China, in Vietnam, in Kambodscha, bis hin zum „Leuchtenden Pfad“ in Peru – dass sie „Klassenkonflikte“ auf dem Land provozierten oder postulierten, um so einen Fuß in die Bauernschaft und in die Dorfgemeinde hineinzubringen und als Ordnungsmacht auftreten zu können. Die Bauern wehrten sich gegen die Kollektivierung, die ihnen unnatürlich erschien, und gegen die erneuten Zwangsabgaben, und so kam es Anfang der 1930er Jahre erneut zu einer Hungerkatastrophe mit Millionen von Toten und noch mehr Millionen von Unterversorgten im Land. Das Territorium der Ukraine war besonders betroffen, und so vermuten zumindest ukrainische Nationalisten einen „Holodomor“, eine absichtlich provozierte Hungerkatastrophe, die sich gegen eine unbotmäßige Bevölkerung richtete. Obwohl die Kollektivierung derartige kriegsähnliche Züge hatte, kann dieser Verdacht aber dann doch nicht erhärtet werden. Missmanagement und Gleichgültigkeit von oben hatten die Katastrophe verursacht (wenig bekannt ist, dass Kasachstan damals noch stärker vom Hunger betroffen war als die Ukraine, wobei zwischen Kasachstan und Russland traditionell aber keine politischen Friktionen bestehen). Trotz des Hungers im eigenen Land exportierte die Sowjetunion weiterhin Getreide ins Ausland, da sie für die Industrialisierung Kapital und Maschinen importieren musste. Die Industrialisierung verlief ähnlich brutal. Mit oftmals einfachen Mitteln errichteten Arbeiter Industrieanlangen und Infrastrukturen. Für die oft gefährlichen Arbeiten in unwegsamen Territorien wurden Zwangsarbeiter und „Klassenfeinde“ herangezogen, die das Terrorsystem in großer Zahl produzierte. 1928 wurde der erste Fünfjahresplan verabschiedet, bis zu deren Ende das zentrale wirtschaftspolitische Steuerungsinstrument in der Sowjetunion. Tatsächlich gelangen in der Industrialisierung spektakuläre Erfolge. Allerdings waren, neben den unmittelbaren menschlichen Kosten, auch die Ineffizienzen groß: die Anlagen waren oftmals mit primitiven Mitteln errichtet worden und auf der Basis von willkürlichen Planvorgaben, die oftmals klammheimlich unterlaufen wurden. Die Nemesis einer Planwirtschaft und einer Top-Down Bürokratie ist die Schummelei, die sie an allen untergeordneten Instanzen produziert (oder aber das egoistische Erfüllen und Übererfüllen von Vorgaben auf Kosten anderer Bereiche). Auch in den kapitalistischen Ländern war die Geburt der Industrie gewalttätig und chaotisch gewesen; allerdings ging sie langsamer vor sich und entwickelte sich organischer (in die Gesellschaft hinein). Genau das aber glaubte Stalin ausgleichen zu müssen. Unter anderem in der ewigen russischen Besessenheit ob der eigenen Rückständigkeit, wollte Stalin die Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit an die vorderste Front der westlichen Industrieländer anschließen lassen. Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um fünfzig bis hundert Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zusammen, oder wir werden zermalmt. (vgl. z.B Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) 1931 ausgesprochen, wirkten diese Worte Stalins später geradezu prophetisch. Die Millionen von Opfern der Industrialisierung und der Kollektivierung erschienen so gerechtfertigt, da sie den Sieg über den Faschismus ermöglichten und eine Kolonialisierung und Versklavung riesiger sowjetischer Gebiete durch die Nazis verhinderten, die sich diesbezüglich in Auslöschungspläne von bis zu 30 Millionen Menschen verstiegen, um „Lebensraum“ für sich selbst zu schaffen. Aber hat Stalin das tatsächlich so genau vorhergesehen (so genau konnte er das natürlich gar nicht)? In seiner Paranoia witterte Stalin bekanntlich immer und überall Feinde. Dennoch: „Auch Paranoiker haben Feinde“, wie er selbst bonmotmäßig bemerkt haben soll. Der „Aufbau vom Sozialismus in einem Land“ bedeutet natürlich auch, dass dieses Land und dieser Sozialismus wehrfähig sein sollten, umso mehr, wenn Kapitalismus und Sozialismus als unversöhnliche Gegensätze angesehen werden, die letztendlich auf Konfrontation hinauslaufen. Auch ein sozialistisches Land wird Außenpolitik betreiben und versuchen, Beziehungen zu anderen Ländern im eigenen Interesse zu gestalten, wenn nötig auch mit miesen Tricks oder mit Gewalt. Auch wenn die Bolschewiki stets den Imperialismus der kapitalistischen Länder verdammten, waren ihnen ihre Revolution und ihr Sowjetstaat heilig, und sie kannten auch in ihren ausländischen Beziehungen wenig Skrupel, ganz vorwiegend in dessen eigenem Interesse zu handeln. Dermaßen gestalteten sie auch die Komintern, den internationalen Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien, die sie stets zur Übernahme von Politiken, die der Sowjetunion nützlich waren anhielten, auch wenn das ihren eigenen Interessen entgegenlief. In einer gewissen Weise (vielleicht sogar viel deutlicheren Weise, als man gemeinhin meint), waren der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, die Kollektivierung, die Industrialisierung und die Aufrüstung, auch ein imperialistisches Projekt. Imperialistisch wurde die Sowjetunion in jenen Jahren auf jeden Fall im Inneren. Es wurde eine umfassende Diktatur errichtet, freie Presse wurde verboten, Universitäten wurden an die Leine genommen. Während in den Anfangsjahren der Sowjetunion interessante und avantgardistische Kunst produziert wurde, wurde sie jetzt im Wesentlichen zu konservativen Formen und unmittelbaren politischen Inhalten verdonnert. Die Partei versuchte viel tiefer in das Leben ihrer Bürger einzudringen, als das die Faschisten, inklusive der Nationalsozialisten, taten. Im Dritten Reich wurde der Fachmann geschätzt und blieb der Bürger unbehelligt, wenn er politisch neutral blieb und sich nicht gegen die Regierung wandte. In der Sowjetunion arbeitete man auf ein aktives Bekenntnis aller zum Kommunismus und zum Sowjetstaat hin. Mehr noch, wollte man aus dem Sowjetbürger einen „neuen Menschen“, einen besseren sozialistischen Menschen schaffen. Während das in der Praxis auf die Konditionierung eines genügsamen Arbeitstieres, das sich für den Sowjetstaat aufopferte, hinauslief, war der utopisch-ideologische Überschuss dramatisch. Auch die traditionellen Familienbande versuchte man umzugestalten, um den Menschen ganz als Kollektivwesen aufgehen zu lassen. Später erkannten die Bolschewiki, dass sie mit all dem – und mit so vielem anderen – zu weit gegangen waren und zu weltfremd agiert hatten. Was jedoch andere Kommunisten nicht hinderte, dasselbe in teilweise noch extremerer Form zu versuchen, vor allem in China unter der Kulturrevolution und unter den Roten Khmer in Kambodscha. Gleichzeitig war diese Phase der Diktatur und die Kampagne vom „Neuen Menschen“ aber auch ein Instrument, um die Bevölkerung in der schwierigen Phase der Kollektivierung und des ersten Fünfjahresplans auf Spur zu halten. Als die ersten Etappen genommen worden waren, trat wieder eine Veränderung, und auch eine Erschöpfung in der Gesellschaft ein. Die Bolschewiki sahen ein weiteres Ziel im Klassenkampf und im Aufbau des Sozialismus erreicht. Tatsächlich hatte sich die Gesellschaft verändert, und sie hatte sich für viele Sowjetbürger zum Positiven verändert. Die Bolschewiki hatten von Anfang an das Schul- und Unterrichtswesen massiv ausgebaut. Abgesehen von der humanistischen Mission der aufklärerischen Kommunisten benötigte der Sowjetstaat Funktionäre für seinen riesigen Beamtenapparat, darüber hinaus Wissenschaftler, Ingenieure, Ökonomen und Agrarexperten. Millionen von jungen Menschen hatten während des Weltkrieges oder des Bürgerkrieges ihre Eltern verloren, oder es wurden während des Kriegskommunismus oder der Kollektivierung ihre dörflichen Gemeinschaften zerstört. Sie fanden jedoch im Bildungswesen und im Sowjetstaat Aufnahme und hatten die Möglichkeit, vom unteren Ende der Gesellschaft in respektable Positionen aufzusteigen. Dafür waren sie dem Sowjetstaat und seinen Führern dankbar und wurden loyale, wenn nicht begeisterte Sowjetbürger und überzeugte Kommunisten. Natürlich war auch die Ausbildung dieser Leute nicht perfekt. Kritiker meinten vielmehr, dass die neuen sowjetischen Funktionäre zwar alle Laster der Klassenfeinde – der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, der zaristischen Beamten – hatten, aber keine von deren Tugenden. Zudem waren viele dieser Funktionäre korrupt. Dennoch trafen sie paradoxerweise auf eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung und der Bauernschaft als die früheren zaristischen Beamten, da sie als „einer von ihnen, der es geschafft hatte“ angesehen wurden. Insgesamt war aber auch die Bildungspolitik der Sowjets ein Erfolg. Viele der hohen KPdSU-Funktionäre waren Kinder aus der Provinz, die so nie hätten studieren können oder in den Genuss einer höheren Ausbildung gekommen wären, hätte es den Sowjetstaat nicht gegeben: unter ihnen Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow. In den 1930er Jahren drang der Konsum in die urbanen Zentren ein, und Moskau wurde teilweise wieder mondän. Zu repräsentativen Zwecken wurden in Moskau Prachtbauten und Wolkenkratzer errichtet, sowie die Moskauer Metro. 1936 gab sich die Sowjetunion eine Verfassung. Während die kapitalistische Welt unter der Weltwirtschaftskrise ächzte, aus der sie scheinbar keinen Ausweg fand, und die auch den Rest der Welt in Mitleidenschaft zog, sah man im In- und Ausland die Sowjetunion bewundernd als immun dagegen an (aus irgendeinem Grund wurde übersehen, dass die Hungerkatastrophe und die Versorgungskrise Anfang der 1930 Jahre ja noch schlimmer waren, und das Versorgungsniveau allgemein sehr niedrig geblieben war). Doch wie immer unter Stalin ließ das nächste Unheil nicht lange auf sich warten.

Was der letztendliche Grund oder Auslöser für die Säuberungswelle und den Großen Terror von 1936 bis 1938 gewesen ist, ist (wie so vieles andere) ein Geheimnis, das der verschlossene Stalin mit ins Grab genommen hat. Obwohl dabei weniger Menschen umgekommen sind als bei anderen Aktionen der Sowjets (man geht von ca. einer Million Toter und 2,5 Millionen Verhafteter aus), irritiert der Große Terror besonders durch seine Bizarrerie und scheinbare Unerklärlichkeit, seine offenbar mangelnde Notwendigkeit. Tatsächlich hatte so etwas wie die Moskauer Schauprozesse, in denen sich altgediente Bolschewiki und Veteranen der Oktoberrevolution als jahrelange „Konterrevolutionäre“ und „Agenten des faschistischen Auslands“ entlarvten (und dafür zum Tode verurteilt wurden), die Welt noch nicht gesehen. Was war der Grund dafür, dass Stalin gegen die eigene Partei, und in weiterer Folge gegen die Rote Armee und gegen die einfache Bevölkerung vorging? Die Kollektivierung, überhastete Industrialisierung und die Hungerkatastrophe hatten Anfang der 1930er Jahre Widerstand gegen Stalin in der eigenen Partei hervorgerufen, der jedoch recht begrenzt geblieben war. Auf dem XVII. Parteitag der WKP im Februar 1934 wurde Stalin jedoch angeblich in einer Abstimmung in erheblichem Maße das Vertrauen entzogen. Ein hohes Vertrauen wurde jedoch dem allgemein beliebten und charismatischen hohen Funktionär Sergei Kirow zugesprochen. Stalin habe das Ergebnis geheim gehalten, es aber als akute Bedrohung seiner Macht betrachtet, außerdem habe es starke Neidgefühle in ihm gegenüber Kirow provoziert. Kirow, an und für sich ein Freund Stalins, wurde im Dezember desselben Jahres von einem Attentäter ermordet. Dass Stalin hinter dem Attentat gesteckt hätte, konnte bis heute nicht bewiesen werden; gewisse Gründe sprechen für eine solche Annahme, andere dagegen. Ebenso gibt es keinen Beweis für das Abstimmungsergebnis vom XXVI. Parteitag, so dass auch dieses mögliche Motiv im Dunklen bleibt. Auf jeden Fall nutzte Stalin die Ermordung Kirows aber, um eine umfassende Säuberung der Partei vor „inneren Feinden“ in Gang zu setzen. Damit beauftragt wurde Nikolai Jeschow, ein gnomenhafter, versteckt homosexueller Mann, in dem Stalin wohl den Minderwertigkeitskomplex erkannte und das Bedürfnis, sich auszuzeichnen. Fraktionsbildung (und damit freie Meinungsäußerung) innerhalb der KPdSU war bereits unter Lenin verboten worden und Parteimitglieder wie Trotzki oder Bucharin (der die NÖP verteidigte und daher als „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt wurde) wurden zumindest aus der Partei ausgeschlossen. Jeschow betonte in Artikeln, wie wichtig und überlebensnotwendig Einigkeit in der Partei sei, und wie gefährlich jegliches Abweichlertum, das mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Besser sei es, auch Unschuldige zu liquidieren, als Schuldige unentdeckt zu lassen. Mit dieser Ideologie setzte Jeschow eine manische Verfolgungsjagd in Gang, die sich nicht nur auf die Partei, sondern auch auf die Armee und auf die einfache Bevölkerung erstreckte. Plansolle wurden ausgegeben und das Denunziantentum befördert, um in allen Bevölkerungsgruppen „Verräter“ ausfindig zu machen. Da man Dissidenten nicht über Plansolle ausfindig machen kann, liegt der Schluss nahe, dass die Einschüchterung sämtlicher Schichten der Sowjetbevölkerung gegenüber der politischen Führung das eigentliche Ziel der Kampagne gewesen war. Natürlich aber untergräbt eine solche Politik aber auch jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkt kumulativ zerstörerisch. Als Stalin das erkannte, enthob er Jeschow 1938 seines Postens. Der war mit dem Prozedere bekannt und wusste, dass seine eigene Verhaftung und Hinrichtung nur mehr eine Frage der Zeit sein würden, und so kam es dann auch. Wie schon zuvor, als er seinen Chefhenker Genrich Jagoda durch Jeschow absetzen und hinrichten ließ, „säuberte“ sich Stalin, indem er nun Jeschow fallen ließ, und ihn durch den noch schrecklicheren, aber methodischer vorgehenden Lawrenti Berija als Chef des NKWD ersetzen ließ. Das machte für Stalin auch Sinn, ebenso, wie dass er treue Altbolschewiki wie Bucharin oder Kamenev als „Verräter“ und „faschistische Agenten“ in den Schauprozessen vorführen ließ. Tatsächlich hielten weite Teile der Bevölkerung Stalin für einen „guten Zaren“ und wohlmeinenden Patriarchen, während für den Terror, die Korruption und die Repressalien, die sie erlebten, allein niederrangige Funktionäre verantwortlich seien. Weniger verständlich bleiben die Säuberungen bei weiten Teilen der Offiziere der Roten Armee, inklusive etlicher ihrer ranghöchsten Generäle. Stalin-Apologeten meinen, Stalin habe den Krieg gegen den Faschismus vorhergesehen, und die Gefahr einer illoyalen Armee als größere Gefahr eingeschätzt als die einer personell und intellektuell vorübergehend dezimierten. Allerdings gibt es keinen Grund anzunehmen, warum nicht das Umgekehrte eher der Fall sein sollte (wenngleich in den Augen eines Paranoikers wohl eher die erstere Kalkulation gilt). Wenn Stalin den nahenden Krieg gegen Deutschland (oder Japan) vorausgesehen hätte, warum hätte er die Rote Armee derart geschwächt? All das bleibt im Dunkeln – genauso wie die Frage, ob den Krieg denn tatsächlich vorhergesehen hat, und der ganze Große Terror nur der verzweifelte Versuch war, das Land auf den Krieg vorzubereiten und für Geschlossenheit in den eigenen Reihen zu sorgen, so wie (nicht nur) von Stalin-Apologeten behauptet. Am Ende der Säuberungen auf jeden Fall stand Stalin in der Fülle von absoluter Macht da. Vorher war er doch kein Alleinherrscher, sondern der Parteidisziplin unterworfen. Nunmehr gab es diese Partei so nicht mehr, all die Altbolschewiki, die Stalin einigermaßen auf Augenhöhe begegnen konnten, lebten nicht mehr. Stattdessen nahmen deren Posten nunmehr junge Funktionäre ein, die Stalin treu ergeben waren (auch in der Roten Armee war das so). Stalin konnte sich nicht nur allmächtig, sondern (zumindest für eine Weile) auch vor „Bedrohungen“ sicher fühlen, die er dauernd wo erblickte und die er tatsächlich als gleichsam tödliche Gefahr für die eigene psychologische Integrität wahrnahm. Man kann wohl sagen, dass jemand wie Stalin in eine solche Richtung gravitieren wird. Seine Pathologie wird ihn dazu führen, sein Umfeld, seine Lebenswelt und sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen dementsprechend zu gestalten. Glücklicherweise ist es selten, dass Individuen wie Stalin oder Hitler maßlose Machtmittel in die Hand bekommen und in einer gewissen Zeit und in bestimmten Situationen auftauchen, wo sie ganze Erdteile mit Verheerungen überziehen können.

Der Hitler-Stalin-Pakt löste den Zweiten Weltkrieg aus. Nazideutschland und die Sowjetunion fielen jeweils in Polen ein und teilten sein Territorium untereinander auf. Damit hatten sie nunmehr eine gemeinsame Grenze. Die Sowjetunion versuchte daher auch das Baltikum und Finnland unter seine militärische Kontrolle zu bringen. Stalin war vorher bemüht gewesen, mit England und Frankreich ein Anti-Hitler-Bündnis zu schließen, was von beiden Mächten aber abgewiesen wurde. Das wird vielerorts als Hinweis verstanden, dass die Westmächte eine Ableitung der Hitlerschen Aggression Richtung Sowjetunion erhoffen oder zumindest kalkulierten (allerdings stellte Stalin angeblich aber auch inakzeptable Forderungen an ein solches Bündnis). Mit dem Hitler-Stalin-Pakt dachte sich Stalin, er könnte die Hitlersche Aggression seinerseits von sich ablenken, zumindest für eine gewisse Zeit. Nachdem er Polen erobert hatte, wandte sich Hitler tatsächlich daraufhin nach Westen. Dass die Wehrmacht Frankreich so schnell einnehmen konnte, kam für Stalin als Schock. Nunmehr war es England und das britische Empire, das gegen Nazideutschland Widerstand leistete. Hitler, dessen Drittes Reich kein Empire hatte und unter Ressourcenknappheit litt, befürchtete, ein anhaltender Krieg gegen England würde ihn schwächen, und das würde schließlich die Sowjetunion dazu provozieren, ihn ihrerseits anzugreifen. Mehr noch, hatte er es auf die Ressourcen abgesehen, die im Osten lagen, vor allem die Kornkammern der Ukraine und die Ölquellen in Baku. „Lebensraum“ im Osten zu schaffen, war sowieso sein ursprüngliches Ziel gewesen, genauso wie die Ausrottung des Bolschewismus. Taktisch sah Hitler im Frühjahr 1941 eine „einmalige“ Gelegenheit gekommen, die Sowjetunion erfolgreich angreifen zu können und befahl den Start des „Unternehmen Barbarossa“ am 22. Juni des Jahres. Einem an und für sich zu späten Termin. Doch tatsächlich gelang es der Wehrmacht, in den folgenden Monaten bis an die Tore Moskaus vorzustoßen – dann erst stoppte sie der russische Winter. Stalins eigentümliche Weigerung, die Bedrohung rechtzeitig anzuerkennen, hatte zur Schwäche der Roten Armee, die von der Wehrmacht überrannt wurde, beigetragen. Im allgemeinen Verständnis war sich Stalin dessen bewusst, dass die Rote Armee noch zu schwach gewesen wäre, um der Wehrmacht begegnen zu können. Deshalb hoffte er den Angriff möglichst hinauszögern zu können und verhielt sich über alle Maßen passiv und wollte „Provokationen“ gegenüber der Wehrmacht vermeiden. Außerdem habe er sich, als klassischer Realpolitiker, nicht vorstellen können, dass Hitler tatsächlich eine zweite Front eröffnen würde. In dem Fall hätte Stalin nicht zur Kenntnis genommen, dass Hitler aber kein Realpolitiker war. Seine gesamte politische Karriere über war Hitler ein Hasardeur und ein Va Banque Spieler gewesen, der mit seiner Frechheit und seinem radikal unkonventionellen Vorgehen stets alle Welt überrumpelte, die auf so etwas mental nicht vorbereitet war. Gleichzeitig verstand sich Hitler als rationaler Akteur zu geben und auch dadurch anderen den Eindruck zu vermitteln, sein aktuelles Husarenstück sei sein letztes gewesen (alles andere wäre auch tatsächlich zu gefährlich und irrational gewesen). In dieser Hinsicht, und weil Kriege ihre eigenen Logiken mit sich bringen und ständig neue Dilemmata erzeugen, entschloss sich Hitler also zum Angriff auf die Sowjetunion. Was heute als so offensichtlicher Fehler erscheint, erschien kaum einem seiner Generäle damals als unmögliches Unterfangen (Ziel wäre es gewesen, die europäische Sowjetunion einzunehmen, die Russen hinter den Ural zurückzudrängen und die deutschen Positionen dementsprechend zu befestigen). Unkonventionell war auch die von Hitler befohlene Kriegsführung. Der Krieg gegen die Sowjetunion sollte ein Vernichtungskrieg sein. Zumindest als solcher war er bis zuletzt konsequent. Als die Wehrmacht Ende 1941 vor Moskau steckenblieb, konnte sich Hitler noch realistische Hoffnungen auf die erfolgreiche Fortsetzung der Offensive im Frühjahr 1942 machen. Doch auch diese blieb dann stecken. Der Hasardeur hatte sein Blatt überreizt, nun folgte umso konsequenter die Niederlage. Auch hatte sich Hitlers Menschenkenntnis vorwiegend darauf beschränkt, die Schwächen anderer Menschen gut zu erkennen, um sie in seinem Sinn manipulieren zu können. Weniger Sinn hatte er für die Stärken anderer Menschen, die nunmehr die Alliierten, und vor allem die Sowjetbürger(innen) und Sowjetsoldat(inn)en gegen ihn in Anschlag brachten. Die Tapferkeit, die die Sowjetunion und ihre Völker im Kampf gegen den Faschismus aufboten, gehört zum Glanzvollsten, was im 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist. Auch Stalin schien sich, nach seinen anfänglichen Fehlern, als oberster Befehlshaber verdient zu machen. Er wurde zum Marschall und schließlich zum Generalissimus ernannt, und es wird allgemein davon ausgegangen, dass er einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat. Er war aber auch ein grausamer Heerführer, setzte, wie immer, auf Terror und befahl zum Beispiel, dass jeder Soldat, der zurückweiche, erschossen zu haben werde (was die Offiziere an der Front jedoch meist nicht ausführten, da sie wussten, dass man so keine Armee führen konnte). Völker im Westen, die er der möglichen Kollaboration mit den Deutschen verdächtigte, ließ er in seiner üblichen rücksichtslosen Weise deportieren – und tatsächlich waren nicht wenige Sowjetbürger bereit, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, da der jahrzehntelagen Sowjetterror sie erschöpft hatte. Allerdings stellten sich die Deutschen schnell als noch schlimmer heraus. Gleichzeitig erlaubte Stalin während des Krieges eine Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft und eine freiere Atmosphäre, um den gewaltigen Druck, der auf ihr lastete ein wenig abzulassen. Auch wenn Hitler wohl gewusst hat, dass sich das Blatt entscheidend gegen ihn gewendet hat, setzte er den Krieg fort, da er in seiner eigenen paranoiden Emotionalität bis ganz zuletzt auf einen glanzvollen „Endsieg“ hoffte, auf ein Auseinanderbrechen der Alliierten, und weil er Rückschläge stets als Fehler (oder Verrat) seiner Generäle betrachtete, also als etwas, was an und für sich, und vor allem mit den nötigen „Willensstärke“, die er von allen einforderte, vermeidbar gewesen wäre (und nicht als ein Resultat der nunmehr veränderten Kräfteverhältnisse). Während Stalin als oberster Befehlshaber sein Volk zum Sieg führte, führten Hitlers irrationale Einmischungen in die eigene Kriegsführung zur Niederlage. Allerdings auch dazu, dass der Krieg bis ganz zuletzt mit unerbittlichster Härte geführt werden musste. Ihren Vernichtungskrieg führten die Deutschen im Osten unbeirrt. Nicht nur aus rassenideologischen und antisemitischen Gründen (als erstes und am Totalsten richtete der Vernichtungskrieg gegen jüdische Sowjetbürger), sondern auch, weil die Deutschen aufgrund ihrer Ressourcenknappheit die Bevölkerungen in den eroberten Territorien nicht ernähren konnten. Sie mussten ihre eigene Bevölkerung und die Wehrmacht versorgen und lenkten die Getreideexporte aus der Ukraine in ihre eigene Richtung. Damit schnitten sie erhebliche Teile der Sowjetbevölkerung, vor allem in Weißrussland, von der Lebensmittelzufuhr ab. In einem zynischen Plan kalkulierten die Nazi-Planer ganz offen mit Millionen von Toten, die diese Maßnahmen verursachen würden. Vor allem wollten die Deutschen riesige Gebiete für sich selbst urbar machen – unter Ausrottung der dortigen Bevölkerung. Zum Beispiel Göring entwickelte Visionen einer Kolonialisierungspolitik, die 30 Millionen Tote mit sich gebracht hätte. Tatsächlich forderte der Zweite Weltkrieg nach heutigem Erkenntnisstand 27 Millionen Tote in der Sowjetunion. Die Verheerungen, die der Krieg auf sowjetischem Territorium verursachte, entspricht der Zerstörungskraft von 200 Atombomben (der Größe der Bombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde). Trotzdem gelang es der Roten Armee, Hitler bis an die Tür seines Bunkers zu verfolgen, in dem er im letzten Moment Selbstmord begangen hatte; zuletzt in einem hoffnungslos-sinnlos von den Deutschen brutal geführten Häuserkampf um Berlin. Tatsächlich steht wohl die Moskauer Siegesparade von 24. Juni 1945 für den größten Tag in der Geschichte Russlands. Sie war auch eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Sowjetbürger Stalin öffentlich zu sehen bekamen: wie immer nur bei solchen Gelegenheiten als kleine, winkende Figur auf einer hohen Tribüne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Machtfülle Stalins und der Personenkult, der um ihn im In- und Ausland betrieben wurde, ins Unermessliche. Darüber, wie die internen Prozesse in der Führung des Landes und seiner Armee während des Krieges waren und welche Kämpfe Stalin auszufechten gehabt hatte, bleibt vieles im Dunklen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass Stalin einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat (anders war seine Machtfülle dann doch auch nicht zu erklären). Mehr noch, war die Rote Armee nach halb Europa vorgedrungen. Anfangs waren das Elend und die Entbehrungen in der Sowjetunion groß. 1946 kam es zu einer weiteren Hungersnot (die von Stalin ärgerlich ignoriert wurde, da er nicht wusste, wie er Abhilfe schaffen sollte), 1947 erfolgte eine Neubewertung der Währung, die die Kaufkraft der Bevölkerung massiv beschnitt. Dennoch schien sich das Land rasch zu erholen – nicht zuletzt auch deswegen, weil man in Europa, vor allem im besetzen Teil Deutschlands, massiv Industrieanlangen demontierte und übernahm. Stalin schien bei Sportparaden regelrecht aufzublühen, in denen er stellvertretend die Jugend und die Regenerationskraft des Landes, sein Athletentum und seine verheißungsvolle heroische Zukunft wahrzunehmen schien. Dennoch nahm Stalin die Maßnahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung während des Krieges schnell wieder zurück und etablierte wieder eine repressive Diktatur. Durch den Krieg war die Sowjetunion näher ans kapitalistische Ausland gerückt, und die vielen dort stationierten Sowjetsoldaten konnten den viel höheren Lebensstandard und die dort herrschenden politischen Freiheiten erleben. Mit der Folge, dass Stalin sie in großem Stil internieren ließ, als sie zurückkehrten. Trotzdem saß Stalin fester im Sattel denn je, nicht zuletzt auf der Weltbühne. Er hatte Osteuropa in seine Gewalt gebracht und betrachtete es nun als „sein“ Herrschaftsgebiet. Angeblich hatte er ursprünglich nicht vorgehabt, die Länder Osteuropas in kleine Spiegelbilder der Sowjetunion zu verwandeln, sondern hätte sich mit einer laxeren Form der Hegemonie zufriedengegeben. Doch die amerikanische Atombombe veränderte sein Kalkül und veranlasste ihn, die Zügel straffer anzuziehen. Der offiziellen Lesart zufolge beanspruchte die Sowjetunion Osteuropa als „Pufferzone“, um erneute Einmärsche durch westeuropäische Mächte abzuwehren. Dennoch war das Projekt klar (und nicht nur im defensiven Sinn) imperialistisch. Dass ein Eiserner Vorhang über Europa niederging, in dessen Folge Institutionen wie die Nato und der Warschauer Pakt geschaffen wurden, lag ursprünglich wohl nicht in der Intention der beteiligten Mächte. Aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sich, bei anderer personeller Besetzung, die kumulativen Dynamiken in eine grundsätzlich andere Richtung hätten entwickeln können. Damit stand Stalin aber vor einem Problem neuer Art: Nachdem die Bolschewiki ursprünglich auf eine Weltrevolution gehofft hatten, stellte sich jetzt die Frage, wie mehrere kommunistische Länder untereinander ihre Beziehungen regeln sollten, vor allem, wenn unterschiedliche Länder unterschiedliche Visionen vom Kommunismus hatten und diese umso leidenschaftlicher verteidigten. Damals wie heute träumen Kommunisten vom Weltfrieden unter ihrer Ägide, obwohl sie ja selbst in der Geschichte ihrer eigenen nationalen Parteien nicht zuletzt eine Geschichte der Fraktionskämpfe, der Streitigkeiten, bis hin zu fast kriegsähnlichen Auseinandersetzungen erblicken könnten. Stalin setzte, wie immer, auf eine Politik der politischen und ideologischen Geschlossenheit der kommunistischen Welt unter seiner Führung. Tito war seinerseits Kommunist und ein Bewunderer Stalins gewesen, dem er auch einiges zu verdanken hatte. Dennoch war er jemand, der Hitler und der Wehrmacht die Stirn geboten hatte und sein Land im Wesentlichen selber befreit hatte. Er sollte schließlich weder Lust noch Grund dazu verspüren, zu einer Marionette Stalins und der Sowjetunion zu verkommen, und schlug schließlich seinen eigenen, blockfreien Weg ein. Stalin schäumte seiner Natur gemäß enorm über diese Insubordination, umso mehr, als er gegen den verwegenen Partisanenführer letztendlich nichts ausrichten konnte. Tito hatte ihm die Grenzen seiner Macht, und der Macht der Sowjetunion, zu definieren, was Kommunismus sei und was nicht, aufgezeigt. Eine potenziell viel stärkere kommunistische Macht etablierte sich aber 1949 mit Rotchina unter Mao Zedong. Die Kommunisten Chinas waren von Anfang an von der Sowjetunion unterstützt worden (und verdankten ihr letztendlich alles), allerdings stets auch als Variable in deren eigene strategischen Gleichungen eingebaut gewesen. Zuletzt noch versuchte Stalin Mao von einem Vorpreschen auf dem schließlichen Weg zur Machtübernahme abzuhalten, da ihm das für die aktuellen geostrategischen Bedürfnisse der Sowjetunion günstiger erschienen war. Dennoch eroberte Mao 1949 die Macht, und das im Prinzip aus eigener Kraft. Mao war ein Bewunderer Stalins. Der jedoch begegnete ihm recht von oben herab (eine Marotte, die sich Stalin vor allem nach dem Krieg jedem Staatsoberhaupt gegenüber zulegte, um es „auszutesten“ und zu sehen, wie weit er gehen könnte). Stalin war bewusst, dass China mittelfristig eine ebenbürtige und längerfristig wohl eine überlegene kommunistische Hegemonialmacht werden dürfte. Umso mehr, als der Kommunismus nunmehr auch in Asien Fuß fasste, abermals einer Weltregion, in der es wenig Kapitalismus gab, und in der die Sozialstrukturen noch verschiedener waren als die von Marx für den Kommunismus vorausgesetzten, als es in Russland der Fall gewesen war. Stalin unterstützte das junge Rotchina zwar bei der industriellen und technologischen Entwicklung, war jedoch auch versucht, es in seinem Eifer zu bremsen. Nicht zuletzt führte er als Argument die Verwerfungen der eigenen Industrialisierungsgeschichte und die hohen menschlichen Kosten an, auch wenn er Mao mit einem solchen Argument nicht erreichte. Der war jedoch von der Sowjetunion einstweilen noch abhängig, und dass eine allzu überhastete Umgestaltung seines Landes wohl keine so gute Idee war, leuchtete ihm (damals) auch noch selber ein. Es war auch Stalin, der hauptsächlich den Koreakrieg anzettelte (um die Amerikaner, wie er meinte, von ihm selbst abzulenken), sich aber gleichzeitig offiziell aus dem Krieg heraushielt und vielmehr China dazu drängte, dort einen Stellvertreterkrieg zu führen. Im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion kurz davor gestanden, in Japan einzufallen. Dem allerdings kamen die Amerikaner mit dem Abwurf der beiden Atombomben zuvor, auf den hinauf Japan kapitulierte. Doch auch der Sowjetunion gelang es daraufhin, Atomwaffen zu entwickeln. Der Nahe Osten war eine weitere Weltregion, wo die Karten der Geostrategie neu gemischt wurden. 1948 kam es zur Gründung des Staates Israel. Stalin hatte das anfänglich begrüßt, da er annahm, dass Israel ein enges Verhältnis zur Sowjetunion eingehen würde. Als sich Israel aber schnell primär den USA zuwandte, brachte das bei Stalin seinen sowieso latent immer vorhanden gewesenen Antisemitismus zum Überlaufen, mit dem er die sowjetische Gesellschaft in seinen letzten Jahren überzog. Er klagte auch darüber, dass er die Juden in der Sowjetunion nicht assimilieren könne, was für jemand wie ihn, der so sehr auf Homogenität, Uniformität und Berechenbarkeit seiner Umgebung Wert legte, tatsächlich ein Ärgernis sein musste. Seine Entourage hielt Stalin in seinen letzten Jahren fest im Griff, indem er sie zu allnächtlichen Saufgelagen bei ihm verdonnerte, um sie daran zu hindern, mögliche Intrigen gegen ihn zu spinnen. Er schien mit ihr auch nicht zufrieden zu sein. Stalin war nunmehr ein alter Mann von schlechter Gesundheit. Er musste sich Gedanken darüber machen, wie es mit der Sowjetunion weitergehen sollte, wenn er nicht mehr da war. Es gibt Anzeichen, dass Stalin vor seinem Tod eine erneute Parteisäuberung in Gang setzen wollte, um erneut eine „junge“ Generation von entschlossenen Kommunisten an die Macht zu bringen, von der er sich die notwendige Intransigenz im weltweiten Klassenkampf und in der Führung des Sowjetimperiums erhoffte (er erachtete seine aus jahrzehntelang altgedienten Bolschewiki bestehende Entourage als „blind, blind wie junge Katzen“ für die angeblichen Ränkespiele der Feinde im In- und Ausland). Auf jeden Fall wurde eine (antisemitisch konnotierte) Kampagne hinsichtlich einer angeblichen „Ärzteverschwörung“ in Gang gesetzt (seine Leibärzte hatten den ungesund lebenden Stalin mit ihren Prognosen und Empfehlungen verunsichert und so vermutete er einen Anschlag auf sein Leben dahinter). War das ein isoliertes Phänomen oder wäre es als Auftakt einer neuen Säuberungswelle gedacht gewesen? Die Welt musste es nicht mehr in Erfahrung bringen.

Stalin starb am 6. März 1953 nach einigen Tagen der Agonie an einem Schlaganfall. Entgegen der Befürchtungen der Stalin-Verehrer im In- und Ausland, dass der Tod des genialen Woschd das Ende der Sowjetunion überhaupt bedeuten würde, passierte nichts dergleichen. Allerdings war sogleich die Frage nach der Nachfolge und nach der Richtung, in die sich die Sowjetunion nun bewegen sollte eröffnet. Obwohl man es gerade von ihm wohl am wenigsten erwartet hätte (oder am ehesten, da er kein Kommunist, sondern ein Karrierist gewesen war), sprach sich der sinistre Geheimdienstchef Beria für einen radikalen Umbau der Sowjetunion aus. Er wollte die Beziehungen zu den Westmächten harmonisieren und die Gesellschaft liberalisieren und löste zunächst weitgehend die Gulags auf, in denen die Menschen als politische Gefangene gehalten wurden (nicht zuletzt, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass das System der Zwangsarbeit teuer und unökonomisch war). Er glaubte, dass die Sowjetunion keine prosperierende wirtschaftliche Zukunft haben könne, wenn kein Privateigentum zugelassen würde. Wie Lenin schien auch Beria in Deutschland ein Land des Vorbildes zu sehen. Während es für Lenin allerdings die Diszipliniertheit, das Organisationstalent und die technologische Avanciertheit der Deutschen waren, für die er sich begeisterte, schien Beria die Sowjetunion insgesamt in einen „sozialdemokratisch“ organisierten Staat mit einem entsprechenden wirtschaftlichen Mischsystem transformieren zu wollen, so wie eben die Bundesrepublik. Wie wäre wohl die Geschichte verlaufen, wenn Beria sich durchgesetzt hätte?  Seinen Genossen ging das aber natürlich zu weit. Überhaupt hatte sie allen Grund, den grausamen und unappetitlichen Beria (der unter anderem habituell junge Frauen und eventuell auch Mädchen vergewaltige) zu fürchten. Also ließen sie ihn kurzerhand bestimmter Verbrechen wegen verurteilen und hinrichten, und Beria wurde schließlich zum Opfer von dem, was er selbst seine politische Karriere über so massenhaft veranlasst hatte. Auch hatten die Genossen Grund zu verhindern, dass jemals wieder ein einzelner so viel Macht über sie akkumulieren konnte wie Stalin. Aus den Fraktionskämpfen ging schließlich Nikita Chruschtschow siegreich hervor, ein impulsiver, etwas grobschlächtiger Mann aus der Provinz, der aber auch aufgeschlossen und neugierig war. Er war ein überzeugter Kommunist und ein Bewunderer Stalins, schämte sich jedoch auch für seine Verstricktheit in den Stalinschen Terror und hatte moralische Skrupel. In seiner „Geheimrede“ von 1956 klagte er Stalin posthum zahlreicher seiner Verbrechen an und verurteilte dessen „Personenkult“. Es war ein Signal an die Welt, nicht zuletzt an die kommunistische Welt, dass der sowjetische Hegemon in eine andere Richtung gehen wollte. Anders als Stalin ging Chruschtschow nicht von einer unvermeidlichen Konfrontation des kapitalistischen und des kommunistischen Weltlagers aus, sondern glaubte an die Möglichkeit einer „friedlichen Koexistenz“. Auch gegenüber Osteuropa wollte er die Zügel lockern und er wollte wieder auf Tito zugehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Stalinsche Arroganz schließlich nur alle gegen einen aufbringen würde. In dem Sinn begann er sich auch Mao Zedong beinahe übertrieben freundlich und großzügig zu nähern. Allerdings verfehlte er damit im weiteren Verlauf die gewünschte Wirkung, denn Mao war letztendlich selbst ein Stalin, und konnte allein schon einmal mit entgegenkommendem Verhalten wenig anfangen (er sah es als Zeichen von Schwäche, die er verachtete). Dass Chruschtschow Stalin demontierte und „Personenkult“ aus der kommunistischen Welt entsorgen wollte, kam Mao gar nicht entgegen. Vor allem konterkarierte es das Vorhaben einer eigenen Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung Chinas nach stalinistischem Vorbild, so wie Mao es vorhatte. Chruschtschow hingegen erklärte den Klassenkampf in der Sowjetunion als im Wesentlichen für beendet. Es war im klar, dass er endlich die Konsumgüterindustrie ausbauen müsse, um den Sowjetbürgern einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen. Vor allem wird ihm wohl klar gewesen sein, dass die Sowjetunion nunmehr, zumindest in den urbanen Zentren, ein modernes und durchgehend alphabetisiertes Land war, das man nicht mehr mit grobschlächtigen und groben stalinistischen Methoden führen konnte – vor allem, wenn man es wirtschaftlich diversifizieren wollte. Dieser „Revisionismus“ stieß nicht nur Mao, sondern vielen Marxisten und Kommunisten sauer auf. Als primitives, totalitäres, gleichzeitig umfassendes wie geschlossenes „Denksystem“ vermittelt der Stalinismus Menschen Geborgenheit, die Komplexitäten und Nuancen hassen oder fürchten, und bei denen wohl weniger die Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen, denn der ewige Klassenkampf und die totale Frontstellung gegen die „Bourgeoisie“, mit dem Ziel der absoluten Machtentfaltung ihres eigenen ideologischen Prinzips in der Welt der emotionale Inhalt ihres Lebens ist. In dem Sinn, und in seiner diesbezüglichen „Eleganz“, muss ihnen der Stalinismus auch als gleichsam „ästhetische“ Leistung erscheinen. Unter Chruschtschow begann, so gesehen, hingegen die Ära der „Formlosigkeit“ und der Uneindeutigkeit. Ähnlich wie alle anderen Kommunisten war Chruschtschow aber von der Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem Kapitalismus überzeugt. Er wollte mit der kapitalistischen Welt auf wirtschaftlichem und technologischem Gebiet konkurrieren, und glaubte, sie darin schließlich „einholen und überholen“ zu können. Mit dem Abschuss des ersten Satelliten, des ersten Lebewesens ins Weltall (der Hündin Laika) und des ersten Menschen ins Weltall (des Armeepiloten Juri Gagarin) Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre, verpasste die Sowjetunion der Welt tatsächlich den „Sputnik-Schock“. Der führte allerdings dazu, dass die USA ihre dann doch überlegenen Kapazitäten besser bündelten, und ihre folgende technologische Überlegenheit mit dem ersten Mann im Mond dann zunächst auch symbolisch zementierten. Einstweilen führten die wirtschaftspolitischen Reformen, um die Wirtschaft zu modernisieren und den Lebensstandard zu heben, nicht zum gewünschten Erfolg. Chruschtschow hatte in einem Kernbereich Versprechungen gemacht, von denen sich herausstellte, dass er bzw. das Sowjetsystem sie nicht halten konnte, was Unmut innerhalb der Parteiführung über ihn provozierte. Gleichzeitig fiel die Zeit der Auflösung der Kolonialreiche wesentlich in die Ära Chruschtschows. Naturgemäß unterstützte die Sowjetunion die Unabhängigkeitsbestrebungen, nicht zuletzt aus geostrategischen Gründen. Einige Länder wie Ghana, Mosambik oder Tansania wandten sich auch recht deutlich dem Sozialismus und der Sowjetunion zu. Die unterstützte auch linksgerichtete politische Führer wie Nasser in Ägypten, Sukarno in Indonesien oder Lumumba im Kongo. Das rief die USA auf den Plan, die ihrerseits überall auf der Welt ihnen genehme Regime errichten oder halten, und die Ausbreitung von kommunistischen oder sowjetfreundlichen verhindern wollte, und führte zur unappetitlichen Ära der Kalten Kriegsführung in der ganzen Welt, die ihren traurigen Höhepunkt im Vietnamkrieg fand. Überdies hinaus mussten die Sowjets im Lauf der Zeit feststellen, dass ihre großzügigen und kostspieligen finanziellen und militärischen Hilfeleistungen für diverse Länder und deren Führer dann doch nicht den gewünschten Erfolg brachten. Die zogen es dann doch vor, der Sowjetunion gegenüber relativ autonom zu bleiben. Derweil nahm die Verachtung, die Mao Zedong für Chruschtschow und die Sowjetunion entwickelte, annähernd irrationale und gefährliche Formen an. Es kam zu einem totalen Zerwürfnis der beiden kommunistischen Supermächte und auch zu einem Grenzkrieg zwischen ihnen. Ein strahlender Stern war in Kuba aufgegangen, als Fidel Castro dort das Batista-Regime gestürzt hatte. Ursprünglich kein Kommunist, wurde er aber schnell von den Amerikanern als ein solcher verdächtigt, was ihn dann tatsächlich zu einem machte und ihn in die Arme der Sowjetunion trieb. Die sollte Atomraketen auf Kuba stationieren, eine für die USA nicht hinnehmbare Bedrohung, auf wenn die ihrerseits in der Türkei Raketen stationiert hatte, die eine ähnliche Bedrohung für die Sowjetunion darstellten. Als der Kalte Krieg drohte, ganz heiß zu werden, einigten sich beide Seiten in geheimen Gesprächen auf der Topebene darauf, ihre Raketen jeweils abzuziehen, wobei die Sowjetunion allerdings Stillschweigen bewahren musste über die Nato-Raketen und deren Abzug aus der Türkei. Das ließ Chruschtschow vor den Kubanern und vor seinen eigenen Genossen wie ein Verlierer dastehen, der einseitige Zugeständnisse gemacht hatte. Insgesamt aber hatte Chruschtschows etwas zerfahrener Führungsstil keine so eindeutigen Resultate für die Sowjetunion mit sich gebracht. So wurde er von seinen Genossen 1964 gestürzt und in Pension geschickt. Als sein größtes Vermächtnis sah er es an, dass er ein Klima in der Sowjetunion geschaffen hatte, in dem er deswegen nicht erschossen worden war.

