Die künstlichen Paradiese des Charles Baudelaire

Der unersättliche Durst nach allem, was jenseits der Hüllen dieses Lebens liegt, ist der lebendigste Beweis für unsere Unsterblichkeit –: Wenn ein vollendet schönes Gedicht die Augen von Tränen überquellen macht, so beweisen diese Tränen nicht einen Ausbruch von Wonne, vielmehr sind sie Zeugen einer verirrten Melancholie, einer Forderung der Nerven, einer Natur, in die das Land des Unvollkommenen hineingestoßen ist und die im Augenblicke sogar auf dieser Erde hier eines offenbar gewordenen Paradieses sich bemächtigen möchte. So ist denn recht und schlecht das Prinzip der Poesie das menschliche Streben nach einer höheren Schönheit.

Charles Baudelaire

Charles Baudelaire gilt als ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Was ist eigentlich Moderne, was ist Charakteristikum der Moderne? Laut Max Weber bedeutet Moderne die Ausdifferenzierung der Lebenssphären. Es kommt zu einer Zunahme von Wissen in der Welt, zu einer Zunahme von (technologisch, industriell konstruierten) Gegenständen, zu einer Vertiefung der Arbeitsteilung, zu einer Neuordnung und offensichtlichen Verkomplizierung der sozialen Verhältnisse u. dergl. mehr. Die verschiedenen Lebenssphären werden vergleichsweise autonom, zur gleichen Zeit durchdringen sie – im Gegensatz zu ihrer vormaligen feudalen Abgegrenztheit voneinander – einander immer mehr. Gleichzeitig werden die Lebenssphären vergleichsweise heteronom zueinander: keine Instanz hat mehr umfassende Kontrolle über einzelne oder über die Gesamtheit der Sphären. Die Sphären und die Gegenstände in den jeweiligen Sphären werden durch die Durchmischung einerseits einander vertrauter, andererseits aber unheimlicher, einem ewigen, unbeherrschbaren Außen zugehörend, fremder. Wenn man so will, werden die autonomen Sphären in einem gewissen Grad zu sich selbst heteronom (einem fremden Gesetz unterliegend). Ausgeglichen wiederum wird das, indem die Sphären reflexiv werden, das Verhältnis der Sphären verhandelbar, wenn nicht überhaupt urtümlich Gegenstand der Reflexion und der Verhandlung. Die Sphären werden, in einer vorher nicht dagewesenen Weise, durchleuchtbar und potenziell transparent und feststellbar. All das ist eben – gar kein Geheimnis, sondern – Ausdifferenzierung. Ausdifferenzierung ist nichts Magisches, sondern etwas banal Rationales – an deren banaler Rationalität man verzweifeln oder sich dem Ennui hingeben kann: wie es in der Moderne ja auch passiert bzw. wie in der Moderne damit kokettiert wird. Die Ausdifferenzierung schafft aber auch neue Geheimnisse. Ursprung, Ziel, Logik, Moral, Sinn der Ausdifferenzierung sind letztendlich dunkel und unbekannt. In all dieser Autonomie und Heteronomie der Sphären, in ihrer zunehmenden Abgrenzung voneinander wie umfassenden Durchdringung ineinander, in ihrer dunklen Geheimnishaftigkeit wie in ihrer erhellenden Reflexivität usw. ist es vielleicht das zentrale Charakteristikum der Moderne, dass sie zentrumslos ist; dass ihr Zentrum – in Bezug auf herkömmliche Vorstellungen davon – leer ist. Sowohl die klassische als auch die romantische Dichtung haben – im herkömmlichen Sinn – ein Zentrum. Bei der Klassik ist es das objektive Ideal, das letztendlich in der Natur liegt und über altehrwürdige Tradition vermittelt wird; in der Romantik ist es die autonome Subjektivität. Trotz all ihrer Gefinkeltheit sind sowohl das klassische objektive Ideal (der Schönheit) und das romantische Ideal der Subjektivität kompakte Zentren. Die Moderne, und daher auch die moderne Dichtung, hat demgegenüber kein kompaktes Zentrum. Das Zentrum der Moderne ist jedoch: Beweglichkeit. Das manchmal elegant glatte, manchmal ächzend-krachend-schwerfällige Gegeneinanderbewegen und Einanderdurchdringen der Sphären, die dezentrierenden Gänge der Reflexivität, die Flüchtigkeit der Wahrnehmung: das ist Moderne.  Sowohl die klassische und die romantische Dichtung sind Verfahren bzw. geben Verfahren an zur (Selbst)Vergewisserung ihrer Zentren: dem objektiven Ideal, der autonomen Subjektivität. Die moderne Dichtung muss ein Verfahren sein, in der es solche kompakte Zentren nicht mehr gibt, bzw. sie nicht mehr glaubwürdig sind. Das Verfahren der modernen Dichtung gilt der Vergewisserung ihres nebulosen, dezentrierten Zentrums: der Beweglichkeit. Insofern ist es zutiefst modern, indem der moderne Dichter Flaneur ist und Dandy. Das aber waren die Verfahren der Selbstvergewisserung von Charles Baudelaire.

Charles Baudelaire war ein mit einem echten Schönheitssinn begabter Mensch. Er hat Schönheit gesucht und Schönheit verstanden. Baudelaire gilt, nach Nietzsche, als der tiefste Kunst-Denker und Kunstrezipient des 19. Jahrhunderts. Er hat der Kunst zu einem tieferen Selbstverständnis verholfen. Damit ist Baudelaire zunächst einmal eine hochgradig autonome und überzeitliche Erscheinung, und nicht vornehmlich, so wie es die Kulturwissenschaften und ähnliche Disziplinen immer wieder in den Vordergrund zu rücken versuchen, ein „Ausdruck“ seines Zeitalters. Er hat Schönheit als was Universelles verstanden und, vor allem, als etwas Universelles gesucht, und sich selbst als einen „Kosmopoliten“ (im Reich der Schönheit) gesehen: Wenige Menschen haben – Im großen Ganzen – diese göttliche Gnade des Kosmopolitismus; doch alle können sie in verschiedenen Graden erwerben. „Universelle“ Schönheit bedeutet dabei nicht notwendig, dass sie statisch und eindeutig ist; denn: Jedermann begreift ohne Schwierigkeit dieses: Wenn die Menschen, deren Amtes es ist, das Schöne auszudrücken, den Regeln der beeideten Professoren sich fügen würde, so würde das Schöne selbst von der Erde verschwinden, da alle Typen, alle Ideen, alle Empfindungserlebnisse in eine große Einfachheit sich ergießen würden, die monoton und unpersönlich wäre und unermesslich wie die Langeweile und das Nichts. Die Verschiedenheit, die Lebensbedingung sine qua non, wäre alsdann im Leben ausgelöscht. So wahr ist´s, dass es in den vielfältigen Hervorbringungen der Kunst ein Etwas gibt, das, immer neu, für immer den Regeln und den Schulanalysen sich entziehen wird! Die Schönheit hat etwas Objektives, Universelles, Überzeitliches. Zumindest scheint es so, und ohne einen solchen Schein würde man es ja kaum als Suprematie wahrnehmen und anerkennen. Das Schöne erscheint jedoch auch in Zeit und Raum, und um authentisch zu sein, sollte sich das Schöne auch zeitgemäß ausdrücken. In seiner berühmten Formel begreift Charles Baudelaire das Schöne als aus einem überzeitlichen und einem zeitgenössischen Element zusammengesetzt: Das Schöne wird aus einem ewigen, unveränderlichen Element gebildet, dessen Qualität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, bedingten Element, das, wenn man will, um und um oder allzugleich, von dem Zeitabschnitt, der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird. Ohne dieses zweite Element, als welches gleichsam der amüsante, glänzende Überguss ist, der den göttlichen Kuchen und verdaulich macht, wäre das erste Element für die menschliche Natur unzuträglich, ungeeignet, unverdaulich. Damit entsteht die Notwendigkeit, das Schöne zeitgenössisch auszudrücken. Eigentlich kann zum universellen, überzeitlichen Schönen nur vorgedrungen werden, wenn ein profunder zeitgenössischer Ausdruck des Schönen gelingt. Der profunde Ausdruck der Schönheit muss nicht nur das Überzeitliche beherrschen, sondern auch die Gegenwart. Profundheit ist exklusiv: Nein! wenig Menschen sind mit der Fähigkeit begabt, zu sehen; noch geringer ist die Anzahl derer, die die Macht des Ausdrucks besitzen. Schönheit hat Qualitäten, die sich entziehen, Ausdruck jedoch ist kompakt. Wenn man so will, ist es das Problem der modernen Kunst, wie man für das nicht-kompakte Zentrum der Moderne einen kompakten Ausdruck finden kann. Baudelaire hat als Dichter nicht unbedingt neue Ausdrucksformen entworfen. Aber er hat neue Verständnisse entwickelt davon, was Schönheit ist und wie sie sich ausdrückt. Es ist schwierig, oder bei genauerer Betrachtung gar nicht einmal so leicht, wie es auf den ersten Blick scheint, bei Baudelaire und seiner Kunst ein kompaktes Zentrum zu identifizieren und eine kompakte Botschaft. Was Baudelaire aber getan hat, ist, dass er ein differenziertes, sich ausdifferenzierendes Verständnis von Schönheit entwickelt hat. Damit ist er vielleicht tatsächlich der zentrale moderne Dichter.

