Wie man mit dem Hammer über Nietzsche philosophiert

Philosophie sind Versuche des menschlichen Geistes, mit der Welt zurecht zu kommen; PhilosophInnen errichten geistige Gebilde von unterschiedlicher Qualität und Reichweite um die Welt zu interpretieren und zu verändern. Der große, systematische Philosoph sitzt auf dem Berggipfel, ein lächelnder Buddha, unter wohlig abgerundeter, harmonischer Sphäre, sein Auge erfasst die ganze Welt. Wir (stellen uns das vor und) blicken bewundernd zu ihm hinauf. Betrachte nun die Meta-Philosophen: Was, wenn eineR auf einem noch höheren Plateau, einem noch höheren Level der Analyse und Integration, der Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden sowie Individualitäten und Konkretheiten (die sich den bekannten Abstraktionen möglicherweise entziehen) zu identifizieren arbeitet? Kaum schießt ein Gedanke aus ihm raus, wird er schon vom nächsten, möglicherweise als paradox dazu konzipierten durchdrungen, und kommt kaum zur Ruhe, ewig ist seine Bewegung. Kaum stellt er ein System auf, hinterfragt er es schon wieder und wertet es um. Philosophie, ja, das ist so wie wenn dein Kopf sich auftut und ein Schmetterling fliegt heraus, mag die C. romantisieren; betrachte nun den Meta-Philosophen, wie er freudig-krawutisch der Schar seiner Gedanken-Schmetterlinge hinterherjagt, in den obersten Höhen, jenseits der Eisgebirge: kaum hat er einen eingefangen, droht schon wieder der nächste davonzuflattern. Das sind die Meta-Philosophen. Es hat große Vorteile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maße zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ozean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesamte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vorteil, sie besser im ganzen zu verstehen als die, welche sie nie verlassen haben. (Menschliches, Allzumenschliches 1 616) Das ist es, was die (philosophische) Kontemplation tut. Die meta-philosophische Kontemplation entrückt sich nicht nur von der Welt, um sie in den Griff zu bekommen, sondern sie befragt die Philosophie in ihrer Gesamtheit noch dazu. Seltsam und befremdlich, ein Geisterreich. Der Meta-Philosoph ist so seltsam, dass er kaum ein Mensch scheint. Er ist kaum, im herkömmlichen Sinn, jemals abgerundet. Eher hat man da eine Aura, ein Energiefeld, das sich fortwährend transformiert und verformt, nach vorne stürzt und sich gleichsam von Mensch und Welt abnabelt. Das sind die Konvulsionen der Meta-Philosophie.

Fünf Fuß breit Erde, Morgenrot

Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!

In seiner radikalen Abgenabeltheit ist der Meta-Philosoph radikal einsam, aber auch radikal, in der Sphäre des Noumenalen, frei, und unsterblich, und unzerstörbar. Das Menschliche ist ihm am fremdesten, das Menschliche ist keinem vertraut wie ihm. Meta-Philosophie: die radikale Befragung von allem, zum Zwecke der radikalen Feststellung und Festmachung von allem, ist etwas, was man überall finden mag. So wie jeder Mensch Philosoph sein mag, mag auch jeder Mensch (und jeder Philosoph) Meta-Philosoph sein. Das heißt allerdings nicht, dass jeder permanent Philosoph ist und urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, genauso wenig, wie jeder (Mensch oder Philosoph) permanent auf dem Level der Meta-Philosophie denkt und daher urtümlich Meta-Philosoph ist. Eigentlich nur, wer urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, ist Philosoph; nur wer urtümlich auf dem Level der Meta-Philosophie denkt, ist Meta-Philosoph. Meta-Philosophen kommen eventuell kaum vor. Der Impulsgeber des systematischen Philosophierens, das dann eben von Platon in eine Form gegossen wurde, war aber eben ein Meta-Philosoph: Sokrates. Wittgenstein, der Begründer und gleichzeitig Überwinder des linguistic turn in der Philosophie könnte in den Sinn kommen. Kierkegaard, der das Hegelsche System gesprengt hat und das Individuum befreit und an das außerweltlich-Absolute gekettet und aufgespannt hat, auch der. Vor allem aber Zarathustra; vor allem aber Friedrich Nietzsche.

Wenn Nietzsche nicht wäre, was wäre bloß aus uns? Weder wer wir sind, noch was uns umgibt, noch was aus beidem werden kann, ist etwas, was klar wäre. So leben wir in Gleichmut und Dunkelheit. Dann und wann kommt jemand, der/die Licht anzündet. Hin und wieder, ganz selten, jemand, der die Sonne selbst ist, einen plötzlichen, gewaltvollen Blitz zündet und so unsere Augen öffnet und unsere Ohren: dann ist es für uns Tag. Zarathustra war so einer. Schau, wie er zu dir spricht, um dich aus deiner Unmündigkeit zu befreien! Die lebendige Anrede des Du! Einerseits pathetisch wie sonst nichts, andererseits empathisch wie sonst nichts. Beides ist leidenschaftlich und erreicht dich in deiner Leidenschaftlichkeit – denn es geht um dich! Zarathustra lehrt dich, Fragen zu stellen, Zarathustra lehrt dich, Antworten zu suchen, das Dunkel zu lichten, im Dunkel ohne Furcht zu navigieren. Er meint es grundgut mit dir, er will nur das Beste für dich, und ist darin, notwendigerweise, pathetisch wie sonst keiner und empathisch wie sonst keiner. Du selbst wirst zum Pathos erhoben! Du selbst wirst von unendlicher Wichtigkeit, und dein Weg, der vor dir liegt! Werde, der du bist… Er zerstört die Religion, er nimmt dir Gott; aber ist der Adel, die Wichtigkeit, die Zarathustra dir verleiht, nicht von höherem Wert als die Würde, die die Religion verleiht? Dieser Eingang, vor dem der Zarathustra-Türhüter steht, scheint immer nur für dich bestimmt. Was Zarathustra sagt, ist (wie du selbst) ohne Vorbild. Zarathustra zitiert nicht, Nietzsche zitiert kaum.

Ich wohne in meinem eigenen Haus,

Hab Niemandem nie nichts nachgemacht

Und – lachte doch noch jeden aus,

Der nicht sich selber ausgelacht.

Der originellste Denker und Empfinder vielleicht von allen. Das höchste Welt-Sensorium vielleicht von allen. Zumindest einer der höchsten Dichter. Schau, wie in seinen schön und plastisch formulierten Aphorismen die Verschachtelungen sichtbar werden, die Komplexitäten, die Dimensionen! Was er nicht alles zu sehen imstande, was er nicht alles zu erfassen imstande ist – und vor allem: was er nicht alles davon empfindet! Kannst du da mithalten? Wenn Zarathustra nicht aus seiner Höhle getreten wäre, wir wären in unserer immer noch drin. Wenn Nietzsche nicht wäre, wir könnten uns gegenseitig willkommen heißen im Club der Geistlosen, ja das ist ganz klar. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss. Wer könnte, darin, ein besserer Freund sein, als Zarathustra? Erden-Floh bleibt derjenige, an dem Zarathustra nicht vorbei ging! Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb ich dich! Ohne Nietzsche wäre ich aufgeschmissen. Ohne Nietzsche wäre die Kulturgeschichte aufgeschmissen. Und was sagt er nicht alles der Kultur, was sagt er nicht alles, ruft nicht alles zu der Kunst? Er, der Bastard, der himmlische Hermaphrodit des Erklärenden und Verklärenden, von Dionysos und Apoll, der Künstler-Philosoph! Er etabliert eine “künstlerische” Metaphysik und versetzt uns in einen Rausch, einen Taumel des Erkennens, dem wir uns umso lieber aussetzen. Und indem er eine “künstlerische” Metaphysik etabliert, kann es natürlich auch keinen anderen Ausweg aus diesem Labyrinth geben, als eben die Kunst! Und wir alle lieben die Kunst. Die Kunst ist für ihn das Mittel, die a-logische Welt auf die Ebene des Logos, in die über-logische Welt der Sphären zu heben, den klaffenden, zähnefletschenden, mahlenden Abgrund mit der himmlischen kreativen Sphäre zu überdecken. Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit. Großer Liebender, Großer Ernstnehmender der Kunst (wo bist du heute? Dein Urteil wäre umso notwendiger… doch dein Urteil fehlt)! Nach dem Tod Gottes befreit er den starrten Eispalast des Seins in die Unschuld des Werdens – alles wird Bewegung und Dynamik. Gleichzeitig hat niemand die metaphysische Katastrophe vom Tod Gottes so ernst genommen wie er, und niemand im fröhlichen Farbenspiel des Werdens, der Evolution, das Chaos und den Abgrund, die Instabilität und die Gewalt gesehen. Mithilfe seiner rasenden Intelligenz kommt er der befreiten Welt entgegen und versucht sie – lehrt sie! – in den Griff zu bekommen über das experimentelle Denken, den Perspektivismus, der die Facettenhaftigkeit der realen Welt einerseits betrachtet und den Möglichkeitscharakter der Welt – als reale und radikale Wirklichkeit – umso schärfer ins Auge fasst. Sein Geist ist so groß, überschreitet die Welt so sehr, dass für ihn die Welt zum Experiment wird. Tausende Spekulationen, Millionen von Spekulationen stellt er an, sich an der Tiefe der Welt erfreuend, wie an der Tiefe seines eigenen Geistes und seiner eigenen Seele – und er hellt darin unsere Tiefen auf! Macht uns unserer eigenen Tiefen bewusst! Der Mensch wird für ihn zum bloßen Experiment – im Hinblick auf das ultimative Experiment, den Sinn der Erde: den Übermenschen, der über das Dasein triumphiert! Dem eigentlichen Telos von dir und mir: denn der Übermensch ist das Telos von dir und mir. Er – Zarathustra, Nietzsche – richtet sich an alle und er richtet sich, da er außermenschliche Ideale aufstellt, an keinen. Wer aber ewig strebend sich bemüht, den können sie erlösen. Extremer Verkünder und Prophet! Bescheidener Mitmensch und Einzelgänger; Wanderer allein mit seinem eigenen Schatten, der keinem auf die Zehen tritt und jemals treten will – wenn es passiert, entschuldigt er sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Er nimmt sich zurück. Wenn er seine „Weibs-Wahrheiten“ verkündet, stellt er voran, dass es eben nur seine Weibs-Wahrheiten seien. So sehr ist er in der Lage, sich aus sich selbst herauszustellen! So weit ist er in der Lage, zwischen sich und anderem in sich zu differenzieren! Nein, wie erleuchtet, der große Ja-Sager, nein, wie vieldeutig! Unüberschaubar sein Maulwurfsbau, den er, einer der wenigen, uneitlen Maulwürfe, die sich durch das Dasein und seine großen Fragen graben, die es umgraben wollen, gegraben hat! Nietzsche hat, indem er seine eigenen Tiefen durchleuchtet hat, das Wissen des Menschen auf ein neues Allgemeines gehoben. Er hat neue Verständigungsmöglichkeiten geschaffen. Er hat in die kommenden zwei Jahrhundert geblickt!  Er hat das Verständnis von Mensch und Welt aus den Angeln gehoben. Er ist ständig explodiert und verursacht erhebende Explosionen in uns, wenn wir ihn lesen, wenn wir ihn uns vergegenwärtigen; er lässt es in der Kulturgeschichte explodieren! Kein Mensch: Dynamit! Unvorsichtiges Kind soll nicht – kann nicht – mit diesem Feuer spielen: Nietzsche ist nichts für Nicht-Denkende! Nietzsche ist nichts für solche, die lieber im Verborgenen bleiben wollen! Nietzsche ist nichts für Ressentiment-Menschen. Und nichts für Faschisten. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel anfangen … er ist nicht mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von Leni Riefenstahl gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde (vgl. Prideaux S.481).

Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 26) Zarathustra, der große Anti-Totalitäre. Der Befreier des Denkens, der Befreier der Seele des Denkens, der Philosophie, aus dem Gefängnis der Systemhaftigkeit! Nietzsche bringt uns das Denken bei, das Philosophieren bei, ja, er zeigt uns, wie Denken, Empfinden, Getriebensein und sich Sichtreibenlassen, Strömen u. dergl. mehr eine leidenschaftliche Einheit bilden! Die sich ohne weiteres über das Pathos ausdrücken darf, ja, ausdrücken soll! Deren lebendige Rede und Anrede und ihre Aphorismenhaftigkeit notwendig sind! Nietzsche wird dann und wann – eigentlich gar nicht einmal so selten – als „schwacher Denker“ und als „fragmentarischer Denker“ abgetan. Er stellt kein Erzgebirge hin an Monumentalem, Unüberwindlichem, wie Kant, wie Hegel. Denken aber, an sich, ist etwas Schwaches. Es ist vorsichtig, tastend, tappt letztendlich fortwährend im Dunkeln und kommt nie zu seinem eigentlichen Ziel, seine Siege bleiben Etappensiege. Je größer man als Denker ist, und je mehr man das Denken als Notwendigkeit empfindet, desto stärker ist man sich dessen bewusst. Nietzsche hat viel über die Stärken und Schwächen des Denkens nachgedacht und uns mitgeteilt – dafür lieben ihn die starken Denker (vielleicht aber nicht eben die schwachen). Sein aphoristischer Stil ab Menschliches, Allzumenschliches war ursprünglich seiner schlechten Gesundheit und seinem Augenleiden geschuldet: Es wurde für ihn zu anstrengend, längere Texte am Stück zu verfassen, also musste er sich „telegrammartig“ ausdrücken, woraus dann der aphoristische Stil entsprang. Fernando Pessoa hat es bedauert, „nur Fragmente“ verfassen zu können. Wie sollen Geister und Sensorien wie Pessoa, wie Nietzsche, die die Welt so umfassend wahrnehmen, für die Beliebiges plötzlich herausspringt und sich aufdrängt, bevor es wieder hinter etwas anderem verschwindet, die Welt aber anders wahrzunehmen und zu Beschreiben imstande sein als „fragmentarisch“? Das „Fragmentarische“ ist die notwendige Erscheinungsform der Super Sanity. Zwischen den differenzierenden, in Aphorismen gegossenen Ausformulierungen, diesen Gedanken-Inseln, kommt das undifferenzierte Licht der Welt an sich, das ihrer unendlichen Aussagbarkeit, zum Vorschein, wo der momumentale, unüberwindliche Text dieses Licht gerne verbergen will, um sich seiner Totalität und Monumentalität zu erfreuen. Aber das, was der momumentale, systematisch-geschlossene Text versucht zu verdecken, in das „Systemirrelevante“ zu verdrängen, kommt früher oder später zum Vorschein: und wie steht der monumentale, unüberwindliche Text dann da? Der „fragmentarische“ Text, das „aphoristische“ Denken kann wohl eleganter, mimetischer damit umgehen, mit der ewigen Offenheit der Welt. Mit der ewigen Tiefe der Welt. Der fragmentarische Text knallt kein Massiv hin, sondern lässt implizit Schleichwege offen, über die man eventuell durch das Massiv kommt, das ganze Massiv vielleicht, siegreich, unter sich lässt.

Nicht mehr zurück? Und nicht hinan?

Auch für die Gemse keine Bahn?

So wart ich hier und fasse fest,

Was Aug und Hand mich fassen läßt!

Fünf Fuß breit Erde, Morgenrot,

Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!