Die Sowjetunion propagierte sich als „friedliebend“, und tatsächlich scheinen die Aggressoren und Bellizisten über ihre Geschichte hinweg primär auf der anderen Seite gewesen zu sein. Aber wie friedliebend kann ein politisches Gebilde wohl sein, dessen ideologisches Fundament der (Klassen-) Kampf ist? Zwar sind diverse Verständnisse und Lesarten des Marxismus möglich, aber in erheblichen Teilen ist er militant und agonal und geht von großen Prinzipien aus, die einander unversöhnlich sind, und partiell oder total auf Konfrontation zusteuern. Den Kampf zwischen diesen beiden Prinzipen (Kapitalismus und Kommunismus) versteht er beinahe als etwas Metaphysisches und Eschatologisches, wenn nicht gar Chiliastisches. Der Marxismus hat großes Potenzial zu einer neurotischen Weltsicht und daher zu etwas Gefährlichem. Lenin selbst verstand sich durchaus nicht als Pazifist. Er, der Kriege im Inneren angezettelt hat, die den eigenen ideologischen Interessen dienten, hatte eine analoge Sicht auf Kriege nach außen hin. Diese könnten gerechtfertigt sein – und zwar unabhängig, ob es sich um einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg handelt – wenn nur die kriegsführende Partei den richtigen Klassenstandpunkt (im Sinne des Proletariats) einnehme. Dies betonte er nicht einmal, sondern immer wieder (Nicht der Angriffs- oder Verteidigungscharakter des Krieges, sondern die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats … (sind entscheidend…) Oder: Der Charakter eines Krieges …. hängt nicht davon ab, wer Angreifer ist und in wessen Land der „Feind“ steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik durch diesen Krieg fortgesetzt wird… vgl. LesceK Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.553) Schließlich hatte Lenin während des Bürgerkrieges versucht, die Revolution mit kriegerischen Mitteln auch ins Ausland zu tragen. Nach dem diesbezüglichen Misserfolg stellte sich dann die Frage nach dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Dieser Aufbau musste natürlich auch den Aufbau von Wehrkapazitäten in sich schließen. Doch allein zu defensiven Zwecken, oder nicht doch vielleicht auch zu offensiven? Auch für Stalin war die entscheidende Qualität bei einem Krieg nicht, ob er Angriffs- oder Verteidigungscharakter hatte, sondern dessen „Klassencharakter“. Stalin lebte als Paranoiker noch dazu in einer quasi-apokalyptischen Welt, in der mit Krieg, Gewalt, Heimtücke und Verrat ständig zu rechnen ist (insofern das ja auch alles von einem selbst ausgeht). Zeit seines Lebens ging er davon aus, dass es zu Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten, oder der imperialistischen Mächte gegen die Sowjetunion kommen würde. An eine Welt der friedlichen Koexistenz glaubte er nicht. Sollte es auch zu Kriegen der imperialistischen Mächte untereinander kommen, würde sich die Frage stellen, wie sich die Sowjetunion dazu verhalten sollte. Stalin hoffte dabei, dass sich die imperialistischen Mächte gegenseitig schwächen würden, so dass sich die Sowjetunion dann aus einer Position der relativen Stärke in ihrem eigenen Interesse in das Gemengelage einmischen konnte – eventuell durch Kriegseintritt: Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können – wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte… (Vgl. Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) Diese Idee formulierte Stalin schon in den 1920er Jahren. Inwieweit war sie auch das eigentliche Kalkül hinter dem Hitler-Stalin-Pakt? Hatte Stalin gehofft, die Sowjetunion zunächst aus einem Krieg heraushalten zu können, in dem sich die imperialistischen Mächte Europas gegenseitig schwächten – um dann „das entscheidende Gewicht in die Waagschale“ zu werfen, also Deutschland anzugreifen? Wäre somit der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zwar kein präventiver Krieg gewesen, aber ein präemptiver? Stalins eigentümlich halsstarrige und aggressive Weigerung, die Vorzeichen und Warnungen vor dem deutschen Einmarsch richtig zu interpretieren, könnte so erklärt werden (allerdings auch anders). Stalins narzisstische Psychologie hätte ihm dann auch ein Bein gestellt, insofern er wohl sehr stolz darauf war, alle ausgetrickst zu haben und sich von keinem austricksen lassen zu würden. Die Warnungen vor dem deutschen Einmarsch kamen auch aus England, das mit Deutschland im verzweifelten Krieg war. Stalin nahm eventuell an, dass England mit diesen Warnungen versuchen würde, die Sowjetunion in einen Krieg mit Deutschland zu treiben, um seine eigene Front zu entlasten. Aber er würde auf diesen Trick nicht hereinfallen – sondern darauf warten, bis sich das imperialistische Westeuropa geschwächt hätte – um dann was zu tun? Eine Frage der Geschichte, die sich nicht mehr beantworten lässt, da die Geschichte ihren eigenen Verlauf genommen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Stalin naturgemäß in der Erwartung eines dritten. In dem Sinn ermunterte er das kommunistische Nordkorea, in Südkorea einzufallen. Nicht nur, um das Territorium der kommunistischen Welt zu erweitern, sondern um die Amerikaner hineinverwickeln zu können, um sie so, wie er glaubte, eine Weile von der Sowjetunion selbst ablenken zu können. Als stellvertretende Macht zog er vor allem das junge Rotchina in den Krieg hinein. Dem kamen tatsächlich Bedenken, es könnte zu einem Dritten Weltkrieg kommen. Stalin antwortete (ob es ein Bluff war oder nicht, weiß man nicht), dass er mit dieser Möglichkeit tatsächlich rechnete; sollte es dazu kommen, käme es, inmitten der aktuellen Kräfteverhältnisse für die kommunistische Welt, für diese zumindest zu einem guten Zeitpunkt (Mao sollte später ähnlich denken, und abseits von seiner irritierenden und unklaren „Die Atombombe ist ein Papiertiger“-Rhetorik konkrete Provokationen gegen die USA setzen, die eventuell in einen Atomkrieg eskaliert wären – wie von ihm als Option vorbehalten). Der Koreakrieg war so blutig, dass alle Beteiligten bereits 1951 sein Ende verhandeln wollten. Nur Stalin nicht, der die Amerikaner weiter in Schach damit halten wollte. So kam es erst nach Stalins Tod zum Ende des Krieges. Chruschtschow leitete zwar eine Politik der „friedlichen Koexistenz“ ein, dennoch kam es während seiner Amtszeit zur Kubakrise. Mit solchen Krisen ist aber inmitten eines so kritischen Verhältnisses zweier sich feindlich gegenüberstehender Supermächte immer wieder zu rechnen. Auch Anfang der 1980er Jahre kam es wieder zu einer gefährlichen Zuspitzung, deren Eskalation auf einen Atomkrieg hinausgelaufen wäre. Bis zum Ende der Sowjetunion kam es im Verhältnis mit den USA zu wechselnden Phasen der Entspannung und der Zuspitzung, der Aufrüstung und der Abrüstung. Die meisten Strategen (und auch wir damals noch als Kinder in den 1980er Jahren) waren davon ausgegangen, dass inmitten dieses Gemengelages es früher oder später, irgendwann einmal, zu einem tatsächlichen Dritten Weltkrieg, einem Nuklearkrieg kommen würde. Vielleicht war das immer zu übertrieben gedacht, da die Atombombe ein zu schreckliches Mittel ist, um tatsächlich eingesetzt zu werden (vielleicht war sie sogar deshalb auch ein Garant für den Frieden). Vielleicht haben wir aber auch nur Glück gehabt. Einstweilen.

Mit der Ära Breschnew spätestens endet die „heroische“ Ära der Sowjetunion. Der Sowjetstaat und die Sowjetgesellschaft wurden als konsolidiert erachtet, und vor Experimenten sowohl in Richtung mehr Diktatur oder mehr in Richtung Liberalismus (wie unter Chruschtschow) wollte man Abstand nehmen. Allein schon der Zustand der ökonomischen „Basis“ der Gesellschaft, der Sowjetwirtschaft, zeigte, dass der Spielraum für Reformen an und für sich gering wahr (wenn man nicht das ganze System aus den Fugen geraten lassen wollte), und so setze man auch auf Konservatismus im Hinblick auf den gesellschaftlichen „Überbau“. Diejenigen, die die Sowjetunion erlebt haben, erinnern sich jedoch immer wieder positiv, wenn nicht nostalgisch, an die Breschnewzeit. Zumindest in den urbanen Zentren wurde ein gewisses Level des Wohlstands erreicht, der auch eine stabile Grundlage zu haben schien (tatsächlich wäre die Sowjetunion in den 1970er Jahren wohl Bankrott gegangen, wenn ihr nicht die Ölpreisschocks zu unerwartetem neuem Reichtum verholfen hätten). Über die kleinen Wohnungen beispielsweise der allermeisten Sowjetbürger mag man sich aus westlicher Sicht erstaunen. Doch bis weit in die Stalinzeit hinein hatten viele Sowjetbürger in einer überbelegten Gemeinschaftswohnung mit dementsprechend begrenzter Privatsphäre – einer sogenannten Kommunalka – gewohnt (anders wusste sich die Sowjetregierung auch nicht zu helfen: Die Landflucht in dieser Zeit war die größte, die die Menschheit jemals gesehen hatten; in den von Menschen überquellenden Städten konnte so rasch nicht genug Wohnraum geschaffen werden). Güter und Kulturgüter (wie Rock- und Popmusik) aus dem Westen drangen auch in die Sowjetunion vor und wurden schick. In eigenen Geschäften für die Nomenklatura gab es, zumindest unter dem Tisch und zu horrenden Preisen, alles zu haben. Dementsprechend informell verlief auch der Zugang zu diesen Gütern. Entgegen der Ideale des Kommunismus war die sowjetische Gesellschaft eine durchaus stratifizierte Gesellschaft. Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler, Funktionäre oder Ärzte hatten auch untereinander, je nach ihrer Funktion, einen zugewiesenen Status, aus dem sich auch der Zugang zu Privilegien oder eben bestimmten Gütern ergab. Das wiederum führte zu einer informellen Tauschgesellschaft, in der auch Beziehungen eine große Rolle spielten. Wenn man so will, brachte diese informelle Tauschgesellschaft auch die Sowjetmenschen einander näher, die so ein gewisses Maß an Zufriedenheit erreichten. Breschnew war ursprünglich ein wahres Arbeitstier gewesen. Alter und Krankheit forderten schließlich ihren Tribut und so schwelgte Breschnew mit der Zeit eher in Selbstherrlichkeit und – recht unkommunistisch – in einer Liebe für das luxuriöse Leben. Ansonsten gingen von ihm nunmehr wenig Initiativen aus. Weniger aufgrund des totalitären Charakters des Sowjetregimes, sondern aus Gründen der Eitelkeit wollte auch Breschnew im Leben und im Bewusstsein der Sowjetbürger stets präsent sein und nutzte jede Gelegenheit, um sich öffentlich oder im Fernsehen zu präsentieren. Nicht zuletzt aufgrund dieser menschlichen Schwächen war Breschnew bei der Sowjetbevölkerung aber auch relativ beliebt, die mit gutmütigen Witzen über seine Skurrilitäten eine liebevoll-ironische Sicht auf ihn pflegte. Dennoch blieb es gefährlich, sich mit der Sowjetmacht anzulegen. Der Spielraum für nonkonformistisches Verhalten blieb begrenzt, und tatsächliche oder vermeintliche Dissidenten wurden zwar nicht mehr liquidiert, aber es wurden ihnen praktisch die Lebensgrundlagen entzogen. Die sowjetischen Zensoren hatten wenig Toleranz für Individualismus (wahrscheinlich auch ein Ressentiment dagegen, da sie ihn ja selbst nicht ausleben durften), darunter hatten nicht zuletzt viele sowjetische Kulturschaffende zu leiden, denen gegenüber sich der Sowjetstaat nach wie vor teilweise beinahe idiotisch brutal verhielt. Normale Sowjetbürger mussten um ihren Arbeitsplatz besorgt sein, wenn sie zu sehr aus der Reihe tanzten. Da Menschen in der Regel aber auch nicht aus der Reihe tanzen, gab es in der Sowjetunion (und das nicht nur zu der Zeit) Raum für ein relativ amikales Verhältnis zwischen den Funktionären des Sowjetstaates und seinen Bürgern. Selbst in Fernsehserien wurden Sowjetfunktionäre, Betriebsführer oder Polizisten als beengte, überforderte, aber gutmütige Figuren karikiert. Das war freilich ein systemimmanenter Humor (der für die Träger des Systems auch die entgegenkommende Funktion hat, die Grenzen des Systems offener erscheinen zu lassen, als sie sind, und die Toleranz für das System zu erhöhen). Aber auch dazu, dass es systemimmanenten Humor zulässt, kommt ein System nicht von selber (der Gründer der Sowjetunion, Lenin, hatte praktisch keinen Humor, Stalin hatte einen zynischen und brutalen). In den 1970er Jahren erfolgte auch außenpolitisch eine Phase der Entspannung, der Détente. Zur selben Zeit profitierte die Sowjetunion von den Ölpreisschocks, die enorme Einnahmen auch in ihre Kassen sprudeln ließen. Auch die kommunistischen Satellitenländer des Ostblocks schienen davon zu profitieren, indem sie von westlichen Banken mit billig scheinenden Krediten überhäuft wurden. Die OPEC-Länder legten ihre riesigen Einkünfte bei westlichen, vor allem amerikanischen Banken an (was angeblich auch der Deal war, dass die westliche Welt die Ölpreiserhöhungen überhaupt erlaubt hat), so dass diese nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchten. Daher vergaben sie Kredite an Entwicklungsländer, auch solche in der kommunistischen Welt, die, im Gegensatz zunächst zur ressourcenreichen Sowjetunion, sich darauf angewiesen sahen, um die auch bei ihnen unproduktive Wirtschaft am Laufen zu halten und den eigenen Bürgerinnen und Bürgern einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Diese glückliche Kombination fand jedoch Anfang der 1980er Jahre ein Ende, als die USA zur Bekämpfung ihrer Inflation eine Zinswende einleiteten, mit der sie die ganze Welt in Mitleidenschaft zogen. Länder – auch solche des Ostblocks oder Jugoslawien – die die Kredite aufgrund der gestiegenen Kosten nicht mehr bedienen konnten, kamen unter die Fuchtel des IWF, sowieso keinem Befürworter sozialistischer Wirtschaftspraktiken, sondern vielmehr dessen Zerstörer. Breschnew starb 1982. Die massive Überalterung der politischen Führungsschicht, deren Gerontokratie, kam auch darin zum Ausdruck, dass Breschnews Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, jeweils nach nur wenig mehr als einem Jahr im Amt verstarben. Anzeichen für eine Liberalisierung des Systems gab es unter ihnen keine. Vielmehr gab es eher Bemühungen, das Andenken an die Stalinzeit wieder zu reaktivieren (so wie es freilich, gegenüber der Chruschtschow-Ära, schon unter Breschnew stattgefunden hatte). Der herrschende Zirkel der KPdSU suchte sein Glück nun in einem deutlich jüngeren und charismatischen Generalsekretär an der Spitze.

Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion zu seiner Zeit ein „Obervolta mit Atomraketen“ (ironischerweise sollte 1983 auch in Obervolta ein echter Revolutionär an die Macht kommen (der es dann in Burkina Faso umbenennen ließ: „aufrechter Mann“): Thomas Sankara, dessen Geschichte ebenso glorreich wie tragisch war). Damit war gemeint, dass die Sowjetunion zwar nach wie vor eine militärische (und militärtechnologische) Supermacht war, in allen anderen Bereichen der Produktion und der Distribution aber weit hinter die entwickelten kapitalistischen Länder zurückgefallen. Dabei war das nicht immer so gewesen. Chruschtschows Losung vom „Aufholen und Überholen“ gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern schien damals durch die Zahlen unterstützt zu werden. In der Stalinzeit war die Sowjetwirtschaft stark gewachsen, aufgrund der Industrialisierung, des Wohnungsbaus, des massiven Ausbaus der Infrastruktur und der Rüstungswirtschaft, durch die Kollektivierung wurde auch die Landwirtschaft industrialisiert. Das Wachstum war jedoch nicht nur extensiv, sondern auch intensiv. Auch bei den Produktivitätszuwächsen erzielte die Sowjetunion höhere Raten als die entwickelten kapitalistischen Länder. Das galt zunächst auch für die Länder des kommunistischen Osteuropa. Dann jedoch geriet der eigentlich entscheidende Indikator für den wirtschaftlichen Fortschritt, das Produktivitätswachstum, ins Stocken. Auf Produktivität und Effizienz war die Sowjetwirtschaft aber auch nie primär angelegt gewesen – sondern auf die zentrale Entscheidungsgewalt des Staates über die Wirtschaft und über die Verwendung der Ressourcen (auch wenn das so nicht stimmt. Die Kampagne rund um den „Neuen Menschen“ in den 1920er Jahren hatte auch die Stoßrichtung, einen effizienten sowjetischen Arbeiter heranzuzüchten, und nicht nur die Großindustrie in den USA, sondern auch die sowjetischen Wirtschaftsplaner interessierten sich sehr für den Taylorismus: die Wissenschaft, die darauf abzielte, „Humankapital“ möglichst produktiv einzusetzen). Die Zentralisierung der Wirtschaft, die Auflösung der Arbeiterräte und Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei waren ursprünglich als ungeliebte Methoden des Kriegskommunismus gedacht gewesen, und selbst der gnadenlose Felix Dserschinksi (der erste Geheimpolizeichef der Sowjetunion) sollte in ihnen nachher „ein höchst schädliches Überbleibsel“ aus dieser Zeit sehen. Dennoch wurde die Sowjetwirtschaft diesen Charakter nie mehr los. Wir wollen alle Dezentralisierung, aber in der Praxis zieht irgendein Magnet alles zur Zentrale … gegen unser aller Willen, klagte ein sowjetischer Funktionär in den späten 1920er Jahren (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.21). Dieser zentrale Magnet war jedoch die als Fabrik (und auch militärmäßig) organisierte Sowjetwirtschaft und -gesellschaft. Der Kommunismus zielt auf die Befreiung der arbeitenden Menschen ab. Im Verständnis des Marxismus besteht das Leidwesen der Arbeiter im Kapitalismus darin, dass sie ihre Arbeitskraft wie eine Ware veräußern müssten. Deswegen schafften die Sowjets den Warencharakter des Arbeitskrafteinsatzes, der zu einem bestimmten Marktpreis veräußert wird, ab. Wenn dieses Motiv wegfällt, was bleibt dann aber als Grund, warum Menschen ihre (oftmals ungeliebte) Arbeit verrichten sollten (diese Frage behandelt der traditionelle Marxismus nicht ernsthaft, sondern hauptsächlich in der Form von utopischen Ausflüchten)? Bleibt nur mehr der Zwang. Und wenn weder Arbeiter noch Kapitalisten die Wirtschaft zum Zwecke des Gesamtwohls organisieren könnten, bleibt nur mehr der Staat. Der Sowjetstaat schaffte auch den Warencharakter der von ihm produzierten Produkte ab. Angebot und Nachfrage wurde also nicht mehr („anarchistisch“) über den Markt und den Marktpreis geregelt, sondern über den Plan. Zu den Absonderlichkeiten der sowjetischen Planwirtschaft zählte, dass das Plansoll von den Betrieben nur die Produktion einer bestimmten Menge (oder den Verbrauch einer bestimmten Menge an Ressourcen) regelte, aber nicht, wie effizient die Produkte produziert wurden oder ob die Produkte (z.B. als Zwischenprodukte an andere Betriebe) auch ausgeliefert oder konsumiert wurden. Marx und Engels hegten eine Verachtung für den Handel, und ihnen zufolge wird in der  Zirkulationssphäre kein eigentlicher „Wert“ geschaffen. Außerdem betrachtet der traditionelle Marxismus die arbeitenden Menschen immer nur als Produzenten und praktisch nie als Konsumenten. Trotzdem erscheint es unglaublich, dass die sowjetischen Wirtschaftsplaner so zentrale Aspekte kaum beachtet haben. Weil es keine Anreize gab, die Produkte in Zirkulation zu bringen und sie ihrem eigentlichen Zweck zuzuführen, kam es zur Mangelwirtschaft in der bekannten Form. Betriebe bekamen ihre nötigen Ressourcen oder Vorprodukte nicht, was dazu führte, dass sie diese, wenn sie dann doch verfügbar waren, horteten und dadurch den Mangel wiederum verschärften. Es kam zu einem umfassenden Tauschsystem. Auf informellen Wegen halfen sich die Betriebe ad hoc untereinander mit Ressourcen über Tauschgeschäfte aus, und auf der Ebene des Endverbrauchs dominierte der Schwarzmarkt: Das System der Planwirtschaft funktionierte in der Praxis über Märkte – allerdings über (weniger effiziente und transparente) Schwarzmärkte. Bis in die 1960er Jahre wurde die Planerfüllung zudem allein an der produzierten Menge gemessen, und nicht an der Qualität der Produkte. Neue Reformen sahen dann vor, dass die Betriebe auch profitabel zu wirtschaften hätten. Da es aber keine Marktpreise gab, sagte ein betriebliches Bilanzergebnis nichts über die eigentliche Rentabilität aus. Die Reformer suchten ihr Heil darin, dass sie ihr Plansystem fortwährend differenzierten und neue Kontrollziffern zur Planerfüllung einführten. Der erhoffte Gewinn an Rationalität und Praktikabilität wurde jedoch dadurch zunichte gemacht, indem das System vor lauter Planziffern vollkommen unübersichtlich wurde. Bis zuletzt hatten die klugen und gut ausgebildeten sowjetischen Wirtschaftsplaner das Prinzip von Angebot und Nachfrage, das über den Preis geregelt wird, tatsächlich nicht begriffen, es lag für sie außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten. Für die arbeitenden Menschen wurden zwar schon früh individuelle Leistungsanreize geschaffen. Diese waren nicht nur ideell (heldenhafter „Stachanow-Arbeiter“), sondern auch mit Privilegien verbunden, damit auch mit dem Zugang zu bestimmten Gütern und Ressourcen. Wie schon erwähnt, herrschte in der Sowjetunion diesbezüglich eine recht differenzierte Sozialstruktur. Allerdings fehlten die eindeutigen materiellen Anreize zur Mehrarbeit, zur Planübererfüllung, und auch die eigenen Produkte wurden als nicht attraktiv erachtet und daher wenig gekauft. Gute individuelle wirtschaftliche Leistungen wurden in der Sowjetunion nicht wirklich belohnt, schlechte Leistungen wurden nicht bestraft. Nicht nur individuelle Leistungsanreize wurden so auf Dauer erstickt, in dem strikten Top-Down-System verflüchtigte sich auch die Kreativität und damit die Innovationskraft der Sowjetwirtschaft auf allen Ebenen. Auf der Makroebene hat die Sowjetunion ursprünglich eine welthistorische Leistung bei der Industrialisierung erbracht (was jedoch keine eigentliche innovative Leistung war, da sie das Industriesystem von den fortgeschrittenen Ländern nur übernehmen musste). Den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, zur Informationsgesellschaft und zur „kreativen“ postindustriellen Gesellschaft hat sie jedoch nicht bewerkstelligt. Wahrscheinlich auch nicht angedacht, da das außerhalb der traditionellen marxistischen Industrialisierungsheilslehre gelegen ist. In ganz praktischem Sinne hätte eine derartige wirtschaftliche Transformation auch die Freisetzung von Arbeitskräften bedeutet (und einen Form- und Substanzverlust beim heroischen Trägersubjekt der Sowjetunion, dem traditionellen Industriearbeiter), dagegen wehrten sich die sowjetischen Gewerkschaften. Auf eine moderne Konsumgesellschaft hatten es die Sowjetplaner sowieso nicht abgesehen (zumindest als sie mit den Schwierigkeiten konfrontiert wurden, im Rahmen ihres Systems eine solche zu schaffen). Sie hielten an ihrem Bild vom Sowjetbürger als besserem sozialistischen Menschen fest, was in der Praxis bedeutet: ein idealistisch motiviertes Arbeitstier, das genügsam und bedürfnislos war. Versorgungsschwierigkeiten kamen immer wieder aus der Landwirtschaft. Gleichsam als Rache für die brutale Kollektivierung blieb die sowjetische Landwirtschaft ein chronisch ineffizientes System. Man hatte den Bauern eine Wirtschafts- und Lebensweise aufoktroyiert, die sie nicht wollten und in der sie sich nie wirklich zurechtfinden sollten (und in der es auch keine individuellen Leistungsanreize gab). Allgemein zeigte sich, wie zerstörerisch die Kollektivierung und die Industrialisierung, die ganze Sowjetisierung der Gesellschaft gewesen war. Aufgrund ihrer Brutalität und ihrer rasenden Geschwindigkeit führten sie nicht nur zu Fortschritt, sondern auch zu einem umfassenden Regress. Umfassendes, jahrhundertealtes und organisch gewachsenes traditionelles Wissen und dessen Verkörperung in Sozialstrukturen, die zerstört wurden, wurde vernichtet. Die Gesellschaft wurde nicht komplexer, sondern einfacher. Der Kommunismus brachte in erheblichem Maße keine Bereicherung in die Gesellschaft, sondern auch ein erhebliches Maß an Verarmung und Entdifferenzierung. Von enttäuschten linken Kritikern wurde das Sowjetsystem aber nicht als kommunistisch erachtet, sondern als eines des „Staatskapitalismus“. Diesbezüglich gibt es aber zunächst einmal zu viele Unterschiede zwischen einem kapitalistischen System und dem Sowjetsystem. Wenn man als „Kapitalisten“ aber jemand sieht, der andere zum Zwecke seiner eigenen Bereicherung arbeiten lässt, und der Arbeitsprozesse den Arbeitenden aufoktroyiert, anstatt sie diese selber gestalten lässt, dann ergeben sich Analogien. Auch in der Sowjetunion wurde den arbeitenden Menschen nachweislich Mehrwert abgepresst, und sie wurden vom Staat ausgebeutet. Vor allem soll das in noch viel stärkerem Maße der Fall gewesen sein als in kapitalistischen Ländern. Es lassen sich Berechnungen anstellen, wonach, bei einem hypothetisch angenommenen Mehrprodukt von 100 in den USA, das Mehrprodukt der Sowjetunion bei 164 gelegen wäre; die sowjetischen Arbeitenden hätten also 1,64 mal soviel Mehrprodukt geschaffen wie ihre US-amerikanischen Konterparts (Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.92-96). Zwar ließe sich einwenden: dieses Mehrprodukt haben die sowjetischen Arbeitenden für das Gemeinwesen, für den Staat, und daher auch für sich selbst geschaffen (was sie allerdings auch im Kapitalismus nicht unwesentlich tun). Rein marxistisch ist aber jede Abpressung eines Mehrprodukts durch irgendwen anderen Ausbeutung. Was aber tat der Sowjetstaat erheblich mit diesem Mehrprodukt? Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion ein „Obervolta mit Atomraketen“. Tatsächlich war es der Rüstungssektor und der militärtechnologische Sektor, der in der UdSSR unverändert stark geblieben war. Auf diesem Gebiet blieben die Sowjets konkurrenzfähig – allerdings nicht unbedingt innovativ, wie in den USA, wo Innovationen im Rahmen der Militärtechnologie viel weitere Kreise zogen und in die zivile Wirtschaft Eingang fanden, diese schließlich revolutionierten. In der Sowjetunion blieben solche Spillover-Effekte aus. Der Rüstungssektor war ein Teil der Produktionsgüterindustrie. Schon unter Lenin wurde der Ausbau der Produktionsgüterindustrie gegenüber der Konsumtionsgüterindustrie forciert worden. Auch das wurde damals als zeitweiliges Erfordernis angesehen. Doch auch dieses Ungleichgewicht wurde die Sowjetwirtschaft nie mehr los. Was wohl auch daran lag, dass das Zentrum der politischen Kontrolle der Sowjets über die Volkswirtschaft in der Produktionsgüterindustrie gelegen ist, der daher Schwerkraft genug hatte, um alle Ressourcen immer wieder vorwiegend auf sich zu ziehen. Schließlich waren die Produktionsgüterindustrie und der Rüstungssektor auch die Sektoren des sowjetischen Prestiges. Mit ihren teuren Militärparaden und den vielfältigen Zurschaustellungen ihrer imperialen Macht konnte sich die Sowjetunion selbst beweihräuchern. Mit ihrem Bedürfnis, sich selbst zu glorifizieren stellen kommunistische Regime auch den allfällig ausgeprägten Patriotismus in kapitalistischen Ländern wie den USA oder Frankreich deutlich in den Schatten. Für diese kostspielige Selbstglorifizierung haben die arbeitenden Menschen der Sowjetunion nicht zuletzt ihr Mehrprodukt an den Staat abgegeben.

Auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre soll es ein kleines Segment von gebildeten Sowjetbürgern gewesen sein, die einem liberalen Reformkurs positiv gegenüberstanden. Die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung hatte zwar alle möglichen Anliegen, war jedoch grundsätzlich konservativ. Auch Michail Gorbatschow hatte es ursprünglich nicht darauf abgesehen, die Sowjetunion grundlegend zu reformieren. Verschiedene Entwicklungen schienen das Sowjetsystem aber in eine entsprechende Richtung zu treiben. Im kommunistischen Osteuropa war es immer wieder zu antisowjetischen Erhebungen gekommen: 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und um die Wende der 1980er Jahre in Polen. Die Sowjetunion hatte letztendlich auch keine anderen Optionen gehabt, als diese Erhebungen gewaltsam niederzuschlagen, und in den jeweiligen Ländern die Diktatur zu verschärfen, wollte sie nicht riskieren, dass das ganze osteuropäische Imperium tatsächlich aus den Fugen geraten könnte. Der Fall Polen jedoch hatte zumindest einige ranghohe Funktionäre nachdenklich gemacht, inwieweit ein solches auf reiner Repression und eisernen Vorhängen beruhendes System eine große Zukunft haben könnte. 1986 kam es zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die die Sowjetregierung zunächst vertuschen und herunterspielen wollte und bei der sie zu langsam mit Hilfsmaßnahmen in die Situation eingriff. Die gefährliche Intransparenz und die Vertuschungskultur innerhalb des Sowjetsystems und seiner Parteidiktatur wurde entblößt und ins Scheinwerferlicht gerückt. Über die 1980er Jahre hinweg führte die Sowjetunion einen Krieg gegen Afghanistan, den sie dann auch noch verlor. Auch die Spirale des Rüstungswettlaufs, an der die US-Regierung diesbezüglich gezielt drehte, verursachte für die Sowjetunion kaum mehr noch tragbare Kosten. Allerdings war der US-Präsident Reagan kein reiner antikommunistischer Aufrüstungspolitiker gewesen. In seiner zweiten Amtszeit wurde vielmehr eine Abrüstung eingeleitet, und Gorbatschow und Reagan näherten sich einander an. Reagan wollte Gorbatschow von Reformen überzeugen und Gorbatschow dazu veranlassen, das Sowjetsystem zu liberalisieren (oder, schließlich, es überhaupt aufzugeben). Reagan selbst stand ja für einen (neoliberalen) Reformkurs, der, nach anfänglichen Härten, für Aufschwung, frischen Wind und ein Klima des Optimismus zu sorgen schien. Auf wirtschaftlichem Gebiet mussten die Sowjets einsehen, dass sie den Anschluss an die entwickelte kapitalistische Welt und deren neuartige Technologien verpasst hatten, und dass es offensichtlich das Sowjetsystem selber war, das sich daran hinderte, diesbezüglich aufzuholen. Moralische Skrupel kamen etlichen Sowjetfunktionären wohl auch, die die weitgehend unmoralische Kultur in der sowjetischen Führung, die dann auf die ganze Gesellschaft ausstrahlte, durchschauten und sie überwinden wollten. Der Geist des Marxismus und des Kommunismus ist insgesamt einer der Aufklärung und des ständigen Fortschritts, aber die Sowjetunion musste sich eingestehen, dass sie hinsichtlich dieser Prinzipien keine Leuchtfackel auf der Weltbühne mehr war. Tatsächlich blieb auch ein erheblicher Teil der Parteifunktionäre, bis in Führungskreise hinauf, konservativ oder wollte vielmehr noch das Rad der Zeit zurückdrehen. Aber Gorbatschow und sein Zirkel gravitierten aus all diesen guten Gründen eben in eine andere Richtung. Eine Politik der Perestroika (Reform) und der Glasnost (Transparenz) wurde in die Wege geleitet. Das Klima wurde im ganzen Sowjetimperium Ende der 1980er Jahre deutlich freier. Das allerdings führte dazu, dass nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den kommunistischen Ländern Osteuropas starker Unmut artikuliert wurde, den man in seiner Großflächigkeit nicht mehr eindämmen konnte. Der Politik der Glasnost war keine Politik der Perestroika, der wirtschaftlichen und politischen Reformen, vorausgegangen (China sollte den umgekehrten Weg gehen, und zuerst wirtschaftliche Reformen einleiten, um sich erst graduell politisch zu öffnen, was es bis heute weit weniger radikal tut). Und peinlicherweise kam es in den späteren 1980er Jahren abermals zu einer Versorgungskrise bei den Lebensmitteln. Die Sowjetbürger mussten sich einmal mehr stundenlang für Brot anstellen, und bekamen eventuell auch dann keines. Die stolze Industriemacht Sowjetunion hatte nach so vielen Jahrzehnten die Wirtschaft an der landwirtschaftlichen Basis, bei der Lebensmittelversorgung, noch immer nicht in den Griff bekommen. Das schien ihre Legitimität geradezu insgesamt in Frage zu stellen. Praktisch niemand, auch nicht von den westlichen Experten und Planern in den innersten Abteilungen des Pentagon, hatte einen Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesehen (mit der Ausnahme von Zbigniew Brzezinski, der eine solche Möglichkeit allerdings auch erst 1988 einräumte). Aber 1989 kam es in Deutschland zum Fall des großen Symbols für den Eisernen Vorhang, der Berliner Mauer. Der kommunistische Ostblock löste sich politisch auf. Und so verflüchtigte sich praktisch auch die Sowjetunion, nicht durch eine Revolution, sondern indem sie de facto implodierte. Die Macht war den Sowjetführern einfach entglitten. Nicht der Kapitalismus war, wie von Marx prophezeit, an seinen „inneren Widersprüchen“ zusammengebrochen, sondern der Kommunismus sowjetischer Prägung. Dennoch war da aber zunächst noch die Sowjetunion, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Aus dieser Union scherte jedoch der „kleine russische Bruder“, die Ukraine, aus, gefolgt von den baltischen Ländern. Sie wollten nicht mehr Teil eines erweiterten russischen Imperiums sein, sondern unabhängig. Der Schock darauf bei den großen russischen Brüdern war groß (mit den traumatischen Folgen bis heute). Vor allem die zentralasiatischen Sowjetrepubliken wären bei dem Gebilde aber gerne dabeigeblieben. Doch es war dann die Führung in Moskau selbst, die die Sowjetunion auflöste, und alle Sowjetrepubliken in die Unabhängigkeit entließ (weil sie sich ein solches Imperium – ohne die Ukraine – auch nicht mehr leisten konnte). Am 26. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion, die fast ein ganzes Jahrhundert in Atem gehalten und es so wesentlich mitbestimmt hatte, auf zu existieren.

Diese vollkommen unvereinbaren ideologischen Referenzen, die reinen Zitat- und Signalcharakter tragen, eröffnen vielleicht einen neuen, klareren Blick auf das, was der Kommunismus des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich gewesen ist und bedeutet hat … War das übergeordnete Ziel der Kommunisten überhaupt „der Kommunismus“ im Sinne einer schönen, unangreifbaren Marx´schen Vorstellung einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ wäre? Oder war die „kommunistische“, sprich: die kollektivistische, staatliche Zusammenfassung aller menschlichen und materiellen Ressourcen in den Händen einer angeblich wissenschaftlich erleuchteten, diktatorisch herrschenden Partei und Machtelite nicht eher nur ein Mittel zu anderen, viel handgreiflicheren sozialen, nationalen und imperialen Zielsetzungen, die diesen Parteien und Staaten auch den entscheidenden Teil ihrer historischen Binde- und Durchschlagskraft geliefert haben? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. (Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München, C.H.Beck 2017 S.1006) Nun ja, eine Frage, die sich stellt, ist vielleicht ein entscheidender Hinweis auf etwas, aber inkludiert noch nicht ihre eigene Beantwortung (der der Autor, so gesehen, damit dann ja ebenfalls ausweicht). War der sowjetische Kommunismus (primär ) ein Projekt der „Befreiung“ des Menschen, oder, in der Praxis, die selbstgenügsame Entfaltung eines alternativen Machtprinzips, in durchaus auch imperialistischer Absicht? War er überhaupt primär nur eine Methode zur Entwicklung des eigenen Landes (zumindest die asiatischen Kommunisten, von Mao Zedong über Ho Chi Minh bis zu Pol Pot, waren wesentlich, wenn nicht sogar in erster Linie daran interessiert, ihr eigenes darniederliegendes Land zu modernisieren und es renaissancehaft zu „alter Größe“ zurückzuführen: der Kommunismus erschien ihnen als brauchbarstes Mittel dazu). Oder war er (offensichtlich) all das gleichzeitig, beziehungsweise versuchte er all das gleichzeitig zu sein und kam sich dadurch erheblich selbst die Quere (bzw. führte sich selbst dadurch zunächst einmal zum Erfolg)? Beantworten können diese Frage in letzter Instanz nur diese dafür verantwortlichen Kommunisten selbst – oder auch nicht, denn es kann ja sein, dass sie hinsichtlich des Charakters ihres eigenen Systems und ihres eigenen Tuns einer Selbsttäuschung unterliegen – die sich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft des Sozialismus immer wieder perpetuiert? Auf den erregten Einwand einer Linksextremen (Ende der 1980er Jahre), warum er Lenin mit Stalin praktisch gleichsetze, wo doch die Perversion des Sowjetsystems auf Stalin zurückgehe, reagiert Noam Chomsky (in diesbezüglich einfach nur bemerkens- und bewundernswerter Weise) aus dem Stand mit einer langen, elaborierten und durchstrukturierten Antwort, wonach bereits Lenin ein „Rechtsabweichler“ gegenüber dem ursprünglichen sozialistischen Gedankengut gewesen sei: mit seiner Idee, die „Diktatur des Proletariats“ müsste praktisch von einer Partei errichtet werden, und nicht über die „Selbstorganisation“ des Proletariats selbst. Lenin habe genau diese Selbstorganisation der Gesellschaft überall ausgeschaltet und die ganze Gesellschaft dem Staat und der Partei untergeordnet. Der Stalinismus sei nur eine Fortsetzung dieser Politik gewesen. Dabei geht aber auch Chomsky, ein sozialistischer Anarchist, davon aus, dass es einen „ursprünglich reinen“ Sozialismus geben könne: der in der Selbstorganisation sozialer Einheiten liege, die ein solches Level an Kompetenz und Stringenz erreiche, dass keine dazu heteronom sich verhaltenden herrschenden und herrschaftlichen Instanzen mehr nötig seien. Das hat man in der („bürgerlichen“) Demokratie zwar, aber auch eine Demokratie schließt nicht aus, dass einige Mitglieder wesentlich mächtiger oder einflussreicher sind als andere. Der Sozialismus will auch diese Möglichkeit abschaffen (indem er dann allerdings auch die Möglichkeit, unbegrenzt Eigentum anzuhäufen – und anderes mehr – abschaffen müsste, was dann aber wiederum nicht demokratisch wäre). Immer wieder schwärmt der Sozialismus vom Vorbild einer „Kommune“ als Form der Selbstorganisation sozialer Einheiten. Zwar sind solche Kommunen bzw. solche Formen der sozialen Organisation nicht notwendigerweise instabil oder ohne größere Zukunft. Aber sie zerfallen immer wieder oder verändern sich im Lauf der Zeit bis zur Unkenntlichkeit. Vor allem aber auch: wie regeln diese Kommunen und selbstverwalteten sozialen Einheiten ihre mannigfachen Verhältnisse zueinander und untereinander? Ist das Konfliktpotenzial oder das zur Desorganisiertheit nicht möglicherweise höher, als wenn es stattdessen eine übergeordnete Instanz gäbe? Das Problem der ursprünglich selbstverwalteten Betriebe in der ganz frühen Sowjetunion war, dass sie nicht aufeinander akkordiert produzierten (und bis ans Ende und bis heute müssen auch kommunistische Regimes feststellen, dass nicht nur kapitalistische Betriebe egoistisch sind und auf Eigennutzmaximierung ausgerichtet, sondern dass es auch staatliche Unternehmen und Behörden sind). Märkte und Marktpreise hätten diese Akkordierung geregelt, aber das wollten die Bolschewiki aus ideologischen Gründen nicht, und so unterstellten sie die gesamte Wirtschaft unter staatliche Aufsicht und Planung. Allerdings eben nicht allein deswegen, sondern auch aus Gründen der Staatsräson. Der Staat, und zwar egal, wer ihn anführt, hat naturgemäß seine eigenen Logiken und Interessen und bringt Notwendigkeiten mit sich, die nicht mit denen aller seiner Bürger deckungsgleich sein müssen. Deswegen (allerdings meistens aus einer viel verengteren Perspektive heraus) wollen Anarchisten als auch Sozialisten/Kommunisten den Staat „abschaffen“: die einen unmittelbar und sofort, die anderen in einer (beliebig) längerfristigen Perspektive und als Endziel. Dann erst könne der Mensch, das Individuum, wirklich frei sein. Diese Vision übersieht, dass da neben dem Individuum aber eben immer noch die Gesellschaft ist, die sich auf verschiedenen Levels organisieren wird und sich über verschiedene, unter anderem auch untereinander konfligierende Instanzen manifestieren wird. Indem der Mensch ein Individual- als auch ein Kollektivwesen ist, sprich eines, das auf andere und anderes angewiesen ist, kann er nie wirklich „frei“ sein – und es gilt aufzupassen, inwieweit Freiheitsversprechungen und -utopien einlösbar sein können, oder nicht möglicherweise noch größere Unfreiheit mit sich bringen. Eine Gesellschaft hat notwendigerweise einen gewissen Zwangscharakter, und Gesetze sind keine „freiwillige Selbstbeschränkung“ des Menschen, sondern funktionieren als Zwang. Der Kommunismus versucht, so gesehen, das „Individuum vs Gesellschaft“-Problem zu lösen, indem er aus der Gesellschaft eine Art Gemeinschaft machen will (und sich eher noch für „Gleichheit“ interessiert, als möglicherweise für Freiheit). Allerdings ist eine Gemeinschaft eben etwas Verschiedenes von einer Gesellschaft. Sie ist kleinteiliger und besteht aus aufeinander eingeschworenen, sich irgendwie nahestehenden und ähnlich denkenden Mitgliedern. Eine Gemeinschaft ist egalitär – allerdings nur vom Prinzip her (in der Praxis mag es ganz anders sein). Eine Gemeinschaft ist nicht notwendigerweise liberal. Außenseiter mögen dort einen umso schwereren Stand haben: weswegen eine Gemeinschaft dann nicht notwendigerweise die große Keimzelle der Kreativität sein muss, so wie von Kommunisten vorgestellt, sondern eher deren Verhinderer. Vor allem aber ist eine Gemeinschaft etwas natürlich Gewachsenes und Organisches. Der Versuch, eine ganze Gesellschaft in eine Gemeinschaft umzuwandeln, wird daher letztendlich auf Gewalt beruhen. Vergemeinschaftungsutopien haben implizit etwas Totalitäres, das kann man bereits aus den utopischen Romanen von Thomas Morus oder Tommaso Campanella herauslesen (oder aber eben: schaffen Sozialisten aller Art das immer wieder nicht). (Dennoch sollte man nicht außer Acht lassen, wie wichtig Gemeinschaft, oder Illusion von Gemeinschaft, für das menschliche Wohl ist. „Wir waren damals alle Genossen“, ist eine immer wiederkehrende Begründung für die Nostalgie früherer Sowjetbürger. Dabei ist aber eben auch die russische Gesellschaft (gemeinsam mit sehr vielen anderen in der Welt) eine kollektivistische Gesellschaft, und keine individualistische wie die des Westens, in denen ein Genossesein wohl weniger dem allgemeinen Lebensverständnis und -gefühl entspräche.) Die Sowjetunion hat diese vergemeinschaftete Gesellschaft versucht herzustellen über Propaganda und radikaler sozialer Umgestaltung im gesellschaftlichen „Überbau“ und der Zentralisierung der Produktionsmittel an der ökonomischen „Basis“. Für einen orthodoxen Marxisten und Kommunisten ist die Enteignung der Produktionsmittel aus den privaten Händen der Kapitalistinnen bzw. der besitzenden Schichten bereits die eigentliche große Befreiung. Der orthodoxe Marxismus begreift aus irgendwelchen Gründen immer nur ökonomische Macht als entscheidendes Machtverhältnis zwischen Menschen, und steht anderen Machtformen relativ gleichgültig gegenüber oder ist bemüht, diese allesamt als Erscheinungsformen der ökonomischen Machtverhältnisse zu begreifen und sie so auf eine einheitliche Wurzel zurückzuführen – weswegen sich für einen orthodoxen Marxisten mit dem Ausreißen dieser Wurzel auch alle anderen Machtverhältnisse und überhaupt Probleme zwischen Menschen gleichsam erledigen. Für solche orthodoxen Marxisten im In- und Ausland war dann auch die Sowjetunion kein problematisches Gebilde, sondern vielmehr ein vorbildliches. Sozialistisch war die Sowjetunion tatsächlich: nur war es eben ein despotischer Sozialismus. Selbst begriffen sich ja alle kommunistischen Regime als „sozialistisch“ (und ursprünglich belegten sich die kommunistischen Parteien, auch die bolschewistische Partei Lenins, mit der heute so ganz anders konnotierten Qualifizierung „sozialdemokratisch“). Sie seien ein sozialistisches Übergangregime zum Kommunismus, der sich erst in der Zukunft, dafür dann aber eben aus dieser Form ganz sanft, organisch und folgerichtig ergeben würde. Archie Brown (Aufstieg und Fall des Kommunismus, Propyläen 2009) begreift die kommunistischen Regimes aber eben doch als kommunistisch. Alle entsprechenden Parteien hätten sich dem Kommunismus (zumindest als Endziel) verschrieben, Wirtschaft und Gesellschaft sozialistisch umstrukturiert und entsprechende andere Parteien im Ausland mit demselben Ziel – und dem insgesamten Ziel der „Weltrevolution“ – gefördert und die Welt entsprechend umzugestalten versucht. Sie mussten damit – entgegen von einem ganz abstrakten Ideal einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ – von den ganz konkreten Bedingungen ihres Landes und ihrer Kultur und deren Eingebettetheit in die größere Region, oder eben, im Fall von Supermächten wie Russland oder China, in den Weltmaßstab, ausgehen; sich in einer Umwelt behaupten, die ihnen im Inneren wie im Äußeren zumindest latent feindlich gesonnen war; und sie sahen sich mit Logiken und Notwendigkeiten – wie eben Staatsräsonen oder Verteidigungsdoktrinen – konfrontiert, die ganz allgemeiner Natur sind, und nicht bloß die Dichotomie von Kapitalismus vs Sozialismus betreffen. Dass der „Antiimperialismus“ der Kommunisten vielleicht nur ein „Anti-Imperialismus“, also ein bloßes Konkurrenzprojekt zum kapitalistischen Imperialismus ist, unter dem Banner der „Weltrevolution“, ist in einem solchen Zusammenfallen zumindest implizit möglich, wenn nicht sogar naheliegend. Sein ständiges, gleichsam neurotisches Kreisen um das Thema Macht und Machtverhältnisse legt nahe, dass hinter dem Marxismus selbst – zumindest zu einem guten Teil – ein „Wille zur Macht“ steckt, und er dem Bedürfnis nach – zumindest zu einem guten Teil – ein egomanischer und egozentrischer Hahnenkampf gegen einen (kapitalistischen) Gegner ist, dem man beweisen wolle, dass die eigene (kommunistische) Machtentfaltung die bessere Machtentfaltung sei. Damit ist er dann aber, aus dem Auge Gottes betrachtet, auch kein Endziel in der Geschichte, sondern eine relative Erscheinung innerhalb eines ewigen menschlichen Gerangels innerhalb von Raum und Zeit. In einer Dokumentation über die Thälmann-Pionierjugend in der DDR wird es so formuliert, dass die Jugend in der DDR schließlich keine Lust mehr dazu hatte, für starrsinnige alte Männer an der Staatsspitze ihre ewigen Klassenkämpfe zu führen (nur weil sie diese für das höchste Prinzip der Geschichte hielten), noch dazu, wo die Versprechungen der eignen Überlegenheit nicht eingehalten werden konnten. So kam es zum Untergang der DDR, des gesamten Ostblocks und der Sowjetunion. Und damit scheinbar auch zum welthistorischen ad acta Legen der Idee des Kommunismus. War das, was man in der Sowjetunion hatte, eine „verratene Revolution“ oder eine glorreiche Erfüllung ihrer? Aus linker Perspektive und aus den entsprechenden politischen Sehnsüchten heraus kann man es als das eine oder auch als das andere sehen (und sich, wie in diesem politischen Spektrum nicht unüblich, dann heftig in die Wolle kriegen, welche Sicht auf den Sozialismus denn nun die richtige sei). Allerdings präsentieren sich die diversen sozialistischen oder kommunistischen Regimes als etwas ziemlich Ähnliches und doch irgendwie Einheitliches. In ihren Exzessen, in ihren Kulturrevolutionen und ihren Kampagnen vom „Neuen Sowjetmenschen“ erscheinen die kommunistischen Länder als von einer ähnlich beklemmenden, irrationalen Ideologie und Pseudowissenschaft getragen wie der Faschismus und seiner Rassenlehre und einem noch darüber hinausgehenden Bedürfnis nach umfassenden Social Engineering. Allerdings ist das nicht bloß in den Exzessen der kommunistischen Regimes vorhanden, sondern immer schon latent an der Basis. Dennoch bleibt der Sozialismus eine Idee von erheblicher Strahlkraft. Freilich, weil er die Idee von einer endlich friedlichen und freundlichen Menschheit, für die alle Bedürfnisse befriedigt werden ist, die ja jede irgendwie sympathisch findet. Auch ich kann mich von der Hoffnung auf einen „Sozialismus“ irgendwann in der Zukunft gar nicht vollständig freimachen. Dennoch sollte der kritische Blick, den Sozialisten aller Art für sich beanspruchen, zur Frage führen, inwieweit aus etwas so Fadenscheinigem, Unausgereiften und vielfach offensichtlich innerlich Widersprüchlichen wie der marxistischen Theorie, der sozialistischen oder der anarchistischen Theorie jemals – ins Große gerechnet – etwas Gutes herauskommen könne.