Das überzeitliche, universelle, kosmopolitische Wesen – und das kompakte Zentrum – von Charles Baudelaire war sein authentischer, nach überdauernden Formen suchender Kunstsinn und Schönheitsdrang. Darüber hinaus hat es Baudelaire ungemein geholfen, dass er, gleich dem modernen Zeitalter, scheinbar kein kompaktes Zentrum in seiner Persönlichkeit hatte. Laut Sartre, der einen einsichtsvolle und detaillierte Betrachtung über ihn geschrieben hat (für deren Negativität und Despektierlichkeit er sich später geschämt hat), war das zentrale Streben von Baudelaire das nach Alterität, sich in seiner Alterität zu vergewissern. Baudelaires Leben war traumatisch. Nach dem Tod seines kunst- und literaturliebhabenden Vaters als er fünf Jahre alt war, durchlebte Baudelaire einige glückliche Jahre in seiner Kindheit in einer Art symbiotischen gefühlsmäßigen Beziehung mit seiner Mutter. Als die Mutter erneut heiratete, erlebte er das als Zerstörung dieses Glücks. Er entwickelte daraufhin lebenslänglich einen widersprüchlichen Charakter. Kaum erwachsen, verbrauchte er sein beträchtliches Erbe schnell, um daraufhin nicht nur stets in ziemlicher Armut, sondern auch unter Vormundschaft gestellt zu leben. Er betrieb einen Kult der „Willensstärke“, Arbeit und Unabhängigkeit suchte er jedoch nicht. Vielmehr entwickelte er einen Kult des Müßiggangs, er wollte am liebsten ein „gehätscheltes Luxustier“ sein. Er hasste Autorität, unterwarf sich ihr aber immer wieder. Obwohl er sich rühmte, zum dichterischen Sehen begabt zu sein, blieb er in einer fortwährenden Distanz zur Welt. Ihm fehlte die Unmittelbarkeit. Obwohl seine Dichtung überladen ist mit Sinnlichkeit, fühlte er sich, wie man munkelt, vom eigentlichen Zentrum der Sinnlichkeit, dem Geschlechtsverkehr, abgestoßen. Befriedigung suchte er im Supplement, in Haaren, in Düften, in Anschauungen, in denen er schwelgte. Er träumte von der Ferne, brachte aber keine Reisen zustande; er bejahte das Alleinsein, brauchte aber ständig Menschen um sich. Obwohl er moderner Dichter ist und „das Neue“ liebte, blieb er vergangenheitsfixiert; Realität und Wert hatte für ihn eigentlich nur die Vergangenheit. Trotz seiner Rebellion gegen die Gesellschaft entzog er sich ihr nicht vollständig, sondern nahm immer wieder exzentrische soziale Rollen (wie die des Dandy) ein. Er verkleidete sich gerne, lackierte sich die Fingernägel, färbte sich die Haare, blieb aber damit letztendlich auch innerhalb der Arena des Gesellschaftlichen. Die Einsamkeit Rimbauds erreichte er nie und strebte sie auch nie an. Laut Sartre blieb Baudelaire bei allem immer auf halbem Wege stehen. Wenn man so will, hat man in all dem das Verhalten eines trotzigen, eigentümlich egozentrischen und eigentümlich egozentrisch auf die Mutter bezogenen Kindes, das eine Art Machtkampf mit der Mutter bzw. seinem dyadischen Gegenüber vollzieht, für immer. Bei Hölderlin galt es als ähnlicher Schock, als er, seiner glücklichen Kindheit entrissen, ins Tübinger Stift gesteckt wurde. Deswegen suchte Hölderlin immer nach seinem glücklichen Arkadien der Vergangenheit und hoffte auf die Wiederkunft des Gottes und des Ideals in der Zukunft. Sonst gab es bei ihm wenig an Themen. Hölderlin war jedoch ernsthaft pathologisch und allein schon über dieses Verhalten „schizophren“ (abgespalten von der Realität). Baudelaire war auch, in einem irgendwie ernsthaften Sinn, kein normaler Mensch. Aber auch er hat eine Pathologie in Dichtung von universeller Bedeutung umgesetzt. Zeit seines Lebens blieb er damit vorwiegend unter Eingeweihten bekannt. 1867, im Alter von 46 Jahren starb er. Die Mutter, Caroline, hat ihn um beinahe vier Jahre überlebt und durfte noch Zeugin seines daraufhin einsetzenden Nachruhms werden.

Im Gegensatz zu Hölderlin, und entsprechend seinem passiv-aggressiven Charakter, ist das Schöne, das Göttliche, das Ideal bei Baudelaire aber nicht nicht vollständig, kompakt, ungeteilt. Das Schöne ist bei Baudelaire bekanntlich meistens vom Morbiden durchzogen, oder steht mit ihm im Bund. Baudelaire delektiert sich am Verfall, am Alten, am Ekelerregenden, am Krankmachenden. Mit so was kann man versuchen, Mütter zu schockieren. Man kann es auch als Ausdruck von Melancholie sehen: das Bewusstsein, dass alles Wertvolle, dass das Ideal vom Verfall bedroht und kontaminiert ist. Dichter und Denker sind bekanntlich in der Regel Melancholiker; Baudelaire ging darin aber weiter. Melancholie war etwas, das Baudelaire als Grundbefindlichkeit artikulierte; der Spleen, der bei Baudelaire so zentral ist (Spleen und Ideal, Der Spleen von Paris) bedeutet im Französischen: Melancholie. Ich will nicht sagen, dass sich nicht die Freude mit der Schönheit verschwistern könne, muss aber die Freude als eines der vulgärsten Ornamente bezeichnen, indess die Melancholie der Schönheit hehre Gefährtin ist, derart, dass ich wenigstens mir keinen Typus von Schönheit vorzustellen vermag, dem das „Unglück“ ferne stände, bekennt er. Auf der anderen Seite stellt sich aber die Frage, wie verschwistert Baudelaire mit der Melancholie denn dann tatsächlich auch war (ohne natürlich das in Abrede stellen zu wollen). Lebensfeindlich und -müde schienen weder Baudelaire noch seine Dichtung. Die ist vielmehr prall, überladen, pulsierend, geradezu vital. Wenn sich auch die Schönheit für Baudelaire immer wieder entzieht, findet er sie zunächst ja einmal überall. Er jagt keiner blauen Blume hinterher, sondern schwelgt in einem dauernden sinnlichen Rausch. Ihm gefällt die Mode und das Flüchtige. Das schafft Melancholie nicht notwendigerweise aus der Welt. Aber bei Baudelaire geht sie geradezu mit einer Sanguinik einher, beziehungsweise mit der sanguinischen Empfindlichkeit des Kindes und des Genies. Ein ganzheitliches Sinnbedürfnis bleibt sowieso unerfüllt in der Moderne: heil dem also, der fähig ist, das Vorbeiziehende zu genießen, die Mode zur höchsten Schönheit zu erheben und das Flüchtige als das Dauerhafte und Substanzielle zu erkennen. Im Himmel und, wie Baudelaire ja selber sagt, angesichts statischer Schönheit wird einem schnell langweilig: in der Abwechslung liegt und pulsiert das Leben. Wenn man so will: zwischen den Polen Gott und Satan. Baudelaire ist folgerichtig Flaneur, und erhebt den Flaneur zum urtümlichen Rezipienten moderner, urbaner Schönheit. Insofern in der Moderne keine objektiven Standards für Schönheit mehr existieren, werden die Standards flexibel und kann Schönheit künstlich geschaffen werden. Baudelaire sieht sich als Dandy, als eine Art Aristokrat, dessen einziger Daseinszweck es ist, Schönheit zu kultivieren. Nicht zuletzt delektiert sich Baudelaire am Bizarren. Das Schöne ist immer bizarr, so sein Diktum. Damit ist generell gemeint, dass das Schöne immer ein individuelles Element enthalten muss, um schön zu sein. Ei, das sage ich auch immer. Auch das Bizarre ist mir durchaus bekannt, es liegt innerhalb meiner Arena. An meiner Liliana liebe ich, dass sie sowohl das Schöne versteht, als auch das Bizarre. Wer vollständig sein will, muss ja auch das ganze Spektrum vom Schönen bis zum Bizarren verstehen. Allerdings ist das Bizarre bei mir nicht zentral, sondern eher das Individuelle. Ich finde Frauen, die irgendwie individuell aussehen, schön, nicht solche, die bizarr aussehen. Bei Baudelaire hat das Bizarre einen deutlich zentraleren Stellenwert und das Bemühen um Bizarrerie. Er fühlte sich auch zu bizarren Frauen hinzugezogen. Seine Lebensgefährtin (und „Muse aller Musen“) war Jeanne Duval, eine kreolische Schauspielerin und Tänzerin, die neben ihrer exotischen Ausstrahlung offenbar auch eine ähnlich komplizierte Persönlichkeit war wie Baudelaire selbst, was für eine bizarre Beziehung sorgte.