Der fragmentarische Text ist der notwendige Text des Wanderers und seines Schattens. Die Welt stellt der Wanderer tief unter sich, erlebt sie als tief unter sich: Weil er aber, wie kein anderer, empfindet: Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht! Nietzsche empfindet, wie kaum ein anderer, die Tiefe der Welt, die der Tag nicht erfassen kann. Je mehr er in diese Tiefen steigt, ehrfurchtsvoll und furchtlos, desto mehr kommt er schließlich über die Welt hinaus; schließlich steht er in einer metastabilen Position über der Welt und ihren Tiefen, die er ermessen hat – die aber nach wie vor da sind, und die ihn, wie er natürlich weiß, aus dieser metastabilen Position herausreißen und sein Schiff zum Kentern bringen können. Letztendlich wird es, aufgrund der Endlichkeit von Mensch und Welt, unweigerlich dazu kommen. Dabei hat sich die Welt dem Weltüberwinder gegenüber allerdings nicht als etwas Stärkeres oder Gefährlicheres erwiesen, es ist nur irgendwas passiert, was auch genauso gut (gerade) hätte nicht passieren müssen. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht; es geht aber eben darum, dass man das selber auch tief, und tiefer als der Tag wird. Das ist der Sinn der Philosophie Nietzsches. Das ist die Lehre von Zarathustra. – Aus seiner Position der Höhe, aus hohen Bergen, lässt es Zarathustra-Nietzsche herabschneien, seine zahllosen Weisheiten. Immer wieder glaubt man zu spüren, wie diese, in Aphorismen gegossenen Weisheiten einerseits präzise und rational und intuitiv, andererseits locker und phantastisch und scheinbar allzu spontan scheinen. Hat Nietzsche das Wesen einer Sache erfasst und dabei auf einen Grund geblickt, der uns verborgen war? Ist er sogar so klug und lässt es von so hohem Berge herabschneien, dass die Welt für ihn gar nicht genug ist? Sind seine Einschätzungen und ist seine Philosophie eine Überinterpretation der Welt, in der er Tiefen vermutet, die real gar nicht vorhanden sind? Der Genius ist das als rein anschauend Vorgestellte: was schaut der Genius an? Die Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen. Der Mensch, der Nicht-Genius, schaut die Erscheinung als Realität an oder wird so vorgestellt: die vorgestellte Realität – als das vorgestellte Seiende – übt eine ähnliche Kraft wie das absolute Sein: Schmerz und Widerspruch. (Nachlass Ende 1870 – April 1971, 7(172)) Der Genius erfreut sich nicht allein (oder: vielleicht weniger) an der Welt, sondern am Spiel der reinen Erscheinungen. Laut Schopenhauer ist der Genius derjenige, der Erscheinungen losgelöst von der ihnen zugrunde liegenden Realität und ihrer Zweckhaftigkeit enthoben anzusehen imstande ist. Diese Welt der Erscheinungen ist für ihn genauso präsent wie die „reale“ Welt, und so kann er neue Verbindungen (allerdings auch neue Täuschungen und Illusionen) in die Welt bringen. Indem er die Erscheinungen rein anschaut, schaut der Genius nicht zuletzt sein eigenes Vorstellungs- und Anschauungsvermögen an. Und so mag Nietzsche sein eigener Gaul immer wieder ein wenig durchgehen. Lou Salomé bemerkt dazu aber, dass Nietzsche einfach ein weniger genauer und präziser Denker gewesen sei, als sein ungenialer, aber wissenschaftlicherer und rationalerer Freund Paul Rée (Lou Salomé S.152). Es gibt also nicht nur atombombengleiche Fähigkeiten in Nietzsche, sondern auch Unfähigkeiten. Seinen Genius hat er vielleicht darauf verwendet, diese Unfähigkeiten zu verklären? Als Psychologe verdächtigt er immer Unfähigkeiten als Ding an sich hinter Erscheinungsformen von Fähigkeit – wurde er vielleicht sogar aus diesem Grunde Psychologe? – Philosophische Systeme, um darauf zurückzukommen, wurden spätestens in der Postmoderne arg verpönt, sie haben allerdings einen guten Grund, wenn man fragmentierte Wirklichkeit mehr als nur fragmentiert erklären will, und nicht nur allgemeingültige Erklärungen sondern auch allgemeingültige Normen ableiten will. Nietzsche hat es aber eben nicht geschafft, systematisch zu philosophieren; seine Versuche, seine Philosophie großangelegt-systematisch darzustellen (über Der Wille zur Macht und dann Die Umwertung der Werte) sind im Sand verlaufen. Und Nietzsche hat es nicht geschafft, allgemeingültige Normen zu formulieren oder die Gesellschaft überhaupt allgemeingültig zu erfassen; in einem subjektivistischen aristokratisch-faschistischen Selbststeigerungs- und Selbstermächtigungsrausch hat er die Werte ständig umgewertet und er wusste, da er Ich und Welt nicht verbinden konnte, nicht mehr wirklich, wohin. Kaum einer war so skandalös darin, kaum einer hat begriffen, was echte Selbststeigerung und was echter aristokratischer Adel der Seele ist. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel anfangen … er ist nicht mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von Leni Riefenstahl gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde.

Die Philosophie von Nietzsche ist ein eigentliches Hybrid von Subjektivität und Objektivität. Für einen Philosophen, und erst recht für einen Philologen, stellt er sich selbst und seine idiosynkratischen Ansichten bedeutungsvoll heraus und verstößt so offensichtlich gegen das Ethos objektiver Wissenschaftlichkeit (was ihm in seiner akademischen Karriere nicht zugute gekommen ist). Für einen Dichter und Künstler, und auch für einen Philosophen und Wissenschaftler, nimmt er sich in seinem Erkennenwollen dann aber wieder so leidenschaftlich zurück und weist dem objektiven Erkenntnisstreben einen so überragenden Platz zu, dass man sich selber als der wahre Eitle und Großtuerische ertappt fühlen mag. Safranksi bemerkt: kein anderer Philosoph hat so oft „Ich“ gesagt und von sich selbst gesprochen wie Nietzsche (mit der Ausnahme vielleicht von mir). War er ein ganz ein Eingebildeter und dem Größenwahn schon immer Verfallener? Oder ist gerade sein oftmaliges Sprechen von sich selbst, sein „Ich“-Sagen, Zeichen der höchsten Philosophie und Reflexion – die notwendigerweise die lebhafte Selbstreflexion miteinschließen muss? Ist seine Verortung des Menschen, des Subjekts in der Welt – als der zentralen Aufgabe der Philosophie – umso deutlicher, plastischer, mitfühlender und mitreißender als bei so gut wie allen anderen Philosophen, weil er eben von sich – und damit genauso gut von Dir spricht? Ist ein notwendiges Korrelat zum antiautoriären Perspektivismus als fortschrittlicher, toleranter Philosophie eben nicht die Betonung des Subjekts, das diese Perspektiven allein errichten mag? Muss ein radikal fragendes und philosophierendes Ich nicht ein irgendwie auch radikales, auffälliges Ich sein? Kein anderer Philosoph würde einem aber auch einfallen, der seinen Status des radikalen philosophischen Suchens und Fragens so intensiv und leidenschaftlich empfunden hat (selbst Kierkegaard, Wittgenstein oder Pascal bleiben in ihrem Ausdruck im Vergleich zu Nietzsche geradezu nüchtern). In Nietzsche pflegten die abstractesten Gedanken sich in Gefühlsmächte umzusetzen, die ihn mit unmittelbarer und unberechenbarer Gewalt fortrissen. (Lou Salomé S.95) Daher rührt auch Nietzsches großes Charisma, gegen das jenes der anderen mehr oder weniger verblasst. Bescheiden und gequält meint er:  Ich habe fast jeden Tag zwei bis drei Stunden diktiert, aber meine „Philosophie“, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtiert, so zu nennen, ist nicht mehr mitteilbar, zumindest nicht durch Druck. (Brief an Overbeck 2. Juli 1885) Ein intensiv um die Feststellung des Objektiven ringendes Subjekt also scheinbar, dass sich in diesem Ringen also umso mehr subjektiv spürt. Gleichzeitig ringt es vielleicht aber weniger mit der Welt, sondern mit sich, und mit seinen Selbstprojektionen in die Welt hinein, die, aufgrund von Diskrepanzen, unphilosophisch werden und, weil ein rationaler Kern fehlt, nicht mehr mitteilbar sind? — Das Gefühl seiner Ichheit ist bei Nietzsche auf jeden Fall aber früh erwacht. Im Alter von zwölf Jahren beginnt Nietzsche Tagebuch und darin ausführlich über sich selbst zu schreiben, und bis in seine Studentenzeit wird er immer wieder autobiographische Abhandlungen verfassen, über die eine erhebliche Bezogenheit auf sich selbst, vielleicht auch Verliebtheit in sich selbst, zumindest aber Faszination über sich selbst zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig haben sie den Charakter von Versuchen der nachdenklichen Vergegenwärtigung von sich selbst und dem Ziehen einer bisherigen objektiven Bilanz über sich selbst – und allgemein auch ganz einfach den von Schreibversuchen. Im Alter von vierzehn Jahren dichtet er:

Ein Spiegel ist das Leben.

In ihm sich zu erkennen,

Möcht ich das erste nennen,

Wonach wir auch nur streben.!!

Ein geborener Philosoph, ein geborener Metaphysiker also. Im Gegensatz zu den meisten bescheiden Auftretenden ist da deutlich mehr Weltbezug in diesem Selbst. Bereits als Kind trachtet Nietzsche danach, sich ein „Universalwissen“ anzueignen. Ein voluminöses Selbst also, weil in diesem Selbst mehr (Bezug zur) Welt ist; ein Selbst, das von der Welt besessen ist und daher, wie bei großen Künstlern gemeinhin der Fall, auch von sich selbst – nicht zuletzt als Sensorium für diese Welt – einigermaßen besessen sein darf und ist. Dass er bei all seinem dichterischen Feuer und seiner Pathetik ein geradezu verschwindendes, wasserhaftes Ego hat, das in die Welt hinein entfließt, das indifferente Ego des wissenschaftlichen Menschen, wenn nicht gar eines tibetischen Lama, macht er auch immer wieder (glaubhaft) deutlich: Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen Vortheil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachtheilen nicht aus, die sie mir bringen (Nachlass November 1887 – März 1888, 11(300)) Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen- – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. (Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5(184)) Was ich an mir vermisse: jenes tiefe Interesse für mich selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgibt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht. (Nachlass Ende 1880, 7(100)) Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas „wollen“, nach etwas „streben“, einen „Zweck“, einen „Wunsch“ im Auge haben – das alles kenne ich nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 9) Diese Münze, mit der alle Welt bezahlt, Ruhm – mit Handschuhen fasse ich diese Münze an, mit Ekel trete ich sie unter mich. (Ruhm und Ewigkeit) Die Eitelkeit, der Selbstbezug, die Egozentrik treten aber in vielfältigen, und gemeinhin verborgenen Formen auf, und gerade als Psychologe wird Nietzsche erhebliche Energien darauf verwenden, niedere Motive hinter glänzenden Erscheinungen aufzuspüren (was seinerseits als Hinweis für Psychologen begriffen werden könnte). Vor allem aber ist es auch so, dass verschiedenste Wünsche und Motivationen in einer Person ja auch koexistieren können, und so auch Eitelkeiten und Gleichgültigkeiten gleichermaßen: warum also nicht auch bei Nietzsche? Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind – das allein ist der gute Hang! (…) Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zu Anderen!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem „Angenehmen“ und Unangenehmen „Wahre“ ist die höchste – darum Seltenste bisher! (Nachlass Frühjahr – Herbst 1881, 11(10)) Das neutrale sachliche Sehen ist aber eine Anstrengung, die das Ich unternimmt. Je neutraler und sachlicher es sehen will, desto mehr muss es sich herausnehmen – indem es sich selbst in seiner Relativität in den Erkenntnis-Regelkreis miteinbezieht, sich selbst und seiner Relativität gewahr wird. Es redet viel von sich und denkt viel an sich, weil es sich selbst nicht anders loswerden und aus dem Blickfeld bekommen kann. So allein ist ein perspektivistisches Sehen möglich und eine Philosophie des Perspektivismus – denn die (soziale) Realität kann man nur dann am besten umfassend und objektiv begreifen, wenn man möglichst viele Perspektiven auf sie errichten kann: und das eben durch das neutrale sachliche Sehen. Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie große Lerner und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. (Morgenröte 540) Künstler, und genauso wenig Philosophen und religiöse Naturen stellt Nietzsche nicht notwendigerweise an die Spitze der Erkenntnis-Subjekthaftigkeit: die Eitelkeit, das Rechthabenwollen, die Schwärmerei mögen ihrem neutralen sachlichen Sehen entgegenarbeiten. Denker, die still ihre Maulwurfslöcher graben, seien die eigentlichen Denker und wissenschaftlichen Arbeiter in jenem Sinn (ebenda 41). Maulwürfe sind blind und auf sich selbst zurückgeworfen, auch und vor allem in ihrem Maulwurfsgängegraben. Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eignen Wege“ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muss er allein fertig werden. (ebenda, Vorrede 2) Der philosophische Maulwurf ist also urtümlich der Mensch mit sich allein. Er findet sich immer wieder, da er sich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen findet. – Ja, all das kenne ich sehr gut! Ich spreche in meinen hochintellektuellen Schriften ja auch immer wieder von mir selbst, und schäme mich auch immer wieder ein wenig dafür. Das Geheimnis dahinter ist aber das: Mein ganzes Trachten gilt der objektiven Erkenntnis der Welt. Das „Ego“ wiederum ist der Antipode dazu, und der Antipode zur Ethik und zum guten moralischen Durchnavigieren durch die Welt, die durch die gute Subjektivität gestaltet und verbessert werden kann und soll. Gerade aber wenn ich versuche, mir die Welt möglichst objektiv und unparteiisch zu vergegenwärtigen, erlebe ich mich letztendlich auf mich selbst zurückgeworfen, dem Umstand dass ich es bin, der versucht, die Welt – ein großes Außerhalb – festzustellen. Und ich versuche, die Welt ganz grundsätzlich festzustellen, mit einem tiefen Spaten tief in das Erdreich reinzugraben. Auf dem Level der Meta-Philosophie wird also beides radikal, und beides rein: das Subjekt und die Objektivität der Welt, treten wechselseitig immer mehr zum Vorschein. Es geht bei diesem Unternehmen darum, Traditionen, Theorien und Ideologien, das, was als Vorstellungsformen also vorhanden ist, zu durchdringen und diese hinter sich zu lassen (bzw. auf dem Level der Meta-Philosophie die Philosophie insgesamt), um zu reinen Anschauungen vorzudringen: um auf dieser Basis umso mehr neue reine Ideen und reine Begriffe und Konzepte entwickeln zu können. In diesem Vakuum der Reinheit bin ich also ganz auf mich selbst zurückgeworfen. Gleichzeitig erlebe ich die reine Welt. Objektivität und Subjektivität und deren Betonung gleichermaßen ist letztendlich der geschlossene Regelkreis des Selbst- und Weltbezuges. Die Objektivität und meine Subjektivität erlebe ich dann als „transzendent“ gegenüber ihren scheinbar vordergründigen und scheinbar hintergründigen Manifestationen. Sie werden, an sich, zu Möglichkeitsräumen, in denen man, über die Errichtung von Perspektiven, konkrete Wirklichkeiten betrachten oder imaginieren, und dann eben umso besser aussortieren kann. Dieses Schwert stoße ich, der geheimnisvolle Wanderer, in die Weltesche. Wer ist derjenige, der es herausziehen kann?

Nietzsche und sein Größenwahn. Alle Bücher, die er je veröffentlicht, große Klassiker der Weltliteratur und essentiell in der Philosophie! Im, mehr oder weniger, jährlichen Rhythmus rausgeschossen, jedes davon vollgepackt mit Inhalt, und noch dazu mit Inhalt der erstaunlichsten Art, getreu seinem Vorsatz, er wolle in einem Aphorismus so viel sagen wie andere in einem ganzen Buch! Ein Vulkan, der ständig ausbricht! Kannst du das aushalten? Kannst du das nachvollziehen? Schau dir doch mal die Aphorismen von Oscar Wilde an, oder die von Goethe!, sagen der Roman und der Bernhard zu mir. Naja, aber Nietzsche schlägt mit den seinigen alle. Ein Vulkan, der ständig Lava ganz weit rauf in die Atmosphäre ausspeit, permanent! Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht – mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 44) Wie soll sich so einer nicht als so was wie ein Übermensch vorkommen? Das ist ja ganz naheliegend! Dass er an Eigenlob nicht gespart hat, mag man beargwöhnen, und es wäre von seiner Seite her keine unmittelbare Notwendigkeit dafür bestanden – was aber will man jenem Eigenlob jetzt inhaltlich entgegensetzen? Ich selber kenne in keiner Litteratur Bücher, welche diesen Reichthum an seelischen Erfahrungen hätten, und dies vom Größten bis zum Kleinsten und Raffiniertesten. Daß dies außer mir im Grunde Niemand sieht und weiß, hängt an der Thatsache, daß ich verurtheilt bin, in einer Zeit zu leben, wo das Rhinozeros blüht, und noch dazu unter einem Volke, welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch jede Vorschulung fehlt (einen Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen hat!!). Wenn ich denke, daß solche M(enschen) wie R(ohde) sich im Grunde wie Hornvieh gegen mich benommen haben:  was soll eigentlich – (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887, 5(79)) Warum ich so gute Bücher schreibe… Wenn Ecce homo als Autobiographie bezeichnet wird, die an Selbstverherrlichung ohne Beispiel in der Literaturgeschichte ist; naja, ist diese Selbstverherrlichung denn nicht berechtigt (nicht zuletzt auch wegen der glasklaren und hohen und sicheren Gedankenführung innerhalb einer ansonsten rauschähnlichen und orgiastischen Schreibe)? Wenn Nietzsche (kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch) seinem Verleger zu dem „Privileg“ gratuliert, die Werke des „Ersten Menschen aller Zeiten“ (erfolglos) im Programm zu haben, stimmt´s denn nicht? Eventuell mag einem Goethe in den Sinn kommen, wenn man an einen möglichen Ersten Menschen aller Zeiten denke, doch: „Es ist gewiß hier seit Goethe noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht so prinzipielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen.“ (an Gast 5.10.1879) (zitiert bei Jaspers S.47). Ein gutes Jahrzehnt später scheint er sich dann seiner Sache noch sicherer zu sein: Daß ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu atmen wissen würde, daß Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloß ein Gläubiger ist und nicht einer, der die Wahrheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal, daß die Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen, das ist alles das wenigste und gibt keinen Begriff von der Distanz, von der azurnen Einsamkeit, in der dies Werk lebt. (Ecce homo, Also sprach Zarathustra 6) Ja, und freilich, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, daß der Verfasser von „Menschliches, Allzumenschliches“ der Visionär der Zarathustra ist. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 4) Wenn er sagt, er sei kein Mensch, er sei Dynamit: hat er eine entsprechende geistige Sprengkraft denn nicht entfaltet? Ja, wenn er Goethe übersteigt, den Universalmenschen, ist er dann überhaupt noch ein Mensch – oder so etwas wie eine transzendente Figur? Er ist es schon, denn wo Goethes Gedanken alle Welt betreffen, übersteigen sie bei Nietzsche alle Welt. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht: aber die Geistseele von Nietzsche ist eben/offensichtlich noch tiefer! Nietzsche (oder auch Schopenhauer) hat die Welt (im Gegensatz zu dem darin erfolglos bleibenden Faust) so vollständig geistig und seelisch durchdrungen, dass er sie unter sich gelassen hat – und so in einem Reich der absoluten noumenalen Freiheit lebt. Das ist, sozusagen, der Himmel; das ist, sozusagen, das Nirwana. Nietzsche mag größenwahnsinnige Tendenzen gehabt haben, aber er war auch – und vor allem – erleuchtet. Der Erleuchtete und der Welt-Überwinder hat einen riesigen Raum in sich und daher auch eine riesige Sprache um diesen Raum für sich und andere auszudrücken und zu durchmessen. Es man einen befremden (zumindest mich hat es das ursprünglich getan), wenn Prinz Gotama sich ohne große Not als „ich bin der höchste und heiligste Buddha“ Gehör verschaffen will: aber er ist eben der (höchste und heiligste) Buddha. Er hat die Welt überwunden;  er ist höher und heiliger als die Welt. Er hat extreme Anstrengungen dafür unternommen. Er darf sich als „der höchste und heiligste Buddha“ bezeichnen. Ich habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire — es hängt von den Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim „Wesen der Dinge“ – ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indischen wäre. (Nachlass Juli – August 1882,  4(2))