Das Sowjetsystem war auf extremer Gewalt und extremem Betrug aufgebaut. So gut wie alles, was Lenin und die Leninisten taten, ging mit Mord und Totschlag einher; so gut wie alles, was sie sagten, basierte auf halb ausgegorenen Theorien, mangelnder Integrität und nackten Lügen. (Norman Davis: Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa, Darmstadt, WBG 2015, S. 805) So würde man das aus westlicher Sicht wohl sehen. Daher mag es die westliche Beobachterin erstaunen, wie ausgeprägt dennoch die Sowjetnostalgie im heutigen Russland (bzw. in weiten Teilen der Ex-Sowjetunion) noch ist. Diese Nostalgie bezieht sich vorwiegend auf die politisch vergleichsweise ruhige Breschnewzeit, die auch ökonomisch für die meisten Sowjetbürger einen gewissen Lebensstandard mit sich brachte. Heute stehen viele Betriebe und Fabriken in Russland leer, und viele Ortschaften sind verlassen. Sie existieren tatsächlich nur mehr in der Erinnerung. Was auf den Untergang der Sowjetunion und des kommunistischen Wirtschaftssystems folgte, war grausam. Die volkswirtschaftlichen Verheerungen, die nicht nur die Ex-Sowjetunion, sondern auch etliche osteuropäische Länder trafen, waren schlimmer als das, was der kapitalistische Westen in den langen Jahren der Großen Depression erleiden musste. Vielfach wirkten sie auf die dortigen Bevölkerungen traumatisch. Unter dem Kommunismus war der Staat zwar ein Verfolger, aber auch ein Beschützer gewesen, der außerdem eine klare Linie vorgab und für einen Orientierungsrahmen sorgte. Nunmehr fühlten sich Abermillionen von Menschen nur mehr noch schutzlos. In Russland traf die neoliberale Schocktherapie noch dazu auf einen Zustand einer allgemeinen Gesetzlosigkeit. Das ergab dann das Chaos der Jelzin-Jahre. Die führten zu der Ansicht, dass eine resolute Ordnung in Russland besser sei als das Chaos, das man mit der westlichen Lebensweise (und der offenbar heimtückischen Empfehlungen seitens westlicher Organisationen) nunmehr assoziierte – nicht nur bei weiten Teilen der Bevölkerung im Allgemeinen, sondern speziell auch bei einem entmachteten Ex-KGB-Agenten namens Wladimir Putin. Der charismatische Reformer Gorbatschow wurde zu einer der meistgehassten Figuren in Russland. Die Russen gaben ihm die Schuld daran, dass er die Sowjetunion und das Sowjetimperium verspielt hatte. Die Russen sind ein nach wie vor ein patriotisches Volk, das sich jedoch gleichzeitig nicht als Nation begreift, sondern als Imperium, mit erweiterbaren Außengrenzen. Ein solches war es nun nicht mehr. Nostalgisch blicken viele Russen auch auf die Stalinzeit. „Ein Mann des Volkes“ sei Stalin gewesen, der unermüdlich am Aufbau seines Landes gearbeitet habe (was so gesehen ja auch stimmt). Tatsächlich führten die sozialen Transformationen während der Stalinzeit, wo aus armen Bauern (denen in der Kollektivierung oftmals wenig genommen wurde, weil sie sowieso fast nichts hatten) bzw. deren Kindern vielfach Angehörige einer Art Mittelschicht wurden (und teilweise noch steilere Karrieren möglich waren). Die Anstrengungen, die der Sowjetbevölkerung in der Stalinzeit und im Großen Vaterländischen Krieg abverlangt wurden, waren enorm – aber sie waren auch heroisch. Dass sie unter Stalin so was geschafft haben, erfüllt bis heute viele Russinnen mit Stolz. Der obsessive Stalinkult in dessen letzten Lebensjahren hatte seine wahre Grundlage darin, dass Stalin als ein Symbol für eine große Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach all den Entbehrungen gesehen wurde. Deswegen verweigern sich viele Russinnen auch bis heute einer kritischen Sicht auf die Stalinzeit und einer Aufarbeitung ihrer Verbrechen: es würde ihnen psychologisch zu viel genommen werden dadurch. Und der Initiator von all dessen, bei dem alles seinen Ausgang nahm? Dessen sterbliche Überreste werden im Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau nach wie vor tagtäglich von vielen besucht. Er hatte ein Imperium geschaffen, das immerhin ein Menschenalter Bestand hatte. Heute erscheint der Untergang der Sowjetunion geradezu folgerichtig. Sie bezog ihre Legitimität dadurch, die entwickelte kapitalistische Welt „einzuholen und zu überholen“, im Rahmen des großen Systemwettbewerbs. Den hat sie verloren. Allerdings ist dieser Projektcharakter ja nicht die einzige Grundlage ihrer Legitimität und ihres Selbstverständnisses gewesen. Vielmehr ruhte die Sowjetunion ja auch in sich und für sich. Die Sowjetunion war ein totalitäres Regime mit einem raffiniert ausgebildeten Überwachungsstaat. Ganze Staatsbankrotte und wirtschaftliche Zusammenbrüche haben immer wieder auch dahingehend weniger kompetente Diktaturen überstanden. Wären Hardliner an der Macht gewesen, hätte die Sowjetunion wohl weiter Bestand gehabt und hätte die wirtschaftlich schwierigen 1980er und 1990er Jahre übertaucht, bevor ihr, wie dann dem Putin-Regime in den 2000er Jahren, der erneute Anstieg der Ölpreise wieder auf die Beine geholfen hätte. Oder was wäre geworden, wenn die Sowjetunion den Weg Chinas gegangen wäre: zuerst wirtschaftliche Reformen einführen, und dann eine graduelle gesellschaftliche Liberalisierung (die, falls sie den Herrschenden zu ungemütlich wird, dann auch wieder zurückgefahren werden kann)? Das hätte das Land, wie in China, bis zur Unkenntlichkeit verändert, mit der Konstante allerdings ebenfalls, dass der Staat und die Partei dort nach wie vor die Kommandohöhen über Wirtschaft und Gesellschaft innehaben. Was wäre umgekehrt passiert, wenn es Lenin nicht gegeben hätte, oder wenn die Bolschewiki die Wahlen nach der Oktoberrevolution anerkannt hätten, die ihnen kein Vertrauen ausgesprochen haben? Das Kerenski-Regime schien der Lage zwar nicht Herr zu werden, aber es wäre (so oder in einer ähnlichen Form) in Kraft geblieben. Vielleicht hätte Russland eine ähnliche Entwicklung genommen wie die Türkei, deren Osmanisches Reich ebenfalls im Ersten Weltkrieg zerbrach. Oder aber hätte es die Entwicklung Chinas genommen, das ebenfalls zu dieser Zeit, und immer wieder durch seine Geschichte hinweg, eine lange Phase des Chaos, des inneren Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat? Das erscheint kaum beantwortbar, da Russland einfach ein Gebilde für sich ist. Immer wieder meint man, die Sowjetunion sei schließlich an der „unpraktischen“ und „weltfremden“ russischen Mentalität zugrunde gegangen. So gesehen ist sie dann aber auch aus einer solchen zunächst hervorgegangen, aus dem Zerfall einer anachronistischen Autokratie, die von einer demokratischen Regierung abgelöst wurde, die (naheliegenderweise) orientierungslos und verwirrt war. „Unpraktisch“ und „weltfremd“ waren auch die Bolschewiki gewesen, die ja gar nie angenommen hätten, in einer solchen Situation unmittelbar die Macht zu übernehmen, sondern dass die Gesellschaft zuerst eine Phase der kapitalistischen und bürgerlich-demokratischen Entwicklung und eines dementsprechenden Lernprozesses durchmachen müsste, um für den Sozialismus die nötige Reife zu erlangen. Sollte der Sozialismus so gesehen vor seiner Zeit sich versuchen zu etablieren, würde er von der Zeit zermalmt werden. Er hätte noch keine ausreichende Definitionsmacht über die herrschenden Verhältnisse, vielmehr laufe er in Gefahr den herrschenden Verhältnissen zum Opfer zu fallen und durch sie wesentlich definiert zu werden. Am XI. Parteitag der KPdSU von 1922, dem letzten, an dem er teilnahm, sinnierte ein nachdenklicher Lenin: Wenn das Eroberervolk eine höhere Kultur hat als das besiegte Volk, dann zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, dann kommt es vor, dass das besiegte Volk seine Kultur dem Eroberer aufzwingt. Ist nicht was Ähnliches in der Hauptstadt der RSFSR geschehen, ist hier nicht der Fall eingetreten, dass 4700 Kommunisten … einer fremden Kultur unterlegen sind? Allerdings könnte hier der falsche Eindruck entstehen, dass die Besiegten eine hohe Kultur besitzen. Nichts dergleichen. Ihre Kultur ist armselig, sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige. Lescek Kolakowski, bei dem sich diese Worte zitiert finden (Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.584f.), führt weiter aus: Das ist eine der scharfsichtigsten Bemerkungen Lenins über den neuen Staat. Die Losung „bei der Bourgeoisie lernen“ wurde in tragischer und zugleich grotesker Weise Wirklichkeit. Die technischen Errungenschaften der kapitalistischen Welt übernahmen – und übernehmen sie noch immer – die Bolschewiki mit gewaltiger Mühe und nur mit halbem Erfolg. Die Herrschafts- und Regierungsmethoden, die sie den zaristischen Beamten absahen, machten sie sich dagegen mühelos, rasch und ohne Halbheiten zu eigen und verfeinerten sie beträchtlich. Von den revolutionären Träumen blieben Phrasen übrig, mit denen ein totalitärer Imperialismus sich schmückt. Vielleicht ist das auch eine der scharfsinnigsten Bemerkungen, die Kernwahrheit über dieses rätselhafte, charismatische Gebilde: die Sowjetunion.

29. September – 25. Oktober 2024

Nachbetrachtung zum 29. September 2024 in Österreich

Falls der destruktive Giftzwerg und Orban-Fan tatsächlich die Regierung übernimmt, tut er das immerhin in einer robusten und jahrzehntelang gewachsenen Demokratie, die ihm bestimmtes Handeln nicht so einfach machen sollte. Wahrscheinlich passen die Erzählungen von Orban zu Ungarn besser, als die Erzählungen von Kickl es zu Österreich tun. Den Übergang zur Demokratie hat Ungarn nicht gut bewältigt, seine Regierungen waren immer wieder sehr korrupt. Die Ungarn sind ein einsames Volk, das eine Sprache spricht, die von Ausländern praktisch nicht erlernt werden kann. Sie sind misstrauisch gegenüber dem Ausland, da sie über ihre Geschichte hinweg tatsächlich von ihren Bündnispartnern immer wieder betrogen und fallengelassen worden sind. Die Ungarn sind zugleich chauvinistisch als auch von einer Untertanen-Mentalität. Eventuell weil Ungarn zwar immer wieder hervorragende Individuen in allen Bereichen des menschlichen Könnens hervorgebracht hat, es dann aber doch nicht geschafft hat, sich als tatsächliche Kulturnation und als Zivilisation zu etablieren; eine Lücke, in die Orban mit seiner dann doch recht speziellen nationalistischen Beschwörungsrhetorik reinstößt. Vielleicht ist das deswegen so, weil die Ungarn keinen gut ausgeprägtern Gemeinsinn haben, was dann ein brauchbares Biotop abgibt für Parteien, die zwar einheits- und sinnstiftend in der Rhetorik sind, aber zersetzend in der Tätigkeit. Es wird darüber kaum berichtet, aber in ganz praktischem Sinne verteilt Orban ja vielleicht materielle Brosamen an die Bevölkerung, die außerhalb der gewöhnlichen Erwartungshaltung fallen. Für so was sind Bevölkerungen immer wieder ewig dankbar, selbst wenn die jeweilige Partei schließlich das gesamte Staatswesen und die Wirtschaft ruiniert (oder aber sie ist es auch nicht oder hört irgendwann auf, es zu sein). Vielleicht macht Kickl so was auch. Den „Depravierten“ (ideelle) Anerkennung zu vermitteln, ist es, was ja auch die FPÖ seit Langem schon tut.

Trotzdem ist es unerklärlich, warum sie damit jetzt so einen Erfolg hat. Vor allem, es wird auch nicht erklärt und nicht versucht zu erklären. Als die FPÖ angefangen hat, bei Wahlen die Ergebnisse von hinten aufzurollen, war ich in Südamerika (in der Zwischenzeit auch noch ein weiteres Mal); auf eine fundierte Analyse, warum das so ist, bin ich seitdem aber zuhause nie gestoßen. Klar ist, dass mehrere Faktoren dazu beitragen, unklar ist aber, warum sie das in dem Maße tun, und vor allem angesichts eines Parteiführers, der vor nicht allzu langer Zeit als besonders unmöglich erachtet worden ist. Haider und Strache hatten immerhin auch eine joviale Seite, und sie haben in regelmäßigen Abständen Kreide gefressen und sich dann staatsmännisch und verbindlich gegeben, bevor sie wieder zu ihrer Krawallrhetorik übergegangen sind, um ihr eigenes Wählerklientel zu bedienen. Bei Kickl hat man all das nicht (außerdem haben Haider und Strache einigermaßen gut ausgesehen, während Kickl das nicht tut). Dass aber reine Wutpolitiker wie Trump, Milei oder Bolsonaro gut punkten können, ist seit einiger Zeit in der Welt ein Phänomen. Es ist ein großes Versagen der Medien, dass sie die Ursachen für die Sympathie, die der FPÖ plötzlich entgegengebracht wird, nie systematisch betrachtet und elaboriert dargestellt haben und trotz ihrer allfälligen Großspurigkeit wie das Kaninchen vor der Schlange gestanden sind. Offenbar hätte es eine zu kritische Reflexion hin auf das Migrationsthema erfordert, was bei den Verantwortlichen eine zu große kognitive Distanz zwischen ihrer Erwartungshaltung, wie was zu sein hat und der Wahrnehmung, wie es tatsächlich ist produziert hat, und wofür sie noch keine Sprache gefunden haben, um sich auszudrücken (Kurz ist es gelungen, eine solche Sprache zu finden, und damit konnte er über Jahre hinweg praktisch tun, was er wollte. Als er dann doch zu viel getan hat, war aber glücklicherweise auf einmal die Luft aus ihm heraußen – wobei Orban in Ungarn im Hinblick auf Korruption und unlautere politische Manöver doch noch viel mehr auf dem Kerbholz haben müsste. Aus ihm ist die Luft aber immer noch nicht heraußen.) Bei mir im Zwanzigsten Bezirk setze ich mich hin und wieder in ein Beisl, das auch von etlichen FPÖ-Wählern aus der Unterschicht frequentiert wird, und habe das auch am letzten Sonntag gemacht, weil ich sehen wollte, was die an ihrem großen Glückstag wohl zu sagen hatten. Als der ORF dort im Fernseher verlautbart hat, die Coronapandemie, der Ukrainekrieg und die Inflation hätten zum Wahlsieg der FPÖ beigetragen, hat der M. gemeint: Na klar, und über die Ausländer sagen sie nichts. (Eigentlich sind diese Leute freundlich, gut gelaunt und sie gehen gut, beinahe liebevoll miteinander um. Gschissn zu den Frauen sind sie auch nicht. So zumindest der oberflächliche Eindruck.)

Die Grundlage für ein gut funktionierendes Gemeinwesen ist, ganz allgemein betrachtet, die Sozialdemokratie. Die konkrete Formulierung von sozialdemokratischen Positionen findet dabei in einem erheblichen Spielraum statt. Man hat gemeint, eine Rückbesinnung auf ihre traditionellen Werte wäre die richtige sozialdemokratische Antwort auf die Fragen der Gegenwart. Beziehungsweise, eine „anti-neoliberale“ Politik ist halt mal die große Hoffnung der Linken in Bezug auf alles; und warum auch nicht? Mir ist das ja auch zumindest sympathisch; auch wenn es mir nicht sehr wichtig ist, ob eine Politik neoliberal oder antineoliberal ist, eher, dass sie, möglichst umfassend betrachtet, mehr richtig ist als falsch (auch wenn es zu den Problemen der Politik gehört, dass man das nicht immer vorhersagen kann). Allerdings weiß ich nicht, wie neoliberal die Politik und die Zustände in Österreich eigentlich sind. Ich habe einige Jahre mal am Mikrozensus der Statistik Austria mitgearbeitet, und dort immer wieder erlebt, dass nur wenige Menschen hierzulande arbeitslos sind (was sowieso aus der Statistik hervorgeht) oder sich von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen, und dass viele Menschen seit Jahren, wenn nicht seit immer schon, im selben Betrieb arbeiten. Dass ein so rauer neoliberaler Wind weht, der alle durcheinanderrüttelt und verunsichert, scheint in erheblichem Maße also nicht der Fall zu sein (und wenn der Neoliberalismus von der Bevölkerung so umfassend als Problem angesehen wäre, hätte sie ja nicht so umfassend für Kurz gestimmt). Offenbar war es auch keine so berechtigte Hoffnung, dass ein Bürgermeister von Traiskirchen, der auch wie ein solcher daherredet, das Format für einen Kanzlerkandidaten überzeugend ausfüllen kann. Doskozil ist immerhin Landeshauptmann, und wie ich höre, soll er seine Sache nicht so schlecht machen. Aber leider ist Doskozil eine problematische Persönlichkeit. Ich kenne Leute aus der Meinungsforschung; die haben mir erzählt, dass Babler und sein Team, das sich auch innerhalb der SPÖ ziemlich abschottet, darauf verzichten würden, über Umfragen zu erheben, was die heimischen Wählerinnen denn wollen würden. Das würden die Bablerianer selber am besten wissen. Die kryptomarxistischen Sektierer, die in ihrer leidenschaftlichen Phantasiewelt vom Klassenkampf als der ganz großen Dominante leben, und die alle anderen sozialen Phänomene zwar irgendwie wahrnehmen, aber keine Heuristik dafür haben, als die man sie von außen betrachtet zu erkennen glaubt, scheinen sie im Inneren auch zu sein. (Im Beisl im Zwanzigsten Bezirk habe ich mich auch einmal mit alten Sozis von der Basis unterhalten, Gewerkschaftstypen und dergleichen, die sich da mal hinverirrt haben. Sie haben große Sympathien für Babler gehabt – der damals noch nicht Parteichef war – aber gemeint, dass die SPÖ mit einer solchen Politik, auch wenn sie ihnen selber am Herzen liege, hierzulande keine Wahlen gewinnen könne. Josef, der wortführende Obersozi, hat mir bei der Gelegenheit auch erzählt, sein Sohn sei kein Sozi, sondern de facto zum Nazi geworden, weil er als einer der wenigen Einheimischen in eine Brennpunktschule gegangen ist, die er schließlich hingeschmissen habe. Ich habe das mit den Brennpunktschulen, und was in denen zum Ausdruck kommt, auch nicht gut verstanden, bis ich die Bücher von Susanne Wiesinger gelesen habe (auch im Hinblick auf die Ignoranz seitens der SPÖ, die die Probleme dort nicht zugibt, aus Angst, das würde der FPÖ helfen (auch wenn es das jetzt endgültig getan hat) – vor allem, und das ist das Kernporblem des Ganzen, scheint sie die Lehrer nach wie vor dort allein zu lassen. Wäre sie damit gekommen, das Lehrpersonal in den Brennpunktschulen aufzustocken, weil nur so dort die Probleme zu bewältigen sind, hätten das die Wähler eventuell schon verstanden). Aber das ist wohl zu wienbezogen, wo die FPÖ ja nicht so stark gewählt wurde. Wahrscheinlich wurde sie überall anders deswegen so stark gewählt, weil sie dort keine „Wiener Verhältnisse“ haben wollen. Wie es ja auch der eine niederösterreichische FPÖ-Typ gesagt hat. Und sich dann alle darüber aufgeregt haben. Aber wie soll eine Gesellschaft das verkraften, wenn 53 Prozent von den Schülern die einheimische Sprache nicht mehr als Muttersprache haben? Es ist klar, dass das ständige Reibereien produzieren wird, die mal akuter, mal weniger akut sein werden. Was aber ist die Alternative dazu?)

Naja, einstweilen: Gott schütze Österreich.

R.I.P. Brigitte Bierlein

Es ist wohl an der Zeit, dass wir auf eine meritokratische Expertenregierung umstellen, so wie wir sie unter Frau Bierlein hatten. Eine meritokratische Expertenregierung wird wohl früher oder später dysfunktional werden, so wie andere Regierungen. Wenn die meritokratische Expertenregierung dysfunktional wird, stellen wir eben wieder auf Demokratie um. Bis dahin sollte es lange genug dauern, da meritokratische Experten gescheit genug sein sollten, um Dinge nicht so schnell degenerieren zu lassen. Beziehungsweise, wenn ein demokratisch gewählter Präsident eine meritokratische Expertenregierung einsetzt, hat das dann ja eine gewisse demokratische Legitimität. Politik sollte vielleicht nicht mehr den Politikern überlassen werden. Politiker haben zu viel Reibungsfläche und zetteln untereinander unnötige Konflikte an, um sich voneinander zu unterscheiden, obwohl sie insgeheim meistens wissen und sich untereinander einig sind, wie die bestmögliche Lösung für ein Problem auszusehen hätte. Es wird von ihren Wählern ja auch erwartet, dass sie sich voneinander unterscheiden und dass sie bestimmte ideologische Positionen besetzen bzw. Pfründe in bestimmte Richtungen verteilen. Daher sollte man sowohl die Politiker als auch die Wähler relativ entmachten, zugunsten der meritokratischen Experten.

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Vorbemerkungen zu einer großen Auseinandersetzung mit Marx und mit dem Marxismus

Der Marxismus ist nicht unfertig oder unvollendet, sondern – von Anfang an, implizit, inhärent und daher für immer – unausgegoren … Er will Wissenschaft sein, ist aber primär Ideologie. Er ist also primär Wille, weniger Vorstellung. Es ist aber in erster Linie die Vorstellung, die allgemeine Verständnismöglichkeiten und Objektivität schaffen kann, während der Wille in seiner Durchsetzung subjektivistisch, militant und agonal bleibt. Und so ist auch der Marxismus subjektivistisch, militant und agonal. Der Marxismus hat keine rationale Basis und kein rationales Ziel. Er enthält (bestechende) rationale Elemente und die einer Lehre, ist aber hauptsächlich irrational und eine Irrlehre. Der Marxismus beruht auf der paranoiden, sadomasochistischen Empfindsamkeit von Marx und ist demgemäß eine zentrumslose Spiegelfechterei (von Marxisten bekanntlich bezeichnet als „Dialektik“, wobei sie dann immer so tun, als ob die für was garantieren würde, obwohl die Dialektik für ziemlich wenig garantiert). Er ist damit eher zirkulär als progressiv, indem er immer wieder dieselben Sachen zum Problem erhebt, ohne sich zu fragen, ob sie eigentlich ein Problem sind. Daher dann auch das ewige intellektuelle Auf-der-Stelle-treten des Marxismus, zumindest seit Jahrzehnten. Seit jeher hat sich der Marxismus dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus verschrieben – wobei die „Überwindung des Kapitalismus“ eine durchaus populäre Vorstellung ist. Es muss aber gar nicht sein, dass der Kapitalismus je „überwunden“ wird, da es nicht einmal feststeht, ob es den Kapitalismus überhaupt gibt. „Kapitalismus“ ist, wie „Patriarchat“, nur ein Begriff, oftmals in pejorativer Absicht verwendet, der aber vielleicht nicht das einfängt, was sich eigentlich abspielt, und was an Entwicklungen eigentlich tragend und relevant ist. Freilich, gegenüber einem solchen Skeptizismus kann man sich wohl darauf einigen, dass sowohl „Kapitalismus“ als auch „Patriarchat“ sinnvolle Begriffsschöpfungen sind, und etwas bezeichnen, was in der Wirklichkeit tatsächlich vorhanden ist und wirksam ist. Das Problem ist aber, dass die sinnvollen Begriffe „Kapitalismus“ und „Patriarchat“ sowohl im Marxismus wie im Feminismus hochgradig fetischhaft und verdinglicht verwendet werden und so genau zu den Täuschungen und Illusionen verleiten mögen, wie Marx es in seiner Analyse vom Warenfetisch und vom Kapitalfetisch eigentlich dargelegt hat. Seit Jahren arbeite ich nunmehr an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Marxismus. In einer Weile sollte sie einmal fertig werden. Der Marxismus verlangt aber eine viel weitreichendere Auseinandersetzung als zum Beispiel die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche. Die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche, bzw. Philosophien im Allgemeinen, sind geistige Gebilde, Markierungen und Positionen im Reich des Denkens, die man als solche eingrenzen und isolieren kann. Der Marxismus reflektiert ein grundsätzliches Welt-Mensch-Gesellschaft (etc.)- Verhältnis, er ist so was wie der Liberalismus oder der Katholizismus, also etwas Umfassenderes als eine Philosophie (sogar eigentlich etwas Umfassenderes als eine „große Erzählung“) und etwas von höher Plastizität. Der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus können viele Formen annehmen, mit denen sie an die jeweilige Realität andocken können; so haben sie das zumindest im Lauf ihrer Geschichte getan. Zusammenhänge wie der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus gleichen Viren und sind Meme, die ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte auftauchen, mutieren, sich verändern und damit fortpflanzen, als quasi eigenständige Organismen. Bis sie eventuell wieder unter die Oberfläche verschwinden. Und so ist es auch die Hoffnung der Marxisten, dass der Marxismus in irgendeiner gefährlichen, virulenten Mutation dereinst wiederkommt. Diese Virtualität besteht und das ist möglich, in dem Sinn ist aber auch so gut wie alles andere möglich. Bei Viren weiß man nie genau, was passiert. Letztendlich sind Viren und jedwede Organismen aber an eine bestimmte Identität und einen bestimmten Bauplan gebunden, und können nicht grenzenlos mutieren und sich grenzenlos anpassen. Irgendwann könnte ihre Uhr auch abgelaufen sein. Die Möglichkeiten von Viren und Memen, zu mutieren und Anschlussmöglichkeiten zu finden, sind nicht unendlich, sondern in Wahrheit beschränkt. Der Marxismus erscheint als etwas Profundes, denn er reflektiert auf die Uneinheitlichkeit und die Unerlöstheit der Welt und auf die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft. Sein erheblicher Konstruktionsfehler scheint aber darin zu liegen, dass er in erster Linie um ein Feindbild rotiert. Trotzdem er eine gewaltige Positivität (den Sozialismus) formulieren will, kreist er wesentlich um ein Feindbild und ist somit in seiner Substanz wesentlich negativ und reaktiv (was bei anderen großen Sinnsystemen wie dem Christentum oder dem Liberalismus nicht der Fall ist). Auf der Basis von Feindbildern und von Spaltung kann man aber keine gute Gesellschaft errichten. Um ihre großen Feinde auszuschalten, setzen Kommunisten auf die Revolution. So denn die Revolution erfolgt ist, wittert das kommunistische Regime dann aber wiederum überall Feinde, die es zu bekämpfen gilt, weswegen es sich die Form einer Diktatur gibt etc., bis in eine indefinite Zukunft hinein, in der der Sozialismus dann endlich für eine große Herrlichkeit sorge bzw. bis dass die „Weltrevolution“ erfolgt sei. Wobei die „Weltrevolution“ eine der dümmsten Vorstellungen ist, die die Menschheit je hatte: denn wie sollte in etwas, was so unzusammenhängend ist wie die Welt etwas so Delikates stattfinden wie eine Revolution? Angesichts der Dummheit dieser Vorstellung, die aus ihm aber entspringt, drängt sich auch der Verdacht auf, dass der Marxismus insgesamt eine Dummheit sein müsste. Diese Dummheit hat ihre Wurzel darin, dass schon im Kommunistischen Manifest steht: Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat. – Wobei diese Vereinfachung – also die Reduktion des gesellschaftlichen Geschehens auf zwei dynamische (einander intransigent feindselig gegenüberstehende) Elemente – aber nicht in der Wirklichkeit stattfindet, sondern allein im Rahmen der Theorie, die noch dazu den überheblichen Anspruch erhebt, die gesamte Wirklichkeit in einer Art gnostischen Weise zu durchschauen. So sehr der Marxismus als großartiger, heroischer Versuch erscheint, die Wirklichkeit zu interpretieren, um eine hochgradig defizitäre Wirklichkeit zu verändern, so sehr drängt sich ebenso der Verdacht auf, wenn man Marx genauer liest, dass seine Lehre eine Projektion seiner Komplexe in die Wirklichkeit ist: notabene seiner pathologischen Disposition, dauernd Zweikämpfe zwischen ihm und anderen – vor allem solchen, die eine höhere gesellschaftliche Machtposition innehaben als er – anzuzetteln: mit den Intention zu gewinnen, über den anderen zu triumphieren, und zu demonstrieren, dass der eigentlich legitime Mächtige er selber sei. So hat Marx nicht allein relativ unsympathische Erscheinungen wie die Bourgeoisie und die Aristokratie mit einer irrational überschäumenden Wut verfolgt, sondern auch Proudhon, Lassalle, Bakunin, Adam Smith, John Stuart Mill, den Herrn Vogt oder das Gothaer Programm. So gesehen steckt hinter der gesellschaftsübergreifenden Vision vom Klassenkampf des Marxismus dann eventuell auch nur der aggressive, asoziale Wille zur Selbstbehauptung von Einzelnen. Dementsprechend morbid scheint dann auch die ständige Fixierung auf die Überwindung des Kapitalismus und die Etablierung des glorreichen Sozialismus in der Zukunft bei den Marxisten. Es hat etwas todestriebähnliches, etwas Ähnliches also zum ständigen Wiederholungszwang einer irrationalen Handlung, der ein aggressiver Impuls zugrunde liegt. Überhaupt, die Zwangsvorstellung von der Großen Befreiung im Marxismus, die er gegen das Bestehende auszuspielen versucht. Was aber soll diese große Befreiung sein? Da führt der Marxismus gegen den Liberalismus ins Feld, dass der Mensch kein Individuum sei, sondern ein soziales Wesen – wie aber sollte bei einem sozialen, sprich einem auf andere und anderes angewiesenen Wesen so etwas wie eine grenzenlose Befreiung möglich sein? Der glorreiche Sozialismus der Zukunft wird in den Werken von Marx und Engels immer wieder mit Bildern aus der Steinzeit illustriert. Indem er diversen dynamischen Elementen in der Gesellschaft (wie eben dem privaten Unternehmertum) die Lebensgrundlage entziehen will, steuert der traditionelle, orthodoxe Marxismus eine radikal unterkomplexe Wirtschaft und Gesellschaft an. Deswegen hat der Marxismus in den entwickelten Industrieländern, denen seine Analyse und seine Prophezeiungen gegolten haben, und in ihren relativ fortgeschrittenen Gesellschaften dann auch nie wirklich Fuß fassen können – weil er bereits zum Zeitpunkt seiner Formulierung eigentümlich veraltet und in seinen Verständnissen inadäquat gewesen ist. Wahrscheinlich wird er diese ursprünglichen Versäumnisse nicht aufholen können (was nicht heißt, dass er nicht als bedeutende Energiequelle für diverse soziale Bewegungen erhalten bleibt). Die Welt ist dann doch zu groß und zu bunt, als dass die simple Heuristik des Marxismus und des dialektischen Materialismus sie einfangen könnte. Die Kämpfe in dieser Welt sind zu zahlreich (und in ihren Zielsetzungen oftmals illusorisch), als dass man sie – wie es der feuchte Traum der marxistischen Revoluzzer ist – als „Klassenkampf“ (oder als „gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten und Ausgebeuteten“) vereinheitlichen könnte. Was mich dabei anlangt, so habe ich trotzdem nach wie vor gewisse Sympathien für den Marxismus. Ich interessiere mich sehr für Möglichkeiten, wie sich die Gesellschaft auf einem höheren Niveau der Qualität reproduzieren kann (halte das, genau gesagt, für den Sinn von Gesellschaften), und mir gefällt auch das Revolutionäre und das Ikonoklastische; und mir gefällt auch die sozialistische Folklore. Außerdem verspüre ich eine gewisse Solidarität mit den Armen und mit den Freaks – wenngleich keine grenzenlose Solidarität (der Marxismus tut so, als wie wenn die „Unterdrückten“ dauernd Recht hätten, obwohl das ja gar nicht ausgemacht ist). Im Herzen, vor allem, bin ich ja nach wie vor Kommunist. Auf der emotionalen Ebene begegnen mir andere Menschen als etwas Gleichwertiges. Auf der Verstandesebene weiß ich aber auch, dass Menschen einander nicht gleich sind. Optimismus der Herzen, Pessimismus des Verstandes. Ich habe das große Aufheben, dass die Marxisten um das „dialektische“ Denken machen, nie ganz verstanden. Abgesehen davon, dass sie das als Instrument zu verwenden scheinen, um gewisse, ihnen genehme Schlussfolgerungen zu rechtfertigen und zu beweisen, erscheint es mir als geradezu statisch und gefroren, als ein Hin- und Herschieben von Eisblöcken in der ewigen geistigen Arktis (der strukturalistische Marxismus versucht ohne Dialektik auszukommen; ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit „Struktur“ eine adäquate Heuristik sein kann, um eine Gesellschaft zu beschauen). Das dialektische Denken ist recht langsam. Ich präferiere das ultradialektische Denken; und ich will das ultradialektische Denken und sein Bewusstsein – das Einheits-Bewusstsein – als Modell setzen, wie man die moderne Welt begreifen kann. An die Stelle des dialektischen, oder des formallogischen, oder des rechnenden, oder des besinnlichen, oder des rhizomatischen Denkens will ich das totale Denken setzen, das mit Totalitäten fertig wird oder sich zumindest mimetisch zu Totalitäten verhält: das total vernetzte, integrale Denken und Empfinden. Das wird sich sicherlich sehr gut anfühlen und einigermaßen nützlich sein. Es kann sein, dass die Menschheit für das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein noch nicht reif ist. Es kann sogar sein, dass sie dafür auch gar nicht reif sein will, da sich in ihm liebgewonnene Identitäten aufzulösen scheinen (auch wenn das so nicht stimmt). Das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein sind radikal anti-neurotisch; Menschen hegen und pflegen aber immer wieder ihre Neurosen, insofern sie ja auch deren primäre Energiequelle sein mögen. Dann aber bleiben die Menschen halt in ihren kleinen Formaten hängen, aus denen heraus sie von grenzenloser Macht und Befreiung phantasieren, oder sich wahlweise für so unterdrückt, ausgebeutet, schlecht behandelt, in ihrer Selbstverwirklichung behindert etc. fühlen etc.

Artikel: Der richtige Marxismus

Mao Zedong-Gedanken

Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hört auf seine Worte und handelt nach seinen Weisungen.

Lin Biao

(Mao) verehrt sich selbst, glaubt blind an sich selbst, betet sich an, er wird für jede Errungenschaft den Ruhm für sich beanspruchen, aber für seine Misserfolge andere verantwortlich machen.

Lin Biao

Mao Zedong war einer der größten Revolutionäre aller Zeiten, eine der größten politischen Gestalten Chinas aller Zeiten und einer der größten Massenmörder aller Zeiten. Er war eine überdimensionale Gestalt, in der sich Geschichte verdichtet, in ihrer Dramatik, in ihrem gewalttätigen Fortschritt, in ihrer Irrationalität, in ihrer Komplexität. Er hat eine tiefe Furche nicht allein durch das 20. Jahrhundert gezogen, sondern durch die Menschheitsgeschichte insgesamt. Er hat mit dem Maoismus etwas Transzendentes geschaffen. Wenn wir transzendente Dinge betrachten, und wenn wir die Menschheit und ihre Geschichte betrachten, müssen wir auch Mao Zedong betrachten.

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Mao hat ein gewichtiges Werk nicht nur in der Zerstörung hinterlassen, sondern auch im Aufbau. Als Mao 1976 starb, war in China die Produktion von Stahl gegenüber dem Revolutionsjahr 1949 von 1,3 Millionen auf 23 Millionen Tonnen, die von Kohle von 66 Millionen auf 444 Millionen Tonnen, die von chemischen Düngemitteln von 0,2 Millionen auf 28 Millionen Tonnen und die von Elektrizität von 7 auf 133 Milliarden Kilowattstunden gestiegen. Der Anteil der Industrie am materiellen Nettoprodukt betrug nunmehr 50 Prozent (gegenüber 23 Prozent im Jahr 1952), der der Landwirtschaft war von 58 Prozent auf 34 Prozent gesunken. China produzierte zu Maos Tod Lastwägen, Traktoren, Flugzeuge und Hochseeschiffe und war in den Rang einer Nuklearmacht aufgestiegen. Der Bildungsgrad und die Lebenserwartung innerhalb der Bevölkerung und die Qualität der medizinischen Versorgung haben sich stark verbessert. Trotz der wirtschaftlichen Fortschritte war ein Großteil der Bevölkerung zu Maos Tod nach wie vor arm und unterversorgt, da unter seiner Herrschaft vorwiegend die Produktionsgüterindustrie ausgebaut wurde. Damit wurde jedoch auch ein solides Fundament für die weitere wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Das alles ist die Bilanz eines Diktators, allerdings nicht unbedingt eines lausigen Diktators. Wenn man hartgesotten sein will, kann man zwar versuchen, Mao (direkt oder indirekt) für den Tod von bis zu 70 Millionen Menschen verantwortlich zu machen. Unter seiner Herrschaft kam es aber auch zur Bevölkerungsexplosion in China. Wenn man es also hartgesotten betrachtet, hat Mao unterm Strich also vielleicht mehr Leben geschaffen als Tod gebracht.

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Diese erheblichen Erfolge halten sich Kommunisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass zu dieser Zeit auch andere Länder, vor allen Dingen in Asien, eine solche erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht haben, ohne auf den Kommunismus zu setzen). Sie können es sich auch zugute halten. Angesichts der gewaltigen menschlichen Opfer sind sie vielleicht geneigt, die Sowjetunion und Rotchina, die sie damals so bewundert haben, heute, etwas achselzuckend, als „Entwicklungsdiktaturen“ zu kategorisieren (und zu den Akten zu legen). Einige ehemalige Revolutionäre wie Gerd Koenen gehen, etwas melancholischer, so weit, in der Sowjetunion und in Rotchina dann auch nur den Versuch zu sehen, die Bevölkerung und die Ressourcen zum Zweck der eigenen nationalen Machtentfaltung zu organisieren, also einen imperialistischen Versuch, der sich vom kapitalistischen Imperialismus auch nicht großartig unterschieden habe. Wie soll man das bewerten? Trotzdem Lenin, Stalin und Mao psychopathienahe Charaktere waren, waren sie an der Entwicklung ihres Landes und an der Errichtung einer besseren Gesellschaft ernsthaft interessiert und haben diesen Zielen ihre Energien und ihr Leben gewidmet. Dass es in der russischen und chinesischen politischen Kultur eher darum geht, das eigene Land groß und mächtig zu machen und weniger die Bevölkerung und deren individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, war eine Mentalität, der auch sie sich nicht entzogen haben, sich entziehen konnten oder wollten. Ebenso ging es ihnen darum, den Sozialismus aufzubauen und die Revolution zu sichern – wenn man also so will, um Ideale, um Konstruktivität und den Aufbau einer besseren Welt. Allerdings drängt sich die Frage auf, wie viel authentisches Verständnis und wie viel Tiefenschärfe ihre Verständnisse für all das hatten. Letztendlich war das (sozialistische) Weltbild von Stalin und Mao ein selbstgerechtes, paranoides Weltbild, das plump in Gut und Böse unterteilte und das von paranoiden Vernichtungs- oder zumindest Reinigungs- und Säuberungsphantasien durchzogen war. Das starke Interesse an der Entwicklung ihres Landes seit ihrer Jugend ist nichts, was bei hochbegabten, intellektuellen Jugendlichen wie Lenin, Stalin, Mao und diversen kommunistischen Führern in ihrer damaligen Zeit in ihren jeweiligen Ländern an sich ungewöhnlich oder heroisch gewesen wäre. Vielmehr entsprach es einem Geist, der in der Luft lag. Allerdings haben sie – unter lebensgefährlichen Umständen – der Revolution auch ihr Leben gewidmet. Ob diese Lebensentscheidung in erster Linie heroisch oder fanatisch war, ist schwer zu durchschauen. Inwieweit ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus ein authentischer Impuls für sie war, oder eher eine unbewusste Projektion ihrer persönlichen Komplexe in die Welt, und ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus nicht in erster Linie unbewusst der Expansion ihrer Egos und dessen pathologischer Bedürfnisse galten, ist auch nicht leicht auszusortieren. Kommunisten (und auch andere) entschuldigen die Gewaltexzesse unter ihrer Herrschaft gerne damit, dass Lenin, Stalin, Mao et al. bei der Entwicklung ihres Landes vor Problemen standen, für die es keine konziliante Lösung gegeben hätte. Allerdings haben sie diese Probleme und Konflikte auch absichtlich und lustvoll heraufbeschworen. Lenin, Stalin, Mao waren pathologische Persönlichkeiten, die sich allerdings in pathologischen Umständen bewegt haben. Sie haben sich einer Ideologie verpflichtet gefühlt, die ein erhebliches Potenzial hat, ins Pathologische abzugleiten (dem Marxismus). Wollen wir uns Mao also in all diesen Hinsichten versuchen, zu vergegenwärtigen.

Die bei ihrem Erscheinen spektakuläre, mittlerweile aber nicht mehr zentrale Mao-Biographie von Chang und Halliday widmet sich auf gut 1000 Seiten dem Versuch der Darstellung Maos als reinem Machtmenschen, der also an nichts als an Macht als Selbstzweck interessiert gewesen wäre. Etliches von dem, was an Material offeriert wird, ist (wenngleich auch so bekannt) auch beklemmend und kann schwer beiseite geschoben werden. Allen anderen Biographien zufolge erscheint Mao dann aber doch als deutlich komplexere, dialogorientierte, neugierige, an der Welt interessierte, bildungshungrige Persönlichkeit – und eben vor allem als eminent politische Persönlichkeit. Mao war kein reiner Wille zur Macht. Mao hat früh einen Personenkult um sich pflegen lassen und sich den Apparat seiner Partei hörig gemacht. Dass er in eine solche Position von Macht und Einfluss kommen konnte, hatte er aber seinem Charisma und seinem Intellekt zu verdanken. Genau gesagt, dem Umstand, dass er ein origineller, mehr noch: originärer Denker der Revolution war. Wenngleich es honorigere Marxisten in China gegeben hat und tatsächlich große marxistische Gelehrte (zu denen Mao meist in einem guten Verhältnis und in einem Verhältnis von großem wechselseitigen Respekt gestanden ist), war es die originäre Leistung von Mao, marxistisches Gedankengut mit den Erfordernissen, die sich aus den Verhältnissen in China an die Revolution ergaben, zu synthetisieren. Diese Synthese war dann eben der Maoismus, eine Ideologie, die für einige Jahrzehnte auf der Weltbühne virulent zu werden vermochte. Inwieweit Maos Streben nach der Revolution (und der Macht) primär aggressiv oder primär defensiv und reaktiv war, verliert sich im Dunkel. Ob – stellvertretend dafür – Mao tatsächlich in erster Linie unter einem tyrannischen Vater gelitten hat (bzw. ob der Vater tatsächlich so tyrannisch gewesen war, wie von Mao später beschrieben), oder ob Mao in erster Linie von sich aus ein ungehorsamer, aufmüpfiger, arroganter Sohn war, lässt sich anhand des biographischen Materials kaum entscheiden. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Auf jeden Fall aber lässt das Aufeinandertreffen von solchen Dispositionen bei der einen und der anderen Partei ein erhebliches Konfliktpotential zu. Und ein solches Konfliktpotenzial lag im Großgefüge des damaligen China.

Ein gefühlskalter Machtmensch ist Mao bei alldem gewesen. Und als solcher erwies er sich im Alter immer mehr, in dem er immer paranoider wurde. So wie Stalin ist Mao ursprünglich in die Rolle des Diktators geschlüpft, weil er glaubte, es müsse sein und ginge nicht anders, um konstruktive politische Ziele zu erreichen, um das bislang Erreichte abzusichern. Das ist – wie im Fall der Selbstkrönung Napoleons (oder Julius Cäsars) und seiner Ausrufung zum Kaiser – rational nicht von der Hand zu weisen. Wie im Fall von Napoleon oder Cäsar lag es allerdings auch in der Entwicklungsbahn all dieser imperialistischen Persönlichkeiten, wie Mao, Stalin und viele andere es waren. Vor allen Dingen war es eine Entwicklung und eine Entscheidung, die neue Konflikte und Probleme erst produzierte und die, aus einem mehr oder weniger rationalen Kalkül heraus entstanden, den Boden für irrationale und erratische Politiken bereitete. Maos Leibarzt, Dr. Li Zhisui, stellt auch in den Raum, dass Maos zunehmender Größenwahn und zunehmende Paranoia im Alter die Folge einer unbehandelten Geschlechtskrankheit gewesen sein könnten. Auch in Maos Sexualverhalten scheinen Sinnlichkeit und Machtmenschentum amalgamiert gewesen zu sein. Mao hatte großen sexuellen Appetit (angeblich gegenüber beiden Geschlechtern). Als er sich auf diesem Weg Trichomanas vaginalis zugezogen hatte, lies er die Krankheit nicht behandelt, da sie für ihn asymptomatisch verlief. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass er so aber die Krankheit an zahllose andere seiner SexualpartnerInnen weitergab. Trotzdem er aufgeklärter Marxist war, hing er dem Volksglauben an, wonach Geschlechtsverkehr mit jungen Frauen den Alterungsprozess verzögerten. Wenn man so will, kommt in all dem eine menschlich-allzumenschliche, aber auch eine eigenartige und unmenschliche, unberechenbare/unverantwortliche Persönlichkeit zum Vorschein.