Sartre macht als das psychologische Zentrum bei Baudelaire dessen Bedürfnis nach Alterität aus. Alterität bezeichnet die Identität stiftende Verschiedenheit zweier aufeinander bezogener, sich bedingender Identitäten. Baudelaire vergewissert sich seiner Identität grundsätzlich, indem er sich als anders definiert. Es ist der eigenartige, dyadische Kampf zwischen dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und nach Geborgenheit, die als Bedürfnisse so extrem empfunden werden, dass sie, obwohl sie ja in gegensätzliche Richtungen laufen, bei Baudelaire dann auch wieder fest aneinander gekettet bleiben und sich in einer fortwährenden Mischung aus Faszination und Abscheu ineinander spiegeln. Baudelaires psychologische Spiegelfechterei und sein Bedürfnis nach Alterität gehen (gemäß Sartre) so weit, dass die Alterität de facto inhaltlich leer bleibt, stattdessen sich selbst zum Inhalt erhebt. Seine Einzigartigkeit, die Baudelaire anstrebt, liegt für ihn in seiner ewigen Alterität, die in ihrem Bedürfnis, sich abzustoßen vom anderen umso radikaler auf den anderen bezogen bleibt. Damit wird seine Identität umso mehr zu einem Bild, beziehungsweise geschieht in der Auseinandersetzung mit einem Bild. Poeten schaffen Bilder. In der Dichtung von Baudelaire vollzieht sich das jedoch in einem abnormen Maße. Man hat bei Baudelaire den Eindruck, dass die Welt, bzw. sein Gegenüber, für ihn tatsächlich in erster Linie Bild ist. Man hat bei Baudelaire scheinbar eine intensive und gegenüber den eigentlichen Weltgehalten additive Wahrnehmung, die die Welt erhebt, indem sie mehr in sie hineinlegt als in ihr eigentlich ist, gleichzeitig aber auch eine flache und blutarme Wahrnehmung, der vieles von der eigentlichen Konsistenz von sowohl dem Selbst als auch dem Gegenüber entgeht. Gleiches gilt für die Emotionalität Baudelaires. Indem sie so dyadisch ist (archaisch zwischen den Polen „Ich“ und „Mutter“ schwingt), ist sie ziemlich asozial. Trotzdem er ein ganzes neues Zeitalter zum Ausdruck brachte, hatte Baudelaire offenbar wenig sozialen Sinn; seine Versuche, sich asozial zu geben (indem er sich sich schminkt, Dandy sein will, Bürgerschreck) wirken vielleicht deswegen ein wenig inkonsistent, da sie sich auf das mütterliche Gegenüber beziehen und scheinbar von keinem eigentlichen gesellschaftlichen Sensorium begleitet werden. Auf der Habenseite steht dann aber doch eine erhebliche Souveränität Baudelaires – gerade durch diese Reflexivität, die in all der Auslebung dieser Alterität und Spiegelfechterei liegt. Wenn man so will, kann (modern betrachtet) weder im Ich noch im Gegenüber, weder im Betrachter noch im Bild das Absolute, das Ganze und Ungeteilte liegen. Superiorität kann das Subjekt erlangen, indem es sich reflexiv und autoreflexiv zwischen diesen beiden Polen verhält. Mit dieser Reflexivität kann das Subjekt sich selbst und die Welt weiterentwickeln, oder zumindest ausgestalten und ausdifferenzieren. Damit ist man bei Baudelaire tatsächlich im Zentrum der Moderne. Was Baudelaire außerdem anstrebte war Luzidität (außerdem: berauscht zu sein und sich zu berauschen. Aber Poesie ist genau genommen eine ins Rauschhafte gesteigerte Luzidität). Luzidität bedeutet aber Durchreflektiertheit; genau gesagt, eine derartige Durchreflektiertheit, dass der Gegenstand transparent wird. Luzidität ist also Modernität. Laut der Philosophin Jadranka Skorin-Kapov steht Alterität mit dem tatsächlich Neuen und Originären, dem Überraschenden in Verbindung, beziehungsweise ist die Basis dafür, dass dergleichen entstehen kann. Baudelaire liebte Neues und Überraschendes, es ist wesentliches Element seines ästhetischen Verständnisses. Und modern bedeutet ja: neuartig. Das Gute an der Alterität ist auch, dass sie das Andere nicht übermannt oder zu übermannen versucht, sondern es als Anderes bestehen lässt. Aus der Alterität entsteht (idealerweise) keine Diktatur und kein verobjektivierender oder stereotypisierender Blick. Alterität inkludiert eine gewisse Anpassungsfähigkeit. Alterität sollte mit Komplexität was anfangen können und sollte in der Lage sein, Komplexität einzufangen. Moderne bedeutet eine gewisse Komplexität und Moderne beinhaltet auch ihre eigene Alterität. Insofern ist es, wenn man die Moderne begreifen oder ausdrücken will, vielleicht ganz gut, wenn man Alterität in sich trägt.