Allüberwindend bin ich und allwissend;

Von allem, was da ist, bin unbefleckt ich.

Allosgelöst, befreit durch Durstvernichtung,

Erkenner bin ich selbst – wem sollt ich folgen?

Mein Lehrer kann niemand heißen;

Meinesgleichen nicht findet man.

An Hoheit kommt mir gleich niemand

Hienieden und im Götterreich.

Denn ich bin in der Welt heilig,

Ein Meister, über den nichts geht;

Höchster Buddha allein, weil` ich

In des Nirvana kühlem Reich.

Friedrich Nietzsche ist vielleicht der größte Philosoph, den die Welt je gesehen hat (…) Seine Philosophie kommt nicht nur aus dem Kopf, sondern ist tief im Herzen verwurzelt, und ein paar Wurzeln reichen sogar tief hinunter bis in den Kern seines Seins. Das Unglück mit ihm ist nur, daß er im Westen geboren wurde – das sagt dazu Osho/Bhagwan(S.11). Bhagwan war eine Art Zarathustra des zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bezeichnet ihn als einen „Wittgenstein der Religion“, einen Meta-Reflektierer von Religion (oder aber parallel zum Meta-Philosophen wäre er eine meta-religiöse, meta-heilige Gestalt). Bhagwan spricht viel über Nietzsche, und er zeiht Nietzsche, reich an Geist, aber arm an Leben gewesen zu sein – sein Unglück sei, dass er im Westen geboren wurde. Einen aristokratischen Brahmanen sieht er nicht in ihm: Der Mensch ist so taub, so blind, daß es für ihn praktisch unmöglich ist, Menschen zu verstehen, die von höheren Bewußtseinsebenen herab reden. Er hört den Schall, aber der Sinn trägt nicht bis zu ihm. Nietzsche ist in dieser Hinsicht einmalig. Er hätte ein außergewöhnlicher, sehr übermenschlicher Philosoph bleiben können. Aber er vergißt keinen Augenblick lang den gewöhnlichen Menschen. Das ist seine Größe. Obwohl er nicht an die höchsten Gipfel gerührt hat und er die größten Mysterien nicht erfahren hat, treibt ihn dennoch das Verlangen, alles Erfahrene mit seinen Mitmenschen zu teilen. Sein Wunsch, mit anderen zu teilen, ist ungeheuer. (ebenda, S.12) Nietzsche selber bekennt: Ich möchte der Welt ihren herzbrechenden Charakter nehmen (Nachlass Juli – August 1882, 4(34)) Das ist das gute Prinzip! Wie aber nimmt man der Welt ihren herzbrechenden Charakter? Indem man das Herz unendlich vergrößert, oder aber den Geist, auf dass er die Welt überschreitet. Nietzsches Bewegung und Zarathustras Bemühen war ja dahingehend … Und es gibt Mondsüchtige, sagt Bhagwan, die immer nur nach dem Weitentferntem, dem Entlegenen suchen, und sie bewegen sich immer nur in der Einbildung. Große Dichter, einbildungsstarke Menschen – ihr ganzes Ego ist ins Werden verstrickt. Einer ist da, der Gott werden will – der Mystiker (…) Ein Buddha (aber) ist einer, der in die Erfahrungen des Lebens, ins Feuer des Lebens, in die Hölle des Lebens eingetaucht ist und sei Ego zu seiner höchsten Möglichkeit, zum äußersten Höchstmaß ausgereift hat. Und genau in dem Moment fällt das Ego ab und verschwindet (…) Es gibt sieben Türen. Wenn das Ego vollkommen ist, sind all diese sieben Türen durchschritten worden. Danach fällt das reife Ego ganz von allein. Das Kind ist vor diesen sieben Egos, und der Buddha ist hinter diesen sieben Egos. Es ist ein vollendeter Kreis – der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring von der Erlösung von der ewigen Wiederkunft. Nietzsche versuchte den Buddha zu übertreffen – und er versuchte Schopenhauer zu übertreffen – indem er die ewige Wiederkehr freudig bejahen will, da sein Karma und sein Ego noch tief in die Welt verstrickt waren: aber wie wir noch sehen werden, ist diese Idee nicht nachhaltig. Der Mensch ist ein Werden. Mit dem Entstehen des fünften Verstandes, des Buddhaverstandes, des Christusverstandes, wird der Mensch zu einem Sein (…) Du bist zum ersten Mal ein Sein, Werden gibt es nicht mehr. Der Mensch ist über sich hinausgegangen, die Brücke gibt es nicht mehr … Alles ist vergangen, der Alptraum ist zu Ende (…) Dann ist der Mensch nicht mehr Mensch, da der Mensch nicht mehr Verstand ist. Dann ist der Mensch Gott. Und nur das kann erfüllend sein, sonst nichts. Und gib dich nicht zufrieden mit etwas Geringerem! Der Übermensch ist etwas Geringeres als ein Gott. Nietzsche scheint ewig vom Werden gesprochen zu haben, weil ihm das Sein nicht bekannt war? Weil er selber nicht ganz „war“, einen stabilen Zustand nicht erreicht hat? – Was ist der Grund dafür, dass Bodhidharma aus dem Westen kam?, lautet zufällig, ebenso verklausuliert wie handgreiflich-einfach die Frage nach dem Wesen, der innersten Essenz des Zen-Buddhismus, dem tiefsten Geheimnis der Welt. Zusammendenken von Ost und West ist sicherlich gut. Sie scheinen sich, irgendwie, zu ergänzen. Für den Übermenschen, der die Erde beherrschen will, ist dieses Zusammendenken auch ganz einfach eine Notwendigkeit, und Nietzsche selbst hatte eine deutliche Hochachtung gegenüber dem Buddhismus. Bhagwan, der aus dem Osten in den Westen kam, lehrt uns nicht allein Weisheit des Ostens, sondern auch, von einer falschen Romantisierung des Ostens Abstand zu nehmen: … Im Osten haben die Menschen sehr, sehr fragmentarische Egos, und sie halten es für leicht, sich hinzugeben … Ein Fingerschnippen, und sie sind bereit, sich hinzugeben – aber ihre Hingabe geht nie sehr tief … Genau das Gegenteil ist im Westen der Fall. Die Leute, die aus dem Westen kommen, haben sehr starke und entwickelte Egos … Der bloße Gedanke an Hingabe wirkt abstoßend, erniedrigend auf sie. Aber das Paradox ist, dass wenn sich ein westlicher Mensch, Mann oder Frau, hingibt, die Hingabe wirklich tief geht… Versuchen wir also, das Beste daraus zu machen. Der Westen hat das Individuum, die moderne Wissenschaft, der Osten das im Kollektiv aufgehende Individuum und die „Weltseele“. Der Westen kennt eine Physik und eine Metaphysik. Der Osten kennt eine „taoistische“ Prä-Metaphysik, die Konfrontation mit einer Tabula Rasa, die gleichzeitig aus sich heraus produktiv ist, Potenzial ist, als dem Seinsgrund, dessen Produktionen und Perzeptionen ständig wechseln können, und er lehrt uns Flexibilität in der Anpassung an diese Erscheinungen. Der Westen kennt die Erkenntnis, der Osten kennt die Erleuchtung. Erleuchtung bedeutet, dass man sich frei durch den Erkenntnis-Raum bewegen kann, zu aller Erkenntnis fähig ist. … Jenseits der vierten Stufe des universalen Verstandes gibt es noch die fünfte Stufe, die letzte, wenn du sogar über den universalen Verstand hinausgehst. Denn auch nur zu denken, dass es der universale Verstand ist, ist denken. Gewisse Ideen vom Individuum und vom Universum bleiben noch in dir zurück. Du bist dir noch bewusst, dass du bist eins bist mit dem Ganzen, aber du bist und du bist eins mit dem Ganzen. Die Einheit ist noch nicht total, sie ist nicht vollendet, sie ist nicht endgültig. Wenn die Einheit wirklich endgültig ist, dann gibt es nicht Individuelles, nichts Universales. Das ist der fünfte Verstand: Christusverstand. Ich möchte euch sagen, und lehre euch: Zu den höchsten Genüssen, und zu den höchsten Notwendigkeiten – in Bezug darauf, der Welt ihren herzbrechenden Charakter zu nehmen – gehört dieses Zusammendenken und Zusammenerleben von Ost und West. Lasset uns zusammendenken Ost und West! Wer das tut, der beherrscht die Vier Himmelsrichtungen! Er nimmt der Welt ihren herzbrechenden Charakter. Nietzsche muss man dafür kennen. Zoroaster lebte zwischen Osten und Westen. Bhagwan war, wie gesagt, eine Art Zarathustra des zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bekennt, mit einem Bhagwan-Zitat macht man sich lächerlich unter Fachphilosophen. Deshalb stehen sie ja da. Ich will der akademischen Philosophie ihren herzbrechenden Charakter nehmen.

Auf dass der Lehre Rad rolle,

Ziehe ich hin zur Käsistadt.

In dieser blinden Welt rühr` ich

Die Trommel der Unsterblichkeit

Meinesgleichen die Siegreichen

Aller Gefahr entronnen sind.

Alles Böse besiegt hab´ ich:

Sieger drum heiß ich, Upaka

Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und –Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist, dämmert es bei Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (14) (was ihn allerdings nicht daran hindert, ein paar Paragraphen weiter zu diktieren: Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts außerdem (36), einerseits also die Früchte der bravsten wissenschaftlichen Anstrengungen zu relativieren, dann aber seine eigene – subjektive und höchst fragwürdige – Anschauung zu verabsolutieren). Nietzsches Anti-Totalitarismus in Bezug auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, sein intelligentes Hinterfragen und Relativieren im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen unseres Erkenntnisvermögens – was er im ersten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches an überraschenden und kreativen Einsichten diesbezüglich aus dem Hut zaubert beispielsweise ist wieder einmal durchaus magisch-verblüffend – ist grundsympathisch und prä-postmodern. Es schärft unseren Sinn für den Skeptizismus und den Facettenreichtum des Lebens – es schärfe unseren Sinn für die mannigfaltigen Gestalten von Wissenschaft und Wahrheit. Nur, was Nietzsche tut – einerseits sämtliche Wissenschaft und Wahrheit infrage zu stellen, und dann andererseits sehr subjektive und hanebüchene Einschätzungen als „Wahrheiten“ hinzustellen – geht dann doch zu weit. Nietzsche ist ein authentischer Wahrheits-Sucher, der dabei fortwährend auf Abwege gerät, was sich daran zeigt, dass er Wahrheit an sich leugnet. Wahre Wahrheit ist ein fortwährendes Verfehlen von Wahrheit, nimmt Heidegger Bezug auf Nietzsche (Nietzsche Band 1, S.559). Das ist aber so, weil die Suche von Wahrheit fraktal ist, und das Auffinden von Wahrheit meistens Hinweise auf noch tiefere Wahrheiten gibt. Nietzsche sieht anstatt der fraktalen Tiefenstruktur der Wahrheit und der Welt aber nur ein (unverbindliches) „ästhetisches Phänomen“, über welches sich die Welt allein rechtfertige. Der Gesamt-Charakter der Welt ist Chaos, daran delektiert sich Nietzsche wiederholt. Der Gesamt-Charakter der Welt ist aber der Chaosmos, das Zusammenspiel von Ordnung und Zufall. Ohne Stabilität der Naturgesetze und Naturkonstanten zum Beispiel, ohne wiederkehrende Verhaltensmuster etc. gäbe es nämlich gar keine Welt! Wer nur das Chaos in sich trägt, kann keinen tanzenden Stern gebärden, denn weder Sterne noch Choreographien können chaotisch sein! Ja, das versteht ja jeder, der will! Nietzsche aber will es offenbar nicht gerne verstehen: Und der Grund dafür ist, daß Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden. (Lou Salomé, S.91) Also die Nietzscheanische Überbetonung des Dionysischen gegenüber dem Apollinischen. Das Dionysische ist aber die Instabilität. Also eine Art chtonischer Urgrund oder aber Geistes- und Seelentiefen, aus denen alles aufsteigt, ein Urgrund von Kultur und Zivilisationsleistungen – die aber eben über das Apollinische als solche in Form gebracht werden: oder aber eben ohne dieses nicht! Nietzsche leugnet immer wieder das „Ding an sich“ und die Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Damit gerät er in die Nähe der Chinesen, die in der blumigen, allegorischen, ambivalenten Sprache ihrer Weisheit zwar dem ambivalenten Charakter der Lebenswelt gut Rechnung tragen, aber auch kein Ding an sich kennen; und damit kein Ideal der Exaktheit, der schlussfolgernden Logik und eben der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit, mithilfe derer der europäische Wille zur Macht die Welt erobert hat, während China Jahrhunderte geschlafen hat. Der Versuch der Scheidung von Erscheinung und Ding an sich ist das Um und Auf der Wissenschaftlichkeit; indem Nietzsche das unterlässt gerät seine „Philosophie der Zukunft“ wissenschaftlich wie dann eben auch moralisch in eine der archaischen Vergangenheit, in eine Philosophie des Dschungels. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt bleibt noch übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!  (Götzen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde) (Heidegger zufolge ist der Nietzscheanische „Immoralist“ einer, der zwischen „wahrer“ und „falscher“/scheinbarer Weltordnung keinen Unterschied macht – Nietzsche Band 1, S.566) Tatsächliche, sehr robuste Qualitäten werden so aufgeweicht (was aber nichts macht, denn: Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns: kein „an sich“. (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887, 5(36))) Nietzsches gutgemeinter „Perspektivismus“ ist förderlich, wenn wir uns ambivalente, facettenhafte und vielfältige – soziale oder politische – Realitäten vergegenwärtigen wollen: diese bekommt man tatsächlich nicht über einen bestimmten Standpunkt oder eine bestimmte Formel möglichst gut in den Griff, sondern bestenfalls dann, wenn man sie aus möglichst vielen Perspektiven und über möglichst viele Standpunkte betrachten kann. Er öffnet aber auch unermessliche, betrachterabhängige Interpretationsspielräume und daher Möglichkeiten, allerhand Blödsinn zu behaupten, wo Eindeutigkeit und Verlässlichkeit gefragt ist. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (Die fröhliche Wissenschaft 374) Ich habe einmal in einem Buch von Donald Trump geblättert, in dem der große Geschäftsmann und Präsident Tipps zum Vermögenserwerb gibt. In seiner coolen Art räumt er ein, dass die Leute in ihrer Vielheit natürlich auch viele verschiedene Meinungen und Sichtweisen zu den Dingen hätten. Die meisten wären allerdings das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben sind.