Mao war früh von dem expliziten Wunsch getrieben, ein außergewöhnlicher Mensch und ein großer Führer zu werden. Das ist eine unangenehme Konstante in Maos Leben und Wirken. Zumindest einmal führte das zu der deprimierenden Selbsterkenntnis, dass für eine Rolle aber nicht geeignet sei. 1921 enthüllte er in einem Brief an einen Genossen acht Mängel, die er bei sich feststellte und die ihn, seiner Meinung nach, daran hinderten, je ein tatsächlich außergewöhnlicher Mensch und großer Führer zu sein, und zwar: 1 zu emotional und stets im Griff von Gefühlen; 2 zu subjektiven Urteilen neigend; 3 etwas eitel; 4 zu arrogant; 5 selten selbstkritisch, zu schnell im negativen Urteilen über andere und nicht bereit, eigene Fehler einzugestehen; 6 gut in großen Reden, aber schwach in systematischer Analyse; 7 zu hohe Selbsteinschätzung und allzu leicht mit Eigenlob bei der Hand; 8 „willensschwach“ … Mao war ob dieser Selbsteinschätzung sehr deprimiert, sagte aber auch: Ich möchte mein wahres Ich nicht opfern, ich möchte mich nicht in eine Puppe verwandeln. Die Biographen Pantsov und Levine merken an: „Maos Selbstverachtung verging so rasch, wie sie gekommen war. Er sollte nie mehr an seinem Recht auf Macht zweifeln. Erstaunlich ist nur, dass der Brief überlebt hat.“

Mao Zedong war ein Exzentriker. Er hasste Disziplinierung und Kontrolle durch andere, er bewegte sich selbstbestimmt, teilweise ziellos und schlendernd durchs Leben. Er besuchte staatliche Feiern in einem geflickten Schlafanzug und zwang führende chinesische und ausländische Politiker zu Audienzen in den frühen Morgenstunden. Er war ein Schürzenjäger, aber putzte sich im Leben nie die Zähne (er zog es vor, sie mit grünem Tee auszuspülen). Sein Glaube an die geschichtliche Vorherbestimmtheit des Sozialismus und andere Aspekte seiner Ideologie und auch seiner Selbsteinschätzung kommen dem magischen Denken von Schizotypischen nahe. Er war, wie für Exzentriker typisch, intensiv, neugierig, vielseitig und belesen und wollte alles genau wissen. Mao entfaltete großes Charisma, indem er Menschen, inklusive anderen Staatsoberhäuptern, in einer informellen, zwanglosen Weise begegnete oder, wie beim Treffen mit Nixon und Kissinger in seiner „Gelehrtenklause“ (wie Nixon Maos privateste Räumlichkeiten empfand), darauf bestand, anstelle von herkömmlichen politischen Gipfelgesprächen locker zu „philosophieren“. Den finsteren Mobutu begrüßte er bei einem Staatsbesuch lachend: Sind Sie das wirklich? Angesichts all der Attentatsversuche, die ich auf Sie unternommen habe, kann ich das gar nicht glauben. Nur ein Exzentriker kann letztendlich einen Großen Sprung nach vorn und eine Kulturrevolution anzetteln, und dann wieder versuchen, „Hundert Blumen blühen“ zu lassen. Nur ein Exzentriker wird permanent versuchen, etwas zu tun, was deutlich aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fällt, so wie Mao das tat. Nur ein Exzentriker kann sagen: Die Atombombe ist ein Papiertiger. Für Exzentriker ist es typisch, dass sie aufmüpfig oder gar „revolutionär“ sind, zumindest aber in einer Welt leben, die von der herkömmlichen Lebenswelt der Menschen verschieden ist. Leider sind Exzentriker, trotz aller für sie typischen Offenheit und Neugierigkeit, oftmals auch sehr selbstbezogen, außerdem unrealistisch und weltfremd. Durch sein Exzentrikertum hat Mao seine charismatische Strahlkraft entfaltet, und Exzentriker (gefährliche und ungefährliche) hat er auch angezogen. Exzentriker glauben gerne, dass die „Normalen“ die eigentliche Gefahr seien. Aber vielleicht sind das eher Exzentriker, die die Macht erobern und ihre Exzentrizität dann als neue Normalität ausrufen, der die Normalen dann begeistert folgen. Für die Maoismus-Forscherin Julia Lovell scheint der Maoismus besonders als Ideologie für Verrückte geeignet, die mit der Gesellschaft in Konflikt treten wollen – oder aber sie beherrschen wollen.

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Mao war ein Gewaltherrscher. Aber Maos ganzes Leben war von Gewalt begleitet und die gesamte Geschichte von China ist von verheerender Gewalt durchzogen. Der Taiping-Aufstand, ein Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts, der 20 Millionen Tote forderte, ist vergleichsweise bekannt. Aufstände entfachten dabei in China immer wieder eine verheerende Wirkung. Während der An-Lushan-Rebellion im 8. Jahrhundert könnten bis zu 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Ähnlich katastrophal waren die Nian- und Miao-Aufstände des 19. Jahrhunderts sowie die muslimischen Erhebungen in Yunnan und im Nordwesten Chinas. Rekonstruktionen gehen in den betroffenen Provinzen von Todesraten von 40 bis 90 Prozent aus, wobei die Mehrzahl der Menschen weniger durch Waffengewalt als durch Krankheiten und Hungersnöte gestorben ist. Die Geschichte Chinas ist auch eine Geschichte von katastrophalen Hungersnöten, bei denen darüber hinaus die Obrigkeit untätig geblieben ist und keine Hilfe geleistet hat (wie effizient das logistisch zu dieser Zeit möglich gewesen wäre, ist eine andere Frage). In Maos Jugend kam es zu Aufständen der Armen und der Bauern, die sich zu mafiaähnlichen Banden zusammenschlossen. Ebenso brutal und marodierend, wie diese vorgingen, wurden sie von der Obrigkeit bekämpft. Diese Gewalt und Gegengewalt hinterließen bei Mao nach eigenem Bekunden einen unauslöschlichen Eindruck und prägten ihn ein Leben lang. Später gingen Obrigkeiten mit brutaler Gewalt gegen Gewerkschaften und gegen Streikende vor – oftmals, indem sie plötzlich die Seiten und die politischen Loyalitäten wechselten und sich als verschlagen und unberechenbar erwiesen. Das war dabei Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich die einzelnen Gruppen feindselig bis hasserfüllt gegenüberstanden, die sich gegenseitig fremd waren und die keinen Modus der Mediation zwischen diesen Gruppen gefunden hatte. So war die Obrigkeit selbst opportunistisch, selbstsüchtig und verächtlich gegenüber der Bevölkerung. Bevor Mao 1949 China geeinigt hat, haben sich Provinzgouverneure (d.h. die Obrigkeit) teilweise wie Warlords oder Mafia-Kriminelle aufgeführt und die eigene Bevölkerung terrorisiert und erpresst, sie haben geraubt und Menschen, zu deren Schutz sie eigentlich da waren, entführt und vergewaltigt. Dann kam noch die Gewalt des Auslands dazu, vor allem die sadistische Brutalität der japanischen Besatzer, unter der die chinesische Bevölkerung jahrelang zu leiden hatte (zu einer seiner beiden großen Lebensleistungen hat Mao es gerechnet, die japanischen Imperialisten vertrieben zu haben).

Dazu kommt, dass China im Lauf seiner Geschichte (und daher womöglich auch in seiner Zukunft) Phasen des Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat. Die autoritäre Obrigkeitsstaatlichkeit in China ist darin begründet, dass China tatsächlich instabil ist. Mein Facebook-Freund Stephen (ein Australier, also Bewohner eines Landes/Kontinents, den die Chinesen seit geraumer Zeit als Rohstofflieferanten-Kolonie unter ihre Fittiche zu bringen versuchen) hat es einmal so formuliert: Die Geschichte von China ist eine Geschichte von 5000 Jahren Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung: das nennen sie dann Zivilisation. Nach 1912 und nach der sklerotischen Herrschaft der Kaiserinwitwe Cixi war China erneut in einen Zustand der streitenden Staaten zerfallen, die oftmals von Warlord-ähnlichen Gouverneuren regiert wurden. Eine bedeutende Leistung von Mao war es, China 1949 geeint zu haben. Deswegen werden die Chinesen den Großen Steuermann nie vergessen.

Es sollte unterstrichen werden, dass die Gewalt, die Mao in seinem Leben, als Chinese, erlebt hat, vor allem in der gewissen Alltäglichkeit, in der sie aufgetreten ist und von allen Seiten gekommen ist, etwas war, von dem wir uns keine Vorstellungen machen können. Die Gewaltherrschaft Maos war nichts, was in einen friedlichen Zustand hineingebrochen wäre. Als aufgeklärter junger Mensch hat Mao ursprünglich geglaubt, mit der Obrigkeit in einen Dialog treten zu können, doch er musste erleben, dass das nicht möglich war. So gelangte er (seinerseits offenbar ziemlich schnell und unbekümmert) zu der Auffassung, dass Gewalt ein notwendiges, ein normales Mittel zur politischen Willensdurchsetzung sei. Mao selbst hat viele seiner Freunde und Genossen und vor allen Dingen Angehörige seiner eigenen Familie wie seine Brüder, seine zweite Ehefrau und auch Kinder durch brutale Gewalt verloren (sonderlich betroffen gemacht haben ihn solche Verluste allerdings auch im engsten persönlichen Bereich nicht).

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Es kommt in den damaligen Verhältnissen in China noch eine andere Form von Gewalt hinzu. Es herrschte in China die strukturelle Gewalt der Armut, der Obrigkeitsstaatlichkeit, einer repressiven Kultur, eines repressiven Patriarchats und der Stigmatisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden (wie der Hakka oder der Muslime). Vor allem gab es die Gewalt der Rückständigkeit, des eisernen Beharrens auf überkommenen Traditionen, und die Unfähigkeit von ganz China, sich zu modernisieren. Vieles von den damaligen Zuständen musste einem Beobachter – in umso schmerzlicherem Kontrast zum Bild von China, das eigentlich groß, ruhmreich und ehrwürdig ist – als menschenfeindliche Idiotie erscheinen. Und als solche erschien sie auch Mao.

Mao war ursprünglich kein Kommunist und Marxist gewesen, und dem Bolschewismus stand er skeptisch gegenüber. Er hatte auch als junger Mann keine Sympathien für die Leiden der arbeitenden Klasse. Was ihn interessierte, war die nationale Wiedergeburt Chinas, und er war ursprünglich ein Liberaler und ein Anarchist. Seine persönliche Freiheit und Selbstkultivierung interessierten ihn (in einigermaßen egozentrischer Weise), und so nahm er naturgemäß an, dass seine persönlichen Wertvorstellungen auch für die Gesellschaft insgesamt ein Modell sein könnten. Er musste jedoch feststellen, dass ein solches Gedankengut von den breiteren Massen kaum verstanden wurde und kam so zu dem Schluss, dass nur eine Art Bolschewismus das Land modernisieren könnte und die Sowjetunion als Vorbild für China zu dienen hätte.

Mao, Pol Pot oder Abimael Guzman (oder Karl Marx) waren ehrlich schockiert von der Korruptheit, dem Aberglauben und der Lethargie in der Bevölkerung und wollten dem Volk helfen, sich in seinem eigenen Interesse aus seiner Unmündigkeit zu befreien, wobei sich in diese erhebenden Gefühle allerdings auch schnell Verachtung und Hochnäsigkeit gegenüber dem Volk hineingemischt hat. 1919 schrieb Mao entnervt: Die wahre Gefahr (für China) liegt in der vollkommenen Leere und Fäulnis der geistigen Welt des ganzen chinesischen Volkes. Von den 400 Millionen Einwohnern Chinas sind 390 Millionen dem Aberglauben verfallen. Sie glauben an Geister und Gespenster, an Wahrsagerei, an das Schicksal, an den Despotismus. Es gibt absolut keine Anerkennung des Individuums, des Ich, der Wahrheit. Und zwar weil das wissenschaftliche Denken sich nicht entwickelt hat … Die Volksmassen haben nicht die geringste Ahnung von Demokratie und nicht die geringste Vorstellung davon, was Demokratie ist…

Mao wollte Politik machen – ursprünglich mit friedlichen Mitteln –, er musste aber feststellen, dass es in der Gesellschaft gar keine Grundlage gab, um Politik zu machen. Die chinesische Gesellschaft war keine politische Gesellschaft, und der Vorstellungshorizont der Menschen war so eingeengt, dass sie in allen öffentlichen Angelegenheiten nur an sich selbst und ihren eigenen Vorteil dachten, obendrein abergläubisch und in irrationalen Traditionen verhaftet dachten und handelten. So gesehen ist es vielleicht besser, wenn man China nicht regieren muss. Aber Mao wollte genau das allerdings. Das war also eine Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat. Allerdings hat er sie auch einigermaßen ausgelöffelt. Mao hat China auf jeden Fall modernisiert und er ist als großer Modernisierer in die Geschichte eingegangen.

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George Kennan, wichtiger amerikanischer Diplomat und eine Art geistiger Vater des Kalten Krieges, meinte 1948, dass die Gesellschaften Asiens von der amerikanischen zu verschieden seien, als dass sie von den Amerikanern in adäquater Weise begriffen werden könnten, und als dass die Amerikaner eine nützliche Rolle in ihrer Entwicklung spielen könnten. Daher sollte die US-Politik das auch unterlassen. Er schrieb in Memo PPS23: For these reasons, we must observe great restraint in our attitude toward the Far Eastern areas. The peoples of Asia and of the Pacific area are going to go ahead, whatever we do, with the development of their political forms and mutual interrelationships in their own way. This process cannot be a liberal or peaceful one. The greatest of the Asiatic peoples—the Chinese and the Indians—have not yet even made a beginning at the solution of the basic demographic problem involved in the relationship between their food supply and their birth rate. Until they find some solution to this problem, further hunger, distress, and violence are inevitable. All of the Asiatic peoples are faced with the necessity for evolving new forms of life to conform to the impact of modern technology. This process of adaptation will also be long and violent. It is not only possible, but probable, that in the course of this process many peoples will fall, for varying periods, under the influence of Moscow, whose ideology has a greater lure for such peoples, and probably greater reality, than anything we could oppose to it. All this, too, is probably unavoidable; and we could not hope to combat it without the diversion of a far greater portion of our national effort than our people would ever willingly concede to such a purpose.

Vor langer Zeit habe ich einmal eine Gegenüberstellung von Mao und Indiens Nehru gelesen. Nehru wird im Allgemeinen als der viel sympathischere, humanere Politiker wahrgenommen. Doch vielleicht war der Gestaltungswahn Maos und seine Manie, sein Land zu modernisieren, trotz all der Katastrophen, die er mit sich brachte – und der irrationalen Katastrophe, der er für sich genommen war – segensreicher für sein Land, als die vergleichsweise Lethargie, die man in vielen anderen Entwicklungsländern hatte/bis heute hat. Diese Lethargie tut nichts gegen die strukturelle Gewalt und die Armut, die in einem Land herrscht. Sie ist daher ebenso für großflächiges Elend und strukturelle Gewalt verantwortlich, nur dass sie in ihren diesbezüglichen Resultaten stiller und normalisiert daherkommt. Vielleicht war so Nehru mit seiner Politik für größeres und dauerhafteres Leid verantwortlich als Mao mit der seinen. 1962 kam es zu einem Grenzkrieg zwischen Indien und China; wenn man so will, zu einer direkten Konfrontation zwischen Mao und Nehru. Angeblich hasste Mao China. In den späten 1960er Jahren kam es auch zur Formierung von maoistischen Rebellen in Indien, den Naxaliten, die bis heute in einem low intensity conflict mit dem indischen Staat verwickelt sind. Ende der 2000er Jahre war er zuletzt wieder virulenter geworden.

Gerne werden seit einiger Zeit zwischendurch Überlegungen angestellt, ob Indien China als Supermacht überholen, sogar ausbooten könnte. Dagegen ins Feld geführt werden zum Beispiel der schlechte Zustand der indischen Infrastruktur und auch die mangelnde Investition ins indische Humankapital, die schlechte Koordiniertheit der indischen Politik und die Korruption, die zwar in beiden Ländern vorhanden ist, trotz der in China die Dinge aber doch effizienter erledigt werden als in Indien. China hat solche Probleme und Rückständigkeiten zumindest nicht im selben Maße. Wie man sagt, sei China im Planen und Vorausschauen besser als Indien; die indische Art, Probleme in Angriff zu nehmen, sei ziemlich inkrementalistisch und verlasse sich erheblich auf Flickschusterei, die also dazu führe, dass die eigentliche Lösung von Problemen immer wieder verschleppt werde, und die Gewalt als strukturelle Gewalt normalisiert bleibe. Angeblich sterben tausende Menschen in Indien bei Unfällen mit den völlig überfüllten Pendlerzügen. Der Lärm, der in den Nachtzügen herrsche. In Indien herrsche kein Verständnis dafür, dass die persönliche Sphäre nicht in die öffentliche hineinreiche. Inder spielten im Nachtzug ihr Radio so laut, wie es ihnen gefällt, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitreisenden. Daher sei die öffentliche Sphäre in Indien in konkreter wie in abstrakter Hinsicht eine Kakophonie. In dieser Kakophonie komme die Dysfunktionalität Indiens (also der mangelnde zwischenmenschliche Zusammenhalt) zum Ausdruck, hat mal einer gemeint, der es wissen muss, und dem ich nicht unbedingt widersprechen will.

Ich begrüße die Möglichkeit, über diese Betrachtung fremder Länder und Kulturen ein bisschen eurochauvinistisch sein zu können. Der amerikanische/Eurochauvinismus ist unter den (Halb)Gebildeten heutzutage sehr schlecht angeschrieben, wenn nicht als geradezu satanisch verpönt. Daher freue ich mich über eine solche Abwechslung, die durch die Betrachtung nicht-europäischer Kulturen und Mentalitäten möglich wird. Bei der Gelegenheit können wir zum Beispiel hindische Nationalisten (und linke woke Aktivisten, die mit solchen Nationalisten eine seltsame Allianz eingehen) ärgern. Die Figur des Apu bei den Simpsons wurde vor einigen Jahren als „problematisch“ eingestuft; obwohl der eigentlich eine der sympathischsten, rationalsten und persönlich reifsten (außerdem frauenfreundlichsten) Charaktere von Springfield ist. Wenngleich natürlich ein wenig klischeehaft. Ich finde bei der Gelegenheit, man könnte über Apu einen indischen Einwanderer zeigen, der näher an der Realität ist. Also zum Beispiel einen hindischen Nationalisten und Modi-Fan. Keinen großen Freund der Demokratie. Einen Rassisten gegenüber Europäern (und diversen anderen), von denen er sich in seinem indisch kulturellen Überlegenheitsdünkel gekränkt fühlt. Einem Anhänger des Kastensystems, voller Verachtung für die ungewaschenen Armen und Unberührbaren. Der seine Frau zumindest schlägt; schließlich hat man eine so genannte Rape Culture in erster Linie in Indien. Anstelle von seinem freundlichen Ganesha könnte er mit seinen heiligen Kühen kommen, die überall hindürfen und die überall alles vollscheißen. Verkehrsregeln dürften für ihn nicht existieren. So wie John McCain einmal erwischt wurde, wie er (zur Melodie von Barbara Ann von den Beach Boys) Bomb bomb bomb, bomb Iran intonierte, könnte der realistische Apu Bomb bomb bomb, bomb Pakistan singen. Etc.

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Die Mao-Bibel kann man als etwas Unerträgliches und Trockenes ansehen. Aber auch als etwas sehr Erfrischendes, und sogar, neben dem Trost der Philosophie von Boethius, den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, den Büchern vom glücklichen Leben von Seneca, dem Zarathustra von Nietzsche, den Fragmenten von Epikur und Epiktet, dem Handorakel von Balthasar Gracian, dem Buch von der Nachfolge Christi von Thomas Kempen, den Predigten von Meister Eckhart, den Gesprächen von Konfuzius, oder dem Tao te king oder dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken von mir, in die Reihe der großen Weisheitsbücher der Weltgeschichte stellen. Sie schildert eine Gesellschaft, einen Umgang der Menschen untereinander, ein Verhalten von Vorgesetzten zu ihren Untergebenen, von Militärführern zu Soldaten, und von revolutionären Soldaten und Führern gegenüber dem einfachen Volk, wie sie letztendlich sein sollten. Sie schildert eine ideale Welt. Dem kann man sich nicht leicht entziehen. Vor allen Dingen nicht aufgrund der ebenso einfachen und klaren, beinahe bildhaften Sprache von Mao Zedong (und seiner Redakteure), ihrem emotionalen Appell und ihrer großen Suggestivität. Eine onkelhafte Weisheit des mittleren Alters scheint von Mao auszugehen, die gleichzeitig milde und unaufdringlich ist und ebenso bestimmt und den Weg vorgebend. Diese ganz große Angelegenheit von der Schaffung der idealen Welt und dem revolutionären Umstürzen der jetzigen, altersschwachen Welt, erscheint als eine Art Märchen, als eine eben biblische Angelegenheit, die allerdings erst vor uns liegt, jedoch noch zu Lebzeiten stattfindet. Allein die kommunistische Ideologie und Gesellschaftsordnung sind voller Jugendfrische und Lebenskraft, sie gleichen einer allmächtigen Naturgewalt, die mit unwiderstehlicher Kraft über das ganze Erdenrund hinwegfegt. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Es ist die Geschichte einer ganz großen Zeit und von ganz großen Taten. Der Edelsinn und die edle Tatkraft derer, die sich an der Revolution beteiligen, machen, so wie sie in der Mao-Bibel beschrieben werden, einen für ein paar Momente durchaus ergriffen dreinschauen. Oder mögen die Beteiligung an der Revolution als Lebensaufgabe erscheinen lassen. Vor allen Dingen, da ganz einfach davon ausgegangen wird, dass der Sieg der eigenen Sache vom Sozialismus quasi gesetzlich verbürgt sei, so wie es viele Marxisten bis heute aus irgendwelchen Gründen annehmen. Das sozialistische System wird letzten Endes an die Stelle des kapitalistischen Systems treten; das ist ein vom Willen des Menschen unabhängiges Gesetz. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Solcherart sind die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Die Schriften von Mao in ihren Langfassungen erscheinen als deutlich durchwachsenere Angelegenheit und von deutlich geringerer intellektueller Spannkraft. So etwas wie eine philosophische Bedeutung erlangten allerdings die Schriften von keinem marxistisch inspiriertem Revolutionsführer, mit der Ausnahme Lenins. Die grundlegenden Eigenheiten der maoistischen Interpretation des Marxismus-Leninismus – dass die chinesische Revolution sich nicht auf die Arbeiter sondern auf die Bauern stützen müsse, dass der revolutionäre Kampf nicht von den urbanen Zentren sondern vom Land aus initiiert werden müsse, u. dergl. – waren dabei aber tatsächliche geistige Kinder und originäre Leistungen von Mao. Auf so etwas konnten selbst chinesische Marxisten kaum kommen, da es zu sehr vom orthodoxen Marxismus abweicht. Mao war sehr wohl ein innovativer Denker und ein erfrischender Intellekt. Auf seine Weise war der Vorsitzende Mao Zedong dann auch tatsächlich „der größte lebende Marxist-Leninist seiner Zeit“. Später waren es immerhin Kim Il-sung und Abimael Guzman, die einen solchen Titel für sich in Anspruch nahmen.

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1949 kam Mao in China an die Macht. Der anhaltende Bürgerkrieg in China war damit beendet. Gleichsam aufgrund der dynamischen Natur der Weltrevolution wurde China aber gleich in einen anderen Bürgerkrieg hineingezogen: den in Korea. Der Koreakrieg wurde hauptsächlich von Stalin angezettelt. Stalin sah eine große Konfrontation zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager als unvermeidlich an und er wollte mit dem Koreakrieg die Amerikaner ablenken und ihre Kräfte binden. Mao war an einer solchen Eskalation nicht sonderlich interessiert; Stalin hingegen umso mehr, auch China in den Konflikt reinzuziehen und es, wenn möglich, zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und China kommen zu lassen. Für Stalin selber war der Koreakrieg ein risikoarmer Stellvertreterkrieg. China wurde tatsächlich durch die Gravitation der Ereignisse in den Krieg hineingezogen und opferte seine eigenen Leute in großer Zahl um den nordkoreanischen Brüdern zu helfen. Stalin war daran interessiert, dass der Krieg möglichst lange dauern und möglichst blutig sein würde. Bereits 1951 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg zu beenden, aufgrund der Erschöpfung bei allen involvierten Parteien. Stalin drängte jedoch auf dessen Fortsetzung. Dass der Krieg möglichst brutal geführt werde, helfe den chinesischen und koreanischen Genossen auch, „Kampferfahrung“ zu sammeln, so eine weitere seiner Begründungen. Tatsächlich wurde der Koreakrieg dann 1953 beendet, nach Stalins Tod – allerdings nur mit einem Waffenstillstand. Dies hilft dem nordkoreanischen Regime bis heute, das Land in eine Festung umzuwandeln, eine Art permanenten Notstand bzw. eine Art Militärdiktatur auszurufen und der Bevölkerung gegenüber so zu tun, als sei man nach wie vor „im Krieg“ gegen die „Imperialisten“.

360.000 chinesische Soldaten wurden nach offiziellen Angaben im Koreakrieg getötet oder verwundet. Kim Il-sung war jedoch nur bedingt dankbar. Er blieb eher der Sowjetunion als China hörig, nicht zuletzt um sich dessen natürlicher Dominanz zu entziehen. Auch wenn er Elemente des Maoismus übernahm, setzte er mit seiner Juche-Ideologie auf nationale Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit. Auch wenn das eine gewisse rationale Grundlage hat (nicht allzu sehr unter die Fittiche fremder Großmächte zu gelangen), scheint abermals die Pathologie eines Führers als wesentliches Motiv hinter einem politischen Gesamtprogramm. Kim Il-sung sollte bald schon seinen eigenen Personenkult im Land (und auch auf der internationalen Bühne) in einem Maße aufblähen, das auch den Personenkult um Mao in den Schatten stellte. Er bzw. sein Propagandaapparat begann ihn, mit noch geschmackloseren Superlativen („genialer Führer“, „Rote Sonne der unterdrückten Völker in aller Welt“) zu belegen. In den 1970er Jahren begann er auch direkt mit Mao auf der internationalen Bühne als Führer der Weltrevolution zu konkurrieren oder generierte sich zumindest als „Führer aller asiatischen Menschen“. Gleich den Mao-Zedong-Gedanken gab er Kim Il-sung-Gedanken heraus. „Ihr habt Kim Il-sung gefördert. Wie einen kleinen Baum habt ihr ihn gepflanzt. Die Amerikaner haben ihn ausgerissen. Wir haben ihm am selben Ort wieder eingepflanzt. Jetzt ist er extrem aufgeblasen“, bemerkte Mao gegenüber Anastas Mikojan, einem alten sowjetischen Bekannten aus der Stalinzeit. Glaubt man der westlichen Berichterstattung, scheint die Kim-Dynastie, mit dem „Geliebten Führer“ an der Spitze, allem Kommunismus zum Trotz, das Land Nordkorea als eine Art Privatbesitz zu betrachten, und ihren Besitzanspruch über die „Genialität“ des „Ewigen Führers“ Kim Il-sung und seiner Rolle in der Befreiung Nordkoreas zu rechtfertigen. Heute herrscht ein Nordkorea ein bizarres paranoides und größenwahnsinniges Regime, das im Hinblick auf die Menschenrechtssituation weltweit annähernd den letzten Platz belegt. Das ist allgemein bekannt. Es wird dabei nur noch von dem Regime in Eritrea unterboten. Das ist praktisch nur großen Spezialisten bekannt, da im Gegensatz zu Nordkorea nie über dieses Regime berichtet wird.

Die Kommunisten nehmen gerne für sich in Anspruch, friedliebend zu sein und dass sie die beiden Weltkriege verhindert hätten. Stalin wäre aber offensichtlich so weit gegangen, über den Koreakrieg einen Dritten Weltkrieg zu provozieren, den er sowieso als „unvermeidlich“ ansah, und den er lieber gleich, in einem Augenblick der relativen Stärke führen wollte, als später. 1950 hatte sich die Sowjetunion von den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges relativ schnell wieder erholt, sie war in den Rang einer Atommacht aufgestiegen und hatte halb Europa unter ihr Herrschaftsgebiet gebracht. China war rot geworden. Es bestand die Möglichkeit, den Kommunismus in Asien zu verbreiten. In dem sinistren, agonalen Weltbild von Stalin tauchen solche Kalkulationen auch naheliegenderweise auf. Abgesehen von den persönlichen Pathologien Stalins offerieren der Marxismus-Leninismus und der Maoismus Möglichkeiten auf solche Sichtweisen aber auch ganz allgemein. Maos launenhafte Bemerkungen über die Atombombe als Papiertiger und dass China einen Atomkrieg nicht zu fürchten brauche, da seine Bevölkerung zu zahlreich sei um dabei restlos ausgelöscht zu werden, waren Provokationen eines Exzentrikers. Aber so ferne scheint ihm all das dann doch nicht gelegen zu sein. Ende der 1950er Jahre brach er allerhand Streitigkeiten vom Zaun, um die internationale Lage und die „friedliche Koexistenz“ zu destabilisieren. Vor allem wollte er einen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion heraufbeschwören und schließlich auch einen direkten Konflikt mit den USA, als er im Jahr 1958 Jinmen bombardieren ließ, einer von Nationalisten kontrollierten Inselgruppe zwischen dem Festland und Taiwan. Wenngleich er kein Interesse hatte, diese Inseln tatsächlich zurückzuerobern, manövrierte er sein Land in eine potenziell so gefährliche Situation, wie es später die Kubakrise für die Sowjetunion war. Das Ziel war, die Amerikaner unter Druck zu setzen und sich als „Revolutionsführer“ zu gerieren – vor allem aber wohl, um Druck im eigenen Land aufbauen zu können und China in eine Festung umwandeln zu können, die sich umso rascher industrialisieren müsse um „wehrhaft“ zu bleiben (was dann im Großen Sprung nach vorn versucht wurde). Das Risiko, das Mao mit dieser Verschärfung der internationalen Lage heraufbeschworen hatte – ein weltweiter Atomkrieg – war hoch. Und Mao schien einer solchen Konfrontation auch tatsächlich nicht abgeneigt. Seinem Leibarzt gestand er, dass er es auf eine umfassende Konfrontation abgesehen hatte, ohne Rücksicht auf die menschlichen Konsequenzen: „Vielleicht lassen sich die USA dazu bewegen, eine Atombombe auf Fujian abzuwerfen. Vielleicht werden dadurch zehn oder zwanzig Millionen Menschen getötet“. Auf Chruschtschow blickte Mao nicht zuletzt auch wegen dessen Entspannungspolitik mit den USA herab (auch wenn er eine solche dann später gemeinsam mit Nixon einleitete).

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Nach dem Tod Stalins verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China, bis sie schließlich von einer irrationalen Feindseligkeit bestimmt waren. Eine solche Dynamik liegt konkurrierenden Großmächten wohl in einem erheblichen Grad inne. Trotzdem war diese Degeneration hauptsächlich ein Werk Mao Zedongs.

Mao Zedong hatte große Ehrfurcht vor Joseph Stalin. Ohne die wirtschaftliche und militärische Hilfe, die die chinesischen kommunistischen Rebellen während der Jahrzehnte des Bürgerkriegs von der Sowjetunion erhalten haben, wären sie wohl untergegangen. Insofern verdankten die chinesischen Kommunisten den sowjetischen vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel. Seit Beginn ging diese Hilfe aber damit einher, die chinesischen Kommunisten unter die Fittiche Moskaus zu bringen und sie zu einem (oftmals schamlos als solchen ausgenutzten) Instrument der sowjetischen Außenpolitik zu machen. Stalin benahm sich schließlich, auch nachdem Mao zum Herrscher von China aufgestiegen war, sagenhaft arrogant, wenn nicht niederträchtig gegenüber ihm. Das rationale Kalkül, einen potenziell gefährlichen Konkurrenten klein zu halten, hat dabei ebenso eine Rolle gespielt, wie die irrationale Seltsamkeit von Stalins Charakter. Auch in ganz praktischer Hinsicht gab Stalin Mao in seinen hochfliegenden Industrialisierungsplänen fortwährend Dämpfer. Er wollte, dass sich China bescheidenere Ziele setzte als Mao es vorhatte. Das war wahrscheinlich auch gut gemeint, denn aufgrund der eigenen Erfahrungen wussten die Sowjets, was für hohe menschliche Kosten ein solcher Kurs fordern würde, und dass eine überhitzte wirtschaftliche und industrielle Entwicklung die Gefüge im Land insgesamt auseinanderbringen würde (was sich spätestens beim Großen Sprung nach vorn für China entsetzlich bewahrheiten sollte).

Nach Stalins Tod bemühte sich die sowjetische Führung hingegen, Mao mit allen nur erdenklichen Mitteln entgegenzukommen. Sie hatte Angst, dass sich Maos China, bei einer Fortsetzung der bilateralen Beziehungen im Stile Stalins, beleidigt aus dem sowjetischen Orbit bewegen könnte. Das passierte dann tatsächlich – allerdings gerade deswegen. In Chruschtschows übertriebener Jovialität begann Mao eine Schwäche zu wittern – etwas, das er bei Politikern verachtete. Die Geheimrede von Chruschtschow 1956, in der er mit dem Stalinismus brach und sich von ihm loszusagen suchte – womit er indirekt auch eine Richtung für alle anderen kommunistischen Regierungen vorgab – stieß Mao abermals sauer auf (unter anderem, da es ja auch seinen eigenen Herrschaftsstil unterminierte). Der Stalinismus war vor allem aber kein Modell für die Sowjetunion der 1950er und 1960 Jahre mehr, für eine einigermaßen fortgeschrittene, aufgeklärte, urbanisierte Gesellschaft, die zunehmend dynamischer wurde. Und in der die Bevölkerung an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben wollte, die unter Stalin erfolgt ist, die aber der Produktionsgüterindustrie gegolten hat. Die sowjetische Bevölkerung wollte, nach Jahrzehnten der Entbehrung, endlich auch konsumieren. Die sowjetische Führung musste daher auch die Konsumgüterindustrie ausbauen (was ihr, bis zuletzt, nur in unzureichendem Maße gelungen ist – da das Insignium und die Zuliefererindustrie für die Staatsmacht eben die Produktionsgüterindustrie war: das hat mit zum Untergang der Sowjetunion beigetragen). Vor allem waren die Ineffizienzen der Planwirtschaft nur allzu deutlich. Daher versuchte die Sowjetführung die Wirtschaft und auch die Gesellschaft zu liberalisieren.

Mao war in eigentümlicher Weise nicht in der Lage, dergleichen nachzuvollziehen (wie es allerdings auch etliche andere Kommunisten in aller Welt nicht waren). Er sah im sowjetischen Kurs eine „bourgeoise Restauration“, die es im Sinn der echten Revolution immer und überall zu bekämpfen galt. Es ist bemerkenswert, wie schematisch Mao dachte und wie wenig Tiefenschärfe seine Wahrnehmung hatte, wenngleich solche Anti-Leistungen Marxisten und ideologisch denkende Menschen freilich immer wieder mit Leichtigkeit aufzubringen imstande sind. Auch Lenin hält 1920 fest (in Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus): Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. Etwas darauf musste Lenin all das Gewicht seiner Autorität in die Waagschale werfen, um seine bolschewistischen Genossen von der Notwendigkeit der Neuen Ökonomischen Politik zu überzeugen. Die schließlich dann auch wieder abgeschafft wurde. Indem der Marxismus sich gegen das Bürgerliche und gegen das Kapitalistische insgesamt wendet, ist es naheliegend, passiert es beinahe gezwungenermaßen, dass er das auf allen Ebenen tut (auch wenn heutige Marxisten das, im Großen und Ganzen, natürlich nicht mehr tun würden). Ohne die Vergesellschaftung der Landwirtschaft kann es keinen vollständigen, gefestigten Sozialismus geben. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Bei Mao wurde diese Haltung nur auffälliger und welthistorisch wirksam. Auffällig und welthistorisch wirksam wurde auch das Zerwürfnis zwischen den sozialistischen Supermächten China und der Sowjetunion. Es sorgte für erhebliche Irritationen innerhalb des kommunistischen Lagers. Mao steigerte sich immer mehr in eine Verachtung gegenüber der „revisionistischen“ Sowjetunion hinein, es kam zu einem Grenzkrieg, einer bisweilen gefährlichen Zuspitzung der Hostilitäten, zum Leidwesen der Bevölkerung auch zu einem Ausbleiben von sowjetischen Hilfslieferungen an China, als China sie am nötigsten gebraucht hätte. Während Mao in den Sowjetführern gleichsam Antikommunisten sah, sahen die Sowjetführer in Mao einen unverantwortlichen Abenteurer.

Das Festhalten vieler Kommunisten am Stalinismus hat auch damit zu tun, dass der Stalinismus als etwas von Kompliziertheiten Gereinigtes erscheint, etwas – dem Faschismus Ähnliches – ästhetisch Einwandfreies, Unkontaminiertes. Er kommt der schematischen Wahrnehmung entgegen. Er beruht auf eindeutigen Freund-Feind-Unterscheidungen, indem er selbst in einem hohen Maß auf Feindseligkeit, Paranoia und Frontstellung beziehen beruht. Indem er selber der Feind ist. Der Kommunismus/Marxismus hat einerseits eminent konstruktive Elemente, andererseits erhebliche, die sich über Feindseligkeit konstituieren. Wie das eine und das andere dann gewichtet ist, hängt vom individuellen Kommunisten ab. Bei Mao gab es ein starkes Bedürfnis nach Konstruktivität. Aber vielleicht war das, was noch stärker in ihm waltete, die Feindseligkeit. 

Allerdings war die Entscheidung für eine Übernahme stalinistischer Politik eine pragmatisch angezeigte. Bei all ihrer abstoßenden Brutalität hatte die Industrialisierung nach stalinistischem Vorbild eine entscheidende Attraktivität: sie funktionierte als Industrialisierung und Modernisierung. Sie war als solche ein Erfolgsmodell, das Ländern, die vor ähnlichen Problemen standen wie Russland, als Vorbild und Leitfaden zu dienen vermochte: also eben auch China. Das Schwarzbuch des Kommunismus wird teilweise als übertrieben antikommunistisch kritisiert. Aber auch dessen Herausgeber Stéphane Courtois ruminiert in der Einleitung, dass Stalin wohl als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen werde. Er habe aus einem unbedeutenden Agrarland, der Sowjetunion, eine Industrie- und Atommacht gemacht. Das halten sich Kommunisten und Stalinisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass solche Erfolgsgeschichten im 20. Jahrhundert eigentlich Legion waren und auch immer wieder von konservativen, kapitalistisch orientierten, antikommunistischen Politikern angeführt wurden). Mao war aber kein konservativer und kapitalistisch orientierter Politiker, er wollte nicht nur die Wirtschaft seines Landes entwickeln, sondern auch den Sozialismus.

Die beiden katastrophalsten, unheimlichsten Entscheidungen, die Mao dabei zu verantworten hatte, waren der Große Sprung nach vorn und die Kulturrevolution.

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Ein besonders radikales „Lebensraum im Osten“-Kolonialisierungsprojekt der Nazis hatte den Tod von 30 Millionen Menschen in Osteuropa im Laufe von mehreren Jahrzehnten einkalkuliert. Beim Großen Sprung nach vorn Ende der 1950er Jahre in China könnten bis zu 45 Millionen Menschen gestorben sein.

Der Große Sprung nach vorn sollte ein gigantisches wirtschaftliches Entwicklungsprojekt sein, ein Industrialisierungsprojekt in einem nach wie vor hauptsächlich agrarwirtschaftlich dominierten Land. Zu diesem Zweck wurden massiv Ressourcen umgeleitet: um die Industrialisierung zu befördern wurde die Landwirtschaft vernachlässigt. Von Enthusiasmus getrieben, bzw. von den Kadern angeordnet, haben Bauerndörfer Hochöfen errichtet, in der Annahme, man könne damit Stahl in hoher Qualität herstellen (Mao hat sich allen Ernstes gewundert, warum die amerikanischen Kapitalisten riesige und kostspielige Stahlwerke konstruieren würden, wo die chinesischen revolutionären Bauern doch zeigen würden, dass es viel einfacher ginge – er würde bald erfahren, worin der Unterschied liege). All das hat dazu geführt, dass massiv Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen wurden – für Industrialisierungsprojekte, die wenig Nutzen brachten. Konfrontiert mit einer mageren Wirtschaftsleistung – und vor allem geringen landwirtschaftlichen Ertrag – haben die lokalen Kader geschönte Zahlen an die nächsthöhere Instanz weitergegeben, die die Zahlen wiederum geschönt haben – bis schließlich ein völlig verzerrtes Bild entstanden ist, das die sich anbahnende Gefahr einer katastrophalen Unterversorgung verschleiert hat. Ausgerechnet zu dieser Zeit kam es in China zu den schwersten Wetterextremen seit Menschengedenken: einer verheerenden Dürre, begleitet von sintflutartigen Regenfällen und Taifunen, die für Überschwemmungen und Zerstörungen sorgten. Als die Katastrophe bereits offenbar war, hat die chinesische Führung sie wiederum versucht vor dem Ausland zu verbergen, und trotz des allenthalbenen Hungers im eigenen Land Getreide exportiert. Genaue Zahlen sind unbekannt, aber man geht davon aus, dass der Große Sprung nach vorn 45 Millionen Todesopfer mit sich brachte.

Der Große Sprung nach vorn erscheint als eine katastrophale Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. Für einen Narzissten wie Mao ist so was immer wieder charakteristisch. In seinem Enthusiasmus und seiner ehrlichen Begeisterung war er aber nicht allein, ein solcher Enthusiasmus und eine revolutionäre Begeisterung herrschte im ganzen Land, in weiten Teilen der Bevölkerung. Leider entsteht Enthusiasmus immer wieder, wenn als Grundlage Dilettantismus und Inkompetenz herrscht. Weder Mao noch die meisten anderen in der chinesischen Führung hatten Ahnung von Wirtschaft. Dazu kommt noch das Potenzial zu enthusiastischer Selbstüberschätzung und Fehleinschätzung der Realität, das im Marxismus und in der revolutionären Mentalität selbst liegt. Und nicht zuletzt eine krasse Rücksichtslosigkeit gegenüber menschlichen Opfern.

Nach der Machtübernahme hatte Mao die Möglichkeit, China nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Der Sozialismus und der Kommunismus sind an und für sich utopische Projekte; vor allem für ein damals sehr rückschrittliches Land wie China stellte sich die Frage wie der Sozialismus in der Gegenwart verwirklicht werden könnte. Es gab in der KPCh liberalere Kräfte als Mao und es gab in den 1950er Jahren Phasen einer „Neuen Demokratie“. Mao stand all dem im Wesentlichen ablehnend gegenüber. Er entschied meistens zugunsten der sozialistischeren Optionen. Es wurde (mit terroristischen Mitteln) eine Agrarreform durchgeführt und eine Enteignung der Großbauern, bevor man sich den städtischen Besitzenden zuwandte. Privates Unternehmertum bestand bis 1953. Als die Wirtschaft hinreichend stabilisiert war, wurde der Erste Fünfjahresplan beschlossen, der eine Umstellung auf Planwirtschaft beinhaltete. Das Handwerk wurde in Kooperativen organisiert, die Industrie wurde verstaatlicht. Vor allem in den ersten Jahren stand die chinesische Führung vor dem Problem, die Wirtschaft zu organisieren und die Grundversorgung zu sichern. Notgedrungenermaßen musste eine solche Organisation zentralisiert, bürokratisch und von oben herab erfolgen – entgegen aller Romantik von der sozialistischen „Selbstorganisation“ der Massen und ihrer Betriebe. Ein solcher autoritärer Top-Down Sozialismus, wo Betriebsführer und Kader die Macht über wirtschaftliche Betriebe hatten, wurde jedoch beibehalten. Die Arbeiterselbstorganisation wurde abgewürgt und durch eine Einheitsgewerkschaft ersetzt, die eher die Interessen des Staates vertrat als die der Werktätigen. Damit – über die Betriebsführer, die Kader, die Funktionäre – entstand an und für sich eine neue Ausbeuterklasse in China (noch dazu eine sehr korrupte). Die Revolution schuf eine neue Ausbeuterklasse und eine neue Klassenherrschaft. Das führte vielerorts zu Protesten. Vielleicht hat Mao das gedämmert, dass die Resultate seiner Politik den eigentlichen ideologischen Intentionen dieser Politik zuwiderliefen und sie konterkarierten. Vielleicht war das ein Grund, warum Mao die Kulturrevolution anzettelte.

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Die wahren Helden sind die Massen, wir selbst aber sind oft naiv bis zur Lächerlichkeit; wer das nicht begriffen hat, wird nicht einmal die minimalen Kenntnisse erwerben können. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Den Volksmassen wohnt eine unbegrenzte Schöpferkraft inne. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Das verheerende Scheitern des Großen Sprungs nach vorn führte zu einem Machtverlust Mao Zedongs. Der spätere Reformer Deng Xiaoping und Liu Shaoqi übernahmen das Ruder und versuchten, wirtschaftsliberale Reformen einzuleiten. Lange war Mao aber nicht weg. Mitte der 1960er Jahre war seine Macht wieder zementiert (die Interpretation, dass die Kulturrevolution als Machtkampf gegen Gegner in der Partei intendiert war, scheint daher nicht unmittelbar stichhaltig). Trotzdem leitete Mao Ende der 1960er Jahre die Kulturrevolution ein.

Die proklamierte Idee der Kulturrevolution war, die revolutionäre Energie der Volksmassen freizusetzen. In der Reichskristallnacht der Nazis schien es deutlich zivilisierter zuzugehen, wie in der Kulturrevolution, in der großflächig unglaubliche Fälle von Mordlust und Sadismus sich ereigneten, die vorwiegend junge (jugendliche) Chines:innen an Personen auslebten, die sie störten. Schüler zwangen ihre Lehrer, Nägel und Exkremente zu essen, folterten sie zu Tode, vereinzelt kam es zu Fällen von Kannibalismus (bei denen Kulturrevolutionäre stolz darauf waren, „Klassenfeinde“ verspeist zu haben). Mao war ob dieser Ausbrüche der revolutionären „Energien“ – und auch der revolutionären Gewalt – begeistert. Man könne keinen Vorwurf machen, „wenn gute Menschen schlechte Menschen töten“. Wie so viele Kommunisten und Revolutionäre in ihrer mangelnden intellektuellen und moralischen Tiefenschärfe, sah er im Tumult, im Chaos, in der Freisetzung der „revolutionären Energien“ etwas Positives, etwas, das Verkrustungen aufbreche.

Etliche Kommunisten und Revolutionäre stieß Mao mit seiner Kulturrevolution aber auch vor den Kopf, vor allem in der Sowjetunion. Auch dem einstmals loyalen Ho Chi Minh waren seit einiger Zeit Zweifel an Maos Unfehlbarkeit aufgekommen. „Ist hier irgendjemand im Saal, der China besser versteht als ich?“, fragte Ho Chi Minh bei einer Parteiversammlung in die Runde – worauf keiner antwortete. „Und nicht einmal ich kann begreifen, was diese „Kulturrevolution“ wirklich ist.“ Dabei wurde es ja überdeutlich erklärt. Maos Gefolgsmann Lin Biao brachte es zum Beispiel auf den Punkt: Das Ziel der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist die Ausrottung der bürgerlichen Ideologie, die Entfaltung der proletarischen Ideologie, die Umformung des Innersten des Menschen, die Revolutionierung ihres Denkens, die Ausrottung der Wurzeln des Revisionismus und die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems. So einfach und offensichtlich war das ja. Die große chinesische Kulturrevolution ist eines jener abgründigen Ereignisse in der Geschichte, dessen Unergründlichkeit und Abgründigkeit vorwiegend in seiner mangelnden Tiefe lag.