Indem die Moderne kein kompaktes Zentrum hat, gibt es kein eindeutiges Symbol für sie, kein eindeutiges Bild, dass sie darstellt und zum Ausdruck bringt. Man kann zum Beispiel die Moderne utopisch zum Ausdruck bringen, anhand ihrer Leistungen, ihrem Potenzial, ihren Glücksversprechen; oder dystopisch, also über ihr Potenzial zur Potenzierung von Unglück. Beide Ausdrucksformen gibt es, und beide Trajektorien sind in der Realität vorhanden. Aber beide sind unvollständig. Einem Literaturwissenschafter zufolge, dessen Namen ich leider vergessen habe, bringt Baudelaire im Spleen von Paris die Stadt Paris über eine Heterotopie zum Ausdruck. Eine Heterotopie – ein von Michel Foucault geprägter und kurzzeitig verwendeter Begriff – ist eine Art Außenraum, ein Widerlager, eine Gegenplatzierung, die eine verfremdende, gleichzeitig erhellende Sicht auf die Gesamtheit konstruieren. In seinen Prosadichtungen und auch in den Blumen des Bösen beschreibt Baudelaire die moderne Stadt kaum über ihre kulturellen oder politischen Zentren, sondern hauptsächlich über ihre exzentrischen Extremitäten: Armenviertel, alte Jahrmärkte, den Hafen… Genau gesagt, kommt die Stadt in seinen Dichtungen überhaupt nur ziemlich am Rande vor. Dessen ungeachtet evoziert seine Dichtung eine Atmosphäre der Urbanität – hat dann aber trotzdem auch etwas eigentümlich Pastorales, Kontemplatives, Undynamisches und (Morbid-) Idyllisches: was vielleicht auch daran liegen will, dass heterotope Orte, in ihrer Devianz, teilweise nach eigenen Regeln funktionieren und, laut Foucault, eine „tatsächlich realisierte Utopie“ sein mögen (natürlich aber hat, davon abgesehen, eine melancholische Weltbetrachtung durchaus auch all diese Qualitäten bzw. schafft dahingehend ihr eigenes pastorales Territorium). Aller Moderne zum Trotz erscheint die Welt, wie sie Baudelaire vor allem in den Prosadichtungen beschreibt, gleichsam als sehr alt; darin heteronom und fremd, viel älter als das Subjekt, gleichzeitig hat sie durch diese Altheit aber auch die Kraft, Geborgenheit und Platziertheit für das Subjekt zu schaffen und, trotz all ihrer Baufälligkeit, das Subjekt zu überdauern, es in ihrer Erinnerung aber gleichsam aufzunehmen. Sie präsentiert sich als Mimesis des Überzeitlichen, des Ewigen und sie hat etwas Totales und total Immersives. Überhaupt hat die Welt Baudelaires etwas exzessiv Traumhaftes und Bildhaftes – in einer Manier traumhaft und bildhaft, die über das gewöhnliche Maß bei Poeten hinausgeht. Auch ist sie dementsprechend leicht unangenehm, so wie Träume meistens irgendwie unangenehm sind. Wie in Träumen ist dieses Unangenehme dann aber auch wieder ohne echten Belang. Wie in Träumen scheint diese Welt keinen echten Gesetzen zu unterliegen, wie in Träumen ist die Welt fremd, dann aber auch wieder vertraut. Es ist, von den Motiven her, eine mondsüchtige Welt, in der Luna zum Poeten sagt: „Du sollst lieben, was ich liebe und was mich liebt: das Wasser, die Wolken, das Schwingen und die Nacht; das unermessliche, das grüne Meer; das ungeformte, formenreiche Wasser; die Stätte, da du nicht sein wirst; den Liebenden, den du nicht kennen wirst; die ungeheuerlichen Blumen; die taumelschwangeren Düfte; die Katzen, die auf Pianos fast ersterben und seufzen wie die Frauen, mit einer rauen, doch so linden Stimme.“ Die Artefakte der Moderne scheinen (allzu) präzise Konturen zu haben, Baudelaire liebt aber das Unkonturierte, das, was keine klaren Konturen hat und sich, wie das Meer, die Wolken, die Düfte usw. ergießt, das in dem man sich verlieren kann (unkonturiert und zum endlosen Denken und Betrachten anregend ist dann aber eben die Moderne selbst). In den Bildern des modernen Dichters Baudelaire kommen keine Fabriken vor, keine Telegraphenmasten und keine Eisenbahnen. Es kommen bei ihm Arme und Benachteiligte – vor allem Deformierte – vor, aber kein Proletariat. Walter Benjamin fixiert Baudelaire als „Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ – aber in seiner Lyrik gibt es kein Geschäftsleben, keine Arbeitsteilung und kein Geld (wenngleich die Zeit Baudelaires aus heutiger Sicht wohl kaum als eine des Hochkapitalismus erscheint, sondern tatsächlich als eine, in der der Kapitalismus noch vergleichsweise wenig Lebensbereiche kolonialisiert hat). Bei alldem scheinen alle Dinge (bzw. die menschlichen und nicht-menschlichen Gegenstände) in seinen Dichtungen eine Selbstständigkeit und Getrenntheit, eine Autonomie voneinander zu bekommen. Die ganze Welt hat ein undurchsichtiges, aber offensichtliches Eigenleben. Baudelaires Welt scheint eine von ächzenden, schnaufenden – eben erzmodernen – Verkettungen zu sein, einer dauernden Dynamik von Verkettungen: etwas Maschinenhaftes also, das nicht zuletzt eine maschinenhafte Verkettung von Begehren zu sein scheint: das freilich gerade bei Baudelaire niemals durch eigentliche Lust „unterbrochen“ wird (obwohl er somit scheinbar auf so zahlreiche ihrer Lieblingsthemen referiert, nehmen sich ausgerechnet die Landsmänner Deleuze und Guattari – soweit mir erinnerlich ist – Baudelaires aber nicht an). 1848 sollte sich Baudelaire tatkräftig an der Februarrevolution beteiligen; er sympathisierte mit den Idealen von Fourier und Blanqui. Nach deren Niederschlagung und der konservativen Restauration zog er sich jedoch frustriert auf die Existenz eines unpolitischen Schriftstellers zurück. Sonderlich tiefgreifend war sein Flirt mit der Politik und mit dem Sozialismus und dessen avantgardistischer Ansprüche offenbar nicht. Insgesamt scheint Baudelaire (zumindest als Dichter) die Welt vorwiegend als ein ästhetisches Phänomen wahrgenommen zu haben, und er hat sie auch als solches überhöht.

Ein Kennzeichen von genialer Kunst dürfte sein, dass in der Darstellung einer Welt noch eine andere Welt hindurchzuscheinen scheint. Eine Welt ist kaum vollständig darstellbar und beschreibbar. Geniale Kunst scheint aber alle Welt, und das auch noch über die bisher bekannten Grenzen hinaus, zur Darstellung zu bringen. Indem sie nun in der Darstellung einer Welt auch noch eine andere Welt zum Ausdruck kommen lässt, könnte über dieses Fluktuieren und Oszillieren das Problem gelöst werden. Obendrein wird es derart ein beweglicher und die Komplexität imitierender Ausdruck sein. Und das hat man in der Kunst Charles Baudelaires. Seine scheinbaren Widersprüche und Inkonsistenzen spannen nur ein weiteres Feld und eine größere Weltsicht auf. Seine Heterotopien sind Brennpunkte der großen Ellipse. Charles Baudelaire hatte die Fähigkeit, eine überzeitliche Welt zu begreifen, und eine zeitgenössische vorausschauend zu definieren. Dass Baudelaire in vielen Aspekten so unmodern und gegenüber seiner Zeit blind zu sein scheint, ist natürlich allein schon einmal dem geschuldet, dass er ja Vorläufer und Prototyp moderner Dichtung ist. Gleichzeitig ist er viel umfassender modern, und außerdem überzeitlicher und generell komplexer als diverse moderne Dichter, die zwar die Schönheit von Stahlbauten mit Antennen dran beschreiben, darin aber auch steckenbleiben und intellektuell in ihrer jeweiligen Zeit verhaftet bleiben. Baudelaire hingegen blickte tief in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er war luzide und berauscht: genau gesagt, von und in seiner Luzidität berauscht. Er war alt wie die älteste und entwickeltste Intelligenz, aber auch jung und frisch wie das Kind: Kind und Genie standen für ihn sowieso in einem Bund: Das Kind sieht alles immer im Lichte der „Neuheit“; es ist immer „berauscht“ … Aber das Genie ist doch nichts anderes als die freiwillig wiedergefundene Kindheit, die nun, um sich Ausdruck zu verschaffen, begabt ist mit mannbaren Organen und mit dem analytischen Geist, der es erlaubt, die Gesamtheit des unwillkürlich aufgespeicherten Materials zu ordnen. Sowohl das Kind als auch das Genie haben eine Lust und sind beherrschend gegenüber dem Paradoxen. In dieser Beherrschung des Paradoxen gelingt es ihnen auch, die diversen sozialen Bezirke (wie zum Beispiel „das Hohe“ und „das Niedrige“) zusammenzubringen, während ein normaler Verstand und eine normale Emotionalität daran scheitert (laut Friedrich Schiller kann nur das Genie (oder eben auch das Kind) verschiedene Lebenssphären, die sich mitunter unversöhnlich gegenüberstehen, zusammenbringen). Bei Baudelaire mag man Trauer über die Unerreichbarkeit des Ideals haben, alle Sphären werden jedoch zusammengehalten über sein spezifisches Sensorium, das alles überbrückt. Im Schluss zu den Künstlichen Paradiesen zitiert er einen bemerkenswerten, wenig bekannten Philosophen, Barbereau. … „Die großen Dichter, die Philosophen, die Propheten sind Wesen, welche durch die reine, freie Ausübung der Willenskraft zu einem Zustande gelangen, darin sie zugleich Ursache und Wirkung, Subjekt und Objekt, Magnetiseur und Somnambule sind.“ Baudelaire gilt als Ausdifferenzierer des Verständnisses von Schönheit, indem er das „Niedrige“ Einzug halten lies in seine Poesie. Tatsächlich war er aber auch Verteidiger eines Ideals der Schönheit gegenüber dem generell Niedrigen, das in den tieferen Logiken des Zeitalters zu liegen schien. Laut Clement Greenberg ist die künstlerische Moderne ein Versuch, bedrohte Qualitätsmaßstäbe gegen die Logik des Zeitalters aufrecht zu erhalten: Der Modernismus ist als ein Versuch des Bewahrens zu verstehen, als ein fortwährendes Bestreben, die bedrohten ästhetischen Qualitätsmaßstäbe zu sichern … Er besteht in einem fortwährenden Bestreben, den Niedergang der ästhetischen Qualitätsmaßstäbe aufzuhalten, die in der Industriegesellschaft von der relativen Demokratisierung der Kultur bedroht werden; die alles beherrschende innerste Logik des Modernismus ist es, das Niveau der Vergangenheit gegen Widerstände zu behaupten, die in der Vergangenheit noch nicht vorhanden waren. (Er fügt an anderer Stelle noch hinzu: Jetzt kommt die Bedrohung der ästhetischen Maßstäbe, der Qualität, aus nächster Nähe, sozusagen von innen her, von den Freunden der Avantgarde-Kunst … man sehe sich nur einmal an, was diesen „postmodernen“ Menschen in der heutigen Kunst gefällt und was ihnen nicht gefällt. Mir scheint, dass sie eine größere Gefahr für die hohe Kunst sind, als es die Banausen früher je waren. Sie machen den banausischen Geschmack wieder aktuell, indem sie ihn als sein eigenes Gegenteil verkleiden und ihn in einem hochtrabenden Kunstjargon verpacken. Sehen Sie sich nur an, wie dieser Jargon sich heute ausbreitet, in New York und Paris und London, sogar in Sydney … Was all dem zugrunde liegt, ist das mangelhafte Sehvermögen der betreffenden Leute, ihr schlechter Geschmack in Sachen der bildenden Kunst.) Baudelaire hatte das vielleicht nicht absichtlich im Sinn – er wusste ja auch noch gar nicht, wovon dementsprechend die Rede war – wahrscheinlich würde er das aber sofort verstanden haben.