Gemäß Otto Weininger ist der Sinn des Lebens die gleichzeitige Verwirklichung von Ethik und Logik (und dass er im Rahmen seiner einerseits grandiosen, andererseits hasserfüllten und tendenziösen Philosophie/Individualethik beides letztlich verfehlt hat, war offenbar (im konkreten oder übertragenen Sinn) der Grund für sein frühes Hinscheiden). Ethik und Logik bilden das Kreuz der Welt, die erzene, unzerstörbare Verstrebung, die stärker und dauerhafter ist als aller Weltlauf. Nietzsches Verweichlichung und letztlich Verabschiedung der Stabilität der Logik scheint gleichsam mit seinem Abgesang auf die Verbindlichkeit der Ethik in einer Linie zu stehen; seine Leugnung von wissenschaftlich bestimmbarer Wahrheit ist dann eben auch eine Leugnung von moralischer Wahrheit. So wird bei ihm alles „dionysisch“ und verliert die Konsistenz. An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns; an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten, nichts „Unrechtes“ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. (Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 11) Ein Zitat von vielen möglichen, in denen Nietzsche eine amoralische Sicht auf die Welt beschreibt – genauer gesagt, sich ihrer vergewissern will: denn dass Leben all das ist, aber eben auch, und vor allem, nicht nur und mehr als das, erkennt abermals jeder, der will. Indem Nietzsche nicht nur eine (diskutierbare) sittliche Weltordnung (also, als etwas ontisch Verankertes) leugnet, sondern auch die Valenz von menschengemachter Moral und Sittlichkeit, genauso wie eben die Valenz von Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, macht er es sich leicht und kann daraus ein ihm genehmes Art Recht des Stärkeren ableiten und legitimieren. Nichts ist seltener unter den Philosophen als intellektuelle Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese „Wahrheiten“ einig sind. Da sind z. B. die moralischen Wahrheiten. (Nachlass Frühjahr 1888, 15(25)) – So wird hier nun aber vielmehr der unkorrumpierbare Wahrheitssucher Nietzsche zum Opportunisten und Subjektivisten. Lichtscheues Gesindel!, daran mag man die erkennen, die das Licht der (ethischen und logischen) Wahrheit scheuen. Was aber verbergen sie? Liegt es daran, daß sie insgeheim selber Furcht davor haben, daß man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, wer sie sind? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzu hellen Licht, an welches ihre dämmernden, leicht zu blendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so daß sie es hassen müssen? (Menschliches, Allzumenschliches 2, Vermischte Meinungen und Sprüche 7) Da hat man den Philosophen mit dem Hammer einerseits, seine gewalttätige und überströmende Philosophie, die auf so beispiellos hohem Niveau dann ebenso beispiellos Mitleid, Religion, Demokratie, Wahrheit und Ethik (also die Grundlagen für Zivilisation) verwirft. Und dann andererseits den ebenso beinahe beispiellos milden, gütigen, zu jedermann freundlichen und entgegenkommenden, mitleidenden Nietzsche, der schon als Kind „von unnatürlicher Bravheit“ war. Hat er sich wohl wegen dieser Bravheit gehasst, sie (fälschlicherweise) als Schwäche an sich wahrgenommen? Wollte er das Licht der Wahrheit nicht auf sich fallen lassen, weil er im Innersten – böse war? Mit seiner Ablehnung von eindeutigen und universalistischen moralischen Unterscheidungen könnte sich Nietzsche auf jeden Fall ein weiteres Mal mit den Chinesen zusammentun; ihrem relativistischen und situationalen Moralverständnis, das sich in seinen Verpflichtungen (in erdrückender Weise) auf die Familie und den eigenen Kreis beschränkt, weniger aber auf Außenstehende und schon gar nicht auf Fremde; das ambivalent und opak ist, was dann also ein opakes und intransparentes Reich erzeugt, das von gleichmacherischen Kaisern und Kommunisten und ihrem Terror und ihrer Korruption zusammengehalten wird, starren konfuzianischen Regeln und einer idiotischen Ritualistik, in dem es keine Zivilgesellschaft gibt, keine Aufklärung und Herdenmenschentum anstelle von Individualität. Irgendwie dem Gegenteil vom alten griechischen Ideal. Das „Chinesentum“ lehnte Nietzsche (wenngleich aus anderen Gründen) ab und behandelte es despektierlich. Mit zunehmenden Jahren fasziniert sich Nietzsche immer mehr für das Böse und blickt mit einem faszinierten Wohlwollen nicht nur auf Gewaltmenschen und Eroberer sondern auch auf „den Verbrecher“, einerseits, weil er mit dessen vermeintlich authentischer Kraft und seinem transgressiven Wesen sympathisiert, andererseits, weil „das Böse“ etwas ist, das Nietzsche gerne in sich selbst freilegen möchte – oder aber konstruieren – im Rahmen seiner Selbststeigerungsphilosophie, die nicht allein das Gute isst und verdaut, sondern auch das Böse: um so also jenseits von Gut und Böse, in scheinbarer Transzendenz zu sein. Hatte der gehemmte Nietzsche Lust auf Böses? Oder aber ein verborgenes Böses in sich auszuleben? Die Aggressionen gegen das, was er als seine Schwäche wahrnahm? Hierauf gibt es eine ganz klare und einfache Antwort, und die ganz klare und einfache Antwort hierauf lautet: — (unleserlich)

Der Grund dieses Versagens könnte sein, daß Nietzsches Kommunikationswille letzthin ohne Bindungen an das Selbstsein des Anderen, daher kein eigentlicher Kommunikationswille wäre. Nietzsche ist ungemein liebenswürdig, er arrangiert, ist hilfsbereit und von ungewöhnlich aktiver Hilfe, aber er scheint immer nur sich und den Andern nur als Gefäß des Seinigen zu lieben: ihm fehlt die wirkliche Hingabe an einen Menschen (…) Er will das Höchste und beurteilt in diesem Maße richtig; aber er läßt jeden anderen in seiner Verstrickung oder Verengung (…) Litt er an der Einsamkeit im Grunde noch mehr, weil er nicht liebte, als weil er nicht geliebt wurde? (Jaspers S. 86) Trotz seiner, und vor allem in seiner expansiven Kraft, seines weltumsegelnden Geistes, seines schon früh vorhandenen Dranges, sich ein „Universalwissen“ anzueignen, seines psychologischen Genies (also, wie man meinen würde, seines tiefen Interesses am Menschen) und seiner guten Manieren kann man sich Nietzsche in der eigentlichen Konsequenz – vielleicht, eventuell, hypothetisch – als ziemlich ich-bezogen vorstellen. Sein Sein ist kein eigentliches Mit-Sein. Trotz seiner übergroßen ästhetischen und emotionalen Empfänglichkeit, Zarathustras gutem Rat, sich das Leben erträglicher zu machen, indem man sich mit „kleinen, guten Dingen“ umgibt, dem schimmernden Reichtum, der in seiner Philosophie und Dichtung liegt, seiner Mitleidigkeit usw., hat man bei Nietzsche wenig Hinweise auf ein lebendiges, emotionales oder empathisches Verhältnis zu dem, was ihn umgibt. Dass er sich mit kleinen, guten Dingen umgeben hat, war eher nicht der Fall. Kinder oder Tiere, von denen sich die Seele des Genies normalerweise wie magnetisch angezogen fühlt, haben ihm nicht viel bedeutet. Er hatte ein (wahrscheinlich weniger „unterdrücktes“ als ein) eher flüchtiges Interesse an Frauen (oder, wie manche, die verkappte Homosexualität als Nietzsches eigentliches „Problem“ vermuten: an Männern). Seine Poesie – gemeinhin des Dichterherzens Oden an so Dinge wie Wald, Wiesen und Mond – hat vorwiegend sich selbst (oder Zarathustra) zum Gegenstand. Als Philosoph der Vitalist Nummer 1, war er kein Lebemann, kein Hedonist, als Jünger von Dionysos hatte er es nicht mit Wein (Wozu, wozu dir – Wein? richtet Nietzsche die Frage eines Wassertrinkers An Hafis – egal, ob Allahs trunkene Poeten – Hafis, Rumi, Omar Chayyam el al – Asketen waren oder durchaus auch weltlich dann und wann mal bei aller meditativer Versenkung sich einen über den Durst getrunken und über die Stränge geschlagen haben: Der Wein und der Rausch bei den (zumeist mehrdeutig dichtenden) Sufi-Dichtern steht für die große Liebe und die Vereinigung mit dem Göttlichen; also für etwas tatsächlich Empfundenes, während die Dionysos-Metaphorik bei Nietzsche dann doch vorwiegend intellektuell bleibt). Trotz aller möglicher Stärke und Entschlossenheit bleibt ein ich-bezogenes Sein, das das Mit-Sein nicht genuin kennt, schwach und verletzlich: vor allem, wenn sich im Leben Enttäuschungen einstellen. Von Anfang an fühlt sich Nietzsche bedroht, mit den zunehmenden Enttäuschungen immer mehr. Das hat einerseits sehr gute Gründe, denn solche Geister wie er leben gefährlich. Andererseits hat man neben seiner zunehmenden intellektuellen Aggressivität insgesamt ein ständiges Kreisen um „Stärke“ und „Schwäche“ – das letztendlich seine gesamte spätere Philosophie ausmacht – ohne dass man jeweils wirklich weiß oder ganz konkret nachvollziehen kann, was er mit seinem amor fati, seinem Willen zur Macht, seinem Übermenschen und umgekehrt in seiner obsessiven Fixiertheit auf Tendenzen und Phänomene der „décadence“ eigentlich meint, oder warum das für ihn so wichtig ist. Neurotiker nun fühlen sich ständig (und ohne rational gänzlich einsichtigen Grund) schwach, und haben umgekehrt ein Bedürfnis nach geradezu maßloser Stärke (mithilfe derer sich die innere („dionysische“) Instabilität überwunden werden soll). Wenn man für etwas (bei einem Menschen) keine rationale Erklärung findet, soll man aber letztendlich etwas Irrationales als des Pudels Kern vermuten. Wir Heutigen wissen jedoch den Grund nicht, warum das Innerste der Metaphysik Nietzsches von ihm selbst nicht an die Oberfläche gebracht werden konnte, sondern im Nachlaß verborgen liegt; noch verborgen liegt, obwohl dieser Nachlaß in der Hauptsache, wenngleich in einer sehr mißdeutbaren Gestalt, zugänglich geworden ist, wundert sich Heidegger über Nietzsche(Nietzsche 2, S. 35) Das ist deswegen so, weil das Innerste der Metaphysik Nietzsches die Neurose ist, und das Innerste der Neurose eine leere Ichbezogenheit ist. – Daher muss das Ich zerstört werden, um im Sein aufgehen zu können, und damit das „Ego“ zum „Selbst“ werden kann, sage bekanntlich ich immer. Auf der gesunden Seite seiner Philosophie und seiner Persönlichkeit hat Nietzsche das getan, auf der kranken nicht. Daher die interne Opposition. Wenn hingegen ich versuche, in mein Innerstes zu blicken, was stellt sich da dar? Eine friedliche Wiese/Weide, links ein Baum, leicht dunst/nebelverhangen, was sich aber sogleich lichten wird, in früher Morgendämmerung. Kein Hindernis steht im Weg, nichts was einen bekämpft, noch was einer bekämpfen müsste; eine große friedliche Ebene in früher Morgendämmerung, eine Ebene der Begegnung, der Ebene des Konx Om Pax. Der triumphalistische Mittag, wie bei Nietzsche, kommt mir weniger in den Sinn (allerdings auch deswegen, weil ich ihn von meinem privilegierten Blickwinkel aus natürlich bereits im Sichtfeld habe). Bei mir ist es ewiger früher Morgen, angehender großer Aufbruch in der Lichtung des Seins. Das kommt bei den Weibern sicherlich nicht so gut an. Aber wenn die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht sein soll, wie soll das entsprechende Innerste ihrer Metaphysik anders sein, als eben so?? Praktisch primordial bin ich, älteste Weisheit, das Ur-Eine, beziehungsweise das erste Licht, dass das Ur-Eine der Nacht von sich selbst scheidet und dadurch erzeugt. Ich glaube, das macht mir nicht mal Nietzsche nach. Es ist wahrhaft göttlich.

Nietzsches „osmotisches Mitleidenkönnen und -müssen“ (Safranski, S.167), was ihn als Person betrifft, und seine beispiellose Philosophie gegen das Mitleid. Als Versuch, über Schopenhauer und Wagner hinauszukommen und etwas Neues und Spektakuläres zu sagen, so kann man das hinsichtlich der intellektuellen Ambition vielleicht verstehen. Immer wieder macht er freilich deutlich, dass sein osmotisches Mitleidenkönnen und –müssen, eine Belastung für ihn ist. Man verliert Kraft wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. (Der Antichrist 7) Selber nannte er es seine „Ketten-Krankheit“: Emotionale Bindung, die ihn auf seinem Weg behinderte, der zu werden, der er war. (Prideaux, S.287f.) Bei so einem großen und tiefen Denker, der die ganze Welt reflektiert (und der dann dabei ein wenig (aber eben nur ein wenig) unter der Fuchtel von Mutter und Schwester steht), könnte man schon nachvollziehen, dass umfassendes Mitleiden anstrengend sein muss (Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. (Abhandlung über Der Werth des Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1))) Allerdings nur eher kurz. Genauso kenne ich den Konflikt, einerseits Positionen zu beziehen, die man als „aristokratisch“ bezeichnen könnte, und solche auch als solche zu verteidigen, während man im Herzen Sozialist und Kommunist ist und am liebsten die ganze Welt umarmen möchte. Allerdings macht sich dieser Konflikt auch nur punktuell bemerkbar, und nicht systematisch. Viel eher, als dass es einen belastet, ist das Mitleid und die Empathie ja gerade das, wodurch man sich zur höchsten Selbststeigerung siegreich vollendet und endgültig stabilisiert: im Mit-Sein – also, wenn man so will, in dem, was der „abgetane“ Schopenhauer propagiert hat, während sich Nietzsche in seiner Selbststeigerung verrannt und verzettelt hat, ohne beim Übermenschen (also: dem absolut mit-seienden Menschen) jemals anzugelangen. Durch das Mitleiden und die Empathie wird man zum offenen Raum und erweitert seine Grenzen ins Unendliche (so dass sich die Grenzen also, gemeinsam mit allen inneren Konflikten, aufheben). Nietzsche war aber, vor allem, im Herzen kein Sozialist oder Kommunist. Das „Himmelreich“ ist ein Zustand des Herzens – nicht etwas, das „über der Erde“ oder „nach dem Tode“ kommt (…) Das „Reich Gottes“ ist nichts, das man erwartet … es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…. (Der Antichrist 34) Damit ist der innere Reichtum des Religionsgründers gemeint. Das hat Nietzsche von Anfang bis Ende, bis zum Antichrist (erstaunlich) gut verstanden, und vor allem im Antichrist sehr gut beschrieben. Das „Reich Gottes“ ist da, wo permanent gute Beziehungen herrschen und hergestellt werden können. Wie geht das? Über den Intellekt, die Sinnesorgane, die ästhetische Rezeption, den Humor… insgesamt und vollständig geht das aber nur über die Empathie. Das hat Nietzsche eventuell nicht ganz so gut verstanden. Von Anfang bis Ende war Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch hat Nietzsche sozialem und demokratischem Reformismus bekanntlich entgegengearbeitet. Das eine war sein schon früh irgendwie vorhandener Überlegenheitsdünkel, der sich hinter der Maske der Freundlichkeit verbarg bzw. der mit einer durchaus authentischen Freundlichkeit unbehindert einherging, und den man bei einem überlegenen Menschen wie Nietzsche ja verzeihlich finden mag. Das andere war aber etwas, das man vielleicht am besten als eine neurotische Angst und eine Paranoia vor den unteren Schichten bezeichnen könnte, das jegliches Mitleid bei ihm mit diesen verunmöglicht hat und sich in seiner späteren Periode zu einem verfolgenden Hass gesteigert hat, zu Vernichtungsphantasien oder einer Faszination für das Kastenwesen. Denn alles andere, was noch lebt, ruft nein. Das Monumentale soll nicht entstehen – das ist die Gegenlosung. Die dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft um alles Große qualmend, wirft sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg, den der Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat. Dieser Weg aber führt durch menschliche Gehirne! Durch die Gehirne geängstigter und kurzlebender Tiere, die immer wieder zu denselben Nöten auftauchen und mit Mühe eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Denn sie wollen zunächst nur eines: leben um jeden Preis, schreibt er in seiner Zweiten Unzeitgemäßen (2), und anderorts. Dass man den Pöbel zurückweisen und in Schranken halten sollte, darüber kann man sich schon einig sein. So feindselig, wie Nietzsche immer wieder tut, sind „die Kleinen“ gegenüber allem Großen dann flächendeckend aber auch wieder nicht. Zur selben Zeit, während der Basler Professur, votiert Nietzsche gegen eine Arbeitszeitverkürzung von 12 auf 11 Stunden, für das Erlauben von Kinderarbeit ab einem Alter von 12 Jahren, sowie gegen die Zulassung von Arbeiterbildungsvereinen (Safranski, S.148). Die sinnlose und erbitterte, irrationale Feindseligkeit liegt hier wohl also auf Seiten von Nietzsche. War es eine neurotische Furcht vor irgendwelchen eigenen Minderwertigkeits- oder Insuffizienzgefühlen? Oder ein Neid auf das vermeintlich „einfachere“ Leben der Massen? Hatte Nietzsche eine paranoid gestörte Persönlichkeit? Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien, sagt Lou Salomé (S. 239). Aber was steckt dann eigentlich tief? So dass es mit besonderem Hasse verfolgt wird? Alles Tiefe ist klar, wie Nietzsche öfter bekräftigt. Tief und grundlegend erscheint so bei Nietzsche der psychologische Widerspruch an sich. Um über das Mitleid so zu phantasieren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel des Menschen liegen, da werden seine Ideale phantastisch. (Nachlass Frühjahr 1880, 3(30)) Naja, Schopenhauer hat sich aber immer, und so auch über seine Mitleidsethik, ganz klar ausgedrückt und ebenso glasklar hergeleitet und geschlussfolgert. Man versteht ihn, wenngleich es eventuell Schwierigkeiten macht, sich in seine Gefühlswelten hineinzuversetzen. Bei Nietzsches negativem Mitleidsideal versteht man den Kern nicht wirklich, man mag es drehen und wenden, wie man will. In seinen Polemiken gegen das Mitleid delektiert sich Nietzsche dann  natürlich auch (wieder einmal) daran, dass die Motivation für das Mitleid gemeinhin Egoismus sei und der Selbstbespiegelung der Tugendhaften diene. Vielleicht war es ja nicht der griesgrämige, aufbrausende Schopenhauer, der das Mitleid aus authentischer innerer Erfahrung nicht gekannt hat, sondern der osmotische Mitleidenkönner Zarathustra.

Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer als ein Nothstand (Morgenröthe 179), also spricht der letzte unpolitische Deutsche. Ja, mit zunehmender Selbststeigerung erhebt man sich in kosmische Dimensionen, der (obendrein meistens ziemlich dämliche und eitle tages-) politische Krimskrams gerät einem aus dem Fokus. Gut aber dennoch, wenn man sich in ihn nichtsdestotrotz hineinzoomen kann. Ordnung zu schaffen, richtige Unterscheidungen zu treffen, Zukunft zu gestalten: das ist ja der Sinn und die Aufgabe des Geistes. Zwar ist das bei Intellektuellen (bzw. Menschen allgemein) keine Seltenheit, aber die Unfähigkeit, das Soziale und das Politische angemessen zu reflektieren, oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ist bei Nietzsche schon auffällig. Angesichts seiner zahllosen und nur von ihm so produzierbaren Einfälle und Ideen, die er (mehr oder weniger) dazu hervorsprudeln lassen kann, mag er die auch interessanter und unterhaltsamer finden als trockene soziologische Analyse zu betreiben und seine einmaligen Ressourcen darauf zu verwenden. Wieder aber scheint man einen Ausdruck, eine Erscheinungsform eines Mangels an Mit-seinkönnen bei Nietzsche vor sich haben, der ihn einerseits (und jeweils im konstruktiven wie im destruktiven Sinn) unpolitisch, dann wieder überpolitisch (und über-politisch) macht. Zunehmend steigert sich Zarathustra in (gewalttätige) Regierungs-Phantasien hinein (die einfach nicht bloß metaphorisch gemeint sind). Man fragt sich, warum.

Von der Rangordnung der Werthe-Schaffenden (in Bezug aus das Werthe-Setzen)

  1. Die Künstler
  2. Die Philosophen
  3. Die Gesetzgeber
  4. Die Religionsstifter
  5. Die höchsten Menschen als Erd-Regierer und Zukunft-Schöpfer. (zuletzt sich zerbrechend) (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(258))     

Jetzt muss aber, wer die Erde regieren will, sich z. B. auch mit den Arabern und ihren unlösbaren Problemen im Nahen Osten gezwungenermaßen herumschlagen. Schau, wie er so langsam von der Erdoberfläche, in den Treibsand der Wüste herabgezogen wird und dort verschwindet, verzweifelt, gravitätisch; die Robe des Erd-Regierers verfängt sich im mächtigen Zahnrad, im langsamen aber sicheren Wüten der donnernd-stillen Walze, unmerklich, aber mit eiserner Konsequenz wird er ins Verderben gezogen; also begann Zarathustras Untergang etc. pp. Es ist vielleicht kein großer Vorteil, die Erde zu regieren. Da chille ich doch lieber ab und ziehe mir einen Ofen an kontemplativer Betrachtung rein, anstatt die Erde regieren zu wollen. Der Geist ist aktiv, und er ist aber auch (vorsichtig und) träge. Wenn der Geist chillt und sich einen ganz großen Ofen an kontemplativer Betrachtung reinzieht, auf was mag er dann kommen, was mag Zarathustra dann sprechen?:

Künstler (Schaffender), Heiliger (Liebender) und Philosoph (Erkennender) in Einer Person zu werden: – mein praktisches Ziel! (Nachlass Herbst 1883, 16(11))

Zur Überwindung der bisherigen Ideale (Philosoph, Künstler, Heiliger) that eine Entstehungs-Geschichte noth.

An die Stelle des Heiligen-Liebenden stelle ich den, der alle Phasen der Cultur liebevoll-gerecht nachempfindet: den historischen Menschen der höchsten Pietät.

An die Stelle des Genies setze ich den Menschen, der über sich selber den Menschen hinausschafft (neuer Begriff der Kunst (gegen die Kunst der Kunstwerke)

An die Stelle des Philosophen setze ich den freien Geist, der dem Gelehrten, Forscher, Kritiker überlegen ist und über vielen Idealen noch leben bleibt: der ohne Jesuit zu werden, trotzdem die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergründet: der Erlöser von der Moral. (Nachlass Herbst 1883, 16(14))

Soll also bedeuten: Auf dem höchsten Level der Ausgereiftheit und der kontemplativen Betrachtung überschreitet der Geist alle Beschränkungen und Verständnisse, die in der Welt bisher vorhanden sind, und er erkennt, dass er damit wirkungsmächtig weltumgreifend Verständnisse erweitert und Beschränkungen zurückdrängt. Er regiert nicht allein im Reich der Gedanken, durch das er mühelos navigiert, sondern er greift – in all seinem ursprünglich un- und überpolitischen Charakter – tatsächlich regierend in die Welt ein. Er macht etwas unglaublich Profundes. Wenn Deleuze sagt: Philosophie ist keine Macht. Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche Meinung und Fernsehen sind Mächte, nicht aber die Philosophie, daher führe die Philosophie höchstens einen Krieg ohne Schlacht gegen die Mächte, eine Guerilla etc., dann, weil er, anders als Nietzsche, Platon oder Hegel, den/seinen Geist als allmächtig und erd-regierend, als weltumspannend oder –überschreitend offenbar nicht gekannt hat. Der große Geist aber ist allmächtig und leitet die große Transformation ein, die Philosophie als die Zusammenführung allen Geistes, auch wenn sie sich in Sein und Zeit mühevoll prozessiert, ist mächtiger als alle Welt. Bei Nietzsche kommen dann sein Dionysos-Kult und sein Wille zur Macht noch dazu. Diese ganze Denkweise nannte ich bei mir selber die Philosophie des Dionysos: eine Betrachtung, welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt und in der „Moral“ nur ein Mittel, um dem herrschenden Willen eine solche Kraft und Geschmeidigkeit zu geben, dergestalt sich der Menschheit aufzudrücken. (Nachlass April – Juli 1885, 34(176)) Er will, von seinem Wesen her, gestalten, regieren, herrschen, eingreifen, umformen. Aufgrund seines gespaltenen Wesens kommt es zu gespaltenen Ambitionen hinsichtlich der Politik. Politik muss sich mit dem Ungeist auseinandersetzen, und das will Nietzsche natürlich nicht. Gleichzeitig steht Politik aber auch mit dem Geist in Zusammenhang (und eben der Geist, wie erwähnt, aufgrund seines unterscheidenden, konstruktiven, analytischen und synthetischen, zukunftstiftenden Charakters und seiner inhärenten Sinnhaftigkeit, im Zusammenhang mit der Politik und dem Appell, der von der Politik an ihn ausgeht). Politik ist ein Mittler und Verhandler zwischen Ungeist und Geist, also von Partikularinteressen, die auf ein sinnvolles und harmonisches Ganzes hin abgestimmt werden sollen. Da Nietzsche schon früh ein einziges echtes Ziel der Menschheit und der Zivilisation anerkennen will: Nährboden für das Heranwachsen des sinn- und bedeutungsstiftenden (und darin, da für ihn die Welt ja nur als ästhetisches Phänomen „gerechtfertigt“ ist, vorwiegend künstlerisch-ästhetischen) Genies zu bilden; und da das Genie aristokratisch ist und von den plebejischen Massen bedroht bis gehasst wird, sympathisiert er mit aristokratischen Regierungsformen und hat eine, einerseits berechtigte, andererseits in ihrem eigentlichen Kern starrsinnig-irrationale (und auch aus dem Zeitkontext nicht verstehbare) Furcht vor allem Demokratischen und Sozialistischen. Ein einziges Mal in seinem Leben hat sich Nietzsche freiwillig unter „das Volk“ gemischt (und sich spontan an einen Tisch mit kegelspielenden und pokulierenden Soldaten gesetzt). Dass das Genie in aller Regel gleichzeitig aristokratisch und volkstümlich ist, ist Nietzsche entgangen. Laut Schiller ist das Genie sogar eben das privilegierte Wesen, das die verschiedenen und diversen Sphären der Lebenswelt und das Aristokratische und das Volkstümliche authentisch miteinander verbinden kann, und so eine über-politische kulturelle Klammer, ein Selbstverständnis für einen Kulturraum schaffen kann (so meinte er im Hinblick auf Goethe, wohl aber auch (und eher) auf sich selber). Im Gegensatz zu den wohlbeheimateten Goethe und Schiller ist Nietzsche das nicht gelungen, er bleibt aristokratischer Wanderer und sich in sadistische Phantasien gegenüber dem Volkstümlichen verzehrender Schatten. Politik ist, wie Hannah Arendt sagt, Management von menschlicher und gesellschaftlicher Diversität, und der Verschiedenheit unter Menschen. Die hat Nietzsche einerseits fasziniert, andererseits neurotisch abgestoßen. Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht: und meine größte Freude ist, dem individuellen Mustern zu begegnen, welche mir nicht gleichen. Hol der Teufel alle Nachahmer und Anhänger und Lobredner und Anstauner und Hingebenden! (Nachlass Herbst 1880, 6(50)) Nietzsche adressiert sich vorwiegend an das Individuum. Und sein facettierter und kreativer Geist mag Diversität. Nietzsche adressiert das Individuum in seiner Selbstheit, in seinem Werde, der du bist, in seiner Selbstkultur, in seinem (weltlichen) Seelenheil. Das ganz Individuelle und Persönliche sind Bereiche, die von der Politik nicht erfassbar sind, und wo Politik auch draußen zu bleiben hat (Nietzsches Ablehnung der inhärent totalitären Vergemeinschaftungsutopien der (radikaleren) Sozialisten (und wohl auch der ihm noch nicht bekannten Nationalsozialisten) hat da schon Berechtigung). Bei extremer Individualität kommt es leicht zu Paradoxien, die mitunter schwer auszuhalten sind (Der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler. (Nachlass Herbst 1880, 6(60))). Dass er in der Anarchie zu leben hatte und nicht als wohlsituierter Brahmane, hat Nietzsche, in freilich seinem ganz ursprünglichen Aristokratismus, immer aggressiver gemacht. Von der Diversität der anderen bzw. des Gesellschaftlichen wollte er (wie freilich schon seit jeher) nichts mehr wissen, sondern sie möglichst gleich ganz wegsperren oder sie zu verformbaren Ton für seine dionysische Selbststeigerung plattwälzen. Das höchste Verhältniß bleibt das des Schaffenden zu seinem Material: das ist die letzte Form des Übermuths und der Übermacht. (Nachlass Herbst 1883, 16(32)) Also sprach Zarathustra zwar nicht vom Faschismus oder gar Nationalsozialismus, aber mit zunehmender Bewunderung vom (dem altgriechischen Ideal ziemlich entgegengesetzten) indischen Kastenwesen. Und von Politik hatte er von Anfang bis Ende einfach nicht wirklich eine Ahnung. – Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer? Problem. (Nachlass Herbst 1883, 16(86)) Safranski gelingt es endlich, die Widersprüchlichkeit auf den Punkt zu bringen: Das Problem lässt sich so formulieren: Nietzsche ist nicht imstande, die Ideen der Selbststeigerung und der Solidarität miteinander zu verbinden oder sie doch wenigstens nebeneinander bestehen zu lassen. (S.308f.) Das ist deswegen so, weil Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist war. Und er von höchst konstruktiven Impulsen in der lebendigen und bildenden Anrede des Individuums getrieben war, aber von höchst destruktiven gegenüber den „Massen“. Aber das war eben sein Problem (und nicht die von seiner Philosophie an sich). Die meisten politischen Karrieren enden im Versagen. Die von Nietzsche auch.

Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ichs ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? Der Blick des Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – ach! (Nachlass Mitte 1880er Jahre, aus dem Gedächtnis zitiert) Sokrates, der große Menschenprüfer und der weiseste aller Zeiten war also Pessimist, erheitert sich Nietzsche (und zwar will er das angesichts von Sokrates` grandiosen letzten Worten: Oh meine Jünger! Ich bin dem Heilande Asklepios noch einen Hahn schuldig! (also begleicht für mich bitte diese Rechnung) identifiziert haben wissen (Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 1)) Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurteilt: es taugt nichts … Immer und überall hat man ihrem Munde denselben Klang gehört – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermut, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. (ebenda) Naja, (auch wenn der Weise vom Typus her gemeinhin Melancholiker ist) so flächendeckend und generalisierend würde mir das gar nicht auffallen – aber dann war Nietzsche Pessimist? Nietzsche, der große Vitalist, Jünger des Dionysos, Verkünder der Lehre von der ewigen Wiederkunft und Prophet des Übermenschen – ein Lebensmüder nur, der eine Maske aufsetzt? Problem: Man hat (wie Nietzsche) von Anfang an keine sanguinische (sondern pessimistisch-tragische) Weltsicht. Noch erheblicheres Problem: Die Welt ist, nüchtern betrachtet, tatsächlich kein Ort, der eine sanguinische Weltsicht so einfach bestätigen würde. Bei Nietzsche dann aber auch: schäumender, heiterster Übermut, große Gestaltungskraft und ihr inhärenter großer Optimismus, eine ausgelassene (zumindest intellektuelle) Geselligkeit, eine kreativ-rauschhafte Sicht auf die Welt und den Weltprozess gleichermaßen. Man will nicht tragisch sein, sondern komödiantisch (bis, klarerweise, in die ganz unmittelbarste Emotionalität hinein, um furchtbare, eigentlich tödliche Depression abzuwehren). Problem dann also insgesamt: Wie macht man eine tragische, gottverlassene Welt fröhlich?

Mein neuer Weg zum „Ja“

Meine neue Fassung des Pessimismus als freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich wurden. „Wie viel „Wahrheit“ erträgt und wagt ein Geist?“ Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre.

Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig begreifen, sondern als wünschenswerth; ….. (Nachlass Herbst 1887, 10(3)(138))

Soll also heißen: Indem man den tragischen Charakter des Daseins ins Fröhliche verklärt; oder aber zumindest ins Künstlerische, wie man es als Grundthema bereits in der Geburt der Tragödie hatte. Indem man den tragischen Charakter des Daseins bejaht: Aufgabe des Übermenschen (oder des Überschurken, des Cesare Borgia, der sich aus diesem Chaos gebiert). Der schöpferische Geist, und vor allem das Genie, will nur eins nicht: defätistisch sein. Und schon gar nicht will einer wie Nietzsche defätistisch sein. Nietzsche haut mit seinem Stock auf den Tisch: Es muss doch etwas geben! Er verteidigt, seiner Natur gemäß, die Substanz gegenüber der Nichtigkeit, die Kultur gegenüber der Gleichgültigkeit der bloßen Natur. Nietzsche kämpft wie immer, seinen harten Kampf um die Substanz, und gegen die Nichtigkeit. Leben – das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: „Du sollst nicht töten!“ (Die fröhliche Wissenschaft 26) Goethes Stirb und werde und Nietzsches Werde, der du bist. Das sind beides so brauchbare Prinzipien! Nietzsche mit seiner Neigung, innere Konflikte in die Außenwelt zu projizieren, bereitet hier aber wieder seine eugenischen und Vernichtungsphantasien vor, die mit der fortwährenden Steigerung seines vitalistischen Pathos in den späteren Jahren dann einhergehen. Dabei hatte alles so gut begonnen, und stand im Zeichen von so großer Unschuld (die dann im Verlauf des Werdens verloren gegangen ist). Zwei der rührendsten Stellen in Nietzsches gesamten Werk sind: Ich habe beschlossen, mir Tristram Shandys Leben und Meinungen selbst zu kaufen und Don Quixote zum Geburtstag zu wünschen. Ich hoffe in sechs Wochen das nötige Geld, die zwanzig Silbergroschen zu besitzen. – (8. August 1859) Und sein Vorsatz zum neuen Jahre, mit dem er das Vierte Buch (Sanctus Januarius) der fröhlichen Wissenschaft einleitet: … Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief … Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen:  – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: da sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (Die fröhliche Wissenschaft 276) Neujahrsvorsätze haben es so an sich, dass sie immer wieder kaum eingehalten werden können. Verkünder einer Lehre zu werden, die nur in dem Maße erträglich ist, als die Liebe zum Leben überwiegt, die nur da erhebend zu wirken vermag, wo der Gedanke des Menschen sich bis zur Vergötterung des Lebens aufschwingt, das mußte in Wahrheit einen furchtbaren Widerspruch zu seinem innersten Empfinden bilden, – einen Widerspruch, der ihn endlich zermalmt hat. (Lou Salomé S. 255) (Freilich war es nicht dieser Widerspruch, der Nietzsche zermalmt hat, sondern organisch bedingter Wahnsinn und Tod. Aber wahrscheinlich hätte er diesen Widerspruch immer weiter prozessiert. Seinem widersprüchlichen Wesen gemäß. Und vor allem deswegen, weil dieser Widerspruch ja nur auf den tatsächlichen doppelgesichtigen Charakter der Welt Bezug nimmt.) Wie lebensspendend Nietzsches Vitalismus ist! Längere Zeit habe ich während meiner Jugend an nicht unerheblichen Depressionen gelitten. Dann, nach Jahren, die Situation: Freundin weg, Zivildienst (wegen ihr) in Steyr gemacht, Dienstmoped endgültig kaputt, bin in strömendem Regen durch die Senke wieder mühevoll die Anhöhe raufgegangen (ein völlig unsportlicher Mensch wie ich!), zu einem Patienten, wie an einem Nullpunkt der Existenz… da aber sagte alles in mir plötzlich: Amor fati! Amor fati, und möge dieser Augenblick ewig wiederkommen! Die Depressionen waren weg (auf viele Jahre) – und das alles dank Zarathustra! Das habe ich Nietzsche zu verdanken! Wie lebensspendend Zarathustras Vitalismus ist, und wie ewig charismatisch dadurch Nietzsche! Deswegen lesen ihn alle, wegen dieses Charisma! Ich frage mich, ob ich je ein solches Charisma werde entfalten können. Ob ich mit meiner vergrübelten, emotional unergründlichen Art je bei den Weibern ankommen werde. Allerdings ist das Nietzsche ja auch nie. Der mittelgroße Mann konnte in der Menge leicht übersehen werden, so Lou. Wir sehen eben nicht gut aus. So wie die verwegen-süßen E-Boys. Ich interessiere mich für die ganz nachwachsende, nach-millenniale Generation. Und da gibt es die E-Boys. Die E-Boys machen nichts als dunkle Kleidung und nervige, modische Scheitelfrisuren zu tragen. Ansonsten, von irgendeinem Inhalt her, geht es bei ihnen um nichts. Sie machen das, um die Soft Girls zu beeindrucken, die sich durch ein süßes, niedliches Erscheinungsbild definieren. Ansonsten geht es auch bei den Soft Girls um nichts. Ja, Aussehen ist eben das Wichtigste, das haben sie ganz erkannt. Ansonsten geht es in der Welt um fast nichts, nicht einmal um das Dionysisch-tragische. Der letzte Mensch lebt am längsten. Das Zeitalter des letzten Menschen bereitet allerdings, spricht Zarathustra, das Zeitalter des Übermenschen vor.

Dionysos

Versuch einer göttlichen Art, zu philosophieren

Von

Friedrich Nietzsche

(Nachlass April – Juli 1885, 34(182))

Mit dem Wort „dionysisch“ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens,… ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens;… die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens … Mit dem Wort apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen Individuum, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz. (Nachlass Frühjahr 1888, 14(14)) Das Dionysische ist ein doppelbödiges Prinzip. Einerseits orgiastische Produktivität und Formenwerfen aus dem Daseinsgrund heraus, andererseits eine zerstörerische Instabilität, die alle Formen wieder vernichtet. Das Dionysische meint die intensive Erfahrbarkeit von Selbst und Welt, Auflösung der Beschränkungen und Ich-Grenzen, die Erfahrbarkeit dessen, dass die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht ist – es ist etwas Lustvolles, und alle Lust will Ewigkeit (allerdings will sie das, zumindest in meinem Fall ja gar nicht: unwillkürlich will man bei aller Ausgelassenheit wieder einmal zur Ruhe kommen. Das ist so aufgrund des wandernden Geistes. Den lustvollen Augenblick braucht man nicht zum Verweilen einladen, noch dessen ewige Wiederkehr einfordern: Man braucht nur die Fähigkeit, allerhand Augenblicke und so genannte Kleinigkeiten als höchst amüsant und lustvoll zu empfinden: dann lebt man von sich aus in einer wohligen Sphäre. Wenn man dieses Feeling, dieses Feeling zum Feeling, die Fähigkeit zum Herstellen von guten Bezügen hat: das ist das Himmelreich; es liegt im eigenen Herzen. – Bei Nietzsche hingegen besteht das Leben aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns bestenfalls die Schattenbilder jener Momente umschweben (Menschliches, Allzumenschliches 1 586) und das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet … nicht aber auf glückliche Zeiten (ebenda 471). Natürlich will man aber nicht bloß ein paar glückliche Augenblicke, sondern es ist da die Hoffnung auf glückliche Zeiten (wenn nicht gar der Wille zur Macht, der halt auch alles Gute und Vorzügliche für sich einfordert: also spricht Zarathustra vom großen Glück, dionysisch zu empfinden… Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des triumphierenden Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus (…) Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. (Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke 4)). Und gleichzeitig ist das Dionysische ein Abgrund, den man unmöglich willkommen heißen kann, ein Chaos. Außer eventuell eben im Rausch, der beschwingt und übermütig und lustig macht (oder außer eventuell, man ist schmerzverliebt und sadomasochistisch). Auf Rausch folgt Kater. Vielleicht ist das Dionysische, wenn man so will, ein Nullsummenspiel, und der Versuch, sich darüber zu erheben, es gar zu bejahen, hauptsächlich (und auch von ihren inneren Möglichkeiten her) eine nutzlose Trotzreaktion. Dionysos ist ein primitiver, archaischer Gott, ein Ungeheuer. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. So wurde Nietzsche immer mehr zum dionysischen Abgrund, als Ausdruck, scheinbar abermals, eines Abgrundes innerhalb seiner selbst. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch“), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. (Die fröhliche Wissenschaft 370) Kurios und kuriöser: Beides scheint auch in einer Person zusammenkommen zu können! Noch kuriöser: Vielleicht ist hinter den besonders großen, weit ausholenden Gesten und der besonders orgiastischen Rhetorik der Kultur- und Geschichtsumgestaltung von Grund auf in Philosophie und Kultur (und anderswo) die übergroße, positive Gestaltungskraft ein Elternteil, das übergroße, negative Ressentiment und der (nur ungenügend oder scheinbar differenzierende) Wille zur Zerstörung der andere (vgl. dazu also auch Rousseau oder Marx oder Wagner? (nicht aber Schopenhauer?))? Nietzsche spricht vom „romantischen Pessimismus“, den man bei Schopenhauer und Wagner habe, als einer Art Verklärung des inhärent tragischen Charakters des Seins. Er aber will halt mehr, er aber will auch was sagen, und so spricht er halt, fröhlich und gleichsam in aller Unschuld kindlich-triumphierend – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipssisimum (ebenda) – vom „dionysischen Pessimismus“, als einer Artisten-Metaphysik. Eine unglaublich kraftvolle vitalistische Geste, wieder einmal, die Nietzsche unsterblich macht. Allerdings auch auf eine Begrenzung verweist, die möglicherweise weniger in der Welt, sondern im Nietzsche-Subjekt selbst liegt – von Anfang bis Ende. Und der Grund dafür ist (scheint!), daß Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden, umLou Salomé (S. 91) nochmals zu bemühen, mit der er auch das berühmte Foto vom Weib mit der Peitsche, das hinter Nietzsche steht, aufnehmen hat lassen. Es hat also auch was irgendwie Sadomasochistisches an sich. Sadomasochismus kann ein reines, vitalistisches, orgiastisches Spiel sein, eine Steigerung der gewöhnlichen Sexualität, aber auch, und wohl meistens, was Gezwungenes haben. Das Zusammenspiel von Apollinischem und Dionysischem, als gleichsam (aber eben: gleichsam) Urprinzipen, sehe ich übrigens auch. Wobei das Apollinische einfach das Analytische (in allen möglichen Hinsichten) ist, das Dionysische das Synthetische. Ich habe mir dazu noch mehr notiert, aber es scheint eben verlorengegangen. Aber es wird schon wiederkommen.  

Das Dasein ist laut Nietzsche Wille zur Macht, ewige Wiederkehr des Gleichen; und das Subjekt, dass auf diese Prinzipen reflektiert, der Übermensch, ist der „Sinn der Erde“. – Philosoph sein ist nicht leicht. Es wird von einem verlangt, Antworten zu geben auf Fragen, die keiner richtig beantworten kann. Sich was auszudenken, wie was sein könnte, wo die exakten Wissenschaften im Dunklen tappen. Das mag bisweilen komisch sein, hinsichtlich der Intention wie auch der Ergebnisse, allerdings schreiend komisch ist es auch wieder nicht. Den großen Künstler und Philosophen, den großen Menschen, zeichnet es (wie auch Nietzsches Bekannter Jacob Burckhardt sagt) aus, dass er innerhalb des Weltganzen aufgeht, mit dem Weltganzen in einem bewussten Zusammenhang steht, und das Weltganze ausdeutet. Auch Heidegger meint: Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der Philosophie: „Was ist das Seiende?“ (…) Dagegen soll der Hinweis darauf, daß Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendländischen Philosophie steht, nur deutlich machen, daß Nietzsche wußte, was Philosophie ist. Dieses Wissen ist selten. Nur die großen Denker besitzen es. Die größten besitzen es am reinsten in der Gestalt einer ständigen Frage. Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet, auch Nietzsche bleibt in der Leitfrage. (Nietzsche 1 S.2) Es ist tatsächlich keine kleine Frage, was das Seiende ist. Diese Frage stellt sich eventuell jeder (zumindest ein paar Sekunden lang während des Lebens) und irgendeine Antwort darauf hat jeder (die ein paar Sekunden lang ist). Aber tatsächlich offenbar nur ganz wenige denken permanent darüber nach bzw. auf einem derart hohen Niveau der Abstraktion. All seine Kunst sei nur ein Versuch gewesen, eine Antwort zu geben auf die Frage: Was ist das Dasein?, hat Samuel Beckett einmal gesagt (und sogleich hinzugefügt, als denkender Mensch eben, dass er trotz all seiner Leistungen das Gefühl habe, stets nur an der Oberfläche gekratzt zu haben). Ich glaube nicht, dass es noch sehr viel mehr Schriftsteller pro Jahrhundert gibt, deren grundlegende Frage und Motivation auf einem solchen Abstraktionsniveau angesiedelt ist (und darum scheint das eine die Literatur von Beckett, Kafka oder Pessoa zu sein, das andere eben dann die andere Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts). Die Welt ist also laut Nietzsche Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen. Und, mehr noch, nur diejenigen hätten ihn wirklich verstanden, die seinen tiefsten Gedanken, der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verstanden hätten. Beides, sowohl das mit dem Willen zur Macht und auch der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ist sowohl verständlich als auch unverständlich, und mag somit leicht den Sog von ahnungsvollen Tiefen erzeugen (die dann aber eventuelle eine Täuschung sind). Der Wille zur Macht referiert auf etwas, das unter Menschen und Lebewesen im Allgemeinen einigermaßen vorhanden ist. Wie weit kann man das aber substantialisieren, letztendlich sogar als eigentliches, ausschließliches Weltprinzip? Mit dem Fortschreiten seines Philosophierens und also auch der erstaunlichen analytischen Auflösung von allen möglichen starr vorhandenen Konzepten in Philosophie, Wissenschaft, Moral und Alltag wird Nietzsche gleichzeitig immer starrsinniger in seiner Behauptung, alles in der Welt, das Ding an sich, sei Wille zur Macht – und nichts außerdem (so als wie wenn es sich dabei eben um das Ding an sich in der Psychologie von Nietzche gehandelt hätte…). Die „naturwissenschaftliche“ Basis des kosmischen Konzeptes von der ewigen Wiederkehr des Gleichen hinwiederum ist: Ein endliches Quantum an Kraft und Materie wird, in gegenseitigem Aufeinandereinwirken (also über den Willen zur Macht) ständig neue Formen werfend, durch einen unendlichen Zeitenlauf gejagt. Was also bedeuten würde: dass also alle konkreten Formen und Transformationen immer wiederkehren müssen. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in der zeitgenössischen Kosmologie (der Theorie der Multiversen oder aber Penrose´s „Zyklen der Zeit“). Das ist das eine: dass eine solche Möglichkeit der Weltinterpretation besteht. Das andere aber ist: wieso man sich gerade für eine solche entscheidet. Die ewige Wiederkehr des Gleichen erscheint als ein großes Paradigma einer allgegenwärtigen Präsenz des Daseins. Es spielt sich nicht, jeweils vorgeblich eigentlich oder uneigentlich in einer Vorder- oder Hinterwelt ab, sondern in einer, der unmittelbar gegebenen Welt. Es ist dynamisch und die Dinge, die passieren, die Dinge, die mit einem passieren, sind aufdringlich. Man könnte sagen: diese Ewigkeits-Metaphysik lässt uns den Augenblick umso intensiver erleben. Dann aber eben auch: das Elend und die Elenden, die immer wiederkehren, ohne je eine Aussicht auf Besserung. Jeder tatsächlich intelligente Mensch kennt das, und es ist eine erschreckende Vorstellung: macht es deswegen aber nicht notwendigerweise zu einer Philosophie, gar zu einer Basis für Philosophie. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist nichts, was man will. Außerdem schafft hier Nietzsche einen Widerspruch zu sich selbst.  Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat (…) Eine Art Einheit, irgend eine Form des „Monismus“: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit (…) aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! (Nachlass, November 1887 – März 1888, 11(99)) Gleichzeitig setzt aber eben Nietzsche mit seiner Metaphysik dann wieder lautstark ein solches Allgemeines, und unterwirft die konkreten Erscheinungen dann darunter – um wieder erneut befreien zu können, indem er den Übermenschen postuliert.  Nietzsche befreit zunächst das Werden, verkündet die Unschuld des Werdens, ruft eine befreite, gottlose Welt aus, eine überschäumend-dionysische. Er befreit also von der sphärischen Ganzheit, der Organisierung und einengenden Systematisierung der Welt. Dann aber, gleichsam, macht er wieder einen Schritt zurück, indem er die Welt systematisiert und konzeptionalisiert als Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr der Gleichen! Natürlich eben, der große Philosoph, der mit dem Weltganzen im bewussten Zusammenhange steht, muss diesen Zusammenhang ja aussagen. Die Sucht nach einem Zusammenhang, und sei es auch ein nihilistisch-negativer, ist dem Menschen (als dem Tier, das abstrakte Zusammenhänge herzustellen vermag) wesenseigen. Er muss sich etwas ausdenken. Im Wesentlichen hat er sich mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht eine Systematisierung des Dionysischen ausgedacht – das Dionysische kehrt hier also wieder. Das „Dionysische“ hat es an sich, dass es nicht fortschrittlich ist, sondern, in seiner überschäumend-tragischen Bewegung, statisch und stationär.