Seiner Frau, einer Hauptinitiatorin der Kulturrevolution, erklärte Mao in einem Brief die Kulturrevolution als „Übungsmanöver“, das „alle 7 bis 8 Jahre“ abgehalten werden müsse, um restaurativen, bourgeoisen Tendenzen in der chinesischen Gesellschaft und in der eigenen Partei entgegenzuwirken. Mit zunehmendem Alter wurde Mao zunehmend paranoider im Hinblick darauf, dass überall die Gefahr der „Restauration“ lauere. Es ist eigenartig, wie kategorisch, genauer gesagt schematisch Mao in seiner Ablehnung der „Restauration“ und des „Bourgeoisen“ war, wenngleich diese schematische Haltung für den Marxismus typisch ist. Trotzdem war und ist eine derartige Starrsinnigkeit keine Haltung von allen Kommunisten, sondern eine gewisse Idiosynkrasie Maos gewesen (die er freilich nach wie vor mit etlichen Kommunisten teilt). Aber Maos gesamtes Denken und Empfinden baute – neben seinen konstruktiven Elementen – eben stark auf einer elementaren Feindseligkeit auf. Und auf einem starken Konkurrenzkampf der Eitelkeit. Vielleicht konnte Maos Eitelkeit es nicht ertragen, dass der liberale Kurs seiner Genossen um Deng Xiaoping die bessere Idee war. Die Revolution war Maos Erbe, und er wollte sein Erbe bewahren. Der revolutionäre Impuls bei Mao hatte immer irrationale Elemente gehabt, und es gibt keine Garantie, dass Menschen statt altersweise und -milde immer noch irrationaler werden.

Der Kommunismus will eine „klassenlose Gesellschaft“ errichten. Die Kulturrevolution zielte aber vielmehr darauf ab, neue Klassenverhältnisse zu zementieren, genauer gesagt, kastenähnliche Verhältnisse. Angehörige der feudalen oder bourgeoisen Klasse – und deren Kinder – wurden als politisch unzuverlässig abgestempelt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die neue Kader- und Funktionärsschicht, und vor allem ihre Kinder, sahen hingegen in der Kulturrevolution die Möglichkeit, sich als politisch zuverlässige, gewünschte Klasse zu positionieren. Ihr Enthusiasmus und ihr revolutionärer Elan scheinen nicht zuletzt aus diesem ganz eigennützigen Motiv erklärbar.

Der Widerspruch des Maoismus, dass er sich einerseits an der „revolutionären Energie der Volksmassen“ erfreut, am Chaos und an der Instabilität, anderseits aber für strikt geordnete, repressive Verhältnisse sorgen will, trat auch mit der Kulturrevolution zutage. Anderen Mächten im Staat wurden die marodierenden Roten Brigaden zunehmend unangenehm, vor allem dem Militär. Mao musste schließlich die Roten Brigaden zurückpfeifen. In den kommenden Jahren setzte Repression und Terror gegen sie ein. Dabei ging der staatliche Terror weit über das hinaus, was die Roten Brigaden angerichtet hatten. Bis zu zwei Millionen Opfer forderte die Kulturrevolution. Nicht allein durch direkte Gewalt oder staatliche Repression, sondern auch durch die erneute Desorganisation, die die Kulturrevolution im Land hervorgerufen hatte. Vor allem in Hunan kam es im Zusammenhang mit der Kulturrevolution und der durch sie bedingten Umleitung von Ressourcen zu Hungersnöten.

Die Kulturrevolution ist den Chinesen dabei nicht nur in schlechter Erinnerung. Neben der echten revolutionären Begeisterung und der Woge des Optimismus brachte sie starke Gemeinschaftserlebnisse mit sich. Die meisten der Roten Brigaden marodierten nicht, sondern nutzten die Gelegenheit, um durch China zu reisen (nichtsdestotrotz wurden sie trotzdem dafür bestraft und lernten ihnen unbekannte und unattraktive Regionen Chinas dann auch so kennen, indem sie für Jahre dorthin deportiert wurden). Arbeiter protestierten im Rahmen der Kulturrevolution für bessere Bedingungen. Mao wollte mit der Kulturrevolution einen neuen, anti-bourgeoisen Menschen erschaffen. Kissinger zufolge fragen sich heute, in einem vom Kapitalismus durchdrungenen China, nicht so wenige Chinesen, ob Mao mit Bestrebungen nicht doch vielleicht irgendwo Recht hatte.

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Mao und Stalin wurden von ihrer loyalen Umgebung aufgrund von ihrer Intelligenz geschätzt, wenn nicht als eine Art Superintelligenz-Mysterium verehrt, und so wurde ihnen blind gefolgt. Tatsächlich waren sie im landläufigen Sinn ja auch recht intelligent. Ich schätze Mao und Stalin hatten einen IQ von um die 150. Was allerdings heißt das? Obwohl intellektuelle Höchstbegabung sehr selten ist, ist sie gleichzeitig ein weites Feld und breites Spektrum. Sie reicht von einem IQ von 145 bis zu vielleicht 200. Marilyn vos Savant, die als intelligenteste Frau der Welt gilt (IQ 186), meint dass unter den historischen Persönlichkeiten unter den Höchstbegabten, bei denen der IQ entweder bekannt war oder geschätzt werden kann, am unteren Ende der Skala politische Revolutionäre angesiedelt sind. Politische Revolutionäre sind also tatsächlich „volksnah“, indem sie nicht von erlauchtester Gescheitheit sind. Die Verheerungen, die politische Revolutionäre anrichten, stehen also sicher damit im Zusammenhang, dass es sich bei ihnen um die vergleichsweise unintelligentesten Höchstbegabten handelt, deren Einsichten in die gesellschaftliche Totalität vergleichsweise mangelhaft sind, und die im Denken zu wenig vorsichtig sind, zudem zu sehr dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. (Ferguson hat einmal ruminiert, die intelligenteste Herrschergestalt der Geschichte könnte der Großmogul Akhbar der Große gewesen sein. Akhbar der Große hatte wohl einen Intelligenzquotienten um die 170. Seine Herrschaft war tatsächlich segensreich für Indien.)  Am oberen Ende der Skala, bei Intelligenzquotienten von 190, vermutet Marilyn vos Savant hingegen „Schriftsteller“. Das wären dann also Leute wie Karl Marx.

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Wie ich vor vielen Jahren einmal einen der Vier Großen Klassischen Romane der chinesischen Literatur – Die Räuber vom Liang-Schan-Moor – gelesen habe, habe ich mir gedacht: Wie ähnlich sich die Menschen doch über alle Zeiten und Kulturen hinweg letztendlich sind! Das sind sie zwar, aber sie sind auch über Zeiten und Kulturen hinweg einigermaßen voneinander verschieden. Chinesische Menschen haben, durch die Akkulturation bedingt, andere Hirnstrukturen als z.B. Menschen im Westen.

China ist (wie man sagt, durch den in größeren Sozialverbänden stattfindenden Reisanbau begünstigt) eine kollektivistische Kultur, die sich von der vergleichsweise individualistischen Kultur des Westens einigermaßen unterscheidet. So haben Chinesen einen weniger ausgeprägten Begriff vom Individuum: sie erleben sich zunächst als Angehörige einer Familie. Das hat erhebliche Auswirkungen. Der Individualismus ist weniger ausgeprägt. Während Chinesen aufgrund von bestimmten Kulturleistungen, die sie erbringen müssen, wie das Erlernen ihres komplizierten Schriftsystems, bei bestimmten kognitiven Leistungen besser abschneiden als Westler, haben chinesische Schüler die meiste Angst nicht vor Prüfungen in Mathematik oder Fremdsprachen, sondern im freien Aufsatz. Also im Formulieren einer eigenen Meinung.

Die eigene Familie ist auch die Zelle des moralischen Zusammenhalts – der außerhalb der Familie nicht unbedingt existiert. Fremden gegenüber fühlen sich Chinesen moralisch nicht verpflichtet – ebenso wenig Vertrauen haben sie also in Fremde, die sich umgekehrt also auch ihnen nicht verpflichtet fühlen. Das Fehlen von einem echten Gemeinsinn und von einer Zivilgesellschaft in China hat hierin eine ihrer Wurzeln. Die ständige Angst der chinesischen Herrschenden, dass die Gesellschaft zerfallen könnte, es zu Aufständen oder einer plötzlichen Illoyalität der Bevölkerung kommen oder dass irgendetwas Unvorhergesehenes (Individuelles) passieren könnte, und ihr Kontrollfetischismus mögen uns irrational und barbarisch erscheinen – aber so unberechtigt bzw. grundlos ist das nicht.

Überhaupt sind das chinesische Denken und das moralische Empfinden einerseits ganzheitlicher, holistischer und mit großem geschichtlichen Sinn, der sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit beruft (daher allerdings auch vergleichsweise inflexibel). Andererseits sind sie aber auch unschärfer. Eindeutige Trennungen zwischen Gut und Böse treten hinter die Facettierungen, in denen moralisch zu bewertende Handlungen wahrgenommen werden, zurück. Chinesen leben, so gesehen, in einer fortwährenden moralischen Grauzone. Der geschichtliche Sinn und das ganzheitliche Denken beeinträchtigen das fortschrittliche Denken. Das „ganzheitliche“ Denken tritt auch so in Erscheinung, dass Chinesen überall Politik (zugunsten Chinas) hineinbringen, auch in Bereiche, wo man Politik in anderen Kulturen nicht haben will. Etliche Konfuzius-Institute, mit denen die Chinesen kulturellen Austausch betreiben und ihre Kultur vermitteln wollen, wurden in Deutschland bereits wieder geschlossen, weil sie ihre kulturellen Aktivitäten dauernd mit politischen Aktivitäten verquicken.

Während bei uns (vielleicht ein wenig dekadent) Bürgerrechte im Fokus der Wahrnehmung stehen, sind es in China Bürgerpflichten. Das alles durchdringende „konfuzianische“ Pflichtgefühl der Chinesen kompensiert den Mangel an eindeutigen Rechten, Rechtsstaatlichkeit (und deren Durchsetzung) und Rechtsansprüchen. Der Mangel an Rechtstaatlichkeit und Rechtsansprüchen (und auch an abstraktem Rechtsdenken) führt dazu, dass sich Chinesen in der Durchsetzung ihrer Ansprüche und Interessen viel mehr auf persönliche Beziehungen verlassen. Das wiederum führt zu Patronage, Klientilismus, Ineffizienz und Korruption. Auf der anderen Seite führt es zu einer großen Verlässlichkeit in dieser austauschhaften Beziehungshaftigkeit. Das soziale Kapital des Chinesen ist „Guanxi“, seine (von anderen als solche wahrgenommene) Fähigkeit, Gefallen zu erwidern und zu erweisen (was bei uns unter anderem auch den „Vitamin B“ entspricht). Da Gunaxi die eigentliche soziale Währung in China sind, scheuen sich Chinesen, ihr Gunaxi zu verlieren. Damit einhergehend räumen sie auch ungern Fehler oder moralische Versäumnisse ein. Es gilt, das „Gesicht“ zu wahren. Angeblich ist Reue kein großartig internalisiertes Gefühl bei den Chinesen.

Während im persönlichen Verkehr das Guanxi gepflegt wird, sind Chinesen im anonymen öffentlichen Verkehr oftmals ohne Höflichkeit, Manieren, Etikette und Distanz. Die „konfuzianische“ Unterdrückung ihrer Gefühle nach außen scheint auch dazu zu führen, dass Wut- und Gewaltausbrüche von Chinesen in der Öffentlichkeit häufig vorkommen. Während das vergleichsweise harmlos bleiben kann oder, mitgefilmt und auf TikTok veröffentlicht, sogar komisch wirken kann, war es das während der Kulturrevolution oder anderer von Maos Kampagnen, die den „revolutionären Volksgeist“ aufrufen wollten, durchaus nicht.

Für diese wertvollen Einblicke bin ich dem Buch Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht von Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron dankbar. Außerdem muss ich, um, wie ich hoffe, viele andere Dinge besser zu verstehen, unbedingt mal Die seltsamsten Menschen der Welt: Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde von Joseph Henrich lesen. Darin geht es darum, dass die Menschen des Westens durch lange Akkulturation besondere Hirnstrukturen ausgeprägt haben, auf deren Grundlage sie dann wieder entsprechende Lebenswelten geschaffen haben, die dann wieder die Hirnstrukturen geprägt haben. Der westliche Mensch mit seinen speziellen kognitiven Fähigkeiten und Dispositionen sei also nicht der Mensch an sich.

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Wir müssen aber bescheiden sein, und zwar nicht nur heute, auch nach 45 Jahren, für alle Zukunft. In den internationalen Beziehungen müssen die Chinesen den Großmacht-Chauvinismus entschlossen, gründlich, restlos und vollständig beseitigen. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Seit einigen Jahren zeigt man sich besorgt darüber, dass China weite (wenn nicht praktisch alle) Teile der Welt neokolonialisieren will. Aber dieser Prozess hat schon unter Mao begonnen. Im Rennen um Afrika zum Beispiel war schon Mao bedacht darauf, gehörig mitzumischen. Allerdings sind die Chinesen damals schon wie heute auf spezifische Widrigkeiten gestoßen. In Sambia (wie auch anderswo) wollten die Chinesen z. B. in geheimer Sache Rebellen ausbilden bzw. maoistische Rebellen heranzüchten. Aber anstatt die Chinesen mit einem Gastmahl zu empfangen, haben die Sambianer die Chinesen selbst fortwährend um Essen, Trinken und Zigaretten angeschnorrt. Die Afrikaner achteten während des Kurses nicht auf ihre Ausrüstung, zeigten wenig Durchhaltevermögen, „sie wurden gerne gelobt, hatten aber für Kritik wenig übrig“, und wollten nach drei Monaten nach Hause. So waren Maos Unternehmungen in Afrika für China hauptsächlich ein teurer Spaß. Die afrikanischen Regierungen waren geschickt darin, ihre Sponsoren auszuquetschen und die Rivalitäten zwischen den Supermächten auszunutzen. Die Chinesen haben ihrerseits Tonnen von Getreide nach Afrika geliefert, Kredite bereitgestellt, Agrar- und vor allem medizinische Hilfe geleistet. Diese Hilfsleistungen waren echt, im Sinne von ernst gemeint, vor allem sind sie aber unter einem politischen Vorzeichen (der eigenen Interessensvertretung) gestanden. Das galt nicht zuletzt für die politische Unterstützung und die Militärhilfen für genehme Regierungen (wie die von Kwame Nkrumah, Julius Nyerere oder Robert Mugabe) oder Rebellentruppen. Viele Afrikaner waren vom Maoismus und seiner antiimperialistischen Strahlkraft begeistert. Auch zur Ausrüstung der Black Panther in den USA gehörten neben schwarzen Lederjacken, Sonnenbrillen und Barrettmützen eine Mao-Bibel. Die chinesischen politischen Entwicklungshelfer wurden in Afrika auch als weniger arrogant wahrgenommen als die sowjetischen. Sie erschienen „brüderlicher“. Etliche Afrikaner, die China zur politischen Schulung besucht haben, zeigten sich jedoch nach einer Weile abgestoßen vom Rigorismus und Autoritarismus, von der Armut und der Öde des sozialen Lebens, die dort herrschten. Und nicht zuletzt vom chinesischen Suprematismus und Rassismus.

Niemals dürfen wir die hochmütige Haltung von Großmacht-Chauvinisten annehmen und wegen des Sieges unserer Revolution und einiger Erfolge bei unserem Aufbau überheblich werden. Jedes Land, ob groß oder klein, hat seine Vorzüge und Mängel. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

(Vor gut zehn Jahren habe ich wo gelesen, wie die alten Kader in China Angst haben vor ihrer eigenen Parteijugend. Sie selber haben China als armes Land erlebt, dass mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat – während die Jugend nur den beispiellosen Boom und Aufstieg kenne. Und deswegen extrem selbstbewusst bis größenwahnsinnig sei. In der nahen Zukunft wird diese Kaderjugend an die Macht kommen. Davor haben die heutigen hohen Kader eine Heidenangst.)

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Zu den letzten politischen Taten Maos zählte, dass er die Roten Khmer in Kambodscha unterstützt und sie in ihrem besonders radikalen Kurs bestärkt hat, in dem er offenbar die tatsächliche Verwirklichung seiner kulturrevolutionären Ambitionen gesehen hat. Nachdem die Roten Khmer in Kambodscha die Macht übernommen hatten, trafen Pol Pot und Ieng Sary (ein ranghoher Roter Khmer) Mao im Juni 1975 in China. Wenig ist über das Gespräch bekannt, unter anderem, da die Akten von beiden Seiten unter Verschluss gehalten werden und Pol Pot später seine Dolmetscher hinrichten hat lassen (einer der beiden dabei anwesenden Dolmetscher hatte Glück und konnte entkommen und berichten). Soweit man weiß, hat sich Mao bei den Roten Khmer damals darüber beklagt, dass „böse Kräfte“ den Kommunismus und die Kulturrevolution in China blockieren würden. Auf die Verwirklichung seines politischen Ideals hoffe er nun in Kambodscha. Pol Pot bekräftigte seinerseits, wie viel er Mao ideologisch zu verdanken habe.

Pol Pot war ein mittelmäßiger Intellektueller (ein Lehrer), der im persönlichen Umgang durch Liebenswürdigkeit und Charme auffiel. Er kam als Student in Frankreich mit revolutionärem Gedankengut in Berührung und schloss sich in Kambodscha den Kommunisten an (dass er nach Frankreich konnte und eine gute Ausbildung genoss, hatte er Verbindungen seiner Familie zur kambodschanischen Königsfamilie zu verdanken). Durch den Kampf im Untergrund wurden Pol Pot und die Roten Khmer fortwährend radikalisiert. Noam Chomsky weist auf die Bombardierung Kambodschas durch die Amerikaner im Vietnamkrieg hin, um eine weitere ideologische Radikalisierung der Roten Khmer und die alptraumhaften, auf Traumatisierungen beruhenden späteren Entwicklungen im Land erklärlich zu machen.

Auf jeden Fall traten die Roten Khmer gleich nach ihrer Machtübernahme 1975 an, das radikalste kommunistische Regime zu errichten, das die Welt je gesehen hat. Die Hauptstadt wurde innerhalb weniger Tage evakuiert (wobei um die 20.000 Menschen starben), die Bewohner aufs Land getrieben und zu Agrararbeitern umfunktioniert. Intellektuelle oder auch nur Personen, die die Insignien der Intellektualität trugen (z.B. Brillen) wurden getötet. Das unbegreifliche Ziel war es, (entgegen der fortschrittlichen Stoßrichtung und des Industrialisierungsoptimismus des Marxismus) eine agrarkommunistische Gesellschaft zu verwirklichen, in der zudem die alte kambodschanische Kultur wiederauferstehen würde. Im Schwarzbuch des Kommunismus wird versucht, das so zu erklären, dass der weltweite revolutionäre Elan Mitte der 1970er Jahre seinen Zenit hinter sich hatte und – in der Wahrnehmung radikaler Kommunisten – sämtliche kommunistischen Länder mit der Zeit einer Verkrustung oder Entwicklungen der Restauration anheimgefallen sind. Der Kommunismus der Roten Khmer sollte daher eine besonders radikale Flucht nach vorn sein. Das liegt nicht völlig außerhalb einer revolutionären Logik, zumal einer solchen, die sich bereits radikalisiert hat (und dann noch dazu von außen – in dem Fall eben von Mao – materiell und ideell unterstützt wurde).

Abgesehen von solchen Rationalisierungen (die solche Phänomene, wie man den Eindruck nicht loswird, nur ungenügend erfassen) kommt in der Person von Pol Pot offenbar der Charakter der Roten Khmer insgesamt zum Vorschein: intellektuelle Inkompetenz gepaart mit haarsträubender Paranoia und Größenwahn (noch dazu eventuell ein Charme und ein Schmeichlertum, das letztendlich auch sich selbst erliegt und sich auf sich selbst anwendet). Pol Pots Mitstreiter hielten ihm nachher zugute, ein „Patriot“ gewesen zu sein, der den bösartigen Einfluss Vietnams draußen halten wollte (zwischen Kambodscha und Vietnam besteht eine historische Feindschaft). Tatsächlich war Pol Pot ein (vietnamfeindlicher) Nationalist und eine Art Suprematist, was die eigene alte kambodschanische Hochkultur angegangen ist. Auch der – dem naheliegende – Rassist scheint in Pol Pot schließlich Bahn gebrochen zu haben. Das Regime der Roten Khmer war so rassistisch, dass einige Forscher in ihm sogar primär ein rassistisches (und nur irgendwie unter ferner liefen ein kommunistisches) Regime sehen wollen. Ziel war es, Kambodscha gegenüber der Außenwelt völlig zu isolieren, mit Ausnahme der Beziehung zu China, und eine glorreiche „neue Gesellschaft“ zu schaffen. Ein grenzenloser Hochmut und eine grenzenlose Selbstüberschätzung scheint darin zum Ausdruck zu kommen – und eine grenzenlose Paranoia, die den Terror, den Autoritarismus und den Sadismus, als Ausdruck ihres eigenen Gefühlslebens, nicht allein funktional einsetzt, sondern außerdem auch liebt und genießt (auch wenn sie letzteres wahrscheinlich verleugnet). Als aufgrund der Zerstörungen, die die Roten Khmer an der Gesellschaft und ihrer Infrastruktur anrichteten, die Wirtschaftsleistung des Landes schnell massiv sank und Versorgungskrisen auftraten (und er sich deshalb wohl auch naheliegenderweise in seiner Stellung bedroht sah), machte Pol Pot an allen Seiten Sabotage dafür verantwortlich und begann mit Säuberungsaktionen und Massenexekutionen innerhalb der eigenen Partei. Ganz anders als Mao, und praktisch alle anderen Politiker, war Pol Pot so verschlossen, dass er in der Bevölkerung lange anonym blieb, gleichzeitig aber – umso selbsterhöhender – als „Angkor“ („Organisation“) oder „Bruder Nummer 1“ auf sich referieren ließ. Erst kurz vor dem Ende seiner Herrschaft trat er aus dem Schatten und identifizierte sich in der Öffentlichkeit als eigentlicher politischer Führer – zur Überraschung selbst seines eigenen Bruders, der davon gar keine Kenntnis gehabt hatte. Das Ende der Herrschaft der Roten Khmer kam dann tatsächlich mit dem Einmarsch des Erzfeindes Vietnam in Kambodscha 1979. Bis zu einem Viertel der kambodschanischen Bevölkerung sind dem Regime der Roten Khmer zum Opfer gefallen, der Großteil davon durch die Entbehrungen aufgrund der Versorgungskrisen. Aus irgendwelchen Gründen, die zu beleuchten wären, blieb die Massenbasis der Roten Khmer in Kambodscha aber fortwährend keine kleine. Pol Pot starb 1998, nachdem er mit engen Mitstreitern im schwer zugänglichen Grenzland zwischen Kambodscha und Thailand gelebt und nach wie vor Schulungen für junge Rote Khmer abgehalten hatte. Bis zuletzt blieben alle beeindruckt von seiner Freundlichkeit und seiner inspirierenden Art.

Finanziert wurde er dabei von China, das ihn als Druckmittel gegen Vietnam aufrechterhielt (wie es auch die USA getan hatten). Und außerdem wohl wenig Interesse hatte an einer Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer-Herrschaft, an der es selbst seinen Anteil hatte. Kurz vor seinem Tod 1976, als einen seiner letzten politischen Akte, sandte Mao Zedong ein Glückwunschtelegramm an die kambodschanische Führung: Das chinesische Volk ist überaus erfreut darüber, die gewaltigen und tiefgreifenden Veränderungen zu sehen, die sich in Kambodscha abspielen. Wir sind zuversichtlich, dass unter der korrekten Führung der revolutionären Organisation Kambodschas das kambodschanische Volk noch größere Siege erringen wird. Kämpfen und Siege erringen, alles tiefgreifend und gewaltig verändern – Konstanten in Maos Denken und Empfinden, die im Alter (und eingedenk des eigenen relativen Scheiterns aufgrund der unrealistischen Ansprüche, die damit verknüpft sind, sich aber nicht eingestanden werden) bei ihm immer starrsinniger in Erscheinung getreten sind. Wie es aber auch heißt, wird der Mensch im Alter immer mehr und ist der Altersstarrsinn nur ein Ausdruck davon, dass er immer mehr zu dem wird, was er immer schon war.

Mao scheint im Alter melancholisch gewesen zu sein, dass die Revolution und sein „eigentliches“ politisches Ideal sich nirgendwo verwirklicht haben. Überall seien sie, sofern überhaupt in Angriff genommen, stecken geblieben. Er scheint es aber dann in Kambodscha unter den Roten Khmer erblickt zu haben. Wenn nach Maos Tod nicht Deng Xiaoping sondern die Viererbande die Macht in China übernommen hätte, wäre dort dann vielleicht – vielleicht sogar wahrscheinlich – dasselbe passiert wie unter den Roten Khmer in Kambodscha.

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Bereits in den letzten Lebensjahren Mao Zedongs bereite Abimael Guzman minutiös und geduldig den Angriff seines Leuchtenden Pfads auf den peruanischen Staat vor, der schließlich 1980 erfolgte – just in dem Jahr, als Peru nach 12 Jahren einer (linksgerichteten) Militärdiktatur wieder zu einer Demokratie wurde (weswegen die neue Regierung und Verwaltung aber heillos desorganisiert war – ein Umstand, den der Leuchtende Pfad ausnutzte). Guzman war selbst in den 1960er Jahren in China gewesen und hatte dort Mao zu verehren gelernt. In den 1960er Jahren war das linke Revoluzzertum in Peru, damals dem zweitärmsten Land Lateinamerikas, in der Luft gelegen, und Guzmans Sendero Luminoso war eine sozialrevolutionäre/maoistische Gruppierung unter vielen anderen. Spätestens ab den 1980er Jahren – und auch schon zuvor – schien Peru aber durchaus kein Territorium für eine maoistisch inspirierte Revolution abzugeben: es war eine Demokratie, es war von keiner fremden imperialistischen Macht beherrscht, die Verstädterung und das Bildungsniveau waren relativ hoch und vergleichsweise viele Peruaner gehörten der Mittelschicht an. Gleichzeitig waren aber viele Regionen des Landes unterentwickelt, die Verhältnisse waren (auch ideologisch und kulturell) halbfeudal und die Indigenen waren politisch nicht repräsentiert. Die Bedingungen für eine Revolution lagen also einerseits in der Luft, andererseits, und vor allem, aber auch nicht. Und keine andere der zahllosen linken Gruppen im Land ist von ihrer Rhetorik tatsächlich zur Aktion übergegangen. Der Sendero Luminoso hingegen zettelte praktisch einen langjährigen Bürgerkrieg mit verheerenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen an und stand zuletzt davor, Lima zu erobern, bevor er 1992 mit der Verhaftung von Abimael Guzman wie ein Papiertiger in sich zusammenfiel.

Abimael Guzman war ein Universitätsprofessor für Philosophie an der Universität in Ayacucho gewesen. In einer abgelegenen, benachteiligten, vor allem aber von der staatlichen Obrigkeit kaum berührten Gegend gelegen, wurde diese Universität zu einer Brutstätte für Revolutionäre (auch insofern die Absolventen der Universität sich schwer taten, Jobs zu finden, nachdem sie in ihre Ausbildung so viel investiert hatten). An Guzman habe sich früh eine hohe Intelligenz und ein gewaltiger Bildungshunger bemerkbar gemacht – allerdings auch eine beklemmende Verrücktheit: Ideen, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, verfolgte er mit einem religiösen Eifer und unter dem Gefühl einer höheren Berufung. Inspiriert durch die Lektüre von Marx, Lenin und vor allem Mao, und dem Geist der Zeit entsprechend, wurde er zum Revoluzzer, der die Indigenen und die Bauern befreien und das Land in einen paradiesischen Zustand überführen wollte. Oder aber, der vielleicht hauptsächlich „alles in die Luft sprengen wollte“ (wobei, wie Guzman es formulierte, der Maoismus lehrte, wie man alles in die Luft sprengen könnte und diesbezüglich konkrete Ziele sowie eine Mission dafür vorgab) und sich am Gefühl übermenschlicher Macht berauschen wollte. Ebenso seltsam und scheinbar widersprüchlich, wie er politisch verwurzelt war, war der Sendero Luminoso als politische Organisation. Als solche glich er eher einer Sekte, mit Abimael Guzman als Sektenführer. Während der Maoismus und Mao selbst, trotz allem Maokult und der Betonung der Genialität Maos, primär „die Volksmassen“ als eigentliche kreative und formende politische Kraft identifizieren, ist in der Ideologie des Leuchtenden Pfades die Person des Abimael Guzman das einzige politische Subjekt, der einzige Wille und die einzige Intelligenz, der sich jedermann zu unterwerfen habe. Der Individualismus aller anderen wird ausgelöscht. Der Sendero Luminoso eroberte bzw. „befreite“ von seiner ländlichen Basis her Bauerndörfer, indem er sie terrorisierte. Da es keine massive Ungleichheit gab, was den Landbesitz betraf und keine eigentlichen „Klassenstrukturen“, die sich als solche marxistisch oder maoistisch interpretieren ließen, nutzte der Sendero Luminoso vorhandene Zwistigkeiten in den Dörfern, um sie zu einem Klassenkampf hochzustilisieren und so dort Fuß zu fassen und ein Terrorregime zu installieren. Aufgrund der methodischen Planung durch Guzman, der Brutalität der Bewegung und dem Mangel an Alternativen, die er zurücklies, gelang es dem Leuchtenden Pfad in den jahrelangen Kämpfen tatsächlich, bis zur Hauptstadt vorzurücken und sie zu bedrohen.

Vor allen Dingen möglich gemacht wurde das jedoch durch das nicht allein stümperhafte, sondern ebenso unheimlich brutale, gewollt sadistisch anmutende Handeln des Staates und seiner Exekutivgewalt. In dem Bestreben, Rebellennester auszuräuchern, mordeten, terrorisierten und vergewaltigten Polizei und Militär in den ländlichen Regionen über Jahre hinweg, als hätten die Ereignisse ihrerseits bei ihnen eine latente Neigung zum rassistisch und sexistisch motivierten sadistischen Gewaltrausch freigelegt (wohl nicht zuletzt aufgrund der starken misogynen Traditionen im Land waren ihrerseits viele – und die brutalsten – Kämpferinnen des Leuchtenden Pfad und auch viele im innersten Zirkel rund um Guzman Frauen). Gedeckt wurde das auch durch eine eigenartige Indifferenz und Verständnislosigkeit der Regierungen und der städtischen Bevölkerung bzw. der Mittelschicht, die sich so verhielten, als würde sich der Konflikt gar nicht im eigenen Land abspielen. Angeblich wurden bis zu 30.000 Tote in den ländlichen Regionen von den städtischen Zentren gar nicht bemerkt bzw. registriert. Das half dem Leuchtenden Pfad und führte ihm neue Anhänger zu, die er seinerseits blutrünstig für seine Ziele opferte. Anfang der 1990er Jahre begannen Teile der Exekutive endlich, dem Problem nicht mit roher Gewalt sondern mit Polizeiarbeit zu begegnen. Nach einiger Detektivarbeit konnten sie Guzman 1992 in einem Haus in Lima aufspüren und verhaften. Rasch nach seiner Verhaftung rief Guzman den Leuchtenden Pfad dazu auf, die Waffen niederzulegen und erklärte, nachdem das Spiel  selber verloren war, den revolutionären Kampf, dem er Jahrzehnte seines Lebens und so viele Menschenleben geopfert hatte, kurzerhand für beendet. Der Sendero Luminoso brach wie ein Papiertiger in sich zusammen. Trotz der eigentümlichen Unsentimentalität, mit der Guzman den Sendero Luminoso dazu aufrief, den Kampf einzustellen, hielt er im Hochsicherheitsgefängnis weiterhin schwungvolle revolutionäre Reden. Er starb dort 2021, bis zuletzt bewundert und umrundet von seinen Frauen und weiblichen Mitstreiterinnen.

Einige Beobachter meinen, die Verbrechen des Sendero Luminoso hätten die aller anderer revolutionärer Bewegungen übertroffen und dass Peru ein ähnliches Schicksal wie Kambodscha geblüht hätte, hätte der Sendero Luminoso dort tatsächlich die Macht erobert. Auch wenn sich Guzman abfällig über Pol Pot äußerte, war der Leuchtende Pfad in einer gewissen Hinsicht tatsächlich noch radikaler als die Roten Khmer, indem er alle anderen, auch linke Gruppierungen und NGOs, die innerhalb der peruanischen Bevölkerung helfen wollten, ausnahmslos angriff und nichts tolerierte neben sich selbst – was man als weiteres Indiz dafür sehen könnte, dass der Sendero Luminoso gar keine eigentliche politische Gruppierung war. Wenn auch die meisten Revolutionäre von revolutionärer Gewalt sprachen und sie zu rechtfertigten suchten, sprach niemand außer Guzman von einer „Cuota“, einem notwendigen erheblichen Blutzoll, und einem Zoll von Menschenleben, die der Revolution gleich einem Todesgott unabdingbar und gleichsam mechanisch geopfert zu werden hätten. Wie es scheint, hatte Guzman offenbar Gefallen daran, Menschenleben in großer Zahl für ein Programm opfern zu können, was so ausdrücklich bei kaum einem anderen Ungeheuer der Geschichte deklariert wird. Der Sendero Luminoso hatte Züge einer endzeitlichen Bewegung, noch dazu kombiniert mit denen eines Todeskults. Im Sendero Luminoso scheinen sich eine Sekte, eine politische/sozialrevolutionäre Bewegung, eine Rebellenarmee und ein millenaristischer, chiliastischer Todeskult zu einem einzigen Ganzen vereinigt zu haben. Auch wenn sie nur als Fußnote in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eingegangen sind, waren der Sendero Luminoso und Abimael Guzman die vielleicht unheimlichste Erscheinung des Jahrhunderts.

Ebenso unheimlich legte der Leuchtende Pfad aber auch eine beklemmende Dysfunktionalität und Brutalität innerhalb einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft frei. Der peruanische Präsident zur Zeit der Verhaftung Abimael Guzmans, Alberto Fujimori, war ein korrupter Despot, der wegen zahlreicher Verstöße gegen die Menschenrechte zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und der allein Stoff für eine eigene Betrachtung sein könnte. Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern (wie z.B. Guatemala) besteht Peru aus keiner Gesellschaft, sondern aus mehreren, die sich mit feindseliger Indifferenz gegenüberstehen, die schnell gefährlich und ausnehmend gewalttätig werden kann. Wiederum hat die Welt (und haben selbst wir in Argentinien) um den Jahreswechsel 2022/23 wenig davon mitbekommen: aber die tödliche Gewalttätigkeit, mit der die (irgendwie im Rahmen eines Kuhhandels) ausgetauschte peruanische Regierung und ihre Exekutive auf (friedliche, aber vorwiegend indigene) Demonstranten losgingen, haben verblüfft. Ebenso, wie die neue Präsidentin, die eigentlich eine (opportunistische) Linke war, schnell eher als extreme und gewaltbereite Rechte aufgefallen ist. Verblüffen tut beim Studium der Geschichte auch, wie leicht und unkritisch sich allerhand Peruaner(innen) für den Leuchtenden Pfad begeistert und sich ihm angeschlossen haben, und wie viele, eigentlich sehr gebildete und scheinbar selbstständig im Leben stehende Menschen sich Abimael Guzman sklavisch und selbstzerstörerisch unterzuordnen bereit war. Guzman galt im persönlichen Umgang als inspirierend, (aufgrund seiner apodiktischen Haltung) überzeugend und mitreißend. Seine Schriften und Pamphlete sind von einer (eigentlich schwer zu ertragenden) plastischen und dramatischen Sprache. Wie meine argentinische Familie meint, lieben die Peruaner das Drama und das Überreagieren.

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Als Mao 1976 starb, waren die Energien des Maoismus im Wesentlichen verbraucht, die letzten Jahre unter Mao, nach der Kulturrevolution, waren in China eine „bleierne Zeit“. Die Phase der antikolonialen Befreiungskämpfe auf der Weltbühne hatte sich in den 1970er Jahren im Großen und Ganzen abgeschlossen, die Abenteurerstimmung der 1960er Jahre in diversen Winkeln der Welt war einem nüchternen Pragmatismus gewichen, der Marxismus war ab den 1980er Jahren kein glaubwürdiges Framework mehr, mit dem Wirtschaft, Geschichte und Gesellschaft erklärbar schienen. Auch wenn die Viererbande, die Maos Politik fortsetzen oder gar verschärfen wollte, nicht ungefährlich war, waren weitere Kulturrevolutionen nichts, an denen eine Mehrheit innerhalb der chinesischen Bevölkerung und der chinesischen kommunistischen Partei interessiert waren. Mit Deng Xiaoping kam jene Politik ans Ruder, die Mao so entschlossen bekämpft hatte und deren Gefahr er überall witterte: die der „bourgeoisen Restauration“, bzw. der wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Liberalisierung. Auch wenn letztere weit weniger forciert wurde, ist China heute gesellschaftlich deutlich liberaler als zu Maos Zeiten (oder in seiner gesamten Vergangenheit). Da es seiner Vergangenheit und seiner grundsätzlichen sozialen Organisation letztendlich nicht wird entkommen können, ist eher nicht zu erwarten, dass China mittelfristig ein tatsächlich liberales Land werden könnte. In erheblichen Aspekten wird sich die chinesische Kultur, Politik und Mentalität antithetisch zu unseren Verständnissen im Westen verhalten. Wie groß und wie gefährlich das Konfliktpotenzial mit China tatsächlich ist, ist aber ungewiss: ebenso wie die weitere interne Entwicklung des Landes. Nach wie vor ist China fragiler, als es nach außen hin den Eindruck macht.

Wahrscheinlich kommt es auch deswegen unter der gegenwärtigen Regierung Xis zu einer Stärkung des Autoritarismus und einem Rückbau des Liberalismus. Die Xi-Regierung reaktiviert das Andenken Maos: allerdings aus nationalistischen Gründen und um einen Führerkult zu stärken. Eigenartig bleibt aber, dass Xi tatsächlich über die Vollmachten eines diktatorischen Herrschers verfügt. Das Erfolgsgeheimnis des China der Gegenwart wird unter anderem darin gesehen, dass sich die oberste Führung darauf geeinigt hat, nie wieder einen Diktator wie Mao mit all seinen irrationalen und gefährlichen Anwandlungen aufkommen zu lassen: die tatsächliche Führung liegt beim Kollektiv des Politbüros (etwas Analoges tat die Sowjetführung nach dem Tod Stalins). Wieso die chinesische Führung dieses Prinzip im Fall von Xi wieder aufgegeben hat, ist rätselhaft – weist aber auf nichts Gutes hin.

Als Gründer des modernen China ist Mao naturgemäß Bestandteil der chinesischen Folklore. Die Kommunistische Partei Chinas ist bedacht, Mao nicht wirklich vom Podest zu stürzen – sie würde sich dadurch ja selbst infrage stellen. Schon nach Maos Tod hat sie sich – ähnlich wie die Sowjetführung in Bezug auf Stalin – auf die Formel geeinigt wonach Maos Politik „zu 70 Prozent gut, zu 30 Prozent schlecht“ gewesen sei.

Maos Geist schwebt aber auch noch über der chinesischen Bevölkerung. Maoisten, die den kapitalistischen Kurs seit Deng Xiaoping ablehnen, gibt es in China seit Maos Tod; ihr politisches Gewicht unterliegt dabei Konjunkturen. Insofern Mao zwar Diktator war, aber auch Revolutionär, ist er Inspirationsquelle für alle, die sich gegen die chinesische Staatsmacht und die Ungerechtigkeiten des chinesischen Kapitalismus auflehnen, die sich für den Schutz der Werktätigen und von Minderheiten einsetzen. So sympathisch und rosig das auf den ersten Blick anmutet, handelt es sich bei diesen Maoisten aber um das, um was es sich bei Maoisten schon immer handelte: um doktrinäre, intellektuell beschränkte, an und für sich absurde Gruppen; keine fröhlichen Revoluzzer. Um etwas Intransigentes, Militantes. Um etwas einigermaßen – Böses. Was nicht heißt, dass das, wogegen sie sich wenden, gut ist.

Die Geschichte des Maoismus ist noch nicht vorbei. Aber sie war keine echte Erfolgsgeschichte. Die Misserfolge des Maoismus, und die der Versuche, den Maoismus zu exportieren, waren zahlreich; die Erfolge waren unvorhersehbar. Mao selbst war enttäuscht, dass es ihm nicht gelungen ist, den Maoismus tatsächlich auch nur in ein Land zu exportieren, geschweige denn im Weltmaßstab, trotz der Präsenz, die er überall hatte. Und dass es ihm auch nicht gelungen ist, China tatsächlich zu „maoisieren“. Was die Vorstellungen Maos von einer gelungenen Revolution eigentlich gewesen seien sollten, ist dabei so unklar, wie beim Marxismus selbst, dessen Vorstellung einer grenzenlosen Befreiung des Menschen notgedrungenermaßen eine zwar grelle, aber inhaltlich leere Halluzination bleibt. Auch insofern sich der Marxismus zu stark an einem Feindbild orientiert bzw. um ein Feindbild rotiert, von dem er sich abzugrenzen versucht – was dann aber etwas Negatives bleibt, auch wenn es sich als strahlende Positivität (vom „besseren sozialistischen Menschen“) ausgibt. Mao war – wahrscheinlich mehr als von allem anderen – besessen, ein „völlig neues“ China, einen „völlig neuen“ chinesischen Menschen zu schaffen. Dabei spielten paranoide Phantasien einer „Reinigung“ vom unsauberen Bestehenden eine zentrale Rolle. Bekämpft wurden so „bourgeoise“ und „restaurative“ Tendenzen im Menschen. Ohne sich aber die Frage zu stellen, inwieweit solche bourgeoisen Tendenzen beim Menschen normal und auch wünschenswert seien. Damit sind der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus etwas erheblich Menschen- und Lebensfeindliches.

Mao und der Maoismus haben eine tiefe Furche durch die Geschichte und durch das menschliche Sein gezogen. Heute aber gibt es nur ein Land, das von Maoisten regiert wird: Nepal. Jeder, der will, kann das näher beobachten. Der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus erscheinen, wenn schon, dann für zurückgebliebene Gesellschaften adäquat. Dementsprechend zurückgeblieben sind heutige Gesellschaften aber nicht mehr. Damit war insbesondere der Maoismus wohl eine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts, und blieb auf dieses Jahrhundert beschränkt (der Marxismus ist dabei breiter aufgestellt und wird als Referenz (wenngleich nicht als echte Macht) im politischen Denken und innerhalb des Weltanschaulichen wohl erhalten bleiben). Aber trotzdem beinhaltet der Maoismus ein starkes Prinzip der Transzendenz. Der Maoismus überschreitet daher potenziell auch sich selbst, und hat daher die Möglichkeit, dass er wiederkommt, oder eben als Prinzip offen und erhalten bleibt. Er adressiert das politisch Imaginäre, kraftvoll, wie eine Saugglocke scheint er einen imaginären Himmel und Horizont aufzuspannen. Das ist nicht schlecht und scheint wie ein ewiger Wert. Inwieweit er, in diesem Jahrhundert und in folgenden, so noch einmal aktiviert wird, können wir nicht wissen. Bislang scheinen in diesem Jahrhundert eher bewahrende Prinzipien – die Religion und der Nationalismus –, die man bereits als etwas beinahe Erledigtes geneigt war anzusehen, ihre Resurgenz zu feiern.

„So sieht sie aus, unsere Welt. Ein Kosmos voller Narben. Und ein Ende der Verstümmelung ist nicht abzusehen.“ – steht am Ende von Waldherrs Bruttoglobaltournee, einem von mir geschätzten Buch mit Reportagen von den Beschädigtheiten, die man in diversen Winkeln der Welt heutzutage findet. Jetzt, als ich diese Mao Zedong-Gedanken mit dem 12. Dezember 2023 in Argentinien abschließe, habe ich dieses Buch gerade nicht bei mir und kann mich nicht erinnern, ob da auch was über China drinnen steht. Über Argentinien steht was drinnen, es wird illustriert anhand von der melancholischen Rückwärtsgewandtheit seiner Gauchos und deren Kultur und Mentalität. Vorgestern, ausgerechnet zum 40. Jahrestag der Demokratie in Argentinien, kam ein neuer argentinischer Präsident ins Amt: Javier Milei; ein offensichtlicher Psychopath, so wie sie in jüngerer Zeit auf der Weltbühne als Politiker wieder in Mode gekommen sind.

https://dangerousminds.net/comments/the_revolution_will_be_glamorized_sharon_tate_models_mao_tse_tung_1967

The Destructiveness of Adolf Hitler

Adolf Hitler had a paranoid personality disorder. He feared and felt persecuted by Jews and Bolshevikes and, therein, projected his own hatred and anger and need to dominate over others into them. He externalised and inflated his inner psychological dynamics of feeling persecuted by others and need to subjugate others (in the first place) into the idea of a black-and-white race struggle and war of mythic proportions. He projected his ego and his need for grandeur into Germany, respectively the Reich, and tried to establish German/“Aryan“ hegemony over Eurasia, if not over the entire world. He did not have actual practical political goals, but tried to achieve a national „redemption“, a mythological Erlösung – out of feeling deeply uncomfortable inside. He did so out of a sentiment of (Germany) being undeservedly weak, constricted and humiliated, being a victim of treason, whereas he would bring justice in establishing proper balance again. He was both a capable politician, if not a political „genius“, an inexperienced person who could nevertheless outmaneuver others and his countless opponents, a gambler with a distinct sense of how to play out his cards at the right moment, and he achieved triumphant successes; yet his nemesis was his distinct inflexibility and unimaginativeness in seeing or accepting alternatives once the tide had turned against him, his bloated ego, spoiled by his successes, and him being a gambler and adventurer – instead of a strategist – until the last. Like many paranoid people he had an uncanny insight into human nature, but, in his hubris, was far better in detecting the weaknesses in others than their strengths (therein underestimating them). He prided himself of his willpower and caused millions of deaths and destruction when, after his waging of war had become defensive, he claimed that the war still could be won by „willpower“ alone – whereas in reality he was much of a lazy drifter, unable to change much about his situation by his own means, and his „willpower“ was his blatant egoism and psychological inflexibility. He became persecuted and obsessed by his own ideas and defense mechanisms and could not establish any critical distance to them, while at the same time he was cynical and did not really and truly stick to anything, apart from the integritiy of his own ego. According to Erich Fromm, who psychologically evaluated Hitler in his Anatomy of Human Destructiveness, Hitler lived in a world where nothing was completely true and nothing was completely false or wrong either – apart from the need to preserve the integrity of his own ego, as we might add.

When we look at Adolf Hitler as a person, we observe that he had been a very narcissistic individual, dreaming of grandeur and seeking to be a (dominant) „leader“, along with an obviously strong sense of entitlement from early on. His favorite – if not only – activities in his earlier childhood were playing war and adventure games with other children (with him being the leader) and daydreaming. From early on, and throughout his life, ne never liked to work, he never liked to learn and he never organised his life into a routine that is also accomodating to others. When he encountered authority, he reacted spitefully. Hitler´s father was an authoritatian and unfeeling man, yet also a talented social climber from humble beginnings and not without qualities. His mother was soft and loved and supported Adolf. He had a hard time coming by with his father, but he did not suffer childhood traumas or anything that would explain his (later) behaviour. Rather it seems that in the case of Hitler the genetic loading by his father was taken to something much worse. Most outstandingly, Hitler could not tolerate setbacks or being played or dominated by others. In such cases he would become very revengeful and bear longstanding grudges. In the case of paranoid people it´s as if they feel virtually annhiliated when they experience setbacks; they both have a grossly inflated ego as well as an ego almost reduced to zero. The wickedness of their psychology is that they cannot mediate between these disparities, and moreover, that they want to reduce their offenders to nothing – and they are easily offended. The vacancy of their ego is an indication that they do not have a true self. And they do not have a true self since they lack much of a constructive emotionality. Anger, envy, megalomania, paranoia, callousness and lack of attachment to others are the their defining emotions. Since they lack a true self, they easily project them into someone or something else. Hitler, from early on, hardly had any friends, nor the desire for attachment to others. He liked to look down on others. It is not even clear how much he truly felt for his mother.