Baudelaires Oeuvre ist schmal geblieben, und für mich immer noch eine etwas unebene Landschaft. Seine Dichtung vom Haschisch und seine Künstlichen Paradiese finde ich immer noch sehr langweilig, seine Kunstbetrachtungen und kunstkritischen Schriften sind von atemberaubenden Intelligenz, dann aber auch nur an einigen Stellen gut (der Rest scheint überflüssiger Ballast), seine Blumen des Bösen habe ich erst jetzt, nach über 25 Jahren geschafft, vollständig zu lesen und tiefer zu begreifen – seine Prosadichtungen, Der Spleen von Paris, haben mich hingegen immer schon eingenommen; und ich finde: so sollte Prosa sein. In seiner zentralen kunstkritischen Schrift, wo er sein modernes Programm formuliert, Der Maler des modernen Lebens, exemplifiziert Baudelaire seine Kunstauffassung anhand eines heute schon lange vergessenen Malers, Constantin Guys. Über den und seine Kunst schreibt er zum Beispiel: Wenn aber etwa ein übel Beratener in diesen Kompositionen Guys´, die sich durch sein ganzes Werk zerstreut finden, die Gelegenheit suchen möchte, einer krankhaften Begierde zu frönen, so bin ich menschenfreundlich genug, ihn im voraus zu benachrichtigen, dass er nichts finden wird, was eine krankhafte Phantasie erregen kann. Nichts als das unvermeidliche Laster wird er sehen … nichts als die reine Kunst: die besondere Schönheit des Bösen, das Schöne, das im Grauenvollen wohnt. Oder: Er (Guys) hat überall die flüchtige, vergängliche Schönheit des gegenwärtigen Lebens gesucht, den Charakter dessen, was als die „Modernität“ zu bezeichnen der Leser uns verstattet hat. Oftmals bizarr, gewaltsam, exzessiv, immer aber poetisch hat er in seinen Zeichnungen die bittere oder benebelnde Blume des Weines des Lebens zu konzentrieren verstanden. Offenbar spricht er von Guys, weil er damit genausogut über sich selbst sprechen könnte.

Charles Baudelaire war eine Art Prototyp für den Poéte maudit, den verfemden, unverstandenen Dichter, der – freiwillig oder unfreiwillig/gezwungenermaßen – auf Konfrontationskurs mit der Welt und den Werten seiner Zeit geht, und daher von ihr ausgestoßen wird; der ein gefährliches, an und für sich sauerstoffarm-tödliches und daher auch oft praktisch kurzes Leben hat, um dann nach seinem Tod Anerkennung zu finden. Als Landsmänner seines Jahrhunderts kommen diesbezüglich auch Rimbaud, Lautréamont oder Alfred Jarry in den Sinn, ebenso wie Emily Dickinson, Kierkegaard, Nietzsche oder Büchner. Ei, das ist ja eine ganz charmante Gesellschaft, denn das sind ja alle welche, die die blaue Blume ohne größere Umstände gefunden und bei sich gehabt haben. Sie leben im oder sind Kreaturen aus dem Reich der Ideale, und das Reich des Idealen ist ein ebenes, pazifiziertes, eben pastorales Reich. Es ist daher seltsam, wieso sie sich im Zeitlichen so stoßen und beinahe oder tatsächlich von ihm zermalmt werden. Aber ein ebenes, planes Reich ist die Kultur nur überzeitlich betrachtet. Jeweils aktuell ist die Kultur das Ringen um Werte und Ideale – und daher eine Arena der Auseinandersetzung. Mit diesen Überzeitlich-Idealen will man sich vielleicht lieber nicht anlegen – und so legt man sie zeitgenössisch beiseite. Es erscheint seltsam, aber diese Dichter(innen) selbst scheinen so seltsam, dass es nicht so sehr verwundert, dass die Menschenfamilie sie kaum als unmittelbar ihresgleichen erkennt. Es scheint sich bei den Poétes maudits vielleicht um eine eigene Spezies zu handeln? Aber was ist es dann, was diese Spezies ausmacht und sie so speziell macht? Dass jene Poétes maudits ausgesprochen individuell und subjektiv sind, und daher von zeitgenössischen objektiven Standards nicht erkannt werden, erscheint auch irgendwie als zu kurz gegriffen: denn ausgesprochen subjektiv ist ja so gut wie jeder dann auch wieder. Vielleicht ist das, was die Poétes maudits miteinander teilen, ihre Essenz, eben die Alterität. Ja, so betrachtet erscheinen sie gleichsam als Verkörperungen der Alterität: und das ist dann doch so gut wie niemand – außer eben sie. Und echte Alterität ist mit etwas, das eine Identität sein will, und sich als Identität, als etwas Eindeutiges zu bestimmen versucht, relativ inkompatibel, eventuell Anathema. Das Zeitalter nimmt Individualität gerne auf, um sich selbst zu vergewissern, diverse individuelle Ausformungen sind einem beliebigen Zeitalter ja systemimmanent. Über solche systemimmanenten individuellen Ausformungen und Devianzen mag sich das Zeitalter freuen. Die Alterität ist aber kaum systemimmanent, sondern kommt von einem Anderswo; bzw. ist sie umso unheimlicher, als sie gleichzeitig aus dem tiefsten Inneren, wie auch aus einem entlegensten Außen zu kommen scheint. Um noch einmal auf Foucault zurückzukommen, so kommt der – und die (Post)Strukturalisten mit ihrer topographisch inspirierten Terminologie – öfter mit der Idee/Kategorie von einem „Außen“; das jenseits der bekannten Diskurse und Dispositive liegt, für sie teilweise konstitutiv ist, das bei Foucault et al. aber relativ unbekannt und inhaltlich unterbestimmt bleibt. Für die Poétes maudits scheint dieses „Außen“ gleichsam kein so großer Unbekannter zu sein, sondern eher ihr natürliches Habitat. Sie beherrschen das Außen, und scheinen gleichsam aus dem Außen zu kommen. Aber ihrer Alterität gemäß stehen sie eben mit einem Bein im Diskurs und mit dem anderem in dessen Außen. Das eben ist, ihrem Wesen nach, Alterität. Alteritäten sind, so wie Identitäten, zuletzt noch verschieden. Meine Alterität ist anders als die von Baudelaire. Ich interessiere mich bekanntlich eminent für das Andere, und indem ich mich mit dem Anderen verbinde, erweitere ich meinen Aktionsradius immer mehr, ins unendlich Offene. Meine Alterität beruht nicht auf einem Konflikt. Baudelaires Alterität ist ein dyadisch hin- und herpendelnder Konflikt und ergibt daher einen eindeutigeren Attraktor. Und so schwingt er dann aus dem Außen wieder zurück. Er ist gegenüber allem Möglichen beherrschend, wird dann aber doch wieder in den Bannkreis seiner Faszination für das Morbide und Pathologische gezogen. Mich interessiert das nur am Rande. Ich unterscheide zwischen Geistern, die eine positiv gekrümmte Raumzeit beschreiben, und solchen, die eine negativ gekrümmte Raumzeit beschreiben. Die positiv Gekrümmten sind sphärisch und kommen immer wieder auf sich selbst zurück und die Dinge kommen immer wieder an ihren Platz. Die negativ Gekrümmten sind hyperbolisch, bei ihnen fliegt alles ins Unendliche, sie wollen fortwährend von sich weg. Charles Baudelaire war, so betrachtet, positiv gekrümmt (Rimbaud, der auf ihn folgen sollte, war negativ gekrümmt usw.).

Henrik Ibsen und die Schuldfrage

Leben ist: dunkler Gewalten

Spuk bekämpfen in sich,

Dichten ist: Gerichtstag halten

über sein eigenes Ich.