Welt-rad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel:

Noth – nennt´s der Grollende,

Der Narr nennt´s – Spiel…

Was Nietzsche dann eben will, ist aus der Empfindung der Not eine Empfindung des heiteren Spiels zu machen. Wer das tatsächlich schafft, sei (obwohl Nietzsche hier eben vom Narren spricht) der Übermensch, der das Leben und das Dasein umfassend bejaht – der Sinn der Erde. Und Lou addiert, nur der Umstand, daß der Weltverlauf kein unendlicher, sondern ein sich in seiner Begrenzung stetig wiederholender ist, macht es möglich, ein Ueberwesen zu construieren, in dem der ganze Weltverlauf ruht und sich abschließt. (S.265)  – Nirgendwo aber hat Nietzsche dann eben den Übermenschen wirklich deutlich gemacht. Zarathustra bleibt dessen Prophet, Nietzsche hat ihn nicht wirklich erreicht. Im Gegensatz zu seiner stationären Metaphysik spricht Nietzsche, im Hinblick auf den Übermenschen, (fast) immer nur als etwas urtümlich Verbundenes mit der Zukunft. Und jetzt will ich selbst einmal etwas sagen: Nietzsches hier so konzipierter und empfundener Übermensch geht mir nicht weit genug. Er triumphiert über die Welt und den Lauf der Welt, indem er ihn durchreflektiert, durchlebt und verinnerlicht, er tut also das, was der Mensch macht: er schafft auf der Basis von Natur eine Kultur. Aber, wenn ich mir das so ansehe, bleibt er dabei im kosmischen Strudel gefangen. Wieviel besser ist es wohl, einfach außerhalb davon zu sein! Jenseits von Gut und Böse bin ich zwar nicht, aber, wie ich fühle, bin ich jenseits von Leben und Tod. Es ist, zugegebenermaßen, komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Aber mein Geist und mein Empfindungsvermögen sind mittlerweile so umfassend und weitläufig, dass lebens/gesellschafts/geschichtsphysikalische Begrenzungen für mich nicht mehr wirklich erfahrbar sind. Somit bin ich ein echtes metaphysisches Wesen! Es ist komisch, ein metaphysisches Wesen zu sein. Es ist komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Da hat man den Strudel mit den Galaxien, das Universum, das sich durch die Zeit wälzt. Außerhalb davon aber, links oben, eine (eventuell sichelförmig gebogene) helle Aura, die in sich selbst hineinschmunzelt. Über die Materie erhebt sich, einigermaßen, der Geist: Also machen wir das so, treiben wir die Hydraulik ins Extrem – und treiben, pressen den Geist aus dem materiellen Universum heraus. Was wir dann haben, ist jenseits vom Übermenschen: Man stelle sich einfach vor, außerhalb des Universums, außerhalb seines Verlaufs, eine Entität, eine Art Aura, die selbstzufrieden in sich hineinschmunzelt (wenngleich nicht dauernd). Das ist das Jenseits vom Übermenschen. So stelle ich mir das vor, und möchte diese Vorstellung gern präsentieren. Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat (und ganz Vorstellungsvermögen geworden ist, Anm.), diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts. Also sprach Schopenhauer am Ende seines großen Werkes. Und überhaupt ist die Welt weder Wille zur Macht noch ewige Wiederkehr des Gleichen. Und der Übermensch wird natürlich auch sogleich über sich hinaus wollen – vor allem, indem Nietzsche ihn in eine Art sadomasochistisches Weltgefängnis sperrt, aus dem er sich dann ja auch gar nicht wirklich befreien kann. Grundsätzlich: kein Mensch, der bei Trost ist, wird die ewige Wiederkehr des Gleichen wollen, nicht einmal ein Narr. An anderen Stellen charakterisiert Nietzsche den kleinen Menschen, indem dieser sinnlos und egoistisch weiterleben wolle. Selber kommt er dem mit seinem amor fati dann aber auch wieder nahe. Und so fällt Nietzsche Steigerungs-Metaphysik auf der Basis vom Willen zur Macht wieder in sich zusammen (wenngleich sie natürlich unwillkürlich wieder aufstehen mag). Wille und Macht sind unendlich in ihrem Streben, aber endlich und zeitlich in ihrer Reichweite, ein selbstgemachtes Gefängnis. Der Geist ist unendlich und befreit. Er will nichts, er kann alles.

sii ,ya lo vi , y tambien lei ,la nota ,y siempre fui y soy una persona feliz pero ,las cosas que veo a mi alrededor lejos o cerca me duelen y yo estoy orgullosa de mi misma porque he logrado sobreponerme a muchas cosas malas ,ahora mismo ,pense ,hace unos dias que iba a morir ,ja¡¡¡pero no ,ya me siento mejor y quiero hacer muchas cosas aun

Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, weshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet deshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? (Nachlass Winter 1876 – 1877, 20(12)) OH JA, darauf wartet die Menschheit! Auf die Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann. (Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5(180)) Soweit ich erkennen kann, wartet die Menschheit nicht so intensiv auf den höchsten Intellekt oder auf das Genie. Nietzsche wiederum rächt sich bekanntermaßen so, dass er die Menschheit gerade einmal zu einem Bodensatz degradiert, der für die Erzeugung des Genies und des höchsten Intellektes da ist, wenn nicht da zu sein hat. Trotzdem sie egoistisch sind und sich furchtbar wichtig nehmen, haben die einen und anderen Menschen wenig Selbst, und daher auch wenig Sinn für den Wert; und dass, weil sie weder sich noch den anderen kennen. Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben (…) Also ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele (…) Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinweist. (Abhandlung über Der Werth des Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1), fast wörtlich übernommen auch in Menschliches, Allzumenschliches 1 34) Wer ist aber desselben fähig (angesichts eines Gesamtbewusstseins über die Menschheit nicht zusammenzubrechen, Anm)? Gewiß nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. (Menschliches, Allzumenschliches 1 34) Und niemand lügt so viel wie dich Dichter, also spricht dann Zarathustra. Aber:

Das Leben selber ist ein Gegensatz zur „Wahrheit“ und zur „Güte“ – ego

Das Leben-Bejahen – das selber heißt die Lüge bejahen. – Also kann man nur mit einer absolut unmoralischen Denkweise leben. Aus dieser heraus  erträgt man dann auch wieder die Moral und die Absicht auf Verschönerung. – Aber die Unschuld der Lüge ist dahin! (Nachlass Frühjahr 1884, 25(101))

Dabei liegt Sinn und Glück im Leben doch darin, dass man gute Taten tut und eine ethische Existenz führt! Damit baut man die unsichtbaren Verbindungen auf, die die Erde umrunden und unter sich lassen, die gute, erzerne Stabilität. Aber aus irgendeinem Grund will Zarathustra über die Moral hinweg, weil sie ihm lästig ist, hinderlich erscheint (und tut sich dann halt schwer, einen Wert und Sinn des Lebens zu erkennen). Vielleicht weniger subjektiv aber interpretiert: Der Sinn des Lebens eines Lebewesens ist zu überleben und sich fortzupflanzen, und das möglichst auf einem höheren Niveau. Der Sinn von Gesellschaften ist sich zu reproduzieren, wenn möglich auf einem fortwährend höheren Niveau der Qualität des Lebens. Der Sinn des Lebens ist ein gutes, angenehmes Leben führen zu können. Der Sinn des Lebens ist, eben, ein Ja-Sagen: dass man ja zu sich selber sagen kann und zu den anderen (und Nietzsche hatte, in seiner emphatischen Betonung des Ja-Sagens seine Probleme damit). Das Leben kann äußerlich und/oder innerlich angenehm oder unangenehm sein. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie glücklich man sich fühlt, kann immer wieder erstaunlich subjektiv sein, und wenig abhängig von den äußeren Umständen. Der Wert oder der Unwert, den das Leben für einen haben kann, hängt davon ab, ob man gesund ist oder ob man krank geworden ist. Es gibt Lebensumstände, die einen durchaus krank machen. Wenn das Leben eine zu große Qual, eine zu große Krankheit für einen geworden ist, besteht vielleicht kein Grund, sich dieser Qual weiter auszusetzen. Ansonsten, sei guter Dinge. Goethe, der zumindest bei den weniger Eingeweihten als der höchste Intellekt gilt, meint, egal, wie hoch man steigt: die Welt und das Leben werden immer eine gute und eine schlechte Seite haben (sowie außerdem: Die Welt ist eine Glocke, die einen Riss hat: sie klappert, aber klingt nicht). Ja, das scheint mir bei allem Steigen so zu sein und zu bleiben (oder eben, beim Steigen oder Fallen jeweils neue Lösungen wie auch Probleme aufzuwerfen (dass man zu gescheit ist, dass man zu blöd ist oder dass man zu mittelmäßig ist)). Diese (letztendlich) Dialektik würde man gerne überwinden. Das ist das Streben nach Transzendenz. Heil dem, der Transzendenz erreicht! Transzendenz reflektiert aber auf Immanenz, also darauf, dass es einen Verweiszusammenhang gibt, der außerhalb der Transzendenz, unterhalb ihrer liegt, und ganz real ist, als umso realer erlebt werden mag, je transzendenter man ist. Nietzsches illustrer Kollege Jacob Burckhardt, drückt es (in seinen Weltgeschichtliche Betrachtungen) so aus: Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen; es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstreitenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge „geistig zu überwinden“ und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben. Manche werden posthum geboren… Aber wir wollen ja jetzt lachen, und für den Rest des Lebens. Nun, jeder ist seines Glückes Schmied, und die Philosophie hingegen kann, wie so oft, auch hier nur eher allgemeingültige Regeln angeben, ohne den Einzelnen gleichermaßen allgemein zu erreichen. Weißt du noch, was ich dir über den Begriff der Philosophie mitgeteilt habe?, fragt es in der Möwe bei der beschränkt-weltklugen Fernán Caballero – Ja, Senor, antwortete Maria: sie ist die Lehre vom glücklichen Leben. Allein hierüber gibt es keine gültigen Regeln. Jedermann versteht das Glück nach seiner Weise. Don Modesto glaubt es darin zu finden, dass man sein Fort, welches eine eben solche Ruine wie er selber ist, mit Kanonen besetzt. Bruder Gabriel erkennt das Glück darin, dass sein Kloster wiederhergestellt wird und wiederum seinen Prior und seine Glocken erhält. Maria ist glücklich, wenn sie nicht abreisen, mein Vater, wenn er eine Krähe fängt, und Momo, wenn er alles mögliche Böse tun kann. (Bei der Gelegenheit frage ich mich gerade, wie weit Nietzsche mit seiner Peitsche bei der naiv-allwissenden Caballero wohl gekommen wäre. Sie hätte sie ihm wohl kurzerhand weggenommen.) Nietzsches Glück (Mein Glück! Mein Glück!) über seine wohligen Visionen ist sehr groß, er kennt die halkyonischen Tage und Zustände und sein Genueser Schiff treibt friedlich dahin. Ein vollkommen glatter, herrlicher, friedlicher See. Aber dann packt es ihn immer wieder. Grimmig-pathetisch spricht er vom eigentlichen Glück, das – nicht im Augenblick sondern – in der Zukunft liegt: Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – In Intime Beleuchtung von Ivan Passer gibt es eine Szene, wo die fröhliche Stepa (die die unbeschwerte, lebenslustige und auch respektlose Jugend gegenüber dem sklerotischen Alter verkörpert) aufgrund von einem kleinen Unfall bei Tisch, der ein wenig das Zeremoniell stört, in ein langes Gelächter ausbricht und fröhlich lachend, unfähig aufzuhören, durch das Haus wandert. Intime Beleuchtung habe ich vor Jahren gesehen, aber das ist mir hängen geblieben, daran erinnere ich mich gerne, an die einfach aus sich heraus lachende Stepa. Ich glaube also, wenn Nietzsche daherkommen würde mit Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – würde die Stepa denselben Lachanfall bekommen (der im Übrigen nicht bösartig gemeint ist – und wie könnte man Zarathustra besser recht geben?). Das habe ich unweigerlich bei mir gedacht, als ich im Zarathustra das mit den lachenden Löwen gelesen habe. Darüber muss ich schon immer wieder mal in mich hineinschmunzeln.

Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.

Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – (Nachlass Mai-Juni 1888, 17(3))