In his youth he discovered some interest and talent for painting and wanted to become a painter, respectively an artist, and developed grandiose fantasies about that. He especially admired, or almost projected himself into Richard Wagner (a paranoid character himself) and his missionary vision of an all-encompassing art that would spiritualise and rejuvenate Germany and lead to „salvation“ and „redemption“ (that specific desire for Erlösung could be interpreted as a desire for a person feeling uncomfortable and constrained in herself, to finally get released from the incubus they experience in themselves). Unfortunately for the world, Hitler lacked the talent of Wagner and failed to become an artist. Having left school prematurely (due to his disdain for other´s authority over him), having lost his father and his mother and, finally, financial support, he degenerated into a drifter, living as a humble painter in a residential home in Vienna, unable to improve much about his situation. That he was not accepted at the academy of arts was a huge setback for him, draining his (little) energy; in the residential home he nevertheless could feel intellectually superior to most of the other stranded individuals; in way he had accomotated himself and would probably have drifted through life in a similar fashion forever, had circumstances not changed. When the war broke out he volunteered, finally seeing a possibility to alter the course of his life and, moreover, to fight for the glory of the Reich. He was a commited soldier and enjoyed the Kameradschaft in his batallion, although he remained a distant and eccentric loner to his comrades all the same. His superiors did not promote him too much and prevented him from becoming a superior over others as they noted his arrogant – and actually not leader-like – character. The creature that mattered most to him during the war was Foxi, a dog.

The defeat of the Achse in the war came as a devastating blow to him, causing immense feelings of „shame“ inside him. Like many others he escaped into the fantasy of the Dolchstoßlegende, that Germany had only been defeated by treason commited by socialists, by a shady enemy inside. After the war he tried to remain in the army as long as possible, since he did not know what to do else, making him all the more desperate and upset. After the short-lived communist putsch and the Räteregime in Bajuvaria in 1919, most parts of the army had become vigilant and obsessed with the danger posed by socialism and communism and so they promoted the anticommunist Hitler and others as observers and contact men between the army and the political scene. During seminars Hitler (and his superiors) discovered his talent for being an agitator and being able to quickly defeat others rhetorically (paranoid people like to be argumentative and are able to invest a lot of energy in it). The proto-NSDAP discovered that talent in Hitler as well. He became a member and soon indispensable as he quickly attracted large growds that would listen to the eccentric, very unusal agitator. The fierceness of his speeches and his behaviour impressed many people. They saw his furious dedication as a sign of honesty and sincerity. In reality, Hitler´s speeches largely were about the sentiment that Germany had been betrayed and humiliated, a sentiment that many people shared. Hitler´s talent as an agitator was based on this own bubbling paranoid resentments – that made him become so furious and desperate about allegedly having been betrayed and scaled down by others and trying to seek revenge, respectively „justice“, that, in his rage, he appeared „authentic“ and true to others.

In the early 1920s Hitler, despite being a right-wing agitator, was much of a bohemian and much of his behaviour was awkward and clumsy – which nevertheless fascinated all the more conservatives and nationalists from the upper class who tried to promote and educate Hitler (including the Bayreuth circle which saw some kind of Siegfried in him). His manner of being superficially polite and calm, modest and even diffident in the encounters with others, and apparently being somehow unworldy and naive (therein all the more authentically quixotic) made him appear much more approachable and easy to be influenced – and human – than he was. To women, he used to be superficially galant and impress them by displaying typical „Viennese charme“. His odd chaplinesque looks made him appear not only singular, unmistakably and iconic but also, in a way, harmless and likeable. Yet he was rhetorically brutal and fieverish when it came to expessing his political aims and his ideology. Out of a pathological feeling that Germany had been humiliated and betrayed, he ardently opposed the Treaty of Versailles and promoted the reinstallment of German national glory (and imperialistic expansionism); therein suggesting that he would only bring justice to the national destiny (which is a much more motivating force concerning attracting the populace than nationalism per se). He was anticommunist and promoted fear from Bolshevism. He would introduce a „national socialism“ designed to balance the interests between not only labour and capital, but between all the different social strata and milieus of German society, therein offering a harmonious and pridefull vision of broad appeal. He promoted authoritarianism and strong hand rule that would defeat the present „chaos“ (and release ordinary citizens from the resposibility to engage in politics, apart from being obedient to the benevolent leader). And he promoted antisemitism and sought to trace back all the current misery to the malicious impact of „the Jews“. What made Hitler so attractive was that he formulated his political goals and his political struggle (which actually was all the more his idiosyncratic inner struggle) in mythical and eschatological terms – since, in his paranoia and megalomania, he actually experienced it as a quasi-cosmic struggle between archetypical principles. He made an overreaching ideology out of it, implicitely and explicitely carrying missionary zeal. He constructed not only „Jews“ but also „Aryans“. He promoted not only an eschatological and heroic struggle between good and evil but a vision of purity and redemption. National socialism was an all-encompassing philosophy and a lookalike to a religion. What distinguished Hitler from all the other Nazis and legitimately made him their leader was that he was a visionary, moreover, that he was consumed by his vision and enlivened it. Antisemitic philosopher and member of the Bayreuth circle Houston Steward Chamberlain saw in Hitler a singular individual that would not only talk like an antisemite – like so many others – but also dare to act and lash out. The Beer Hall Putsch of 1923 also demonstrated that Hitler was willing to act and to cross red lines. After the Beer Hall Putsch and after Hitler being released from prison in 1925 the fascination for the Nazis had ebbed. It was the Great Economic Depression ignited in 1929 that catapulted the NSDAP in strong positions and ultimately into power.

Despite his bragging about having had original insights into the wicked nature of Jews (being not a different religion, but a different, and antagonistic, race) from early on, historians note that Hitler´s hateful and commited antisemitism only emerged when he had already been a mature man, notably after the defeat of Germany in the Great War. His antisemitism is seen to have remained more under the surface in his days in Vienna, where antisemitic remarks by him did happen, but remained more anectodal (he would even say positive things about „Jews“ all alike back then, for instance that they had superior cultural taste). Yet this does not mean that he already had strong antisemitic tendencies back then. Most recently, evidence was traced that Hitler had already been more or less commited in this antisemtism in the days of his youth in Linz. (There once was a book by Australian author Kimberly Cornish that claimed that the young Ludwig Wittgenstein (who was Jewish) was to blame for Hitler´s antisemitism; both went to the same school and Wittgenstein allegedly irritated Hitler with his intellectual supremacy, triggering deep resentments inside him. Yet those claims did not have much impact in the scientific community.) Antisemitism is a paranoid scheme that stems out of fear and envy, and from anxiety from some „other“ that is alien, chaotic and cannot be integrated into one´s proper society and territory. Yet it was Hitler´s extreme paranoia that sought to identify Jewishness with a destructive and evil antagonistic world principle per se that needs to be aggressively confronted, that finally needs to be rooted out. It´s as if Hitler had projected his own evil and megalomania, he himself being an embodiment of evil, into others, because that´s all he could honestly see in the mirror. The most uncanny thing is how this most obvious paranoid delusion was widely accepted or shared by much of Hitler´s surroundings and within society, regardless of how crazy it became. The most uncanny thing was that hardly anyone noticed the most obvious thing: that Hitler was a deadly madman.

Yet he never was a madman all along. Having a personality disorder means that you are partially mad, but not that you lose your entire sanity and accountability (which also never happened to Hitler). Hitler´s entire inner life revolved around seeking to dominate over others and being admired by them, and feeling afraid and paranoid about being dominated by others or failing at dominating others and rising to narcissistic grandeur. The latter would ignite pathological and longstanding grudges, outbursts of rage and revengefulness. It revolved around persecution, being engaged and entangled in the world of mutual persecution. Therefore he naturally was afraid of anything that could make him fall prey to persecution or reduce his capacity to persecute and dominate others. He was afraid of weakness and sought strength. His antisemitism and contempt for socialism and communism, which sympathised with the underclass and the proletariat, stemmed out of his psychological need to feel „superior“. Therein, he also had a disdain for „the weaker sex“, for women. Individuals with the psychology of Hitler do not feel motivated to lift someone up who is „weak“ or in need; much rather they desire to put them down even further, so that they can feel superior themselves in relation to them all the more. It is tempting to think that Hitler also felt so much despise for „the weak“ as he was aware of his own inner shallowness and therefore, in a way, human weakness and inauthenticity. Hitler was also afraid of anything „unclean“ and „unhealthy“ and longing for great „purity“ instead (involving the concept that „purity“ can only be achieved by (ethical and moral) „cleansing“). Erich Fromm, in his Anatomy of Human Destructivenss, suggested that Hitler was the extreme case of a „necrophiliac“ person: a person with a shallow inner life, yet attracted to death, destruction, decay, morbidity, foul language and excrements; an, if you may, personification of the Freudian death drive; which he therefore tried to hide from himself and from others. Hitler also was probably well aware of the evil and the destructiveness inside him, and possibly was very afraid of it. At least it would not match with his grandiose narcisstic ego ideal of being the good guy, respectively a heroic saviour. So, apart from projecting it into others in a conscious or unconscious fashion, he tried to avoid being identified with his own malevolent tendencies. Hitler never personally killed someone. He tried to be nice and polite to people. He liked dogs. His vegetarianism probably was about demonstrating to him and to others that he cannot even hurt a fly (other explanations for his (idosyncratic and unhealthy) vegetarian diet are remorse about Geli Raubal´s death and his tendency, again, to be afraid of meat as something unclean and unhealthy). So you have an actually dubious psychology. Erich Fromm suggests that Hitler was living in a world where nothing was completely true and stable, and nothing was completely false or wrong neither (apart from the need to assure the integrity of his ego, as we might add).

Solipsistic was Hitler also in relation to others. Even those closest to him, and his personal entourage over the years, found him difficult to approach, let alone developing friendship with him. From a more theoretical viewpoint they could not sort out a clear portrait of his personality, experiencing it as disparate and not fitting together. The same thing happens to historians and biographers when they try to capture Hitler. Yet a (paranoid) personality disorder basically means an incoherent personality; which is, nevertheless, not that weird or singular, but, in its patterns and behaviour, possible to identify. The specific paranoid Urkonflikt seems like a dominant and expansive individual experiencing dominance and restriction from an outside force that threatens to overpower him. Such might easily be a toxic relationship pattern in early childhood, which is then deeply and at its roots integrated into the child´s psyche which is therefore impossible to overcome that disparity and to develop and mature. Nevertheless (and since there obviously have not been that deep frustrations in Hitler´s early childhood), the root of such a personality disposition might also lie in the individual´s genes (or both). People close to Hitler would, above all, notice the shallowness and vacancy within Hitler´s personality, that he did not only have little passion for people (of both sexes) but also little passion for things. Probably he was so good at turning him into an oversized public, political figure since he hardly harboured a private person. Illustrative also seems the way Hitler communicated with others. The conversation between Hitler and any others usually came in the morbid way of Hitler engaging in hours-long monologues, often revolving about always the same subjects, that would greatly annoy even his closest admirers, like Magda Goebbles. Therein, his monad-like personality and pathological self-referentiality and him being unable to actually socialise even with individuals closest to him – and actually also to establish a meaningful relation to himself –  became apparent in another uncanny fashion (in his final days, when doom had become imminent, he would admit to his doctor that these monologues served to him like a drug, as a means to calm him and to escape reality). From an intellectual standpoint his talks – a selection of them written down and later published by Henry Picker as Hitler´s Table Talk –  were not that undistinguished, they could be remarkable; at least if you not got exposed to often to them. Hitler was a reasonably educated and cultivated man, although his ability to frequently display impressive knowledge more likely rather stemmed out from his excellent memory than from his education. According to the internet, Hitler had an IQ of 141. In fact, it never got tested, but that seems adequate guess about his cognitive abilities.

People with a paranoid personality disorder do not necessarily carry paranoid (or any) ideologies. More commonly, they tend to develop a pathological jealousy concerning their loved ones and the people that matter to them, becoming paranoid about their alleged infidelity, and therefore develop a need to control over them. Hitler practically had no loved ones in his life nor people that mattered to him. Yet when he developed a twisted affection for his half-niece, Geli Raubal, he turned into what she saw as a „monster“, and became very jealous, possessive and controling. Details are unknown, yet obviously during the affair aspects of Hitler´s personality became apparent to Geli that were shocking enough so as that she killed herself. Hitler later claimed that Geli Raubal had been the only woman he had ever loved; after her death he fell into a deep depression, yet recovered soon thereafter and became consumed by politics and being an agitator again (the other woman in his life he likely had a genuine affection for was his mother, to whose passing he reacted in the same way – devastated when she died, yet distracted soon thereafter). (The whole affair remained dubious, and it is nor even clear whether Geli actually died by suicide or was killed – there was even a rumour that she was expecting a child from Hitler, a fact that had enraged him – yet the suicide is the most plausible scenario.) Joseph Goebbles and Albert Speer came closest to being „friends“ with Hitler and people that personally mattered to him (Speer would later claim that actual friendship was impossible with Hitler). Both had distinct qualities that Hitler had himself or desired to have and so, in a way, they functioned as an extension of his own ego. Goebbles was a talented demagogue and propagandist himself as well as an intelligent man with a broader perspective with whom Hitler could discuss and sort out his politics; above all, he was a complementary narcissist who was completely devout to Hitler as he longed for his affection. Speer was the architect that Hitler desired to be – until the end Hitler liked to see himself primarily as an artist, and only secondarily as a political leader. In his youth, Hitler had a single „friend“, August Kubizek, who was a bit younger, easy to impress, and who shared Hitler´s passion for music, respectively Wagner. As a rather weak personality he had an admiration for the self-confident and pretentious Hitler, who, in reverse, appreciated Kubizek mostly as a follower and listener. When they were living together in Vienna later, he tried to isolate Kubizek from others, notably from women, and keep him to himself nevertheless. The relationship ended when Hitler left Kubizek without a note, obviously because he had been ashamed by the fact that he had failed to get approved at the academy of arts again. They would only see each other again when Hitler had become Reichskanzler and then occasionally meet at the Bayreuther Festspiele. After the war, Kubizek published his memoirs on Hitler, Alfred Hitler, mein Jugendfreund. His memoirs had been considered to a signifcant degree untrustworthy, yet more recently they are held in higher esteem and are largely considered to be correct by historians.

Hitler´s sexuality remains dubious, and he did not have much, if any, sexual life involving others. Yet we do not even know much about his fantasies either. Despite not being attractive, many women were fascinated about him. In an odd and enigmatic fashion Hitler recurrently attracted very young women, oscillating between girlhood and womanhood (like Geli Raubal). He (obviously) did not have much interest in them but would temporarily integrate them into his circle of personal admirers. The fact that he likely only had one testicle alone must have made him too ashamed to easily seek sexual encounters with others. More importantly, it was the vacancy and lovelessness of Hitler´s personality that seems to run counter any afffirmative sexuality. In his youth, and later on, he would feel repelled by sexuality, considering it as something unclean and unhealthy. Later, when he became the Führer, he would consider him „above“ such earthly and low desires as sexual ones. Not only in the present puritan spirit of his time but also according to his paranoid psychological scheme he valued „purity“ and abstention over „unclean“ and „vulgar“ sexuality. It does not come as a surprise that Hitler nevertheless felt attracted specifically to vulgar and profligate sexuality as a voyeur. Kubizek reports how in their young days in Vienna Hitler had a fascination for prostitution and often wanted to roam the brothel districts – for voyeuristic purposes, nevertheless. There are rumours (and also confirmed cases) that Hitler longed to be dominated by women, considering himself as someone very low. In the 1920s, someone tried to blackmail Hitler with being in possession of nude portraits of Geli Raubal in sexually explicit poses fabricated by Hitler. Again, this was a dubious affair, but seems plausible. Erich Fromm, in the Anatomy of Human Destructiveness, suggests that Hitler, in his fantasies at least, was submissive (and aware of his lack of any good qualities inside him) concerning women of higher social status and anal-voyeuristic concerning women of lower social status than his own.

Hitler was promoted by parts of the conservative establishment, notably the Junkers, the landowning aristocracy, and the military. Yet other parts of the conservatives also tried to avoid and prevent him. After 1929, in the great economic crisis, President Hindenburg and other conservatives opted to abandon democracy and sought to introduce an authoritarian conservative regime, since they did not know how to rule with democratic means anymore. Yet Hindenburg also tried to avoid an unpredictable and dangerous demagogue like Hitler to become chancellor. Finally, Hindenburg had run out of other options, hoping that Hitler´s traditionally conservative coalition partner was capable of taming him and keeping him under control when Hitler had finally become chancellor in early 1933. Also, contrary to some popular notions, big business had not been so much in favor of Hitler, but tried to stick to its own traditional parties. The NSDAP had a broad base throughout different strata of German society, notably in the middle class and petty bourgeoisie. Contrary to traditional leftist notions, workers and proletarians were not that underrepresented in the Nazi electorate either. Underrepresented in the Nazi electorate were (despite that) workers, Catholics and women.

Yet the hopes that Hitler could be contained, used as an instrument or would soon stumple over his own ineptitude and lack of experience soon became dashed. The Reichstag fire gave a pretext of introducing an authoritarian rule and granting Hitler extralegal possibilities to knock out political oppenents, notably on the left. Yet Hitler would also speed up the Gleichschaltung, i.e. bringing the state, the media, as well as large parts of civil society under personal and ideological control of the Nazis. He would outmaneuver conservatives as well as dissident fractions in his own party, notably the SA in the Röhm purge of 1934. Yet his ruthlessness had appeal to the masses (who hated the frequent rowdyism of the SA men) as well as within the establishment. When Hindenburg died in 1934, Hitler met no opposition in becoming president of Germany as well, therein a leader with truly cemented dictatorial powers – the Führer. Within one year and a half, Germany had become a Führerstaat. The entire politics within the Reich became subordinated to frenzy armament and military buildup and bringing Germany back into a more convenient strategic position. Hazardous coups like remilitarising the Rhineland or annexing Austria proved successful and further increased Hitler´s popularity. After all, they seemed as somehow legitimate defensive moves. The army approved Hitler´s politics, thinking that it would rejuvenate its former glory and high status in German society. Neither the army, nor big business, nor other parts of the establishment and of the entire population had envisaged that they would – despite all the possible collusion – ultimately become reduced to mere tools for Hitler´s personal ambitions. The most uncanny thing was how not only conservatives but finally large parts of German society were willing to quite quickly grant Hitler dictatorial powers once they noticed that he acted „decisively“ and „forward going“ – and, above all, seemingly in their interest – although he did little else than demonstrating shocking brutality and subordinating the entire country to his own needs.

Hitler was fantasising about gaining Lebensraum im Osten and destroying „Bolshevism“ and the Soviet Union from early on. Yet he himself did not imagine that German expansionism was possible at such a scale in his lifetime. He considered that as national goals in the longer run and envisaged his politics as making Germany fit for such undertakings. Hitler was obsessed with gaining Lebensraum for Germany. He experienced Germany as squeezed, scaled down and cut off from resources, as a people inhabitating a space too narrow and therefore impossible to flourish – such was the projection of Hitler´s own uncomfortable and neurotic inner life into the outside world.  What is true is that Germany lacked strategic depth in the case of a military attack, and Hitler was obsessed with Germany being under threat from the outside. Yet Hitler´s aggressive and frantic buildup of defense potentials was deeply and in a psychologically twisted way intertwined with an appetite to attack others, for imperialism and expansionism. It´s the paranoid scheme. His ultimate goal was to seize territory, Lebensraum, deep into Eastern Europe and Russia, depopulate it or reduce its native population to slaves for the arriving German settlers. Germany would so establish its own empire, become self-sufficient on resources, impossible to attack and therein the hegemon over Eurasia.

It was the most brutal and shocking plan anyone had ever had in history at such a grand scale. Hitler, Göring and others were casually engaging in plans to deport 30 million Russians into uninhabitable places in Siberia, most likely leaving them to die there, in the following thirty years once they had achieved victory over the Soviet Union. 27 million Soviet citizens already died in the Second World War. The ruthless waging of war, being a Vernichtungskrieg, was motivated by creating Lebensraum for Germany, as well as saving German resources – by avoiding to feed people in occupied territory, respectively to take away their means to feed the German army. Millions of people were killed by the Germans or left to die by starvation in famines, being not an accident but meticulously planned by Nazi official Herbert Backe, most notoriously in Belarus and the Ukraine.

Yet what initiated the Second World War was the Molotov-Ribbentrop Pact, enabling both the German as the Soviet invasion in Poland and causing England and France to declare war on Germany. The war against Poland was ruthless and the Nazi regime imposed was extremely brutal and racist. Hitler had not been hostile against Poland and the Poles before, he had sought their alliance. When Poland turned him down and dared to show its muscle against Hitler, Hitler again felt deeply humiliated and lashed out with frenzy, from then on seeing Poles as Untermenschen, to be oppressed and treated as slaves. In a similar way, yet not to such extremes, he had treated Czechoslovakia before. The successful Blitzkrieg against France was Hitler´s most spectacular achievement. Hitler had, then, most of Europe at his feet. Countries like Hungary of Romania sought his alliance, in countries like Norway he introduced puppet regimes. Spoiled by his truly spectacular successes, his ego became all the more bloated. He began to see himself as an envoy of and being protected by providence.

Yet England did not not succumb. Afraid that England and the Soviet Union could found an alliance and attack Germany sooner or later, Hitler decided to do what he wanted to do in the first place and invade and conquer the Soviet Union. The logic of war had implicitely turned against the hitherto triumphant aggressor. It had created all the more potential enemies, notably in the paranoid mind of Hitler. He had to turn quickly against them or lose his temporary advantages notably if the USA would enter the conflict. The fatal mistake not only of Hitler but also of his military men was that they greatly underestimated the Soviet Union by thinking they could conquer it in the hitherto Blitzkrieg-like manner. Yet the steamrolling and horrendous offensive came to a halt, deep inside the Soviet Union, in late 1941. The Wehrmacht carried out new offensives in the USSR in spring 1942, as well as it tried to get North Africa and the Middle East under control. Germany´s waging of war and operations in North Africa and the Middle East were motivated by cutting off Great Britian from its Empire and its resources and kicking it out of strategic positions and trying to create a circle-like German influence sphere around Europe, notably also serving as a bulwark against the USA. Yet after being successful in the first place, also those offensives came to a halt. Hitler had – like always – acted like a gambler taking great risks by launching offensives and expanding the war within a short timewindow of opportunity; yet at this time he had lost. And also the USA had entered the conflict.

With the war becoming a world war, Hitler became ever more obsessed in his personal paranoid „war“ against „the Jews“. Despite his violent rhetoric, Hitler did initially not plan to exterminate the Jews. He had wanted to oust them and make them emigrate. Yet the more territory he conquered in the war, the more Jewish people came under his sway. And the more aggressive his waging of war and megalomaniac his war goals had become the more he became obsessed with the idea that he was waging a race war against „the Jews“ and – to shift the blame – that the war had been caused by „the Jews“. Again, possibly afraid of his own hatred and destructiveness and projecting it into a Jewish conspiracy he became commited in exterminating all the Jews. Eichmann´s obsession to use trains and infrastructure to transport Jewish people to death camps even when the war had become distinctly defensive and the infrastructure would have been needed otherwise was, in fact, also Hitler´s obsession, and that of commited Nazis. While there is no direct evidence that Hitler officially ordered the Endlösung or even knew about the Wannsee Konferenz, the indirect evidence is sufficient that it came top-down (and again, that he tried to shun the possibility of any evidence of the Holocaust being ultimately traced back to him was just his usual behaviour). The Holocaust is a singular crime in history and ultimately beyond even sophisticated comprehension. Despite many Nazis engaging in it and fostering it, the singularity also rests on the Holocaust probably ultimately being the brainchild of a singular mind, of Hitler´s. It is not even that apparent that the Holocaust and the antisemitic cataclysm in Germany would have happened had Himmler, Heydrich or Eichmann been the Führer (most of the leading Nazis were frail and sadistic beta-type personalities and not paranoid/megalomaniac visionaries). The extermination of the Jewish people, and the methods used in it, had a precedent in the killing of mentally disabled persons. The extermination of the mentally disabled had its roots in the lethal ideology of „racial purity“ and the extinction of lebensunwertem Leben, yet primarily followed the practical purpose of gaining medical and hospital capacities for wounded soldiers in the war. It was the protest of the church that finally stopped the campaign in which an estimated 70.000 people lost their lives. Peter Longerich claims that, above all, the Holocaust had a practical purpose: By involving his allies in such a heinous crime – and, for instance, Hitler did grow very angry and nervous about Hungary´s leader Horthy´s stubborn resistance to engage in it – he would make them complicit and cross a point of no return. Such a crime could not be forgiven and by being complicit in it, Hitler´s allied leaders had all the more intention not to lose the war or to terminate the alliance with him or to switch the sides – they would have been brought to justice for engaging in the Holocaust.

In autumn of 1942 it became apparent that the war could not be won anymore. A politics of limiting the damage would have become obvious. Millions of lives could have been spared if Hitler had capitulated (or killed himself) earlier. From then on there was an ongoing conflict between Hitler and his generals who usually voted for retreat from positions that could not be kept. Hitler, by contrast, wanted to hold any position and keep it as point from where a new offensive could be unleashed when the luck within the war again would have fallen unto him (Hitler also permanently meddled into the war planning because he wanted to feel intellectually superior over the generals). Stalingrad and the annihilating defeat of his army due to Hitler´s order to fight until the last man instead of retreating in time became emblematic for his whole waging of war – and disrespect for the additional damage and human tragedy he inflicted – once it had become defensive. Although well aware of the fact that the odds had distinctly turned against him, he still liked to fantasise about a glorious Endsieg and claimed that victory is still possible when there is enough willpower. Again, his „willpower“ was little else than unwillingness to surrender or to seek alternatives to one´s own grandiose goals, blatant egoism, completely careless about the suffering he inflicted on millions of others. His inflexible logic was Sieg oder Untergang. Either the Reich would win the conflict or, in a way equally gloriously and triumphantly in its autonomousness, vanish; the Untergang was, in a morbid way, as resolutely a narcissistic phantasma as the Endsieg (Hitler also carried the idea that only a complete doom and tabula rasa would make a glorious rise of the Aryan race and principle possible again somewhere in the future).

Hitler declined and aged physically a lot in these final years. He did not appear in public all to often anymore as he had become distinctly unpopular. His furious speeches did not have substance anymore as he had less and less to actually offer to his people; so he left the demagoguery more and more to Goebbles. In gradually losing the war, Hitler all the more felt betrayed by his generals, to whom he shifted the blame, and he felt betrayed by the entire world. Yet he remained staunch and unforgiving in keeping up the war effort and waging the „race war“ against „the Jews“. He did foresee the Allied invasion on the continent, but when the D-Day finally came he underestimated it. Also in 1944 an assassination attempt had been carried out against Hitler by a circle of military men under the leadership of Oberst von Stauffenberg, which he survived (seeing it as a sign of „providence“ once again). It had become difficult to potentially assassinate or overthrow Hitler because he had become all the more difficult to approach. He shunned away in his shelters and refuges in the mountains and did not let many individuals come close (an assassintation attempt that came close to success was carried out by Georg Elser, a left leaning loner, in 1939). The more the Allied forces were steamrolling over Europe and, finally, Germany, the more Hitler engaged in fantasies about the Alliance breaking up due to internal rivelries and sparing Germany. In his final weeks he would become obsessed with architectural projects about creating the town of his youth, Linz, anew after the Endsieg. Ultimately he would give a „Nero-order“, to have all the remaining infrastructure and industry and the livelihood in Germany destroyed, thinking that a people who got defeated by others does not have a right to exist and to flourish anymore. At least that order was not carried out (because of the secret intervention by Speer and others, including the industry captains; other Nazis probably would also have gone that far).

It was in the very final moments, and when he was still ordering defensive fights over Berlin involving many casualties, before the Soviets entered his bunker that Hitler decided to kill himself and release the world from his ominous presence. History had distinctly unfolded otherwise had he never lived, or died before.

Vladimir Putin

People with a paranoid personality disorder want to dominate over others. They are greedy, authoritarian, megalomaniac and they long to accumulate assets, as they give them a sense of superiority and security. When they cannot dominate over others, they feel threatened and persecuted and react with paranoia. Their paranoia – thinking that there are oh so grand schemes plotted against them – is the reverse side of their megalomania; their projection of hostility into others is their own hostility and envy against them. When they feel frustrated in their sense of superiority and their sense of entitlement, they develop longstanding and inflexible grudges; and they easily feel offended and provoked. Their ego is both bloated and inflated, as well as very frail, and they feel reduced to nothing when they view someone else as more dominant than themselves. And so they may lash out with violence, since they consider themselves under a violent, actually lethal attack. This lashing out may become self-destructive; as they distinctly lack personal circuit and constructive emotionality they have actually not very much else to defend than the integrity of their ego which becomes self-referential. Mass shooters and people that run amok frequently are people with a paranoid personality disorder seeing themselves being driven over the edge by others. The ugliest aspect is that the more violent and hostile they become, the more they are about to blame the other and feel under siege of their supposed violence and inherent evil; it seems they cannot stand and fear their own hostility inside them, obviously not least as it runs counter their splendid ego-ideal of seeing themselves as basically the „good guy“. Their paranoia then becomes madness-like, although, for the other part of their personality, they remain sober and sane; this hybrid between sanity and insanity becomes more dangerous and uncanny than insanity itself; it is an emotional and moral insanity, not an allover mental breakdown. The „Russian soul“ is prone to paranoid toxicity as it carries a (somehow justified) sense of cultural superiority and a cultural saviour mentality together with an acute sense of its own shortcomings and impracticality; Russia is both very potent and very impotent on every level; the resulting toxic mix of a superiority complex and an inferiority complex being in place at the same time is not a phantasma, but is firmly rooted in material reality. Russia is the greatest paradox in the world. It dominates and connects the Eurasian landmass, yet it is neither particularly European nor Asian; it is, according to Mackinder, the „Heartland“ of the world, yet it is quite different from most of the rest of the world and isolated. It must be difficult to govern Russia. When paranoid people lash out, it may well be that the environment (in that case US/EU, Nato…) had their fair share in driving them over the edge; yet all in all, it is paranoid people making it quite impossible to get by with them over the long run, as they feel easily offended, permanently need reassurance, only have superficial bonds to others, lack humanity, want to take more from others than they offer to others, and, in general, can´t get their shit together. People with a paranoid personality disorder are potentially more dangerous than psychopaths; for psychopaths are more erratic, whereas paranoid people are inflexible and commited once they walk their destructive paths (although they may be appeased when their superiority and dominance is reinstalled, yet that will forever be a precarious matter). Paranoid people are, likely, the most dangerous of leaders. That is the essence of „Moby Dick“.

„Selbstverteidigung“ von Elsa Dorlin und „Down Girl“ von Kate Manne

Ich war früher beim Kommunistischen StudentInnenverband, am Bildungspolitischen Referat der Österreichischen HochschülerInnenschaft; und ich habe überhaupt ausgeprägte feminine Charakterzüge. Natürlich habe ich mich also auch mit Feminismus und feministischer Theorie auseinandergesetzt, damals. Ich wollte also neulich sehen, was sich auf dem Sektor in den letzten zwanzig Jahren wohl so getan hat und besorge mir die Neuerscheinungen Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt von Elsa Dorlin und Down Girl – Die Logik der Misogynie von Kate Manne.

In Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt rollt Elsa Dorlin eine Geschichte der Selbstverteidigungsstrategien und Selbstermächtigungen diverser Bevölkerungsgruppen auf; angefangen von Bevölkerungen in Feudalgesellschaften, Sklaven in Sklavenhaltergesellschaften, Schwarzen in den rassistisch segregierten USA usw. Im letzten Kapitel geht es um die Situation von Frauen in modernen westlichen Gesellschaften. Diese einigermaßen blühend vielfältigen Situationen von Frauen in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften versucht Elsa dann zu illustrieren über den Charakter der Bella aus dem Roman Schmutziges Wochenende von Helen Zahavi; einer gedemütigten Frau, die schließlich Amok läuft und Männer umbringt. Diesen Roman (und seine möglichen Komplexitäten und Facetten) kenne ich nicht, aber: Wie Millionen andere ist Bella eine unauffällige junge Frau, die keine Geschichte haben würde, an der nichts ist, was der Erinnerung wert wäre. Im Leben hat sie weder Ambitionen noch Ansprüche, nicht einmal auf das einfachste, stereotype Glück. Außerdem hat Bella „gelernt, mit Anstand zu verlieren. Verlieren schien zu ihr zu passen…, wird Bella von Elsa charakterisiert (S.208f.). Als Bella bei einer Gelegenheit einmal in der Lage ist, ihre erlebte Situation sich zu vergegenwärtigen, sieht sie sich als: Die letzte im Rennen. Dunkle Wolken und kein Silberstreif. Einer unter Millionen Kieseln am Strand. Die letzte in der Schlange und die Letzte auf jedermanns Liste. Ich fühle mich allein und verlassen, wie die letzte unter den Lebenden. (S.213) Von ihrem Nachbarn, einem Stellvertreter des männlichen Geschlechts in dieser offenbar Becketthaft leeren Welt, wird Bella gedemütigt und missbraucht. Das sind die Erfahrungen, die sie macht. Fast schon naheliegend, dass sie schließlich überschnappt und Amok läuft und den Nachbarn umbringt.

Bella ist also eine sehr grenzwertige Figur. Ohne Innenleben, ohne sinnvolle Gefühle und ohne Beziehungsfähigkeit, lebt sie in einer Zustand, den man am ehesten vielleicht mit einem schizophrenen katatonischen Stupor vergleichen kann. Eine stumpfe Feindseligkeit brodelt in ihr. Die leblose und latent feindselige Außenwelt gleicht ihrer Innenwelt. Aus irgendeinem Grund präsentiert Elsa Dorlin Bella nun aber also als gleichsam „typische Frau“ und ihre Erfahrung als „typische Erfahrung“, die Frauen in modernen westlichen Gesellschaften machen würden. Eine daraus resultierende Gewaltbereitschaft sei dann fast schon unmittelbar einsichtig und verständlich, genauer gesagt, konsequent: Bella wollte sich nicht aufdrängen, sie wollte niemandem Ärger machen, doch wurde sie schließlich ihr ganzes Leben lang dazu erzogen, Männer zu töten – denn sie haben in der Tat viel getan, sie so weit zu bringen. (S.215)

Menschen haben es an sich, die Welt aus bestimmten Blickwinkeln wahrzunehmen (und teilweise auch gar nichts anderes zu wollen). Ideologisch denkende Menschen, im Speziellen, tendieren dazu, einige Dinge stärker wahrzunehmen, andere nachlässiger, einerseits klarer wahrzunehmen, andererseits verzerrter. Es kann aber auch sein, dass sie darin überhaupt verlogen sind, auf der Grundlage entweder eines materiellen oder ideellen Vorteils, der damit verbunden ist oder aufgrund von Krankheiten des Charakters. Bella ist ein krankhafter, unnatürlicher Charakter, der etwas Krankhaftes, höchst Gewalttätiges tut. Elsa Dorlin tut so, als ob Bella stellvertretend für Frauen in modernen westlichen Gesellschaften stünde und blickt irgendwie bewundernd auf ihre letztendliche Gewalttat. Was sagt das über Elsa aus?

Eines der beklemmendsten Bücher, die mir erinnerlich sind, ist Down Girl – Die Logik der Misogynie von Kate Manne. Allerdings weniger wegen der Einblicke, die es in gesellschaftlich vorhandene oder wirksame Misogynie liefert – denn genau diese werden verdeckt durch die Einblicke, die es vielmehr in die Psychologie seiner Autorin bietet. Die Logik der Misogynie entspringt darin einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Aufgabenverteilung. Rolle der Frau sei es, dem in die Konkurrenzkämpfe unmittelbar eingelassenen Mann emotionalen Komfort und Ausgleich zu bieten und ihre eigenen Bedürfnisse gegebenenfalls hintanzustellen. Somit wird die Frau von sich entfremdet und ihrer Autonomie beraubt. Sexismus und Misogynie sind gesellschaftliches Wissen, Exekutivorgane und Kontrollsysteme, Mentalitäten, um die Frau in einer solchen Rolle festzuhalten, ein „falsches Bewusstsein“ von ihrer Passivität und Inferiorität zu schaffen und aufrechtzuerhalten, und Regelverletzungen zu sanktionieren, bisweilen furios und brutal zu bestrafen. Ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern liegt vor und wird perpetuiert.

Um dieses asymmetrische Machtverhältnis – und sein angeblich nach wie vor unverändertes Bestehen – zu decouvrieren und zu illustrieren, geht Kate Manne allerdings selber leider recht asymmetrisch vor. Ich hätte mich sehr dafür interessiert, wie in unserer modernen, geschlechtergerechten Gesellschaft altvordere Mechanismen nach wie vor am Werk sind und welche Leichen unsere aufgeklärte Gesellschaft nach wie vor im Keller hat. Man erfährt diesbezüglich auch tatsächlich so einiges in Kates Buch. Leider wird darin aber alles, was in den letzten 150 Jahren und in der jüngeren und jüngsten Zeit im Hinblick auf Frauenemanzipation und Bewegung hin zu einer (geschlechter)gerechteren Gesellschaft passiert ist, nicht erwähnt. Stattdessen wird versucht, das unveränderte Fortbestehen von (intransigenter) Misogynie in der heutigen (amerikanischen) Gesellschaft anhand einiger (und nicht allzu vieler) Fälle zu illustrieren, was manchmal überzeugender, manchmal weniger überzeugend gelingt. Dutzende, genauer, hunderte von Seiten behandeln den Wahlkampf und die Wahlniederlage Hillary Clintons gegen Donald Trump, als Illustration, welche Vorbehalte die Gesellschaft nach wie vor gegen Frauen in Machtpositionen habe und wie unterschiedlich die Rollenerwartungen an die und die Toleranzen gegenüber den Geschlechter seien. Hillary Clinton habe die Wahl verloren, weil sie als kalter, karrieristischer Machtmensch (und daher als „unweiblich“ bzw. als Verräterin am Verständnis dessen, wie eine Frau nach wie vor zu sein habe) wahrgenommen wurde, während man Trump dasselbe habe durchgehen lassen. Die Aussage, dass eine bestimmte Frau der Misogynie ausgesetzt ist, lässt sich durch den Nachweis belegen, dass ihr männliches Pendant in einer ansonsten vergleichbaren gesellschaftlichen Position höchstwahrscheinlich nicht solcher Feindseligkeit … ausgesetzt wäre. (S.130) Da hat sie wohl Recht. Allerdings macht sie keine Anstalten, Pendants zu vergleichen, abgesehen davon, dass sie männlich und weiblich sind. Auch ein männlicher demokratischer Kandidat hätte gegen Trump womöglich verloren (und aus Angst davor (?) hatte man Bernie Sanders aus dem Rennen genommen). Bei all ihren Lamenti, Hillary Clinton hätte man vorgeworfen, ein karrieristischer Machtmensch zu sein, erwähnt sie nie, dass Hillary Clinton das ja auch ist. Der Gesamteindruck bei Hillary Clinton ist kein so guter. Was sie ebenfalls nicht erwähnt, ist, dass seit Jahrzehnten in der westlichen Welt Frauen in hohe und höchste politische Positionen gelangen und aus unterschiedlichen Gründen und persönlicher Eigenschaften dort erfolgreich sind (unter anderem als dezidiert unempathische Eiserne Lady). Sie vergisst auch die Überlegung anzustellen, dass die misogynen Attacken, die die republikanischen Scharfmacher(innen) gegen Hillary Clinton geritten haben, wohl weniger ihr entsprechendes Publikum gefunden haben, weil sie misogyn waren, sondern weil sie Attacken waren. Haltlose Attacken, wie zum Beispiel gegen Obama, wonach er Moslem sei und Barack Hussein heiße, funktionieren nicht deswegen, weil rechte WählerInnen sie nicht durchschauen oder durchschauen wollten, sondern weil sie ihnen inhaltlich eher egal sind: Hauptsache ist, dass man Obama irgendwie attackieren und beleidigen kann (das diesbezügliche Leitmotiv bei Hillary Clinton war dann eben Benghasi). Trotzdem weisen sie in beiden Fällen auf das Vorhandensein von Rassismus oder auch gewisse (misogyne) Erwartungen an Frauen hin, die in der Gesellschaft vorhanden sind (so wie allerdings alles andere Mögliche auch), wie auch allgemein der Fall, dass Asymmetrien zwischen Männern Frauen nach wie vor bestehen im Hinblick darauf, wie sehr die Gesellschaft dazu bereit ist, Frauen als Machtmenschen zu akzeptieren (was wiederum Frauen einen Vorteil verschafft, wenn es der Gesellschaft darum geht, die Gewalttätigkeit und das toxische Verhalten bei Frauen nicht sehen zu wollen; darum, wer im Streit um das Sorgerecht der Kinder bei Scheidungen die Oberhand hat und hohe Alimente kassiert und hohe Ansprüche auf Hinterlassenschaften hat; wer zum Militär gehen muss oder wer früher in Pension gehen kann. Man kann sagen, das alles wiegt das nicht auf, wenn Frauen weniger in politischen Machtpositionen akzeptiert werden. Allerdings sind die eben genannten Aspekte und die kleinteiligen Machtverhältnisse die, die das Leben der Menschen viel stärker bestimmen als die Politik, deren Macht zwar größer ist, aber ferner. Feministinnen wie Kate Manne sind mehr am Großgefüge der Macht interessiert, daher schmerzt es sie offenbar umso mehr, wenn sie auf dem Weg zu den großen Machtpositionen auf Widerstände treffen. Kate Manne bekennt in einem Interview auch, „karriereorientierter“ als ihr Gatte zu sein. So wie Hillary Clinton, die sie bemitleidet, könnte man anmerken).

Ein immer wiederkehrendes Motiv in Down Girl (über vielleicht 200 seiner Seiten hinweg) ist auch ein Amoklauf eines jungen Mannes namens Elliot Rodger in den USA. In seinem Abschiedsbrief hatte er eine große Beleidigtheit zum Ausdruck gebracht, keine Freundin gefunden zu haben (ob eventuell sonst noch so einiges drinnen stand, erfährt man nicht); mit seinem Amoklauf wollte er „Rache“ an der Welt nehmen, von der er sich hintergangen gefühlt hat. Dabei wurden mehr Männer zu Opfern als Frauen. Irgendwie parallel zu Elsa Dorlins Fasziniertheit über die weibliche Amokläuferin Bella, fixiert sich Down Girl auf diesen Fall, um Misogynie zu illustrieren, die im Fall von Elliot Rodger sicher vorhanden war (und die zumindest ein wenig, aufgrund seiner Frustrationen und wie bei Bella, verständlich ist). Die Beschäftigung findet allerdings abermals unter Ausschluss von allem anderen statt, was dieses Bild stören könnte; alleine schon einmal dem Umstand, dass solche Amokläufe in den USA haufenweise vorkommen, ohne dass Misogynie oder eine Fixiertheit auf Frauen offenbar die Grundlage dafür sind, oder diese Amokläufe ein dezidierter Feminizid wären. Grundsätzlich sind diese Amokläufer zunächst einmal sehr krank und bewegen sich auf einer eigentümlichen Grenze zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit. Immer wieder (obwohl es seltsamerweise so gut wie nicht bekannt ist) sind es Menschen/Männer mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Deren Kennzeichen sind eine stark erhöhte Kränkbarkeit und Reizbarkeit im Falle von Zurücksetzungen (und der Tendenz, alles Mögliche als solche zu interpretieren), eine starke Selbstbezogenheit und ein Wille, über andere zu dominieren; auf der Grundlage einer unkonstruktiven Emotionalität, die hauptsächlich aus Wut, Neid, Egozentrismus, Anspruchsdenken, Rechthaberei, Streitsucht, Paranoia und einem raschen Beleidigtsein besteht. Sympathetische Gefühle sind stark reduziert; damit haben solche Personen auch ein gespenstisch vakantes Innenleben bzw. keine ausgleichenden inneren Regungen, um ihren zirkulären oder unguten Emotionen etwas entgegensetzen zu können. Dass solche Männer frauenfeindlich und –verachtend werden können, rührt in erster Linie daher, dass sie allgemein menschenverachtend sind; eventuell sind sie deswegen frauenverachtend (neben den realen Frustrationen, die sie von ihnen erleiden mögen), weil sie allgemein auf andere genüsslich als „die Schwächeren“ herabschauen und daher eben auch, und insbesondere, auf Frauen (oder Minderheiten etc) (was allerdings, um sich in einer narzisstischen Rolle als „Beschützer“ zu gefallen, auch dazu führen kann, dass sie Frauen gegenüber ritterlicher und galanter sind, zumindest an der Oberfläche: Hitler hat damit, und mit seinem österreichischen Charme, seine Sekretärinnen zumindest aber beeindruckt).

Gemäß Down Girl ist das Zentrum der Misogynie das „Rollenverständnis“, dass Frauen als emotionale Helferinnen von Männern gelten und sich zu sehen hätten; die Männern Empathie zu geben hätten ohne entsprechend viel Empathie einfordern zu können. Dementsprechend liegt ein asymmetrisches (Macht)Verhältnis vor. Wenn eine Frau aus diesem Rollenverständnis ausschere und sich nicht zu seiner Übernahme bereit erkläre, werde das (teilweise brutal) sanktioniert (im Übrigen, wie man in der Realität immer wieder beobachten kann, von anderen Frauen teilweise noch mehr als von Männern). Was wirft man den Frauen vor? Ich denke, es geht um den Vorwurf, dass sie sich verweigern und nicht bereit sind, etwas zu geben; dass sie kalt, gefühllos und herzlos sind und ihre natürliche Pflicht vernachlässigen, eine sichere Zuflucht zu bieten, zu hegen und zu pflegen… (S. 174). Dieses Rollenverständnis kritisch zu hinterfragen, ist richtig und wichtig. Bei der Lektüre von Down Girl beschleicht einen aber der Verdacht, dass Kate Manne selber keine Empathie für Männer (oder auch Frauen) aufzubringen imstande ist, und gerade deswegen gegen ein solches Rollenverständnis polemisiert. Weil sie sich (als Frau) im Hinblick auf ein solches Rollenverständnis wohl tatsächlich entfremdet fühlt. 