Henrik Ibsen

Sie sind krank, Baumeister. Ich glaube sogar, sehr krank, sagt Hilde Wangel zu Baumeister Solness, einem literarischen Alter Ego Henrik Ibsens. Zwar nicht im somatischen Sinn oder aber verrückt, denn am Verstand, da fehlt es bei ihnen wohl kaum … Mir scheint eher, dass Sie mit einem gebrechlichen Gewissen zur Welt gekommen sind … Ich meine, dass ihr Gewissen sehr zart und anfällig ist. So – überempfindlich. Dass es keinen Stoß verträgt. Nichts Schweres heben und tragen kann. An einer anderen Stelle gesteht der Baumeister seiner Frau Aline: Ich habe Schuld, unermessliche Schuld – dir gegenüber … Aber es steckt ja doch gar nichts dahinter. Ich habe dir niemals irgend etwas Böses angetan. Jedenfalls nicht wissentlich und willentlich. Und trotzdem – trotz alledem habe ich das Gefühl einer lastenden Schuld, die mich erdrückt.  – Ja dann – dann bist du ja doch krank, Halvard, entgegnet die darauf. Offenbar. Krank – oder so was Ähnliches, dann wieder der Baumeister.

Ein Gewissen ist unruhig oder fühlt sich belastet durch eine tatsächliche oder mögliche Schuld. In den Dramen von Henrik Ibsen wimmelt es von Schuld. Die ausformulierteste, dramatischste Figur bei Ibsen, die ein ganzes Stück trägt, Peer Gynt, findet ihr Selbst nicht; ihre Schuld besteht darin, dass sie gar nicht das Niveau eines tatsächlichen Subjekts erreicht und gar nicht im eigentlichen Reich des Menschlichen, im Ethischen, ankommt. Die Ibsenschen Figuren verstricken sich in Lebenslügen, oder aber folgen ihren (meistens lobenswerten) Lebensaufgaben mit einer Einseitigkeit und einer Borniertheit, auf dass es ihre guten Intentionen oder aber ihre eigene Subjektivität zunichte macht. Diejenigen, die die anderen aus ihrer schuldhaft verstrickten Subjektivität befreien wollen, sind irrationale Fanatiker, die schließlich erst recht die Katastrophe auslösen und noch mehr Schuld in die Welt reinbringen. Geschäfte machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Kunst machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Man hat ein schuldiges Patriarchat und noch schuldigere Frauen als dessen willigste Opfer. Hin und wieder schaffen es die Ibsenschen Charaktere, ihrer Schuld zu entrinnen, insgesamt aber ist die Farbe dunkel. Die Freiheit, die Bewegungsmöglichkeiten, der Reichtum der Figuren stehen immer wieder ursächlich mit dunklen Machenschaften aus der Vergangenheit im Zusammenhang: mit Betrügereien, Unterschlagungen, Fälschungen, Raubbau, die den Figuren dann in der dramatischen Situation auf den Kopf fallen. Überall wo man bei Ibsen hinsieht, gibt es illegitime, gar inzestuöse Liebschaften und – erbsündenartige – degenerative Erkrankungen bei den armen Kindern, die daraus entsprungen sind. Eine abartige Menschheit und Gesellschaft hat man bei Ibsen letztendlich, eine große Gesellschaft des Perversen und des universalen Schuldzusammenhangs … die große Gesellschaft … was steckt im Grunde dahinter? Kein moralisches Fundament, auf dem man stehen kann. Mit einem Wort, diese große Gesellschaft von heutzutage ist ein übertünchtes Grab, so der Adjunkt Rörlund in Die Stützen der Gesellschaft. Ob die große Gesellschaft tatsächlich so ist, weiß ich nicht – aber es ist auf jeden Fall ein Schuldspruch über die große Gesellschaft.

Ibsen gilt als Dramatiker mit großem gesellschaftlichen Sinn. Aber warum zeigt er dann so viele mögliche gesellschaftliche Situationen nicht? Warum funktionieren die Gesellschaften bei Ibsen niemals auch so, als dass sich alle mit einer übertriebenen Freundlichkeit versuchen, gegenseitig zu schwächen, weil sie so viel Angst voreinander haben und so viel Angst, dass eine Art archaische Gewaltorgie ausbrechen könnte, wenn sie sich durch ihre Höflichkeitsrituale nicht gegenseitig fast vollständig pazifizieren und einlullen? Warum begegnen sich die Menschen nicht entweder übertrieben freundlich oder aber misstrauisch und mürrisch, in einer Mischung aus Angst und Arroganz, bis sie herausgefunden haben, ob der andere nicht etwa überlegen ist, sondern eh nur unterlegen oder zumindest pari? Warum gibt es nicht, in Anlehnung an Rene Girard, mehr mimetische Konflikte in den Dramen von Henrik Ibsen (als nur in Hedda Gabler), also Konflikte, die entstehen, weil der eine was will, nur weil es der andere will oder hat? Denk dir eine eingeschworene Gesellschaft von Idealisten, die dann auseinanderbricht, als sie merken, dass sie diese Ideale jeweils aus ganz unterschiedlichen, und oftmals gar nicht idealen Gründen verfolgen. Warum zeigt Ibsen nicht eine Gesellschaft von enthusiasmierten Kunstfreunden und Kunstwissenschaftlern, die plötzlich ganz still und verschlossen wird und deren Abwehrmechanismen Amok laufen, wenn ein Künstler höchsten Ranges tatsächlich auftritt? Warum zeigt er nicht eine Gesellschaft von vollmundig „sapiosexuellen“ Frauen, deren „Sapiosexualität“ ganz plötzlich implodiert, deren hübsche Gesichter ganz plötzlich vereisen und aus ihren Augen blitzt der blanke Hass etc., wenn ein tatsächlich intelligenter Mann daherkommt? All das tut Ibsen nicht. Alles schuldig machen, alle in schuldhafte Verstrickungen verwickeln, unlösbare Knoten der Schuld knüpfen, Netze von Schuldzusammenhängen weben, in denen sie sich verlieren wie Insekten im Netz der Spinne – das ist es, was ich will, das ist der Sinn meiner Existenz, ja das ist ganz klar, deshalb bin ich ja hier – grummelt er im fahlen Licht in der Ecke, senkt sein beeindruckendes, einschüchterndes Löwenhaupt und macht sich an die Arbeit.

Ihr Frauen, ihr seid die Stützen der Gesellschaft, erkennt Konsul Bernick am Ende des gleichnamigen Stücks – auf das dann das „feministischste“ Drama Ibsens folgen sollte: Nora – Ein Puppenheim. Aber die „feministischen“ Heldinnen bei Ibsen bleiben ein ziemliches Ärgernis. Nora im Puppenheim lässt sich von ihrem Gatten über Jahre hinweg als singende Lerche, als lockerer Zeisig, als Leckermäulchen, als seltsames kleines Ding, als Du kleiner Leichtsinn oder als Du schwaches, hilfloses Wesen titulieren (was angesichts ihrer Persönlichkeit auch durchaus angemessen ist), kauft ein wie eine Blöde, kennt sich nirgendwo aus und übernimmt für nichts Verantwortung. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren unsympathischen Mann, um sich selbst zu finden, sondern kurzerhand auch ihre Kinder (was symbolisch gesehen eine gewisse Konsequenz und Folgerichtigkeit in der Abrechnung mit dem Patriarchat hat, seinerseits aber auch etwas Unheilvolles symbolisiert oder ankündigt). Hedda Gabler ist hinter ihrer eindrucksvollen Oberfläche noch stärker von Männern abhängig und lebt von deren Energie wie ein Vampir, sie kann bösartig, gefährlich und zerstörerisch werden und ist überhaupt kein Charakter, dem man im Leben begegnen will. Ellida, die Frau vom Meer, ist langweilig; im gleichnamigen Stück symbolisiert sich aber auch, dass „Freiheit“ ein verzwicktes, verwickeltes Ding ist: Sie funktioniert an und für sich nur, wenn man sie sich selber nimmt, aber auch, wenn sie einem von anderen gegeben wird (ansonsten hat sie etwas Solipsistisches und Anarchisches). Das Verlangen nach dem Grenzenlosen, Endlosen, nach dem Unerreichbaren, das treibt deinen Geist zuletzt noch ganz ins nächtige Dunkel hinein, warnt überhaupt der Doktor Wangel die Frau vom Meer. In diese leere, anarchische Freiheit, ins Meer, läuft Ellida dann aber nicht, weil ihr die Freiheit gegeben wird, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen: Denn nun komme ich zu dir in Freiheit – freiwillig – und in eigener Verantwortung, beschließt sich Die Frau vom Meer als eines der wenigen Stücke Ibsens heiter und beschwingt.

Als Feminist verstand sich Ibsen aber sowieso nicht. Die „Menschenschilderung“ hat er als seine Aufgabe betrachtet. So gilt Ibsen auch als Schilderer und Analytiker des Durchschnittsmenschen: und in der Hinsicht verdanken wir ihm wertvollste Einsichten. Der Durchschnittsmensch aber, wie er in der Wirklichkeit erscheint, hat zahlreiche liebenswerte Eigenschaften; er mag in der Lage sein, beträchtliche Energien zu mobilisieren; er mag zielstrebig, arbeitssam und konsequent sein; immer wieder einmal wartet er mit klugen Einsichten und so trefflichen sprachlichen Formulierungen auf, so dass selbst uns Dramatikern die Spucke wegbleibt. Peer Gynt und Ekdal Vater und Sohn hingegen sind unternormal. Das einzige Genie hinwiederum, das bei Ibsen auftritt, Ejlert Lövborg in Hedda Gabler, ist verwahrlost und lebensuntüchtig und stirbt; der genialische Mensch, Ulrich Brendel in Rosmersholm, fällt, nur weil er die Schwelle zum Genialen doch nicht überschreiten kann, einfach ins Nichts. Die stattlichen, annähernd majestätischen Kunstmenschen, Baumeister Solness oder Professor Rubek, sind innerlich fragil, die majestätischen Geschäftsmenschen und Bankiers sowieso. Die einzige Figur, die die Menschheit und die Gesellschaft tatsächlich durchschaut, der Arzt Relling in der Wildente, ist wesentlich zynisch und beharrt darauf, dass die Gesellschaft nur durch Lügen zusammengehalten werde. (Was nicht heißt, dass nicht auch, in anderen Stücken, Lona Hessel oder der Volksfeind Doktor Stockmann auftreten, die in der Wahrheit und am Festhalten an der Wahrheit die eigentliche kohäsive Kraft erkennen wollen.)

Der Baumeister Solness ist der Kunstmensch als Willensmensch, geradezu als Gewaltmensch. Er lässt seine Zuarbeiter, Vater und Sohn Brovik, nicht aufkommen und fördert und lobt den talentierten Sohn nicht. Er hat Angst vor der jungen, aufstrebenden Künstlergeneration (Knut Hamsum). Na gut. Und sonst? Aber wir wissen nicht, was sonst ist. Vielleicht ist das alles, im harmlosen Sinn. Vielleicht ist es aber auch alles, im potenziell gefährlichen Sinn. Vielleicht ist der Baumeister Solness außerhalb seines Kunstwillens tatsächlich fast so gut wie nichts. Vielleicht ist der Baumeister ein reiner Wille zur Macht und daher etwas Sinistres. Oder aber, vielleicht ist er zu hauptsächlich das – deswegen verfügt er über Sensibilität genug, sich dafür zu schämen. Ich verdiene (Ehre) nicht; denn ich bin bis zum heutigen Tage kein uneigennütziger Mensch gewesen. Hatte ich auch nicht immer pekuniäre Vorteile im Auge, so bin ich jedenfalls doch jetzt überzeugt, dass größtenteils das brennende Verlangen nach Macht, Einfluss und Ansehen die Triebfeder meiner Handlungen war, gibt Konsul Bernick gegen Ende der Stützen der Gesellschaft zu. Auch der napoleonisch gestimmte, jedoch glücklose Bankier John Gabriel Borkman (einer fratzenhaften Selbstkarikatur Ibsens) sieht sich als Stütze (sogar eher als Fundament) der Gesellschaft, deren Wohlstand er auf ein höheres Niveau heben will. Geradezu ausschließlich und besessen rotiert er jedoch um seinen eigenen, aus seiner eigenen archaischen Urtümlichkeit kommenden Willen zur Selbstbehauptung.

Ich war damals kaum erwachsen, aber ich fühlte die Kraft Gottes in mir, und ich meinte, der Herr selbst habe mich gezeichnet und mich auserkoren, offenbarte Ibsen einmal über sich selbst. Ibsen war als Künstler ein Willens- und Machtmensch. Mehr noch, opferte er alles der Arbeit an seinem Lebenswerk, das, wie ich unerschütterlich glaube und weiß, Gott mir auferlegt hat. Ein solcher Glauben an sich selbst und an seine Sendung ist bei einem Genie nichts Ungewöhnliches (außerdem auch nichts, was sich das Genie von den Nichtgenies ausreden lassen sollte). Eine derartige „Unerschütterlichkeit“ ist dann aber vielleicht doch nicht so gut. Sie behindert das Genie in seiner wertvollsten Gabe, seiner Versatilität, und sie interferiert erheblich mit der typischen Gelassenheit des Genies. Vor allem hat Unerschütterlichkeit auch etwas Unmenschliches. Man sagt, über das Privatleben von Henrik Ibsen gibt es kaum was zu berichten. Er sei ganz in seinem Werk aufgegangen. Menschen hat er ziemlich gemieden. Vielleicht war er recht eingeschränkt in seiner Genussfähigkeit. Die Menschen um sich habe er sich und seinem Schaffensdrang untergeordnet. Am Ende schämt er sich, seiner Frau in seinem Willen zum Werk, wie er meint, das Leben versaut zu haben. Er glaubt zu erkennen, nie „gelebt“ zu haben (ein Drang zu „leben“ beherrscht etliche Figuren im Ibsenschen Kosmos). Ja, –  was sehen wir da eigentlich? (wenn wir Toten erwachen) fragt Professor Rubek im gleichnamigen Fanal. Wir sehen, dass wir niemals gelebt haben, antwortet seine verflossene, verstoßene Liebe Irene. Es gewährt mir eine gewisse Befriedigung, so bekannt zu sein in den Ländern ringsum, aber ein Glücksgefühl bringt es mir nicht. Und was ist es schließlich wert, das Ganze?, gesteht Ibsen (eventuell ein wenig launenhaft) über sich selbst in einem Brief. Schon Ella Rentheim prophezeit John Gabriel Borkman: Niemals wirst du als Sieger Einzug halten in dein kaltes, finsteres Reich. Klar – denn wie sollte man in ein kaltes, finsteres Reich denn überhaupt auch als Sieger Einzug halten? So ein bisschen was von einem kalten, finsteren Reich hat das ganze dramatische Werk Henrik Ibsens.

Es ist keine revolutionäre Erkenntnis, dass die „Menschheits“- und „Gesellschaftsdramen“ von Henrik Ibsen in einem erheblichen Maße nach außen gewandte innere Dramen ihres Schöpfers sind. Dass die Figuren, die auftreten, Ibsensche Selbstprojektionen sind oder aber erhebliche Ich-Anteile von ihm verkörpern und illustrieren. All seine Dichtung beruhe darauf, was er selbst – zwar nicht notwendigerweise erlebt, aber doch – durchlebt habe, offenbart Ibsen. Daher kommt, wie man meint, auch der große psychologische Sinn bei Ibsen – weil diese („vermeintlich“) gesellschaftlichen Dramen innerliche psychologische Dramen bzw. Auseinandersetzungen und Vivisektionen sind. Literarisches Genie besteht darin, dass jemand seine Gedanken und psychologischen Zustände dermaßen objektivieren und auf eine solche Ebene der Analyse, der Abstraktion, der Konkretion und der Integration erheben kann, dass er damit so sinnvolle Aussagen über Mensch und Gesellschaft machen kann, dass es scheint, dass er das „Wesen“ von Mensch und Gesellschaft insgesamt durchschaut hätte. Einen solchen Fall hat man natürlich auch bei Ibsen. Es gibt dann aber größere und kleinere Genies. Den Reichtum und die Mannigfaltigkeit (und das Komödiantische) des Figuren- und Ideenkosmos von Shakespeare oder Dostojewski hat der Ibsensche dann nicht. Ich habe Ibsen früher für gigantisch gehalten, jetzt aber arbeite ich mich an der Laune ab, dass ich in seinen Dramen nicht einmal wirkliche Dramen sehen kann. Dramen sind etwas Dynamisches. Bei Ibsen hat man aber etwas beinahe Statisches, seine Dramen erscheinen wie ein bleierner Mantel, die er um seine Figuren und um die Welt legt – indem er alle in Schuld verwickelt. Bei Dante laufen Sünder in der Hölle in bleiernen Mänteln herum und sind mit ihnen beschwert. (Ibsen selbst ist in schweren Mänteln herumgegangen, als hätte er sich hinter ihnen verbergen wollen, genauso wie hinter seinem rauschenden Bart und Haar.) Groce macht es als große künstlerische Feinsinnigkeit bei Ibsen aus, dass man in seinen Dramen nie so genau weiß, wer eigentlich schuld ist. Man kann sich in seine Figuren meistens hineinversetzen und ihre Handlungen und ihre Motive verstehen. Umgekehrt führt diese nicht eindeutige Lokalisierbarkeit von Schuld aber auch irgendwie dazu, dass die Schuld so breit wie möglich gestreut wird und dass alle so ein wenig Schuld sind. Vielleicht hat die ständige Beschwörung der Schuldhaftigkeit bei Ibsen eine Wurzel auch in einer narzisstischen Selbstaufblähung. Auch dann aber irritiert die Omnipräsenz der schuldhaften Verstrickungen in seinem Universum; weist aber auch auf die schuldhafte Wurzel (der narzisstischen Selbstbezogenheit und sadomasochistischen Lust an der schuldbeladenen Selbstbespiegelung) ihrer selbst hin. Insofern die Ibsenschen Dramen so gesehen nicht ganz Dramen sind, ist die Ibsensche Tragik, aus der sein Weltbild scheinbar besteht, vielleicht nicht ganz Tragik. Tragik ist: Eine Figur, die auch gewinnen könnte, verliert. Bei Ibsen sind die Figuren aber kaum darauf angelegt, gewinnen zu können. Man hat bei Ibsen kein tragisches Universum, sondern ein sadistisches Universum. Es ist ein aggressives Universum, gegenüber seinen Bewohnern. Man hat bei Ibsen etwas Degradierendes gegenüber dem Menschen – was so wohl kaum in seiner Absicht gelegen ist. Johannes Rosmer auf jeden Fall zerbricht in Rosmersholm an seiner unerfüllbaren Lebensaufgabe, daran, dass er, wie er meint, doch nicht über die Fähigkeit verfügt, die Menschen zu adeln, er den Glauben daran verliert, dass es möglich ist, die Herzen zu läutern und zu veredeln, und bringt sich um (was schon wieder als unnötige Aggressivität irritiert).