Elsa Dorlin hat dabei auch ein Problem mit Empathie, zumindest mit sogenannter dirty care, also einer überempathischen Haltung gegenüber Mitmenschen, von der diese profitieren, während man sich selber aufreibt und aufopfert. Einer Haltung, zu der vor allem Frauen (in ihrem Verhalten gegenüber Männern) erzogen werden, innerhalb derer sie ihre Autonomie verlieren, um einer Heteronomie unterworfen zu werden. Das Objekt wird zum Mittelpunkt der Welt, die das Subjekt aus dem Nichts wahrnimmt. Das Subjekt der Erkenntnis dreht sich ständig um dieses Zentrum. Bei diesem Erkenntnisprozess gibt es keine Vormachtstellung des erkennenden Subjekts, keine alles überragende Position, keine Autoritätsposition: Das Subjekt der Erkenntnis ist gegenüber seinem „König Objekt“ in der Position der Heteronomie; weil dieses Objekt mit der objektiven Realität verschmilzt, ist es ein Standpunkt, der das la des Realen abgibt. (S.223) Allerdings soll es auch nicht so sein, dass im Rahmen eines Erkenntnisprozesses das Subjekt eine zementierte Vormachtstellung oder alles überragende Autoritätsposition einnimmt. Das wäre ja ein Solipsismus, oder eine Wahrnehmung der Welt, ganz einfach so, wie das Subjekt das will (also, so wie es dann und wann bei Feministinnen der Fall ist). Die Stoßrichtung hinsichtlich Aufklärung bezüglich der Mechanismen von dirty care, so sie denn vorliegt, ist richtig und wichtig. Man hat dabei aber – abgesehen von einer irgendwie impliziten Gleichsetzung von weiblicher Empathie (für Männer) mit dirty care (denn explizit differenziert Elsa Dorlin zumindest nicht zwischen dem einen und anderen) – einen Hinweis, dass der Kern von Elsas Feminismus neurotische Allmachtsfantasien sind, die natürlich höchst störungsanfällig sind, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, was ebenfalls Macht oder aber mehr Macht hat. Das ist in einem solchen psychologischen Rahmen natürlich schwer auszuhalten. Das Problem liegt dann aber vielleicht weniger an der Außenwelt als an der Innenwelt. Und es fällt auf, dass sie zur Empathie kein gutes Verhältnis hat, und sie in erster Linie als Zumutung wahrnimmt und die Forderung nach Empathie als eine Zumutung wahrnimmt.

Elsa Dorlin beschäftigt sich in ihrem feministischen Schlusskapitel zu Selbstverteidigung mit Kampagnen, die die Sensibilität gegenüber Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft schärfen wollen. Diese versuchen Aufmerksamkeit über eine Schockwirkung zu erzielen, indem sie brutal geschlagene und misshandelte Frauen zeigen. Eine Kampagne sicherlich nicht ganz ohne Mut, die sich aus dem Fenster lehnt, um die Gesellschaft mit Verdrängtem zu konfrontieren. Elsa Dorlin beschäftigt sich auf mehreren Seiten damit, allerdings ausschließlich „kritisch“. Indem sie meist eine Frau zeigen, oder genauer gesagt, indem sie systematisch weibliche Körper vergegenständlichen, die als Opfer inszeniert werden, schreiben diese Kampagnen die Verletzbarkeit als unweigerliche Zukunft einer jeden Frau fort, heißt es da zum Beispiel (S.200), bis hin zu Und in ihrem obszönen Leiden, das man in aller Ruhe aus dem Augenwinkeln betrachten kann, werden diese Körper auch zu Objekten einer „fetischistischen Faszination“. (S.205) Diese Kritik ist sicherlich berechtigt und diese Hinweise sind erhellend. Das Beklemmende aber ist, dass sich Elsa Dorlin ausschließlich so dazu äußert. Kampagnen gegen Gewalt gegen Frauen werden also (vernichtend) kritisiert, weil sie Frauen als Opfer von Gewalt darstellen! Elsa stellt einer solchen Werbestrategie entsprechende Kampagnen von feministischen Gruppierungen entgegen, die sich mit der Botschaft an Frauen wenden, sich selbst zu verteidigen und sich mehr zuzutrauen. Dabei lässt sie allerdings wohl außer Acht, dass die Breitenwirkung solcher Kampagnen von radikalen Splittergruppen wohl begrenzt ist (aus meiner kommunistischen Studentenvergangenheit kenne ich das ja, wie unsere durchaus raffinierten und ästhetisch wertvollen Wahlwerbungen dabei aber stets einigermaßen wirkungslos verpufft sind), und eine Schockkampagnenstrategie, wie sie allerdings von ihr abgelehnt wird, wohl wirkungsvoller. Es stellt sich die Frage, inwieweit Gewalt gegen Frauen als gesellschaftlich verbreitetes Phänomen und die Möglichkeiten ihrer wirkungsvollen Bekämpfung Elsa Dorlin überhaupt interessieren. Eher scheinen sie Möglichkeiten zu interessieren, wie Frauen – bzw. sie selbst – als starke, unabhängige Kämpferinnen dastehen und sie sich als solche selbst narzisstisch bewundern können. Fasziniert blickt sie auch auf Bella, die plötzlich Amok läuft, ohne eine entsprechende Kampfausbildung erhalten zu haben, sondern ganz aus sich selbst heraus bzw. im plötzlichen Kontakt mit ihrer „ursprünglichen Natur“ (der Gewalttätigkeit?) einen filmreifen Amoklauf hinlegt: Bella hat nicht gelernt zu kämpfen, sie hat verlernt, nicht zu kämpfen. (S.216) Ein irgendwie pathologischer Wunsch nach Gewalt geht einher mit einem irgendwie pathologischen Wunsch, alles selber zu machen: Bella befreit sich selbst. (S219) Bella ist von den Männern nicht abhängig – vielmehr sind die Männer es von Bella? Dass sie latent annimmt, Frauen wären für Männer „vergegenständlichte Objekte einer fetischistischen Faszination“ bzw. dass Feministinnen oft annehmen, Frauen wären Opfer eines „verobjektivierenden männlichen Blicks“ in dessen Zentrum sie stehen würden, kann auch als Hinweis auf deren Selbstinflationierung und Selbstbezogenheit gesehen werden: Indem sie so annehmen können, sie wären die, um die sich die ganze (Männer)Welt dreht, und somit die „eigentlich“ Herrschenden, das wahre Zentrum der Welt – das halt nur leider so sehr und so heimtückisch von sich entfremdet wurde. Ich und auch meine Freunde von früher können diesbezüglich zumindest feststellen, dass zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr die männliche Libido dann deutlich abnimmt, und spätestens dann Frauen gar nicht mehr ein so zentral beherrschendes Thema für uns sind, sondern eher eines unter vielen. Es kann sein, dass für bestimmte Frauen/Feministinnen das eine noch viel härtere Tatsache ist, da sie dann ja wieder mit ihrer Grundangst konfrontiert werden, dass niemand sie beachten würde, der Grundangst Bellas, dass sie „ständig übersehen“ werde. Steckt dahinter vielleicht ein Wunsch nach Anerkennung und nach Gesehenwerden, der deswegen nie befriedigt wird, weil er unermesslich ist?

Als Beispiel für fetischistische Verobjektivierung von Frauen wird in Down Girl die Pornographie herangezogen. Laut Kant ist der Sexualtrieb an sich böse, da er Personen, auf die sich unser Sexualtrieb richtet, tendenziell „objektifiziert“. Das stimmt ein wenig, allerdings wenn schon, dann für beide Geschlechter (Hunger ist dahingehend ein noch viel schlimmerer Trieb, denn er macht aus putzigen Tieren, die wir gerne streicheln, totes Fleisch, das wir gerne essen). Vielleicht hatte dieser extrem durchdringende Geist auch letztendlich Recht, wenn er die Ehe als „Kontrakt zur Verfügungsgewalt über die Geschlechtsorgane der Partners“ qualifiziert. Vielleicht ist das aus der Sicht des göttlichen oder teuflischen Puppenspielers so und alles andere daran eitle Illusion. Vielleicht, und wahrscheinlich, aber auch nicht. Unsere natürlichen Gefühle und Bedürfnisse nach Liebe, Austausch, Geborgenheit, Miteinander usw. sind schon starke reale Mächte. Feministinnen wie Kate Manne tendieren auf jeden Fall aber zur Kantschen Sichtweise, zumindest, wenn es um sie selber geht und wenn es um Pornographie geht.  Eine charakteristische Art, jemanden „als Objekt“ zu behandeln, ist in der Pornographie zu finden, daher haben Feministinnen in jüngerer Zeit ergänzt, in der Pornographie werde „der Mensch zum Ding“, wird in Down Girl eine Feministin, Rue Langton, zitiert (S. 224). Ich hätte mir gedacht, die feministische PorNO-Bewegung hatte ihren Höhepunkt um 1983 und sei dann versandet, während sie sich offenbar revitalisiert und neue, wichtige Erkenntnisse produziert hat. Zu diesen scheint aber eher nicht zu gehören, dass es bei Pornographie um die Befriedigung des Sexualtriebes geht, der freilich die seltsamsten Formen werden kann und daher auch die seltsamsten Formen von Pornographie. Die Pornographie ist ein weites Feld, Frauen und Männer üben darin mal mehr, mal weniger Macht über den jeweils anderen aus (sofern es darum überhaupt geht). Kate und Rue stoßen sich daran, dass es ein Genre heterosexueller Pornographie gibt, das Frauen als nichtssagende, starrende, vergleichsweise geistlose Kreaturen darstellt. (Die weibliche Hauptrolle will immer das, was er ihr zu geben hat, und ihr Vokabular erschöpft sich mehr und weniger in gehauchter Zustimmung.) (S.263) Somit ist Pornographie eine Verletzung ihres Damenstolzes (und das ist auch nicht ganz unverständlich). Es stellt sich allerdings die Frage, warum ihr Damenstolz sich dauernd verletzt fühlt und sie sich in ihrer Autonomie ständig behindert (ich rege mich ja auch nicht auf, dass Männer in Pornofilmen stets als primitive Erotomanen dargestellt werden, obwohl wir doch noch „so viel mehr“ sind; aber ich finde es beklemmend, wenn akademisch ausgebildete Frauen in etwa das tun). Auf dieser Grundlage versucht Kate, hinter das Mysterium der Pornographie zu blicken: Meiner Ansicht nach wäre es indes falsch, anzunehmen, solche Pornographie erzeuge oder reflektiere diese buchstäbliche Sicht auf Frauen. Plausibler finde ich, dass es sich vielmehr um eine vermarktbare Fantasie handelt. Die Subjektivität und eigenständige Sexualität der Frauen ist für alle, die nicht völlig verblendet sind und (ironischerweise) über einen Internetanschluss verfügen, immer schwieriger zu verleugnen. Denn dazu sind die Stimmen von Frauen im Cyberspace allzu laut und vernehmlich. Aus der Sicht patriarchalischer Werte mögen Frauen menschlich – manchmal allzu menschlich – sein. Pornographie mag eine willkommene Entlastung von Realitäten bieten, die schwer zu ertragen sind, wenn man sie fürchtet. Sie kann beruhigen, indem sie in der Fantasie die psychische Bedrohung entschärft, die vom Menschsein der Frauen ausgehen mag, als sie Männer beschämen oder sexuell demütigen können. Das steht im Gegensatz zu der Ansicht, Pornographie bringe die buchstäbliche Sicht der Männer auf Frauen zum Ausdruck oder präge sie sogar. (S.263f.) Nun ja, beide Ansichten beruhen offensichtlich auf der Grundlage, dass ihnen der entscheidende Hinweis diesbezüglich, um was es in der Pornographie geht, entgeht. Insbesondere bei Kate sind ihre eigenen (sadistischen/revanchistischen) Macht- und Überlegenheitsphantasien gegenüber Männern auch kaum zu übersehen, die in einer solchen Interpretation von Pornographie zum Ausdruck kommen. Bei Sexualität denkt man normalerweise eher an Liebe als an Macht (zumindest aber an Genuss), außer eben entschlossene Feministinnen wie Kate und Rue. In auffallender Weise ist es ihnen (zumindest nach außen hin) verwehrt, Beziehungen zwischen Mann und Frau anders zu interpretieren denn als Machtbeziehungen und Machtkämpfe. Dass sie das in ihrer inneren Autonomie behindert, ist nahe liegend.

(Hardcore) Feministische Interpretationen, wie die von Kate Manne, die suggerieren, Misogynie sei das entscheidende und ursächliche Motiv hinter Pornographie, Amokläufen oder der Erfolglosigkeit von Hillary Clinton, und allgemein ihre totalitäre/totalisierende Weltsicht, rufen natürlich Widerspruch hervor, zum Beispiel seitens des Gewaltforschers Steven Pinker. Down Girl geht darauf in eigentümlicher Weise ein, indem es entsprechende Stellen bei Pinker und anderen bereitwillig zitiert (meistens in (herablassenden, wie man meinen könnte) Fußnoten), sie dann aber ohne Gegenargumente mehr oder weniger wiederum als „misogyn“ verwirft. Bzw., eigentlich auch das fast nicht. Sie lässt die (plausiblen) Gegenpositionen zu ihrer eigenen in einer irgendwie gespenstischen Weise einfach stehen. Am eigentümlichsten ist vielleicht das Beispiel, wo sie darauf hinweist, dass (aufmüpfige) Frauen immer wieder als „schrill“ bezeichnet werden würden (also über eine beleidigende Abwertung ihrer hohen Stimmen), und zur Illustration eines von (angeblich vielen sich so ausdrückenden) „Hassmails“ gegen sie extrem ausführlich zitiert (S.439f.): Ms Manne, Ich war überrascht und irritiert über ihren … Artikel, der sich generell über amerikanische weiße Männer lustig macht … Sie müssen viel Hass in sich aufgestaut haben, um eine ganze Kategorie von Menschen so anzuprangern, wenn jeder unvoreingenommene Mensch vor einer derart pauschalen Behauptung zurückschrecken würden … (das ist) wirklich ziemlich sexistisch und rassistisch … (ich) fand ihre Logik weniger einer Philosophieprofessorin an einer der besten Hochschulen des Landes würdig als vielmehr einer patzigen Fünfzehnjährigen voller Ressentiments und Narzissmus. Es tut mir leid, wenn ihr Vater vielleicht ein rasender Alkoholiker war, der ihre Mutter geschlagen hat, aber das ist keine Entschuldigung, alle Männer… etc. So geht es dann mehr als eine Seite aus dem Zitat der Zuschrift dieses empörten (sie aber nicht hassenden und ihren überlegenen Bildungsstatus anerkennenden) Mannes dahin (die im Übrigen genauso gut von einer Frau sein könnte), bevor sie schließlich schließt mit: Vielleicht könnten sie die ganze tolle Bildung, die sie genießen durften, dazu nutzen, Menschen näher zusammenzubringen, statt Böswilligkeit und Schrillheit zu schüren … davon haben wir eindeutig schon genug. „Schrillheit“ wirft er ihr dann also vor. Kate zitiert dieses (irgendwie ja auch nachvollziehbare) Mail über eine Seite hinweg, um zu illustrieren, dass ihr „Schrillheit“ darin vorgeworfen (?) wird. Man fragt sich: Will sie hier anderslautenden Positionen und Kritiken am Hardcore-Feminismus demokratisch Raum geben? Will sie damit eine gewisse Zustimmung dazu ausdrücken, die sie aber nicht versprachlichen kann? Hat sie vielleicht sogar eine gewisse Todessehnsucht ihrer eigenen Sichtweise gegenüber, die schließlich keine vorteilhafte Sicht auf die Dinge ist? Oder hat man hier einen unlösbaren Konflikt, der jedoch über eine höhnische Verweigerung jeglicher Dialektik (egoistisch) „gelöst“ wird: Sprich, über eine schrille Machtdemonstration, innerhalb derer sie dieses ihr offensichtlich nahe gehende Mail verwirft und delegitimiert, mit dem Verweis, dass der Ausdruck „schrill“ darin vorkomme? Eine solche Autoritätsposition muss dem berauschenden Gefühl einer göttlichen Allmacht wohl schon sehr nahe kommen. Oder aber, erkennt sie gar nicht, dass Gegenpositionen gegenüber ihrer eigenen eine gewisse Berechtigung haben könnten, weil sie so sehr in ihrer eigenen verhangen ist?

Bemerkenswert dann auch, wie (zumindest) Kate Manne jedes Mal mehr als nur verschnupft reagiert, wenn Kritisierbares und Mängel nicht an Männern festgestellt wird, sondern an Frauen. Man könnte es als Hinweis für ein schwaches/narzisstisch überhöhtes und daher leicht kränkbares  Selbstbewusstsein sehen, wenn Feministinnen wie Kate Manne nicht den kleinsten Makel tolerieren können, wenn es um die Darstellung und Vergegenwärtigung von Frauen geht, sondern wenn sie als gängelnd, dumm, egoistisch, dünkelhaft usw. in Erscheinung treten – als ob sie das in der Realität nicht immer wieder auch wären. Frauen werden als Objekte von Kritik mehr oder weniger ausgenommen, bzw. wird jegliche negative Illustrierung von Frauen in Funk und Fernsehen als Bestätigung für Misogynie herangezogen. Es ist kaum zu fassen, wie selbstbezogen Feministinnen wie Kate Manne sind (wobei eine derartige Selbstbezogenheit für Feministinnen allgemein dann doch nicht typisch ist). Oder fühlt sie sich – wie allgemein durch das Rollenverständnis von Frauen als empathische Wesen – tatsächlich in ihren Schwächen getroffen? Im Finale führt sie ein (gutes) Kindergedicht von Shel Silverstein an, über eine quengelnde, egoistische Göre, die ihren Status als Frau – „Ladies first!“ – dazu nutzt, um sich vordrängeln zu können, sogar, wenn es um ihren eigenen Untergang geht. Wenn ich Silversteins Gedicht lese, bin ich zutiefst niedergeschlagen: Eine der wesentlichen Dynamiken, die der Misogynie zugrunde liegen, wird über populäre Kindergedichte und Gutenachtgeschichten verbreitet. (S.461) Kann es sein, dass Kate sich in Wirklichkeit eher erschrocken darin selbst erkennt? (Ein Buch mit Kindergedichten von Shel Silverstein habe ich mir daraufhin ausgeliehen; sie haben mir aber nicht so gut gefallen und sie haben etwas durchaus Misanthropisches, wenngleich seine Zeichnungen ganz herzig sind. Sein bekanntestes Kinderbuch, Der freigiebige Baum, ist eine Parabel über Hybris und Undankbarkeit bei Kindern/Menschen, die zu einem schlechten Ende führen indem sie sich selbst das Wasser abgraben.) Die einzige Kritik, die Down Girl am Feminismus je formuliert, ist dass sich weiße Feministinnen oft erstaunlich wenig um die Belange nichtweißer Frauen bekümmern. (S.21 und 337) Das kann man auch als Hinweis sehen, dass ihr Feminismus in erster Linie ein Egoismus ist, und weniger ein Altruismus. Natürlich sind Verständnisse erweiterbar und progressive Bewegungen können inklusiver werden. Was aber dann vielleicht auch nur ein erweiterter Aktionsradius ihres letztlich egoistischen Strebens ist – anstelle davon, sich empathisch mit dem Anderen – dem tatsächlich Anderen – auseinanderzusetzen.

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Dieser Text ist nicht dazu da, damit Männer (oder Frauen) sich freuen, wenn Feministinnen auf die Fresse fliegen. Was mich antreibt, ist, aus einem empathischen Erkenntnisinteresse heraus zu differenzierten und differenzierenden Betrachtungen über die objektive Realität (bzw. eben über subjektive Interpretationen der objektiven Realität wie die von Kate Manne und Elsa Dorlin) zu gelangen, um so die Basis für einen demokratischen Ausgleich zwischen den Positionen und Ansprüchen zu schaffen. Das ist es, wozu der Geist da sein soll. Und das ist es, wozu der Geist in der heutigen Zeit da sein muss, in einer sich ausdifferenzierenden, multikulturellen, komplexen Gesellschaft, hinter der unsere Verständnisse und unser Vermögen sich in ihr zurechtzufinden, hinterherhinken. Aufklärung ist generell das Schaffen von differenzierteren Verständnissen und Begrifflichkeiten; da zum Zeitpunkt der Aufklärung die Gesellschaft kein einfache Feudalgesellschaft mehr war, wo alles und jeder seinen festen Platz hatte und über der ein Gott thronte, sondern eine fortschreitende, sich auflockernde, dynamische Gesellschaft, die man versuchen musste, neu zu interpretieren. Das ist seitdem so geblieben. Wenn die Verständnisse der Gesellschaft hinter diesen Ausdifferenzierungen zurückbleiben (wie zum Beispiel vor einem Jahrhundert gegenüber der neuartigen Demokratie), droht Gefahr.

Es ist eine gute Zeit, in der wir leben! Das mit dem Feminismus und mit Woke ist gut. Wir schaffen damit wohl eine fortschreitend bessere Gesellschaft. Es besteht aber auch die Gefahr der gegenseitigen Entfremdung und Fraktionierung. Als ich vor zwanzig Jahren an genderphilosophischen Seminaren auf der Uni teilgenommen habe, war ich einer der ganz wenigen Männer, die dabei waren. Allerdings waren da auch nicht so viele Frauen. Wieso sich die Frauen nicht mehr für den Feminismus, der ja ihre eigenen Angelegenheiten vertritt, interessieren würden, haben wir uns damals gefragt. Nun ja, heute scheint das viel häufiger der Fall. Und jetzt nervt mich der Feminismus ein bisschen. Von wegen: Jetzt, wo sie auf einer Welle reiten können und sie kein Risiko eingehen müssen, bezeichnen sich so etliche Frauen als Feministinnen; tun teilweise so, als ob sie das erfunden hätten, das mit dem Feminismus. Jetzt tun sie so, als ob sie damit aufregend und anders und Avantgarde wären, obwohl es das Mainstreamthema Nummer Eins ist. Inwieweit viele von ihnen damals in den genderphilosophischen Seminaren gesessen wären, weiß ich nicht. Es war betrüblich, wie wenig Männer damals an diesen Seminaren teilgenommen haben. Es scheint unter Menschen kaum der Fall zu sein, dass sie sich tatsächlich für das Andere, für andere Lebenswelten und Milieus als die eigenen interessieren würden und sich großartig in sie hineinversetzen können oder wollten. Das gilt für Menschen generell. Für Frauen, zumindest oberflächlich, vielleicht weniger als für Männer (obwohl ich glaube, dass, wenn es tatsächlich darauf ankommt, das Brückenbauen eher bei Männern der Fall ist, als bei Frauen). Feministinnen wie Kate und Elsa fordern dann aber auch, dass Frauen weniger Empathie aufbringen sollten. Empathie ist aber ein wichtiger Kitt für die Gesellschaft. Und vor allem, um komplexere, differenziertere Verständnisse und Begrifflichkeiten zu schaffen.

Das eine ist freilich das friedliche Schaffen von komplexeren Verständnissen, das andere ist der Kampf dafür, der eventuell zu Militanz herausfordert. Inwieweit ist ein solcher Kampf immer edel und gut? Bewegungen wie den Feminismus könnte man als humanistische Bewegungen mit altruistischem Motiv ansehen. Doch trau, schau, wem. Altruismus kann auch nur eine Erscheinungsform des Egoismus sein. Progressive Bewegungen wie der Kommunismus, der Feminismus oder der Antikolonialismus haben es an sich, dass sie unter anderem auch Ressentiment-Menschen anziehen: Minderwertigkeitskomplexler, Soziopathen, verhinderte Machtmenschen, die sich deswegen intransigent gegen eine etablierte Macht richten, weil sie so beleidigt sind, dass sie selbst nicht an der Macht sind (und deren bisweilen schrecklicher Charakter sich spätestens dann manifestiert, wenn sie die Macht erlangt haben); genauso wie Kirchen und Religionen, oder eben alle Politik Individuen mit unlauteren Motiven – bzw. eben Machtmenschen – anziehen (ein solches Beispiel in Bezug auf intellektuellen Antikolonialismus aus Ressentiment heraus scheint gegenwärtig der gefeierte Achille Mbembe).

Es gibt einen Grundwiderspruch des Feminismus: Er strebt eine autonome Artikulation von Frauen hinsichtlich ihrer Wants und Needs an, ist aber möglicherweise sehr unglücklich und daran dann gar nicht interessiert, wenn diese Artikulationen – und deren (offensichtlich authentische) Wants und Needs –  dann anders ausfallen als gewünscht. Es kommt dann auf den geistigen und spirituellen Horizont der Feministin an, wieviel „Widerspruch“ bzw. Diversität sie gelten lassen will. Der Fanatismus ist der natürliche Gegenspieler der Diversität, so Hegel: der will, auch wenn er immer wieder von ihr spricht, keine Diversität gelten lassen, er will selbst zum herrschenden Prinzip werden und die Welt nach seinem Bild gestalten. Je fanatischer der Feminismus ist, desto weniger wird er Diversität unter auch Frauen gelten lassen, und daher Männer wie auch Frauen gegen sich aufbringen. Als Frau würde ich mich von bestimmten Spielarten des Feminismus ja auch abgestoßen fühlen; unter anderem von denen, die Frauen ständig in der Opferrolle sehen wollen. Das würde ja bedeuten, ich wäre als Frau eine Vollidiotin, die sich permanent verarschen und wie ein Hund an der Leine führen lässt und die nicht wüsste, was sie selber eigentlich will. Die Feindseligkeit gegenüber Männern, die weit in den Mainstream-Feminismus hineinreicht, müsste nicht die meine sein, noch die Freude, die Feministinnen daran haben, Männer irgendwie kastrieren oder irgendwas wegnehmen zu können. Und allgemein auch nicht die Selbstgerechtigkeit und der Gut-Böse Dualismus zwischen sich und den anderen, die ebenfalls tief in den Mainstream-Feminismus hineinreichen, ganz zu schweigen von den unnatürlichen Verständnissen von Geschlecht, Gesellschaft, Macht, Sexualität, die im Feminismus immer wieder zu finden sind. Meine geliebte Liliana vergleicht Feministinnen und feministische Wissenschaftlerinnen mit Leuten, die an UFOs glauben, und all die Damen und Mädchen ihrer Familie in Argentinien mögen den Feminismus nicht; ohne dass ich das jetzt selber unterschreiben könnte.

In sowohl Selbstverteidigung als auch Down Girl kommt eine idiosynkratische Psychologie der Autorinnen zum Vorschein. Woher kommt aber diese? Von der traumatischen Erfahrung mit einem alkoholabhängigen Vater, der die Mutter geschlagen hat (wie oben vorgeschlagen)? Das wäre dann natürlich leicht zu entschlüsseln und behandelbar. Man scheint es aber mit einem grundsätzlicheren Persönlichkeitstypus zu tun zu haben. Schau dir bestimmte MoralisiererInnen und KämpferInnen für Gerechtigkeit (oder eben Feministinnen) genauer an: Man sieht, wie solche Leute ständig herumpendeln zwischen Ohnmachtsgefühlen und Größenwahn, Selbstverkleinerung und Selbstinflationierung; zwischen einem sich ständig beleidigt und verhöhnt Fühlen und dabei dann selbst nichts anderes zu tun als zu beleidigen und zu verhöhnen. Andere Register können sie nicht ziehen, und so sind sie tatsächlich darin gefangen (bzw. davon unterdrückt).  Man frägt sich, ob hinter ihren moralischen Entrüstungen eine echte moralische Empörung steckt oder eine Schadenfreude, dem politischen Gegner was anhängen zu können, und von der man sich grundlegend ernährt. Zumindest scheint beides gleichsam unauflöslich miteinander verschmolzen, damit also insgesamt als eine durchwachsene Sache. Diese Leute sind sehr selbstbezogen. Da ihr Wille zur Weltverbesserung nicht wirklich und rein gut ist, sondern vielmehr von Revanchismus bzw. dem eigenen Machtwillen getrieben, ist es kein Wunder, dass sie sich ständig (von sich selbst) entfremdet fühlen und die Lösung für das Problem der Entfremdung in einem irgendwie radikalen (und gewalttätigen) Umsturz der Gesellschaft suchen. Insgesamt scheint die Idiosynkrasie als zu manifest und die grundsätzlichen Möglichkeiten des Denkens, Fühlens, Erlebens zu betreffen, als das man es als es als etwas Angelerntes oder als ein Epiphänomen betrachten könnte. Dann hat man es aber weniger mit Traumata, Komplexen oder Neurosen zu tun, als mit einem grundsätzlichen Persönlichkeitstypus oder aber einer Persönlichkeitsstörung. Doch wiederum keine der bekannten Persönlichkeitsstörungen scheint hier zu passen. Es gibt keinen Konflikt zwischen dem Narzissmus oder den Wahnvorstellungen eines Mannes und seiner Misogynie, also der Tatsache, dass er durchgängig stark von misogynen gesellschaftlichen Kräften getrieben ist. Denn Misogynie ist ihrem Wesen nach narzisstisch und wahnhaft. Sie verwandelt unpersönliche Enttäuschungen in erbitterten Groll – oder in eine „gekränkte Anspruchshaltung“… heißt es in Down Girl (S. 137f.) Dann kann man wohl davon ausgehen, dass das bei der Misandrie dasselbe ist. Doch woher kommt diese Form der Misogynie oder Misandrie? Angesichts dessen, was über Persönlichkeitsstörungen bekannt ist, tappt man einigermaßen im Dunkeln.

Da lese ich aber neulich etwas darüber, dass, jüngsten Untersuchungen zufolge, eine Tendenz bei bestimmten Menschen, sich ständig als das Opfer zu fühlen, einem „Persönlichkeitstypus“ entspricht, der sich durch mehrere (toxische) Merkmale auszeichnet: 1) einer ständigen Suche nach Bestätigung, dass man Opfer einer Ungerechtigkeit ist 2) ein Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit 3) Empathiemangel 4) Revanchismus. Ein solcher Persönlichkeitstypus kann auch bestehen, ohne dass tatsächliche (rational erklärbare) Kränkungen oder Traumatisierungen stattgefunden haben. Man hat es also offenbar mit einer Persönlichkeitsstörung zu tun, die noch nicht kategorisiert ist, und die Elemente vor allem einer narzisstischen und einer paranoiden Persönlichkeitsstörung aufweisen (während andere Elemente jener beiden Persönlichkeitsstörungen wiederum fehlen). Im Gegensatz zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist das Selbstwertgefühl letztendlich niedrig; wie Narzissten in Wut geraten, wenn ihre Grandiosität (auch nur geringfügig) angezweifelt wird, tun es die Opfer, wenn das bei ihrem Opferstatus der Fall ist. Die Opfer sind vielleicht nicht ausgesprochen (sondern nur tendenziell) paranoid, leben aber in einer quasi-paranoiden Welt mit einem fixen Feindbild (wobei die Paranoiden diesbezüglich variabler sind), mit dem sie sich in einem ständigen Duell und Machtkampf erleben darum, wer das eigentliche Zentrum des Universums ist, und der eigentlich „legitime“ Herrscher, wobei das Feindbild als eine Art Usurpator angesehen wird, der die Macht mit illegitimen Mitteln an sich gerissen hat; mehr noch: der einen seiner ursprünglichen glänzenden Eigenschaften beraubt hat und nur so, mit dieser gestohlenen Krone, an die Macht gelangen konnte (um dort nichts als egoistisch zu sein und Unheil anzurichten). Es ist, wie bei Narzissten und Paranoiden, schwer bis unmöglich bei ihnen festzustellen, ob ihr Streben von der Wurzel her defensiver oder offensiver Natur ist, also ob ihr Größenwahn und ihre Selbstbezogenheit Kompensationen eines Minderwertigkeitsgefühls ist, oder aber das Minderwertigkeitsgefühl Resultat eines Größenwahns, der sich in der Realität nicht behaupten kann, so dass man diese schließlich grundlegend und revolutionär ändern und umstürzen will. Wie Narzissten hungern die Opfer nach Anerkennung, allerdings weniger nach übertriebener Anerkennung und persönlicher Auszeichnung, sondern eher nach „gerechter“, ausgleichender Anerkennung für ein Kollektiv, mit dem sie sich identifizieren. Sie haben wohl einen größeren Wunsch nach Geborgenheit und sich moralisch tatsächlich weniger ichbezogen als Narzissten; allerdings stellt sich die Frage, inwieweit sie sich für ihr eigenes Kollektiv tatsächlich interessieren oder ob dieses vorrangig als eine Verlängerung ihres eigenen Ichs fungiert; das sie also – so wie sie es ihrem Feindbild vorwerfen – für sich vom Subjekt zum Objekt und zur Verfügungsmasse machen. Ihr Empathiemangel ist vielleicht ihr eigentliches Unglück, denn so sind sie schwer in der Lage, sinnvolle Beziehungen einzugehen noch sich vorzustellen (und damit auch, die Gesellschaft insgesamt zu begreifen), und sie tun sich (anders als Narzissten mit ihren Manipulationsfähigkeiten und ihrem schneidigen Charme) schwer, andere zu beeindrucken – was dann eben wieder zu Gefühlen der Minderwertigkeit und des Nicht-Wahrgenommenseins führt, und ihre innere Position weiter zementiert. Die mangelnde Genussfähigkeit tut ihr Übriges.

Es handelt sich auf einem solchen Level (der Persönlichkeitsstörung) weniger um einen (in etwa: neurotischen oder komplexbehafteten) psychodynamischen Konflikt, sondern um ein Fehlen bestimmter Fähigkeiten, bestimmte Positionen miteinander abzustimmen, einen Mangel an psychologischer Integriertheit. Daher wird die eigene Welt, in der man lebt, zu einer echten, kaum veränderbaren, statischen und starren Welt, die zwar tief von einem Konflikt bestimmt wird, aber von kaum einer Dynamik, die sich aus einem solchen eigentlich ergeben sollte. So heißt es dann auch in Selbstverteidigung in Bezug auf die fiktive Amokläuferin (und angebliche Stellvertreterin für Frauen allgemein) Bella: Die Mörderin Bella macht die gleiche Erfahrung wie das „Opfer“ Bella … Bella hat somit keine Metamorphose, sondern eine Anamorphose vollzogen. Sie ist immer noch dieselbe, sie wird nur anders gesehen und sieht sich anders, aus einer anderen Perspektive (S.217) … Die extrem gewalttätige Bella ist immer noch Bella, aber eben ein anderes Gesicht von Bella, das geheim, verborgen, tabu und Bella selbst unbekannt ist. (S.218) Bella ist auch keine Feministin, sie ist gar kein politischer Mensch, sie strebt (offenbar) kein goldenes Matriarchat an: man/frau könnte sich aus politischer und feministischer Sicht fast also fragen, wozu das Ganze? Das Ganze nur um inneren Dampf abzulassen? Äquivalent dazu gibt es auch in Down Girl keinen hoffnungsvollen Schluss, sondern nur die Feststellung, dass sich an der Misogynie in den USA im Lauf all der Jahrzehnte „nichts geändert“ habe, weswegen Kate es auch „aufgebe“, etwas zu ändern, da sie dabei sowieso nicht verstanden und als gemein, aggressiv und penetrant (darf ich sagen: schrill) abgekanzelt werden würde (das konkrete Beispiel dafür, warum sie sich missverstanden fühlt, ist dabei ihre bizarre und impertinent selbstgerechte Heranziehung der Kinderbücher von Shel Silverstein, als bei Beispiel für unveränderte Misogynie, für die allein ich ihr am Liebsten ihr Down Girl an den Kopf werfen würde (S.460-62). Das würde mich aber wahrscheinlich als gemein, aggressiv und penetrant erscheinen lassen, und ansonsten nichts bewirken). Elsa Dorlin beschreibt, so wie sie es im Schlusssatz von Selbstverteidigung ausdrückt, ein Leben in der Defensive, aus dem sie sich selbst heroisch befreien will und Bezug nimmt zu Amokläufen. Ähnlich zu einer passiven Aggressivität scheint man es hier mit einer „defensiven Aggressivität“ zu tun zu haben.

Es lohnt sich auch, zu fragen, inwieweit ein solcher Persönlichkeitstypus häufiger in der Geschichte bei radikalen Denkern der Fall war. Rousseau zum Beispiel war eine abnorme, paranoide Persönlichkeit. Marx war ein schwieriger Mensch mit einem unnatürlich ausgeprägten Hang zum Polemisieren gegen ideologische Gegner – vor allem, wenn diese ideologisch gar nicht so weit entfernt von ihm selbst waren. Ich bereite eine große Studie über Marx vor. Beim Lesen zum Beispiel von Das Elend der Philosophie springen die Polemiken gegen Proudhon ins Auge. Sie sind sowohl hinsichtlich Qualität und Quantität außerordentlich: an und für sich von einem Vernichtungswillen getrieben und zwanghaft angebracht. Bei aller intellektuellen Souveränität und Überlegenheit wirkt Marx emotional das in keinster Weise, sondern sich in Zorn, Groll und Kleinlichkeit verzehrend, von ihren beherrscht und nicht über sie herrschend. In Art und Intensität geht das Polemisieren von Marx generell über das rational Nachvollziehbare hinaus. Ebenso wie seine Arroganz, sein Autoritarismus im Formulieren und sein Triumphalismus im Konstatieren. Man hat den Eindruck, es ist der Neid auf Proudhon, dem damaligen Starintellektuellen der radikalen Linken, in dem sich der damals ziemlich unbekannte Marx verzehrt. Und sein Triumphieren, wenn er mit einer richtigen Behauptung daherkommt, ist immer wieder ein höhnisches Triumphieren; von wegen: Nicht Proudhon sei der wahre intellektuelle Arbeiterführer, sondern er, Marx! Nicht Ricardo sei der tiefsinnigste Ökonom, sondern er, Marx! Aus diesem Groll und Neid gegen alles, was an der Macht ist, speist sich dann eben das gesamte Werk, die gesamte Bewegung bei Marx und Rousseau.

Was mich anlangt, ist der Feminismus für mich ein Thema unter vielen. Ich lebe in etwa im 23. Jahrhundert, also was soll ich mit dem Feminismus? Es ist auch nicht der Feminismus oder der Kommunismus, den ich anstrebe; was ich anstrebe, ist der Buddha-Verstand, ist der Christus-Verstand. Kaum eineR ist in der Lage, mit dem Buddha-Verstand, mit dem Christus-Verstand daher zu kommen, also muss ich das machen, auch wenn ich davon von allen verachtet und so gut wie nicht zur Kenntnis genommen werde. Einer muss da sein, einer muss Wacht halten. Ich verstehe meine Position. Neulich lese ich im Atlantic, dass sich eine neue Bruchlinie in der Gesellschaft auftun könnte: eine zwischen extrovertierten und introvertierten Menschen. Hell yeah, eine neue Fraktionslinie innerhalb unserer zeitgenössischen Gesellschaften! Das lähmende Zeitalter von Nietzsches „letztem Menschen“, in dem nichts mehr passiert und keine Grundsatzkonflikte mehr da sind, scheint an sein Ende zu kommen, wenngleich wohl anders als erwartet. Sondern durch Partikularisierung durch Identitätspolitik im Rahmen von sogenannten „Luxusproblemen“ in einer „Überflussgesellschaft“. Auf das Zeitalter des „letzten Menschen“ folgt dann bekanntlich der Übermensch, und diese Prophezeiungen scheint sich gerade dadurch zu erfüllen. Der Übermensch beschäftigt sich mit der Summe der menschlichen Probleme und ist daher in der Lage, sie ideell zu überwinden und so einen neuen Ordnungsrahmen zu schaffen. Das haben Übermenschen zu allen Zeitaltern gemacht, technisch waren sie aber noch nie zuvor in der Lage, das tatsächlich im planetarischen Maßstab und auf dem Level des planetarischen Intellekts zu tun. Eine neue Totalität wird nun aber entstehen und sie wird eine große Herrlichkeit sein. Das ist der Sinn der Erde.

April/Mai 2021

Kritik der Kritik der schwarzen Vernunft

La Defense

Wittgenstein meint angesichts seines Tractatus: Das wichtige sei wohl weniger das, was drinnensteht, sondern das, was nicht drinnenstehe. Bei der Kritik der schwarzen Vernunft von Achille Mbembe könnte man auf so einen Gedanken auch kommen. Von schwarzer Vernunft erfährt man dort eigentlich nichts, nur dass sie (bzw. die Arbeitskraft der Schwarzen) ausgebeutet und unterdrückt ist/wurde. Über den äthiopischen Philosophen Zera Yacob (1599 – 1692), der vieles von der europäischen Aufklärung, von Kant, von Descartes, von Hume vorweggenommen hat, der aber kaum bekannt ist, hätte ich gerne mehr erfahren – ein großer Stolz und ein wahrhafter Triumphpokal müsste er sein für die schwarze Vernunft – aber es steht da nichts über ihn. Die Kritik der schwarzen Vernunft konzentriert sich viel eher darauf, wie „der Neger“ bzw. „der Negersklave“ von außen (bzw. von den Europäern) „gemacht“ wurde und über vereinfachende Stereotypen fortwährend reproduziert wurde/wird, die in ihrer Simplizität höhnisch und selbstsicher dekonstruiert werden, von wegen: So einfach sei die schwarze Vernunft ja gar, wie die Weißen das gerne glauben machen wollen! Es gäbe da ja noch viel mehr Facetten u. dergl., bis hin zu der Behauptung, dass „Afrika“ gar nicht existiere (sondern „gemacht“ wurde). Das sind freilich Dinge, die man überall findet, wenn man nur genauer hinsieht (und „Europa“ existiert, in seiner Vielfältigkeit, ja auch nicht, sondern wird von imperialen, unverständigen, vereinnahmenden und folgerichtig vereinfachenden Mächten, die freilich in dessen Zentrum sitzen, künstlich zusammengehalten lol). „Afrika“ sagen heißt stets – beliebige – Figuren und Legenden über einer Leere zu errichten“ und „Spricht man das Wort „Afrika“ aus, so unterstellt man in der Tat stets einen grundlegenden Verzicht auf Verantwortung“ und „Das Konzept der Schuld wird hier eliminiert“ (S. 105). Damit sind die Weißen gemeint bzw. überhaupt alles außerhalb von Afrika, aber ein verantwortungsvoller Diskurs und eine verantwortungsvolle schwarze Vernunft sollte doch auch berücksichtigen, dass die Länder Afrikas im Verzichten auf Verantwortung und im Abwälzen von Schuld auf andere selber ziemlich gut sind, im Zusammenhang mit ihrem Klientilismus, ihrer Big Man und The Winner Takes It All Herrschaftsprinzipien, ihrem Fatalismus, ihrem Analphabetismus, ihrer Irrationalität und ihrem Patriarchat (nicht nur bei den schnell beleidigten Feministinnen sondern auch dem einen und der anderen, ja dem Weltgeist insgesamt, muss es im Übrigen einen langen, schrillen Schrei provozieren, dass in der gesamten Kritik der schwarzen Vernunft fast nie von NegerINNEN gesprochen wird, sondern der Negersklave ziemlich eindeutig männlich bleibt). Man erfährt, dass die Verfassung Haitis (dessen Unabhängigkeit durch einen Sklavenaufstand hervorgegangen ist) von 1805 weit radikaler und demokratischer als die der Vereinigten Staaten von Amerika war, aber (zumindest eben nicht im Buch) nicht, dass die Vereinigten Staaten das (erfolg)reichste Land der westlichen Hemisphäre ist, während Haiti dort das Shithole Country Nr. 1 stellt. Erinnere ich mich an die eine Afroamerikanerin, die Gott dafür dankt, dass ihre Vorfahren als Sklaven verschleppt wurden, so dass sie jetzt in den Vereinigten Staaten von Amerika leben kann und nicht in denen von Afrika leben muss. Über die Gräuel und die Foltermethoden, die von den Franzosen gegenüber der algerischen Unabhängigkeitsbewegung angewendet wurden, ist die Rede, aber eine Beleuchtung des unabhängigen Algerien als exemplarisches Beispiel für einen postkolonialen Rentiers- und Klientelstaat, wo sich kleine, manchmal rivalisierende oder sich brutal bekriegende Gruppen die Macht teilen und die Pfründe an sich reißen, hätte mich (insofern es gerade zu Algerien diesbezüglich wenig Literatur gibt), auch interessiert. Der Sklavenhandel und der Kolonalismus waren großes Unrecht und entsetzlich und eine traumatische Erfahrung für Afrika. Die Sklaverei und der Sklavenhandel hat allerdings (in Afrika und sonstwo) eine lange Tradition: (das unabhängig gebliebene) Äthiopien hat die Sklaverei erst 1902 abgeschafft, Marokko 1922 und Mauretanien erst 1981 (und erst 2007 unter Strafe gestellt). Nicht erwähnt wird in der Kritik der schwarzen Vernunft, dass auch die Orientalen in großer Zahl und über Jahrhunderte hinweg Sklavenhandel mit AfrikanerInnen betrieben haben, nur halt dass die unter dem Alpdruck ihrer archaischen Religiosität stehenden und das auch noch gut findenden Moslems nicht erfolgreich darin waren, diese Sklavenarbeit so zu organisieren, dass sie selber zur weltbeherrschenden Macht aufsteigen konnten (wofür diese ja auch ganz gerne mal den Westen verantwortlich machen). Während der Kolonialherrschaft gab es wenigstes keine Kriege und gewalttätige Konflikte in Afrika. Insgesamt kann auch festgestellt werden, dass der Einfluss des Westens auf Demokratie und Menschenrechte – auch in ehemaligen Kolonien – häufiger positiv als negativ gewesen ist (vgl. dazu Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam, München 2020 S. 73-80). Vor Jahren habe ich einmal ein Interview mit einem schwarzen Ökonom bei der Weltbank (wenn ich mich recht erinnere) gelesen, der sich darüber ausgelassen hat, dass die gerne hochgehaltene Solidarität unter den schwarzen Brüdern und Schwester die chimärenhafteste Solidarität in der Welt sei, und nirgendwo der Egoismus und die Idiotie ausgeprägter seien als in Afrika. Die Kritik der schwarzen Vernunft fordert Restitution und Reparation, „Wiedergutmachung und Entschädigung im ökonomischen Sinne“, aber da ist Afrika als Milliardengrab für Entwicklungshilfe, weil die Gelder immer wieder in erster Linie gestohlen wurden (freilich von den Westmächten auch so, also im Sinne von Korruption, verteilt wurden, um sich afrikanische Potentaten im Kalten Krieg warm zu halten). Mbembe redet zwar nicht von den „schwarzen Brüdern und Schwestern“ (von den Schwestern zumindest redet er eben praktisch gar nicht), aber die Schwarzen reden gerne davon, dass sie schwarze Brüder (und Schwestern?) seien: Als Kontrastprogramm in der Realität hat man dazu aber einen haarsträubenden Mangel an Kooperation zwischen afrikanischen Staaten, auch und vor allem im Fall von humanitären Katastrophen, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der eigenen Brüder und Schwestern, die von Seiten des Westens oder der „internationalen Gemeinschaft“ kaum mehr übertroffen werden kann, als Kontrastprogramm hat man da auch z.B. die Ineffizienz der Afrikanischen Union, deren Hauptsitz in Äthiopien – trotzdem Afrika eigentlich ein sehr reicher Kontinent ist und viele afrikanische Potentaten allein auf Milliardenvermögen sitzen – vor ein paar Jahren erst von den Chinesen gestiftet und ausgestattet worden ist, dessen Finanzierung die Afrikanische Union also nicht sich selbst sondern den Chinesen überlassen hat (mit der Konsequenz, dass der Hauptsitz der Afrikanischen Union folgerichtig jahrelang bequem vom chinesischen Geheimdienst ausspioniert werden konnte und wurde). Mbembe spricht sie zwar an, die Viktimisierungshaltung, deren Möglichkeit diversen Befreiungsideologien innewohnt, sprich, dass man die eigene Gruppe, die reales Unrecht erlitten hat, bzw. sich selbst ausschließlich als Opfer sieht, das dabei auf Wiedergutmachung drängt (die, inhärent, mit blutrünstigen Rachephantasien oftmals einhergeht), er räumt ein, dass eine solche Haltung neurotisch, negativ und zirkulär ist und auf Ressentiment beruht (S. 169f.), allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kritik der schwarzen Vernunft selbst nicht so ganz verschieden davon ist. Ganz am Schluss von der Kritik der schwarzen Vernunft (S. 332) wird der Hoffnung Ausdruck verliehen auf eine „Welt, die befreit ist von der Last der Rasse und des Ressentiments und des Wunschs nach Rache, die jeder Rassismus auslöst“. Dort, am Ende eines Buches, wo gemeinhin etwas Schwülstiges, Belebendes, Hoffnungsvolles und selig Schwebendes steht, steht bei Mbembe also was von Rache. Das ist ein wenig disharmonisch. –  Harmonie wird erreicht, wenn Gegensätze aufgearbeitet und versöhnt werden. Hat mal jemand gesagt, geistige Überlegenheit bestünde darin, dass man zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig denken könne. Irgendwann muss man Identität finden, man muss Heimat finden, sonst wird man krank; das Bedürfnis danach und die Kämpfe, die man auszufechten hat, um Identität zu erlangen und Heimat, sind keineswegs trivial, vor allem nicht, wenn man Neger ist. Angesichts der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, müssen die, die nicht involviert sind, teilweise auch zurücktreten. Klar. Heimat und Identität kann man auch in der Neurose und der Rache finden – und angesichts der Trägheit der Welt ist es wohl auch gut, wenn über Neurosen und Rachegelüste Kräfte des Guten und des Ausgleichs, der Restitution und der Reparation mobilisiert werden – aber zumindest ich würde davon abraten. Meine kleine Philosophie und Lebensweisheit bestehe darin, dass man nicht nur versuchen solle, zwei (scheinbar) sich widersprechende Gedanken gleichzeitig zu denken und anzuerkennen, sondern mindestens fünf! Tatsächlich widersprechende Gedanken gibt es so auch nicht unbedingt, denn die Welt ist nicht tatsächlich widersprüchlich; im Rahmen bestimmter Ideologien und Denkmuster kann schnell etwas in Widerspruch zueinander geraten, aufgrund der verengten Perspektive. Man soll also versuchen, so viele Gedanken wie nur möglich gleichzeitig zu denken und anzuerkennen! Dann erscheint, nach vielen Jahren, endlich das Feld der Widerspruchsfreiheit und das totale Reich des Geistes und der Erlebnisfähigkeit:  die Weiße Hütte (White Lodge), wo die Inhalte der Welt bestenfalls nur mehr als mögliche Erscheinungen in einem ubiquitären weißen Licht erscheinen und innerhalb dieses Lichts einfach handhabbar sind; in der alle Fäden der Welt zusammenlaufen und von der alle Fäden wiederum ausgehen. Um das Licht der Weißen Hütte zu sehen, muss man seinen Blick wiederum senken, in die Nacht und in die Finsternis der Welt, in das unten liegende Becken der Finsternis: denn die Welt ist zum größeren Teil Nacht und Finsternis und Unbekanntes. In dieser Nacht muss man fortwährend Verbindungen herstellen zwischen Bekanntem und Unbekanntem, so wirft man Licht in die Welt, und in sich selbst. „Licht in das eine und andere Gehirn zu werfen“, sei das Ziel seiner Philosophie, schreibt Wittgenstein im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, und das ist auch das Ziel der (schwarzen oder sonst jeglichen) Vernunft. Auch Probleme hinsichtlich Heimat und Identität werden dann Probleme, die man unter sich hat.

Jetzt habe ich einige Sachen gesagt, ohne dass ich sie übrigens so gern gesagt habe. Aber eine Kritik der schwarzen Vernunft kann eben eine Kritik der Kritik der schwarzen Vernunft nach sich ziehen, sollte das sogar, so entsteht die Möglichkeit für einen perfekt geschlossenen Kreis. Und ich darf all diese Sachen ja sagen, entgegen der arroganten oder bequemlichen Attitüde, dass man als Außenstehender nicht über eine andere Gruppe urteilen dürfe, denn ich bin ja selbst ein großer Neger. Ich bin kein Philosophieprofessor wie Achille Mbembe, sondern Philosoph, und damit ein großer Neger. Hinter mir stehen keine Universitäten und auch kein Suhrkamp-Verlag. So einen wie mich wollen die da nicht. Mich werden die nur ausbeuten und kolonialisieren wollen, nachdem sie mich unter die Erde gebracht habe, denn ich bin ein echter Philosoph und damit ein schwarzer, tiefschwarzer Neger. Ein tiefschwarzer Neger bin ich! So tiefschwarz wie die Mädchen in La Defense, die eine meiner besten Begegnungen im letzten Jahr waren. Eine Gruppe von tiefschwarzen Mädchen in tiefschwarzen Martens in tiefroten Hosen und schwarzer Armeekleidung, die im menschenarmen La Defense am verregneten Samstagvormittag ihre Tanzübungen gemacht und ihre Choreographien einstudiert haben. Meinen Künstlerfreund Bernhard habe ich letzten Oktober in Paris besucht, weil er für dort ein Stipendium bekommen hat. Zu einer Veranstaltung rund um die Neuerscheinung eines Buches von Francois Laruelle bin ich gegangen, an jenem Samstagvormittag, um bei dieser Gelegenheit Francois Laruelle kennenzulernen, was ich oberflächlich auch getan habe. In einem Kellerseminarraum neben dem Centre Pompidou. Etwa ein Dutzend Leute war dort. Da die dreistündige Veranstaltung auf Französisch war und ich das nicht ausreichend verstehe, bin ich stattdessen nach La Defense um erst gegen Ende des Seminars wiederzukommen. Ein grauer, vernieselter Samstagvormittag also, an dem ich diesen großartigen, am Wochenende eher ausgestorbenen Stadteil dann zum ersten Mal gesehen und erlebt habe, vereinzelt Menschengrüppchen als karger Kontrast zu den unermesslichen, in erhabenen Formen aufschießenden Beherbergungskapazitäten – da, da weit vorne geht wieder einer, und da drüben telefoniert eine Frau, inmitten dieser Landschaft stummer, erhabener, statisch-dynamischer architektonischer Präsenz. Ein meditativer Ort, speziell an diesem jenen vernieselten Samstagvormittag. Ich glaube, ich habe Glück gehabt. Ich habe wohl exakt die richtige Zeit erwischt, um am richtigen Ort zu sein. Ich glaube, um zu einer so exakt richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, dafür stehen die Chancen eine Million zu eins. An einem Nebenweg haben einige schwarze Mädchen Tanzübungen gemacht und wohl die spiegelnde Fassade eines der riesigen Gebäude genutzt um eine Choreographie einzustudieren. Sie waren schwarz wie die Nacht und hatten die appetitlichste Kleidung der Welt, schwarze Martens, tiefrote Hosen, schwarze Lederjacken, teilweise militärähnliche Kleidung – in hundert Millionen Fällen trifft man vielleicht einmal auf etwas derartig Unerwartetes! Sie waren grenzenlos schön und sie waren so schwarz, dass sie einen Stich ins Tiefbläuliche hatten. Was für ein Negerstamm ist das, der schwärzer ist als die Nacht, so dass er einen Stich ins Tiefblaue hat? Der Abgrund des Tiefsinns und des tiefsinnigen ästhetisch-philosophischen Eintauchens in die Welt kann nicht anders sein, und wenn ich die neunte Sinfonie von Mahler höre, dann taucht in diesem Schwarz auch ein Blau auf, das schließlich zu Gold wird. Was für eine ungeheure Begegnung, was für ein unerhörtes Erlebnis, die tiefschwarzen Mädchen von La Defense! Eigentlich habe ich diese abgerissene und (absichtlich) schlecht geschriebene Kritik der Kritik der schwarzen Vernunft primär deswegen aufgesetzt, weil die Mädchen von La Defense in meinen Aufzeichnungen unbedingt erwähnt werden müssen, als Epiphanie und als wichtige ästhetische Begegnung und auch als implizite Anleitung, wie ästhetische Begegnungen möglich sein können. Vielleicht ist diese abgerissene und schlecht geschriebene Form auch die optimale Form für eine Kritik der Kritik der schwarzen Vernunft, insofern sie ihre Absolutheit dadurch reduziert, aber ich will irgendwann noch einmal breiter und genauer auf all das eingehen. Und ich will eine so hochaufschießende moralische Instanz sein, dass Rassismus und Rache wegen Rassismus gleichermaßen nicht so einfach da durchkommen! Um die Ecke hat noch ein anderes, gemischtrassiges Grüppchen von französischen Teenagers eine Choreographie geübt, aber die pechschwarzen Mädchen waren einfach viel besser. Sie haben, wie ich später extra herausgefunden habe, zu einem Lied („Icy“) einer K-Pop Girlband („Itzy“) getanzt, in dem es darum geht, wie man als halbwüchsiges Mädchen auf coole und freche Weise selbstständig und emanzipiert ist, bevor sich, anzunehmenderweise, der Alpdruck des gesellschaftlichen Konformismus auf sie legt, und sie sich dem dann auch, anzunehmenderweise, freudig ergeben. Ich finde es sehr schlecht, dass ich nicht gewusst habe, wie ich mit diesen Mädchen ins Gespräch hätte kommen können und sie jetzt wohl für alle Zeit für mich verloren sind und ich nie mehr weiß was aus ihnen geworden sein wird, ich finde es sehr gut, dass ich sie in dieser Konstellation aber überhaupt gesehen habe. Eine unerhörte ästhetische Epiphanie, wahrscheinlich nicht nur auf das letzte Jahr bezogen, sondern überhaupt in meinem ganzen Leben! Aber ich kann ja auch ohne weiteres wieder weiterziehen, da es mein Geist und meine Seele ist, die die ästhetische Epiphanie ist und es mein sehr spezifischer Geist und meine sehr spezifische Seele ist, mit der ich ästhetische Epiphanien dauernd irgendwo wahrnehme, mal besser, mal schlechter, meistens halt nicht so gute wie die kleinen schwarzen Tänzerinnen an jenem Regenvormittag am Samstag in Paris in La Defense. Es war so ein halbes Dutzend schwarzer Mädchen in La Defense, und es war so ein Dutzend Leute bei der Diskussion zum neuen Buch von Francois Laruelle, zu der ich dann wieder zurück bin. Francois Laruelle ist, in den Worten von Gilles Deleuze, der unbekannteste bedeutende Philosoph Frankreichs. Ich habe just vorher was von ihm gelesen, ein weniges, was von ihm übersetzt vorliegt, und habe seine Interdependenzthese zwischen Epistemologie und Ontologie sehr gut gefunden, währenddem ich an meinen Reflexionen zu Schopenhauer beschäftigt war. In aller Eile wollte ich einen Kontakt zu ihm herstellen, was mir dann auch oberflächlich gelungen ist, nach dem Ende der Veranstaltung, und nachdem ich in La Defense die bildhübschen tiefschwarzen Mädchen erlebt habe, die so schwarz waren, dass ihre Schwärze einen Stich ins Bläuliche hatte.

La Defense

What happens when you put African philosophies at the centre of learning

What You Should Know About Contemporian African Philosophy

Herbert Marcuse und der eindimensionale Mensch

Die meisten Menschen können kaum denken. Aber sie sind gerne eingebildet, größenwahnsinnig und rechthaberisch, außerdem ziemlich feindselig. Sie können die Realität nicht eigenständig intellektuell interpretieren und, da sich ihr Denken und Empfinden auf keiner abstrakten Ebene abspielt, auch keine Abstrakta bilden, d.h. wenn, dann sind es sehr simplifizierende Abstrakta wie „die Juden“, „der Islam“, „der Kapitalismus“, „das Patriarchat“, „der Werteverfall“, „die Konsumgesellschaft“ oder eben „das System“, von denen sie sich dann einbilden mögen, dass diese an ihren wirklichen oder eingebildeten Problemen schuld seien. Das ist offensichtlich zu kurz gedacht. (Kritisches) Denken bedeutet, dass man zu dem, was man gerade im Kopf hat, ein hinterfragendes Negativ errichten kann; bei diesem sehr plakativen alltäglichen Denken fehlt diese Fähigkeit aber, zu viele Schritte einer logischen Schlussfolgerung können nicht unternommen werden, und so benennt die jeweilige Kategorie – „die Juden“, „die Islamisierung des Abendlandes“ etc – dann eben eine Negativität, die, ins Positive substantialisiert, dann eben ein Feindbild ergibt, an dem man sich abarbeitet und zu dem man sich dann auch noch einen „Guten“ ausdenkt: sich selber, der dann ebenfalls in dieser Eigenschaft nicht hinterfragt wird.

Einem solchen Habitus fehlt es offensichtlich an Dimensionalität. Jetzt habe ich eben „Der eindimensionale Mensch“ von Herbert Marcuse gelesen, eine sozusagen populärphilosophischere Pointierung des Denkens der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule; eine „Studie zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, ursprünglich erschienen 1964, das für die 68er Generation wichtig wurde. Dort steht in der Vorrede an und für sich: „Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft  gebricht es der kritischen Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte. Diese Kategorien waren wesentlich negative und oppositionelle Begriffe, welche die realen Widersprüche der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts bestimmten. Die Kategorie „Gesellschaft“ selbst drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen Sphäre aus – die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie „Individuum“, „Klasse“, „privat“, „Familie“ Sphären und Kräfte, die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren – Sphären von Spannung und Widerspruch. Mit der zunehmenden Integration der Industriegesellschaft  verlieren diese Kategorien ihren kritischen Inhalt und tendieren dazu, deskriptive, trügerische oder operationelle Termini zu werden. Ein Versuch, die kritische Intention dieser Kategorien wiederzuerlangen und zu verstehen, wie diese Intention durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entwertet wurde, erscheint von Anbeginn als Rückfall von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundene Theorie in abstraktes, spekulatives Denken: von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie.“

Das Interessante ist nun aber, dass, entgegen dieser Einsicht, der gesamte „eindimensionale Mensch“ einen solchen Rückfall darstellt!  Das Dilemma: Man will also was Nonkonformistisches machen, man will in die Opposition gehen – und wenn das also erfolgreich ist, verschmilzt es mit dem Mainstream, und wird scheinbar kontaminiert oder korrumpiert (verändert aber eben auch gleichzeitig den Mainstream). Wenn sich irgendein Phantasma von der absoluten Reinheit nicht erfüllt, muss man daraus dann den Schluss ziehen, dass überhaupt alles Bestehende falsch ist? Diesen Gestus hat man aber eben in der Kritischen Theorie, und im „eindimensionalen Menschen“ vom Marcuse (oder auch im späteren „Empire“ von Negri und Hardt). Die westlichen Industriegesellschaften diesseits der Eisernen Vorhanges haben in der Nachkriegszeit ihre Probleme im Wesentlichen recht gut gelöst. Wenn man grundsätzlich gegen die westliche Industriegesellschaft oder gegen den Kapitalismus oder gegen die Demokratie ist, bleibt einem da nur mehr wenig anderes als die Ohnmacht und das Verharren in der Dimensionslosigkeit. „Zu dem Zeitpunkt, da die letzten Verbote verblassen, reden zahllose Intellektuelle nach wie vor über sie, als seien sie immer erdrückender. Oder sie ersetzen den Mythos des Verbots durch den Mythos einer allgegenwärtigen und allmächtigen „Herrschaft“ – eine neue mythische Übersetzung der mimetischen Strategien“, sagt Renè Girard; und „sehn doch viele von ihnen schon aus, als hätten sie immerfort nur Einen und denselben Gedanken, unfähig irgend einen andern zu denken“, sagt Schopenhauer über die „allermeisten Menschen“. Allein schon einmal deswegen mag es Leute mit bestimmten prononcierten Ansichten und politischen Anliegen immer nur in die eine Richtung treiben, gleichgültig, wie intensiv die entsprechenden realen Missstände praktisch noch vorhanden sind. (Natürlich mag sich aus dieser Dimensionslosigkeit, oder aber dimensionalen Undefiniertheit vieles Interessante ergeben, wie etliche schöne Blüten der (damaligen und permanenten) Protestkultur zeigen. Allerdings hat man in den Protestkulturen aller Art auch Biotope der Eigensinnigkeit, in denen das seltsame und unproduktive Denken (in der negativen Art) kultiviert wird. Wie Zizek einmal launisch bemerkt hat, ist es ja viel eher der Mainstream, der offen und freundlich und unvoreingenommen und aufnahmebereit erscheint, während die Oppositionellen griesgrämig, egozentrisch und höchst possessiv im Hinblick auf ihre (geringen) Besitztümer wirken (worauf Zizek übrigens in seiner bisweilen hellsichtigen und lehrreichen Fundamentalopposition gegen die heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eigentlich hinauswill, weiß ich ebenfalls nicht). „Die Schizos, die wahren wie die falschen, finde ich inzwischen dermaßen zum Kotzen, dass ich mich fröhlich zur Paranoia bekehre. Es lebe die Paranoia“, antwortet Gilles Deleuze einem strengen Kritiker (bereits im Jahre 1973, also nur ein Jahr nach dem Erscheinen des „Anti-Ödipus“).) Die Welt hat einen schizoiden und einen paranoiden Pol. Man muss sie beide so gut wie möglich begreifen. Interessant ist, wie im Fall von Marcuse die Schizo-Dynamik so weit getrieben wird, dass sie in Wirklichkeit, und von ihrer Grundlage her, als was Paranoides erscheint; als etwas sogar Totalitäres, als die Eindimensionalität selbst. Als ein eindimensionales Menschsein, dass seine Eindimensionalität in etwas anderes paranoid projiziert.

Marcuse konstatiert in der Vorrede zum „eindimensionalen Menschen“ also die „zunehmende Integration der Industriegesellschaft“, also die zunehmende politische, wirtschaftliche und soziale Integration ihrer Mitglieder „in die etablierten Verhältnisse“. Es ist richtig, dass durch Integration allgemein was verlorengehen kann, bestimmte Ursprünglichkeiten und mehr oder weniger gute Impulse, die sich aus ihnen ableiten könnten. Aber es scheint eher, oder häufiger, der Fall zu sein, dass die Integration das Richtige und Produktive ist. Marcuse löst nun aber die Dialektik dieser Integration immer nur in das Falsche auf, den gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nicht in etwas, das sich positiv verändert, sondern negativ in ein immer umfassenderes und rein manipulatives „Empire“ des Bösen, in die Verabsolutierung von (irrationaler und sachlich unbegründeter) „Herrschaft“. Schreibt er zum Beispiel: „Die abstoßende Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit widerlegt die Philosophien, die die „poetische“ Einbildung der wissenschaftlichen und empirischen Vernunft gleichsetzen. Der technische Fortschritt ist von einer zunehmenden Rationalisierung, ja Verwirklichung des Imaginären begleitet. Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie des Friedens verlieren ihren katastrophischen Charakter. Ihr Erscheinen im täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr das von irrationalen Kräften – ihre modernen Ersatzgötter sind Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen.“ Oder (da natürlich auch die Sinnlichkeit nicht verschont bleiben darf): „Diese Gesellschaft verwandelt alles, was sie berührt, in eine potentielle Quelle von Fortschritt und Ausbeutung, von schwerer Arbeit und Befriedigung, von Freiheit und Unterdrückung. Die Sexualität bildet keine Ausnahme.“ Nun ja, man kann ja auch sagen: von Ausbeutung und Fortschritt, von Unterdrückung und Freiheit, und sozusagen die positiven, transzendenten Aspekte als die realeren, höherinstanzlichen begreifen. Vielleicht wäre das die eigentlichere Freiheit, der eigentlich – zwar nicht „kritische“, aber – schöpferische Akt. Über die zunehmende Verwirklichung des Imaginären (obwohl die eigentlich gar nichts Neues, sondern eher so alt wie die Welt ist) kann man sich freuen; man sehe sich einmal an, wie herrlich und schön sich diese Architektoniken in den Filmen von Antonioni ausmachen! Wenn Kritische Theoretiker von einer Verarmung der Wahrnehmung sprechen, und von einem verdinglichenden, verobjektivierenden, herrschaftlichen Blick, kann das ja vielleicht daran liegen, dass ihre eigene Wahrnehmung verarmt ist, und ihr eigener Blick verdinglichend und verobjektivierend (und herrschaftlich). Schau, noch einmal, wie schön die Architektoniken und Landschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind (im Zusammenhang mit dem ich eben auch den „eindimensionalen Menschen“ gelesen habe)! Gut, sie haben auch was Beklemmendes, eine Weitläufigkeit, die ihrer selbst nicht sicher ist, Jeanne Moreau flaniert in La notte durch diese Landschaften, die scheinbar gleichermaßen Freiheiten servieren, wie von Unfreiheit und Machtlosigkeit. Aber diese stummen Architekturen sprechen nicht und wissen nicht (was auch ihren eigentümlichen Reiz ausmacht), uns häppchenweise Freiheiten zu servieren und dann wieder Sackgassen, das tut das Dasein selbst. Das ist die ontische Struktur. Gibt es ein tatsächliches Außerhalb? In einer Geschichte des „exzentrischen“ Science-Fiction-Autors R. A. Lafferty gelangt einer immer wieder von neuem an die Grenzen des Universums. Mit der Zeit stellt er fest, dass es in den entlegensten Winkeln des Universums überall etwa gleich aussieht. Die Wiedererkennbarkeit ist wohl auch notwendigerweise so, das „ganz andere“, von dem Eskapisten träumen, ist ja nicht notwendigerweise was Gutes, das Gegenteil von Ordnung ist Chaos, und im reinen Chaos und der reinen Mannigfaltigkeit kann es schwer Ordnung geben. Ja, das ist ein Problem. Aber es ist ein letztendlich unlösbares Problem. Man kann es so lösen, indem man die Landschaften bei Antonioni als etwas außergewöhnlich Schönes sieht. Das ist der geheime Kern der Kunst. „Das Unbehagen der modernen Zeit ist das Unbehagen jeder Zeit. Es fehlt den Menschen der Zugang zu ihrem Geist … Neunundneunzig Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu ihrem Geist … Die Geschichte ist für mich ein schwarzes Loch. Was zählt, ist der GEIST. Der Rest ist Schnickschnack“, (so einer der größten Künstler, Beckett, im Gespräch mit Patrick Bowles, Nov. 1955). Natürlich sieht Marcuse auch in der Kunst und der Schriftstellerei einen ursprünglich „kritischen“ Kern (der in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ebenfalls korrumpiert werde), eine Abarbeitung an der „Entfremdung“; ja, gut, aber diese Welt der Kunst ist doch viel tiefer, als der Tag von Marcuse gedacht wird, und reicht tief in die Aporien des Seins hinab. Kritische Theoretiker, die eine ursprüngliche und latent manifeste „Brüderlichkeit“ unter den Menschen angenommen haben, die leider nur von irgendwelchen ephemer herrschenden Verhältnissen korrumpiert werde, und die ganz leicht wiederhergestellt werden könne, wenn man nur diese Verhältnisse ändere, waren große/tiefsinnige Künstler eher selten – wenngleich sie vielleicht die einzigen sind, die dieses brüderliche Band unter den Menschen tatsächlich sehen und als Ideal begreifen (daran aber eben melancholisch verzweifeln, dass es eben ein Ideal bleibt). James Baldwin sagt: Die Poeten (damit gemeint sind Künstler generell) sind die einzigen, die die Wahrheit über uns wissen. Soldaten wissen sie nicht. Politiker wissen sie nicht. Priester wissen sie nicht. Gewerkschaftsführer wissen sie nicht. Nur die Poeten wissen sie. Viele (kritische) Intellektuelle scheinen sie bekanntlich auch nicht zu wissen, und auch nicht wissen zu wollen. Sie verharren in normativen Vorstellungen vom Menschen, und können und wollen von dort auch nicht weg (was vielleicht auch ganz gut ist, da normative Vorstellungen genauso ein Element, und ein Steuerelement, in der Realität sind, wie eben die „harte“ Realität). Gasdanow wundert sich auf seinen „Nächtlichen Wegen“ wie selten es sei, dass Menschen versuchen würden, tatsächlich andere Menschen, die aus tatsächlich anderen Milieus kämen, tatsächlich zu verstehen, wobei Intellektuelle da keine Ausnahme machen würden (nur die Schriftsteller wären eben anders, sonst wären sie ja auch keine Schriftsteller).

Die Kritische Theorie, wie linke und (geschlechter)emanzipatorische Befreiungsideologien leiden an dem Widerspruch, dass sie einerseits die individuelle Selbstermächtigung und Artikulierung der Subjektivität ihres jeweiligen Klientels begrüßen und fordern und fördern, andererseits aber ratlos sind, wenn sich dann was anderes artikuliert, als sie politisch im Sinn haben. (Wenn man so will, leiden sie an dem Widerspruch, dass sie einerseits Programm der individuellen Selbstermächtigung sind, aber auch der politischen; individuelle Selbstermächtigung bedeutet aber eben Freiraum von Politik und einen individuellen Rückzugsraum, wo man von der Politik auch gerne in Ruhe gelassen wird.) Nun, das lässt sich, aufgrund der doppelten (bzw. vielfältigen) Natur von Selbstermächtigung (mit ihren individuellen und politischen Implikationen) auch gar nicht ändern. Es ist eine Sache der Enge oder Weite der BefreiungsideologInnen, wie viel Spielraum sie da zulassen wollen, und es gibt solche, die da enger sind und solche, die da weiter sind. Allerdings haben Befreiungsideologien halt mal einen gewissen, mehr oder weniger absoluten, mehr oder weniger apodiktischen Anspruch, der, wenn es um die Wurst geht, schlagend werden kann, so dass sich die Freiheitsideologie realiter als Gulag-Ideologie erweist. Das Verstörende (das gegen die übermächtige Herrschaft von einzelnen schnell eine übermächtige Herrschaft des Kollektivs oder eben der Reinheitsideologie gesetzt wird) hat man in diversen Befreiungsideologien und Utopien ja überall. Eine letztendliche rechthaberische und machtverliebte Disposition kommt auch immer wieder zum Vorschein, wenn subjektive Äußerungen, die nicht ausfallen, wie es die Befreiungsideologie vorsieht, als irrelevant abgetan werden, oder als Ausdruck eines „falschen Bewusstseins“. Wenn die Leute, die Proletarier, die Unterdrückten, die Frauen, was tun, ist das aus der Sicht der Befreiungsideologen selten das Richtige. Das bedeutet aus ihrer Sicht dann: sie lassen sich manipulieren, und von ihren „wahren Interessen“ ablenken. Da sehen sie zum Beispiel fern (und lassen sich direkt wie auch indirekt manipulieren). Also sollen sie doch aufhören, fernzusehen und sich ablenken zu lassen, und stattdessen „innehalten“ und „nachdenken“ (und, am Besten, „das System infrage stellen“). Die Penetranz, mit der Kritische Theoretiker und Befreiungsideologen immer wieder einfordern, die anderen sollten doch mal „innehalten“ und „nachdenken“ ist ein Hinweis darauf, dass sie es eben von sich selbst nicht kennen, das mit dem Innehalten und dem Nachdenken und dem kritischen Hinterfragen, und dass die gedankenlose Übernahme von Gedankengut, das einem Realitätscheck gar nicht wirklich gewachsen ist, die sie also bei den anderen vermuten, halt mal der Rahmen ist, durch den sie selbst in die Welt blicken.

Natürlich besteht dann aber die Möglichkeit, Realitäten überhaupt gleich „kritisch“ wegzudenken und zu entsubstanzialisieren: „Wenn wir auf der Tiefe und Wirksamkeit dieser Kontrolle bestehen, setzen wir uns dem Einwand aus, dass wir die prägende Macht der „Massenmedien“ sehr überschätzen und dass die Menschen ganz von selbst Bedürfnisse verspüren und befriedigen würden, die ihnen jetzt aufgenötigt werden. Der Einwand greift fehl. Die Präformierung beginnt nicht mit der Massenproduktion von Rundfunk und Fernsehen und mit der Zentralisierung ihrer Kontrolle. Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein….“ Unter kritischen Theoretikern und Linken ist der Habitus stark verbreitet, handfeste Realitäten (weniger kritisch zu hinterfragen als) zu delegitimieren, wonach sie (tatsächlich oder angeblich) einfach nur (von einer bösartigen Instanz) „gemacht“ seien, wodurch sie die Konfrontation mit unliebsamen Realitäten ideell einfach beliebig hinausschieben kann, und den Fehler einfach immer nur beim anderen verorten, aber niemals bei sich selbst. Marxisten behaupten (zumindest indirekt), dass das „wahre Wesen“ des Menschen der „bessere sozialistische Mensch“ sei, wie auch, dass es ein „wahres Wesen“ des Menschen gar nicht gibt, da dieser einfach die Summe der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Das ist jeweils in etwa gegenteilig (und außerdem ist beides falsch), was sie aber in der Praxis kaum daran hindert, mal so, mal so zu argumentieren (genauso wie Feministinnen gerne mal genderdekonstruktivistisch, mal biologistisch/essentialistisch argumentieren, je nachdem, wie es die Frauen in der momentanen Situation besser dastehen lässt). Die marxistisch geprägte „wissenschaftlich sozialistische“ Linke klopft sich gerne auf die Brust, (dialektisch) „materialistisch“ zu denken („denken“), und nicht „idealistisch“. (Dialektisch) „materialistisch“ müsse man denken, nicht „idealistisch“ etc., lautet die Devise! Mit ihrer gleichzeitigen Fixierung darauf, dass vorgefundene soziale, wirtschaftliche, politische oder Geschlechterverhältnisse (sofern sie ihnen nicht in den Kram passen) „nichts Naturgegebenes“, sondern (nichts als) „sozial konstruiert“ seien, glaubt sie dann aber wieder, ganz reale Faktizitäten, die (gleichsam) materiell vorhanden und in der Wirklichkeit verankert sind, idealistisch in Luft auflösen zu können. Ihren Fluchtpunkt errichtet sie in einem reinen Imaginarium wie dem Kommunismus, dem „Reich der absoluten Freiheit“, einem „Reich Gottes“ oder einem Dritten Reich, dessen Überlegenheit gegenüber den bestehenden Verhältnissen gar nicht bewiesen ist, das gar nicht theoretisch ausformuliert ist, und das auch gar nicht theoretisch ausformuliert werden kann: Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Menschen gibt es keinen Kommunismus und kein Reich der Freiheit oder ein herrliches Reich, in dem alle Konflikte abgeschafft sind. Es gibt die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft, die das bislang Beste sind, was der Menschheit passiert ist – eben die „fortgeschrittene Industriegesellschaft“, gegen die Marcuse sich in einer totalisierenden Geste wendet. Was bestimmte, radikale Teile der „kritischen Linken“ wollen, ist diese Gesellschaft durch etwas zu ersetzen, das offensichtlich schlechter ist, als das „System“, gegen das sie sich wenden, was sie aber in ihrem revolutionären Elan gar nicht wahrnehmen oder eben kritisch hinterfragen wollen. Im schlimmsten, allerdings durchaus herkömmlichen Fall führt das dann dazu, dass die materialistischen Idealisten nie intellektuell und moralisch die Verantwortung übernehmen wollen, wenn sich ihre Realsozialismen in der Realität als was durchaus nicht so Positives erweisen, wie sie es sich – in ihrer Gedankenlosigkeit – erwartet hätten. Dann ist nicht die Idee (des Sozialismus) falsch, sondern halt leider, unglücklicherweise (immer wieder) nur die Umsetzung.

Marcuse nennt die Mitglieder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft „Sklaven“, wobei (meines Wissens) weder Marx noch Engels bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse hundert Jahre zuvor solche Begrifflichkeiten in Anspruch genommen haben (die nicht einmal auf die damalige Feudalgesellschaft in Russland korrekt angewendet werden könnten). Allegorien oder Metaphern (oder auch ganz buchstäblich gemeinte Bezeichnungen) kann man anwenden, um gewisse Symptome hervorzuheben und schärfer zu bezeichnen, genauso gut kann man damit aber auch daneben greifen bzw. aus der Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstand den Gesamtzusammenhang, in den er eingelassen ist, verkennen (ein allgemeines Charakteristikum und Problem ideologischer und tendenziöser Sichtweisen: einerseits erkennen diese bestimmte Probleme schärfer und hellsichtiger, andererseits ignorieren sie andere oder aber größere Zusammenhänge, die nicht unmittelbar auf ihrem Radar erscheinen). Oder aber die Verwendung solcher Bezeichnungen ist überhaupt falsch – oder verlogen. Und wenn man die Mitglieder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft als Sklaven bezeichnet, so ist das eben falsch, oder verlogen. Übertriebene, utopische, transzendente Freiheits/Befreiungsideologien sind, an und für sich, inhärent verlogen. Im „eindimensionalen Menschen“ hat man Ausführungen zur „Rationalisierung“ der Sprache in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, von wegen, wie Begriffe ihrer Konnotationen beraubt werden, beschönigende, verharmlosende, ästhetisierende Begriffe verwendet werden, u. dergl. mehr (allerdings übrigens in keiner Weise aus feministischer Sicht oder im Hinblick auf gegenderte Sprache). Wenn man jetzt einmal unvoreingenommen an Diskurse wie den über den eindimensionalen Menschen aus kritischer Sicht herangeht, wird man glauben, feststellen zu können, dass man eine derartige Totalisierung und Hermetisierung, ideologische Versiegelung der Sprache und der Begrifflichkeiten in erster Linie in den Werken der Kritischen Theorie selbst hat. Dahinter steckt ein totalisierender, versklavender Geist, der sich sozusagen an seiner eigenen Neurose abarbeitet und sein eigenes Spiegelbild auf Verhältnisse wirft und projiziert. Die Wahrnehmung der Ontologie ist mehr oder weniger durch die jeweilige Epistemologie bestimmt, und die beklemmende Enge und Aussichtslosigkeit, die die Kritische Theorie überall und in allem, was mit der „fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ zu tun haben will, erblickt, erscheint so (irgendwie) als Emanation der eigenen beklemmenden Enge und Unfreiheit. Was, wenn Marcuse et al wilde Angriffe gegen die fortgeschrittene Industriegesellschaft reiten, die dann aber nur sagt: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst; nicht mir“?

Als ein weiteres Beispiel dafür, wie man etwas, das eigentlich nur als Redensart Gültigkeit beanspruchen kann, trotzdem ungeniert als wissenschaftliches begriffliches Instrumentarium gebraucht, bezeichnet Marcuse die fortgeschrittene Industriegesellschaft gerne als „irrational“. Aber an welchem Maßstab könnte man die Rationalität oder Irrationalität einer Gesellschaft messen (wenn man sich nicht in ein idealistisches, unverifizierbares „Außerhalb“ schmeißen will, das eben kein wirklicher Maßstab sein kann)? Man kann vielleicht sagen, das Ziel einer Gesellschaft sei, sich zu reproduzieren; qualitativ gesehen, sich jeweils auf einem höheren Level zu reproduzieren. Das Ziel einer Gesellschaft sei, dass Positivsummenspiele gespielt werden, dass Win-Win-Situationen entstehen und gefördert werden. Tatsächlich gibt es viele Gesellschaften, in denen das weitreichend nicht der Fall ist; korrupte Gesellschaften, in denen kein kollektives Verantwortungsgefühl herrscht, Laxheit gepaart mit Selbstüberschätzung, ein Misstrauen gegenüber dem Staat und ein betrügerischer Staat, gegenüber dem ein solches Misstrauen sogar gerechtfertigt ist; im schlechtesten Fall Gesellschaften, in denen die Mentalität verbreitet ist, den anderen übers Ohr zu hauen (was dann in eine gesamtgesellschaftliche Lose-Lose-Situation führt). Die fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind aber solche Gesellschaften, in denen diese Charakteristika vergleichsweise wenig ausgeprägt sind (falls man jetzt Umweltzerstörung hernimmt, sei dazu gesagt, dass die Verantwortungslosigkeit gegenüber der Umwelt in Ländern, die nicht den fortgeschrittenen Industriegesellschaften angehören, oftmals noch viel sensationeller ist, in einigen Fällen, wie z.B. in der Sowjetunion oder in Rotchina unter Mao im Zusammenhang mit der sozialistischen Industrialisierungs- und Fortschrittsideologie sogar regelrecht psychopathische Züge angenommen hat). Eine Gesellschaft ist gut und rational, wenn sie dem Individuum viele Freiheiten ermöglicht, gleichzeitig die freien Individuen ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen aufweisen (wenn also die Tugenden und die guten Eigenschaften von Gesellschaften mit individualistischer und solcher mit kollektivistischer Ausrichtung zusammengeführt werden, und deren jeweilige Negativa dadurch kompensiert werden). Wie mir scheint, ist das in der Schweiz am Idealtypischsten der Fall. Allgemein: Wenn man sich dafür interessiert, wie eine Gesellschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten am besten ihre Probleme lösen kann, ist es vielleicht am Hilfreichsten, wenn man mehr die Schweiz studiert und weniger (kritische oder auch andere) Theorien. Wenn das theoretisch hochtrabende „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ dann in der Praxis auf ein „sie tun so als würden sie uns bezahlen, wir tun so, also würden wir arbeiten“ hinausläuft, ist das eine Lose-Lose-Situation.

„Ich habe das Düstere übertrieben, der Maxime folgend, dass heute überhaupt nur Übertreibung das Medium der Wahrheit sei. Missverstehen Sie meine fragmentarischen und vielfach rhapsodischen Anmerkungen nicht als Spengelerei: die macht selbst mit dem Unheil gemeinsame Sache (…) vieles spricht dafür, dass die Demokratie, samt allem, was mit ihr gesetzt ist, die Menschen tiefer ergreift als in der Weimarer Zeit. Indem ich das nicht so Offenbare hervorhob, habe ich vernachlässigt, was doch Besonnenheit mitdenken muss: dass innerhalb der deutschen Demokratie nach 1945 bis heute das materielle Leben der Gesellschaft sich reicher reproduzierte als seit Menschengedenken, und das ist dann auch sozialpsychologisch relevant. Die Behauptung, es stünde nicht schlecht um die deutsche Demokratie und damit um die wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn ihr nur Zeit genug und vieles andere bleibt, wäre sicherlich nicht allzu optimistisch…“, gesteht Adorno 1959 am Ende einiger seiner üblichen, düsteren Ausführungen ein. Ja also: die Festigung der Demokratie und der liberalen Gesellschaft hat man also der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zu verdanken! Dass die Leute nicht in irgendwelche Extremismen verfallen, hat man der Konsumgesellschaft zu verdanken! Etc. Adorno ist also skeptisch, inwieweit die kritische Position die richtige sein kann. Das ist gut. Hauptaufgabe und Habitus eines Intellektuellen sei doch eigentlich, dass er skeptisch ist, nachdenklich und vorsichtig; nicht notwendigerweise kritisch (was in der Praxis dann oft bedeutet: vorsätzlich polemisch). Von unendlichem Tiefsinn sei der Intellektuelle, optimalerweise! Im unendlichen Tiefsinn liegt das intellektuelle (und spirituelle) Optimum! Natürlich hat der unendliche Tiefsinn aber auch was (scheinbar) Unbewegliches. Daher ist es auch gut, ja, notwendig, wenn es weniger tiefsinnige, also eben kritische – Intellektuelle gibt, die sich an den Sachen stoßen, während wir unendlich Tiefsinnigen uns an allem stoßen und an nichts, indem wir die Sachen transzendieren. Das ist eine gute, notwendige intellektuelle Arbeitsteilung. Das, was hier unternommen wird, ist eine kritische Kritik an der Kritischen Theorie, die vor den Reaktionären zwar beschützt gehört, nicht aber vor sich selbst. Ich will nur nicht, dass die Kritische Theorie (oder irgendjemand sonst) allzu stolz wird und apodiktisch. – Am Schluss vom „eindimensionalen Menschen“ steht: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben. Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben. Die „Hoffnungslosen“ sind aber keine einheitliche Kategorie. Sie erregen das Mitgefühl, sie sind die Ersten, denen man helfen sollte. Was aber eben, wenn sie das nicht wollen, wenn ihre Hingabe an die Große Weigerung kein schöner lebensästhetischer Ausdruck oder ein produktiver Nonkonformismus ist, sondern ein moralisches Mäntelchen für einen beklemmenden Fundamentalismus, der eigentlich gar nichts wirklich will, als sich immer nur in der Opferrolle zu sehen, und, vor allem, der deswegen gegen (eine als quasi totalitär angenommene) bestehende Herrschaft und Macht ist, weil er selbst nicht an der Macht ist, der deswegen gegen (eine als quasi totalitär angenommene) bestehende Herrschaft und Macht sich positioniert und gegen sie polemisiert, weil er in seinem eigenen neurotischen Machtstreben sich frustriert fühlt (und der darin auch die anderen Charakeristika von Machtmenschen aufweist: Neid, Paranoia, ständiges Misstrauen, der Wunsch, sich zum großen Helden zu stilisieren etc.)? Wenn also der Hoffnungslose, den man gerne an die Brust nehmen will, der Ressentiment-Mensch ist? Die Hilflosen und Schwachen erregen, wie gesagt, das Mitgefühl; die Starken sollten den Schwachen mehr helfen – man sollte aber nicht vergessen, dass die Schwachen noch viel gefährlicher werden können als die „Starken“, wenn sie in eine Position falscher Stärke kommen. Marcuse formuliert zwar keinen Machtkomplex, sondern einen Freiheitskomplex. Ständig will er mehr Freiheit, in allem aber, was in der Welt passiert, sieht er perfide und totale Unfreiheit, die sich allein verwirkliche und triumphiere. So hat man den Eindruck, dass hinter dem schrankenlosen, gar nicht mehr spezifischem Freiheitsstreben, das bei Marcuse zum Ausdruck kommt, eine fundamentale mentale Unfreiheit und Unbeweglichkeit steht. Und dass Freiheit (bisweilen durchaus enge) Grenzen hat, der Gestus und der Wunsch nach einer „totalen“ Freiheit auf etwas hinzielt, was gar nicht existiert, Herrschaftzeiten, das weiß doch, ganz grundsätzlich, jeder Depp! Wenn akademische Intellektuelle sich immer wieder, zumindest heimlich, eingedenk sind, dass sie von saufenden Stammtischgenossen durchaus unter den Tisch geredet werden können, hat das seinen Grund darin, dass sie in ihrer intellektuellen und moralischen Weltflucht entscheidende Sachen vergessen.

Aber ach, scheiß drauf, die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule, die Hippies, die Studentenproteste, die Verweigerungshaltung, der Nonkonformismus, sind natürlich gut! Wenn es in der Realität nicht auch das Element „Kritische Theorie“ geben würde, wäre sie eine schön blödsinnige und stumpfsinnige Realität. Ihr Gestus ist es, Öffnung anzuzeigen, Hoffnung, Mut zur Selbstermächtigung, sie steht in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus, und stellt, in ihrer konkreten Form, zumindest für die Vergangenheit, eine brauchbare Ideologie und ein gesellschaftliches Selbstverständnis dar. Wenn man das glaubt, runtertun zu können, soll man erst mal was Vergleichbares auf die Beine stellen! Jetzt ist die Kritische Theorie eine einigermaßen politische Philosophie, aber Politik ist eine Domäne, wo die meisten Karrieren im Versagen enden und wo ständig unvorhergesehene Dinge passieren. Ich nehme, trotz meiner gewaltigen geistigen Fähigkeiten und meiner großen Lauterkeit, nicht notwendigerweise an, ein besserer POTUS sein zu können als Trump, dessen historisch positive Bilanz es eventuell sein könnte, dass er die größte Gefahr für unsere Zeit – China – richtig erkannt und bekämpft und besiegt hat, während wir Liberalen uns irgendwelchen Illusionen hingegeben haben und uns auf irgendwas Unwichtiges fokussiert haben. Politik, und Versuche, den Weltenlauf zu beeinflussen, sind überhaupt etwas ziemlich seltsames (das gilt freilich nicht für Lokalpolitik, die ja auch nicht versucht, den Weltenlauf zu beeinflussen; aber zur Lokalpolitik kann man sich übergeordnet intellektuell kaum äußern). Ich werde mich vor der Politik eher hüten. Ich bin auch nicht unbedingt ein politischer Denker. Ich weiß auch nicht so genau, inwieweit ich ein gesellschaftlicher Denker bin (aber das muss ich ja auch nicht, denn als Schriftsteller bin ich ja auch der Einzige, der die Gesellschaft und die Menschen letztendlich tatsächlich versteht). Laut Burkhardt stehen die Menschen den geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, in die sie geworfen sind, ohnmächtig gegenüber, und erleben ihre Herrschaft als erdrückend. Vielleicht tun sie das, vielleicht tun sie das auch nicht. Vielleicht sind sie das, vielleicht sind sie das auch nicht, und die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse ist auch zu einem gewissen Grad Einbildung, der man auch mit mehr Gelassenheit gegenübertreten kann. Auf mich selber üben die Gesellschaft und ihre (angeblichen) Normierungen praktisch keine Macht aus; ich bin kein Wesen der Gesellschaft, insofern kann ich vielleicht sehr viel und sehr wenig zur Gesellschaft überhaupt sagen. Ich sehe die Gesellschaft auch gar nicht wirklich, ich sehe nur (ha! „nur“!) die Unendlichkeit, inklusive der Fallen, die sie bereithält. Die Vorkommnisse in der Welt nehme ich als Farben- und Formenspiel wahr, als Statiken und Dynamiken, von denen ich nicht einmal genau sagen kann, ob sie besonders gescheit oder ziemlich blöd sind. Wenn jetzt ein Vulkan ausbricht hat man da auch Asche, Schwefel, Lärm, Eruption, Lava, die rauf spritzt und die vor sich hin mäandert: und man kann auch nicht sagen, ob das besonders gescheit oder ziemlich blöd ist; es ist ein Naturphänomen. Ein anderes Referenzsystem, ein anderer Bezirk des Seins. Und Politik ist für mich auch so was wie ein Vulkanausbruch, einfach ein ganz anderer Teil der Welt, mit dem man auch nicht wirklich kommunizieren kann (und von dem man besser, beobachtend, Abstand nimmt). Ich verstehe (ha! „verstehe“!) meine Position. Ich bin ein absoluter Sonderfall. Aber gleichzeitig bin ich auch äußerst universal, und keineswegs „exzentrisch“. Ich frage mich, ob ich alles zur Gesellschaft sagen kann, oder nichts. Ich frage mich, ob ich unzählige sinnvolle Beiträge leisten kann, oder keinen einzigen. Ob mein Geist, ob das Einheits-Bewusstsein, das alles begreift, was Gutes ist, oder was Sinnloses. Naja. Wahrscheinlich liegt der Effekt irgendwo in der Mitte. Und überhaupt. Meine Strategie scheint es eher zu sein, und meine Aussage scheint es eher zu sein, dass man sich über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, und über alle Theorien aller Schulen, bei genauer Kenntnis derselben, einfach so weit überheben soll, dass alle diese zu Elementen auf einem gigantischen Monitor werden, in die man sich beliebig rein- und rauszoomen kann; und dass man die Politik – also (laut Hannah Arendt) das Management der Vielheit und Diversität unter den Menschen – einigermaßen überwinden soll, indem man selbst zu einer gigantischen Vielheit und Diversität wird (und das Ego als der zentrale politische Akteur also abfällt). Einfach, dass man die menschlichen Verhältnisse insgesamt überwindet, während man zu selbst zu einem Punkt am Monitor verschwindet, der allerdings die komplette Information über das Ganze enthält. Oh ja, ich finde, so sollte man das machen! Und so wird es geschehen. – Es soll doch jeder machen, was er am besten kann, und was ich am besten kann, ist eben das mit der Allwissenheit. Das ist, soweit ich sehen kann, sogar mein Alleinstellungsmerkmal. Also sollte ich das weiter vertiefen. Vielleicht stiftet es ja sogar noch mal irgend einen Nutzen.

8. – 14. März 2020

(Anm.: Dieser sehr nichtlinear verfasste Text hat stilistisch vielleicht was Furchtbares. Aber es würde mich interessieren, wie man das noch viel weiter treiben könnte. Auch ist dieser Text ziemlich fahrig. Aber wie soll der korrekte und eindeutige Kommentar zur Frankfurter Schule anders sein als fahrig?)