Angesichts einer derartigen sadistischen (Auto-) Aggressivität verwundert es dann nicht, dass Ibsen dann ordentliche Gewissensbisse verspürt haben muss. Oder vielleicht noch mehr: Erinnere ich mich da an den einen Nachtschwärmer neulich um 2 Uhr früh in der Fledermaus, der mit allen Leuten aggressiv ins Gespräch kommen wollte. Er hasse sich selbst, hat er mir ganz unvermittelt und distanzlos erklärt: Klar, wenn man so aggressiv ist wie ich, muss man sich ja selbst hassen, ned wahr?

Wenn einer Gewissensbisse hat, sieht er überall Schuld – und will (zur eigenen Entlastung) überall Schuld sehen. Q.E.D.

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Einer der wichtigsten Texte in der Menschheitsgeschichte ist der Text von Otto Weininger über Henrik Ibsen. In dem geht es vor allem um das Menschheitsproblem, das der Peer Gynt aufwirft. Der Peer Gynt gilt als der „nordische Faust“, oder auch als „bizarre Satire“ auf den Faust (mein Rompf hinwiederum ist eine bizarre Satire auf den Peer Gynt). Zunächst einmal fungiert er als bizarre Satire auf die lethargische Rückständigkeit und Verträumtheit Norwegens zur damaligen Zeit. Darüber hinaus und vor allem sind aber sowohl Peer Gynt als auch Faust Figuren, anhand derer sich „Menschheitsprobleme“ illustrieren; beziehungsweise sind sie Figuren, in denen sich die Menschheit individualisiert. Sie sind beide auf der Suche nach einem „Selbst“, und sie sind beide auf der Suche danach (so wie die Ibsenschen Charaktere generell), das Leben zu beherrschen. Peer Gynt tut das auf triviale Weise: er will Reichtümer anhäufen, Macht, Annehmlichkeiten, er will Kaiser werden. Das Stück schildert praktisch sein ganzes Leben, in dem er zwar älter wird, aber nicht reifer. Peer Gynt strebt nach Ich-Genuss, der sich noch dazu vorwiegend in der Befriedigung seiner Eitelkeit vollzieht. Diese Egozentrik führt dazu, dass er im Wesentlichen durch äußere Gegenstände sich definieren lässt, und gar kein „Ich“ ausprägt, symbolisiert durch das Schälen einer Zwiebel, bei der man immer nur zu neuen Schalen, aber niemals zu einem Kern vorstößt.

Faust ist da gescheiter und reflektierter; er ist kein „Durchschnittsmensch“. Er ist mehr als nur ein Ego, er hat (in etwa) so etwas wie ein Selbst. Er strebt manisch nach Wissen, Bildung, Erfahrung; durch Wissen, Bildung, Erfahrung will man idealerweise Gegenstände in sich selbst ausprägen, eine Welt in sich werden, die dann auch in sich ruht. Aber Faust schafft das nicht ganz; da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor u. dergl. Irgendwie kann er keine prägenden Erfahrungen machen (wird also, in den Sinn, ebenfalls „älter, aber nicht reifer“), und bekanntlich auch nichts genießen. Er überschreibt, wie man weiß, dem Teufel seine Seele, sollte der ihm einen Augenblick verschaffen, von dem er wünschte, er würde verweilen. So gesehen hat der Faust gleichsam ein „leeres“ Selbst, das gewisse Funktionalitäten eines Selbst hat, aber nicht die Integriertheit (und das Integre) eines Selbst. Sowohl Peer Gynt als auch Faust sind einigermaßen (nicht vollständig, da sie ein bestimmtes Gewissen ja haben) amoralisch, egozentrisch und nihilistisch. Sie sind keine in sich integrierten Menschen, sie haben nicht wirklich ein Selbst.

Henrik Ibsen strebte nach Wahrheit und nach Aufrichtigkeit. Die Emanzipation von der Lebenslüge und das Übernehmen von moralischer Verantwortung durch das Individuum war sein Lebensthema und das durchgehende Thema seiner Literatur. Damit ein Individuum echte moralische Verantwortung übernehmen kann und in sich ausprägen kann, muss es sich dafür entscheiden. Wahrhafte Selbstentfaltung und das Übernehmen von moralischer Verantwortung des Individuums kann nur in Freiheit und auf der Basis von freien Entscheidungen stattfinden; eine authentische Entscheidung ist nur in Freiheit und selbstgewählt möglich (ansonsten ist sie ja mehr oder weniger aufgezwungen und ein Gegenstand, der mehr oder weniger von außen kommt). Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft; mit dieser Proklamation der Lona Hessel beschließt sich das gleichnamige Stück.

Auch Otto Weininger strebte nach Wahrheit und nach Freiheit und nach der Kultivierung eines moralisch kompetenten Ich: eines Selbst. Er war vom Peer Gynt begeistert. Ich wiederum bin von Otto Weininger begeistert: weil der, so weit ich sehen kann, es tatsächlich geschafft hat, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Die gleichzeitige Verwirklichung von Logik und Ethik ist der Imperativ, der Otto Weininger an das Subjekt aufstellt. Tatsächlich wird über die Verwirklichung von Logik als auch Ethik das Subjekt konsistent in sich und gegenüber sich selbst, sowohl als Individuum wie als Wesen einer Gesellschaft; es bringt seine Doppelnatur als Individual- wie als Kollektivwesen in Einklang und verwirklicht so sein Selbst. Ich finde das einfach wirklich sehr gut, obwohl ich mich mittlerweile nicht mehr davon übermannen lasse. Im Gegensatz dazu hat der Idealismus von Otto Weininger offensichtlich aggressive Züge. Vielleicht war er sogar wesenshaft Aggressivität. So gesehen hat Otto Weininger eventuell deswegen so gut mit Henrik Ibsen resoniert (er hat sogar extra Norwegisch gelernt, um Ibsen im Original zu lesen), weil sie sich in dieser Aggressivität (oder irgendetwas dergleichen, sagen wir halt zumindest: in dieser Angestrengtheit) ihres Idealismus ja offenbar getroffen haben. Noch ausgeprägter – in einer grotesken Weise ausgeprägt – war bei Otto Weininger die Besessenheit von Schuldgefühlen, die er da hin und dort hin reinprojiziert hat. Auch wenn man sich an diese Schuldkomplexe und ihre Projektionen mit rationalen Erklärungen annähern kann, versagen sie schließlich im Fall Weininger. Er – einer der absolut intelligentesten und einsichtigsten, intellektuell vielversprechendsten Menschen aller Zeiten und im persönlichen Umgang hochgradig harmlos – hat sich bekanntlich mit 23 Jahren erschossen: weil er sich für einen „Verbrecher“ gehalten hat.

(Im Übrigen warnt Otto Weininger in seinem Ibsen-Aufsatz auch davor, zu glauben, man könne die „Symbole“ eines Dichters eindeutig erklären und sie eindeutig psychologisch, soziologisch usw. rückverfolgen. Aber das wollen wir hier ja gar nicht tun. Wie immer, sind auch diese Reflexionen über Ibsen nur ein angeregtes Experiment.)

Ich sehe, ich habe scheinbar sehr viel Glück: dass meine Emotionalität gut funktioniert und dass ich eine transparente Persönlichkeit habe. So etliche andere haben es offenbar nicht so leicht, selbst wenn sie Genies sein sollten. Aber mein Werk ist im Wesentlichen ein einziges Gebet für sie.