Nietzsche ist ein mystisches, gleichsam archaisches Doppelwesen auch in der Hinsicht, dass er in höchsten Maße Philosoph ist (Erkennender und Erklärender: „apollinisch“) als auch Künstler (Schaffender und „Verklärender“: „dionysisch“), ja, beinahe ein Künstler, der sich über das Medium der (Poesie und) Philosophie ausdrückt, oder aber wieder ein Philosoph, der sich künstlerisch ausdrückt und eine zutiefst „künstlerische“ Metaphysik formuliert. Eigenwillig will Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie die griechische Tragödie als einen Versuch der Vergegenwärtigung und Verklärung der tragischen Welt begreifen (und daraus eine „harmonische“ Gesellschaftsform ableiten, in der einzelne höhere, brahmanengleiche Menschen eben jene höchsten Anschauungsformen schaffen, in und durch Leiden am Leben, und der Rest der (zur Herstellung wie auch zur angemessenen Rezeption dieser Anschauungsformen mehr oder weniger unfähigen) Gesellschaft, inklusive vor allem der Sklaven, arbeitet, und leidet: Damit habe man einen solidarischen Leidenszusammenhang in Gesellschaft, Kultur und Dasein). Mehr noch, ist die Kunst für Nietzsche eine Versöhnung mit dem „Ur-Einen“ der Welt und eine Aufhebung des principium individuationis. Kunst wird in die Nähe zu Traum und Rausch gestellt, bzw. zu einer Art hochintelligenten Rausch, der vereinigt mit der Welt, und kalkuliertem Traum, der spontane Eindrücke plötzlich heraushebt, durch Assoziation ein alternatives Ganzes schafft, in dem sich die Realität spiegelt und deren „Wahrheit“ zum Ausdruck kommt, und unvermittelt intuitive Einsichten und Erkenntnisse mitzuteilen scheint. Nietzsche hatte ein ausgeprägtes Assoziationsvermögen (ein Vermögen, spontan Assoziationen zu Eindrücken zu bilden), und er dachte und sah anschaulich (laut Schopenhauer das Charakteristikum des Genies). Bei einer Gelegenheit erzählte er einem Gesprächspartner, er habe schon immer das Gefühl gehabt, auf einer Mission zu sein, und dass er vor seinem inneren Auge „sehr lebendige“ Bilder sehe, die sich ständig wandeln (und die, je nach Gesundheitszustand, entweder erhebende oder erschreckende Qualitäten annähmen). (Prideaux S.319) Ja, so ist der Geist des tiefsinnigsten Künstler und Philosophen, des Rimbaud´schen Sehers: Alles ist bei ihm darauf ausgerichtet, in den „Urgrund“ zu sehen und, hoffnungsvoll, zum Ur-Einen (der umfassenden Versöhnung) vorzustoßen. Diese Kunst, und diese Philosophie, ist, in jeder Hinsicht, transgressiv und transzendent. Sie macht es auch, dass Individuen wie Nietzsche oder Rimbaud, in diesem Drang zum Ur-Einen und zum Absoluten vorzudringen, einerseits angestrengt in eine praktisch nicht auffindbare Ur-Vergangenheit blicken und andererseits in ein undifferenziertes, Formen auflösendes gleißendes Licht fernster Zukunft, weniger aber in der Gegenwart leben, gerade aber eben in ihrer „Unzeitgemäßheit“ avantgardistisch sind und die Gegenwart überwinden.  Apollo steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offenliegt. (Die Geburt der Tragödie 16) Was aber ist das Ur-Eine oder sind die Mütter des Seins? Die Sehnsucht nach der Frau oder nach der Mutter, mögen Feministinnen jetzt triumphierend aufheulen. Aber man sollte das vielleicht allgemeiner betrachten. Die Sehnsucht, das Urtümliche und Eigentliche zu entdecken ist eine Sehnsucht des Geistes; die Sehnsucht, in diesem Urtümlich-Eigentlichen in Geborgenheit aufzugehen, ist eine Sehnsucht der Seele. Dichtung, Kunst, Schöpfung, Philosophie in ihrer tiefsten Form, und also der, wie man sie bei Nietzsche hat, die Vergegenwärtigung der totalen Realität, ist mit einer ständigen Vergegenwärtigung von Vordergrund und Hintergrund begleitet: die sich allerdings gegenseitig bedingen, oder gegenseitig aufeinander verweisen. Konkrete, apollinische Formen werden erzeugt (oder, wie es scheint, vom Urgrund abgespalten) und werden eben konkret; so mächtig sie auch sind, und je konkreter man versucht sie festzustellen (was sie dann eben wieder zweifelhaft macht), desto mehr fallen sie scheinbar wieder in den Urgrund zurück, der undifferenziert, aber allmächtig erscheint: die apollinischen Formen aber eben als bloße Abspaltungen vom Urgrund, als relative Qualitäten gegenüber einem scheinbar Absoluten. Das ist es, was das Denken und was das Assoziationsvermögen macht. Das Ur-Eine und die Mutter des Seins ist nun also der Geist und das Assoziationsvermögen an sich (und die sich abspaltenden apollinischen Formen eben die Bilder und Gedanken, die er erzeugt). Es ist dann also etwas, wie der Geist konkret funktioniert, und keine allzu angestrengte und künstliche Metapher. Dionysos ist Nietzsches Assoziationsvermögen. Die Metapher ist für den echten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt … Wir reden über Poesie so abstrakt, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach: man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterscharen umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühlte nur den Trieb, sich selber zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. (ebenda 8) Bekanntlich hat sich Nietzsche dann immer mehr mit Dionysos (und vielleicht zunehmend weniger mit dem doch eher besonneneren Zarathustra) verglichen. Es stellt sich, bei genauerer Betrachtung, die Frage, wieso Nietzsche so ausschließlich auf die Kunst rekurriert, hinsichtlich seiner Weltrettungspläne. Die Welt ist ja mehr als die Kunst. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, und sollte sich auch noch anders denn als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lassen. Die Wissenschaft hat die Welt im zwanzigsten Jahrhundert auf ein ganz anderes Level gehoben als alle Kunst. Die Unterhaltungskunst hat nicht weniger erstaunliche und gehaltvolle Phänomene produziert als die hohe Kunst im Lauf der Zeit. Usw. Nietzsche beharrt aber starrsinnig auf der entscheidenden Rolle der Kunst. Neben all seiner eher persönlich zu nehmenden Kunst-Metaphysik (Der tragische Künstler ist kein Pessimist – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch… (Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie 4)) stellt Nietzsche Gravierendes und Entscheidendes über den Status der Kunst fest, und macht sich berechtigte Sorgen über den drohenden Verlust dieses Status. Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit, rekurriert er auf Schopenhauer. Aufgabe der Kunst ist (ähnlich der Metaphysik), den Status des Menschen in der Welt auszusagen bzw. (im Gegensatz zur Metaphysik) auszudrücken und ein geheimes, verborgenes „Wesen“ der Dinge und der Individuen an die Oberfläche zu bringen. Kunst befragt den Status des Seienden (Ontologie), die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten (Epistemologie) und nach ihrem eigenen, weltverbessernden Sinn (Deontologie). Sie tut darin dasselbe wie die Metaphysik. Sie unternimmt große und solitäre Anstrengungen, um auf etwas drauf zu kommen. Denn der eigentliche Künstler will auf etwas draufkommen, Tiefenschichten freilegen, um dann einen neuen hochzeitlichen Ring der Ringe, den Ring der Sinnhaftigkeit zu schmieden. Der echte Künstler (und Philosoph) fragt (wie Nietzsche) nach dem Status des Menschen im Weltganzen, im Universum. Man soll das nicht kleinreden als (antiquierten) Geniekult (oder aber die Feministinnen aufheulen lassen von wegen: Da! Machtphantasien des alten weißen Mannes!); denn ohne solche Anstrengungen geht Entscheidendes verloren, versinkt alles in Dekadenz und Anarchie. Ohne die Dichter und Künstler würden die höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, rasch verfallen, die Ordnung, die in der Natur erscheint und die nur das Ergebnis der Kunst ist, würde verschwinden. Alles würde ins Chaos versinken … Die Dichter und Künstler determinieren im Wettstreit die Gestalt ihrer Epoche, und gelehrig richtet sich die Zukunft nach ihren Weisungen. (Guillaume Apollinaire) Tatsächlich scheinen derartige Anstrengungen in der Kunst der letzten Jahrzehnte nicht mehr sonderlich verbreitet (im Gegensatz aber eben zum beginnenden Massenzeitalter, das auch das Zeitalter der avantgardistischen modernen Kunst war, und damit ein Höhepunkt in der Kunstgeschichte). Sie erscheint nicht mehr sinnstiftend, umfassend und avantgardistisch antizipierend, sondern bestenfalls als ein schlaffer Kommentar zu dem, was in der Wirklichkeit bereits passiert ist. Sie wirkt passiv und defensiv. Wieso das so ist, ist ein Rätsel, das mich über alle Maßen beschäftigt. Nietzsche würde es als décadence-Phänomen bezeichnen, oder als Rechnung, die man für Demokratie und Vermassung eben präsentiert bekommt. Als Ausdruck des Zeitalters des letzten Menschen. Man ist immer wieder geneigt, erstaunt zu sein, wie genau Nietzsche so vieles vorhergesehen zu haben scheint. Aber wie gesagt: das Gesellschaftliche zu denken, oder es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, war Nietzsches Sache nicht. Moderne ist kein Dekadenzphänomen, sondern, wie Max Weber es festmacht: die Ausdifferenzierung der Lebenssphären. Mit der Ausdifferenzierung der Lebenssphären relativiert sich auch ihre jeweilige Bedeutung, bzw. reflektieren die Lebenssphären verstärkt aufeinander. Es scheint nach dem Ende des Massenzeitalters (das zuletzt noch umfassend in der Pop Art reflektiert wurde oder von den Beuysschen Ausbruchsversuchen, eine Gesellschaft von Künstlern zu schaffen) schwierig geworden zu sein, umfassende künstlerische Klammern und Symbole zu schaffen (nicht zu reden von der Ausreizung der Ausdrucksmittel, die in den verschiedenen Kunstgattungen schon vor langer Zeit und für lange Zeit stattgefunden hat). Dann gibt es die postmoderne Ironie und Relativierung usw. Große kathartische Zusammenkünfte und Vereinigungen hat man weniger über Bayreuther Festspiele als über Popkonzerte, ganz zu schweigen von Fußballspielen. Und allgemein gibt es den Wandel der Zeit, dem auch die Gegenwart einst unterliegen wird. Es gibt Epochen des kulturellen Aufschwungs und solche des Verfalls (auf längere historische Sicht gesehen also eine Angleichung an den Mittelwert). Aber dennoch: Wo sind sie, die lachenden Löwen der heutigen Kunst? Warum finden da nicht mehr Anstrengungen statt? Ich glaube, die Stepa würde da auch nachdenklich bleiben. Ich denke, die Welt wartet hier abermals auf die Erscheinung des höchsten Intellectes, der das gesamte Weltganze im und über das heutige Zeitalter begreift und ihm einen Sinn zu geben vermag. Oh ja, das tut sie abermals ganz bestimmt! Also spricht Zarathustra vom Übermenschen, der auf das Zeitalter vom letzten Menschen folgt.

Der Zauber, der Nietzsche auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners macht, erklärt sich namentlich daraus, daß Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur verwirklichen wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im Grunde nichts anderes hinzu, als die Steigerung dieses Ideals ins Mystische, ins unergründlich Bedeutungsvolle…. (Lou Salomé S.88) Nietzsches große ursprüngliche Anhänglichkeit an Wagner erklärt sich daraus, dass Wagner so groß ist. Und Nietzsche so empfänglich ist für alles Schöne, Große und Gute. Ein naiver Schwärmer, der ein Idol braucht, ist er natürlich nicht, und so gerät er zunehmend in Konflikt mit Wagner, nicht zuletzt aufgrund von dessen menschlicher Kleinheit, die dem so lauteren Nietzsche immer klarer vor Augen tritt. Bereits Mitte der 1870er Jahre notiert er beispielsweise bei sich:  Wagner als Schriftsteller giebt nicht sein Bild treu wieder: Er componiert nicht: das Gesammte kommt nicht zur Anschauung: im Einzelnen schweift er ab, ist dunkel, und nicht harmlos und überlegen. Er hat keine heitere Anmassung. Es ist ihm alle Anmuth, Zierlichkeit versagt, auch dialektische Schärfe. (Nachlass Anfang 1874 – Frühjahr 1874, 32(30)) Die „falsche Allmacht“ entwickelt etwas „Tyrannisches“ in Wagner (…) Der Tyrann lässt keine andere Individualität gelten als die seinige und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten lässt: oder die Juden. (ebenda 32(32)) Seine Begabung als Schauspieler zeigt sich darin, dass er es nie im persönlichen Leben ist. Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft zu überzeugen. (ebenda 32(41)) Die vierte Unzeitgemäße Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, ist dennoch vordergründig noch eine große Lobpreisung Wagners, wenngleich sie einige Ambivalenzen enthält (in Ecce homo gesteht Nietzsche dann, dass die dritte und vierte Unzeitgemäße, die dem Werden und Bestehen, dem Lebensweg des kulturellen Heros und Genius gelten, schon damals eher Selbstbetrachtungen und –reflexionen waren, denn solche über Schopenhauer und Wagner). Dennoch ist es, wenn man den Nachlass liest, bemerkenswert, wie tief das Misstrauen Nietzsches gegenüber Wagner schon lange vor seiner luziden Streitschrift Der Fall Wagner gewesen ist, und wie differenziert und originär die Beobachtung von dessen Stärken und Schwächen (ebenso bemerkenswert, wie dass er in den früheren 1880er Jahren in den unveröffentlichten Aufzeichnungen selbst gegen „das Genie“ polemisiert und es auseinandernimmt, es teilweise sogar für nichtig erklärt, möglicherweise auch im Zusammenhang mit seiner immer vollständigeren Loslösung und dem Hintersichlassen von Wagner und Schopenhauer). Der Fall Wagner ist vielleicht eine der erstaunlichsten Schriften von Nietzsche. Was er da, einerseits nach langer, qualvoller innerer Auseinandersetzung, andererseits kurzerhand hinknallt: man kann einem so kosmischen Dokument kaum irgendetwas Irdisches entgegensetzen. Klare und nüchterne Analyse und höchster kulturgeistiger Ernst treffen sich mit Übermut, Ausgelassenheit und Polemik, teilweise auch blödsinniger Polemik (vgl. z.B. Abschnitt 3). Zarathustra zoomt sich gleichermaßen tief in die Subjektivität von Wagner hinein und dann in eine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik wieder heraus. Gleichzeitig streng und heiter ist er gerecht, genauso wie an anderen Stellen, wie ein davonlaufendes Kind, das etwas angestellt hat, unfair und ungerecht. Ist es heiliger Ernst und göttlicher Spaß – oder beides zugleich? In ihrem bescheidenen Umfang von einigen Dutzend Seiten einerseits gleichsam eine Gelegenheitsschrift wie auch ein profundes, gleichsam endgültiges Dokument nicht nur zu Wagner, sondern zur deutschen Kultur, ja, vielleicht sogar zur Kultur überhaupt, eine gleichermaßen fette wie schmale, scheinbar abschließende Akte zum Fall Wagner. Und: ist sie deswegen so, wie sie ist, weil Nietzsche nicht nur in Wagner und dessen Probleme – lauter Hysteriker-Probleme – hineinschaut, sondern auch in sich selbst? Wagner wird verspottet, seine grandiose Idee vom „Gesamtkunstwerk“ beruhe in Wahrheit auf seiner Unfähigkeit, tatsächlich etwas Ganzes zu machen und aus dem Ganzen (zu) schaffen (10), er wolle „mehr“ machen als nur Musik – so redet kein Musiker (ebenda). Wagner mag darob gelassen bleiben: So gut ist geht, ist sein Gesamtkunstwerk gelungen. Wenn er „mehr“ gewollt habe, „als nur Musik“: so liegt das eben im transzendenten Wesen und Streben des kulturellen Heros – Zarathustra (oder zumindest Nietzsche) wolle ja auch immer mehr. Als Musiker bzw. als Komponist wurde er, der die Musik so liebte, von Wagner und anderen aber eher vernichtend kritisiert (wenngleich Gustav Mahler – im Übrigen einer der wenigen frühen Leser von Nietzsche – Nietzsche für einen unterschätzten Komponisten gehalten hat). Die schwierige Persönlichkeit Wagners! Die ideologischen Differenzen rund um den Parsifal (von Nietzsche dann, als er ihn Jahre später zum ersten Mal gehört hatte, als das Beste, was er je komponiert hat empfunden). Eine Kunst, die nicht überschäumend Ja! sagt zum Leben – und deswegen eine der „décadence“ ist (?). Dionysos gegen den Gekreuzigten. Wagner hat Erfolg, Nietzsche nicht. Und dann noch der Fall Cosima Wagner. Ah, dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre Frauen und schleppt sie in seine Höhle … Ah, dieser alten Minotaurus! Was er uns schon gekostet hat! (Der Fall Wagner, erste Nachschrift) René Girard hat eine imposante (wenngleich totalitäre) Heuristik, wonach mimetische Konkurrenzkämpfe das eigentliche Ding an sich des Zwischenmenschlichen und des Sozialen seien. In Die verkannte Stimme des Realen deutet er Nietzsches verfolgende Wut auf Wagner als Konkurrenzkampf („Nietzsche contra Wagner“) darum, wer der eigentliche definierende kulturelle Heros der Zeit sei – und nicht zuletzt um dessen Trophäenfrau. Restlos überzeugend ist das nicht. Im fieberhaft-luziden Ecce homo wird Wagner aber siebzigmal erwähnt, auch eine Erwähnung von Cosima schlüpft dabei durch. Bei seiner Einweisung in die Nervenheilanstalt Jena gab Nietzsche bekannt: „Meine Frau Cosima Wagner hat mich hierher gebracht“. Kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch hat Nietzsche Briefe an Cosima aufgesetzt – an im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt habe…  Insgesamt aber: war Wagner ein großer kultureller Heros. Nietzsche aber war eine praktisch singuläre Gestalt. Der große kulturelle Heros hat eine Intelligenz, wie man sie vielleicht bei einem Menschen unter hunderttausend(en) findet. Die praktisch singuläre Gestalt aber hat ein intellektuelles Level wie vielleicht unter hundert Millionen Menschen einer. Es ist also anzunehmen, dass der große kulturelle Heros von der praktisch singulären Gestalt mittelfristig durchschaut werden wird (weswegen die praktisch singuläre Gestalt auch kaum einer in seiner Nähe haben will).

Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?, so Nietzsche in seiner nachträglichen Vorrede zur Morgenröte (2). Nein, man versteht ihn bekanntlich, und aus gutem Grund, nicht wirklich. Nietzsches furiose Abrechnung mit der Moral, seine erstaunlichen Einsichten, seine Grenzüberschreitungen, sein Wille zum Bösen – all das ist grell und sensationell, noch nie dagewesen, eine enorme Überwindung und scheinbar übermenschliche Anstrengung: Nietzsche gewinnt dadurch abermals sein flackerndes Charisma. Es schärft den skeptischen Sinn, das psychologische Wissen, die persönlichen Möglichkeiten hinter die Erscheinungen zu blicken, und sich von moralischer Heuchelei nicht so leicht täuschen zu lassen. Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Nietzsche, der Überwinder der Moral, weiß dabei genauer als praktisch jeder andere, inklusive der großen Weisen und Heiligen der Geschichte, was Moral ist und eine tugendhafte Natur. Er weiß, was ist vornehm? Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln. (Nachlass Anfang 1880, 1(65)) Wenn es wirklich vorkommt, daß der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt … wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden – sogar etwas, das man hier klugerweise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll. (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 11) Seine Feinde, seine Unfälle, seine Untaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen-machender Kraft ist (ein gutes Beispiel aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit einem Ruck von sich, das sich bei anderen eingräbt (…) Dagegen stelle man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert – und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat den „bösen Feind“ konzipiert, „den Bösen“, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst!… (Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung 10) Vor allem schärft es den Sinn, was das Gute ist, wie Selbstkultivierung und individueller Ethos auszusehen hat. Nietzsche wusste, was vornehm war, denn er war sehr vornehm. Allerdings ist das Ethos bei Nietzsche immer eine individuelle Angelegenheit und eine der Selbstkultivierung, seine Ethik ist eine Individualethik und keine Sozialethik, die sich für den anderen tatsächlich interessieren würde. Ebenso bleibt Moral und Ethik bei Nietzsche in ihrer Intention ein psychologisches Phänomen und keines, das sich aus der Frage nach vernünftigem sozialem Ausgleich aufdrängen würde. Bei einer Wanderung durch die vielen feinen und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmäßig miteinander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verrieten, und ein Grundunterschied heraussprang: Es gibt Herren-Moral und Sklaven-Moral (Jenseits von Gut und Böse 260) In Nietzsches einerseits filigranen und filigransten Untersuchungen, andererseits willkürlichen Projektionen hat man immer wieder einen (für ihn) paradiesischen Urzustand, wo sich die starken, vollen, aristokratischen Naturen tummeln und sich gegenseitig feinfühligst in ihrer Selbstkultivierung helfen, in ihrer Herren-Moral unbeeindruckt von der Not der Nicht-Aristokraten. Dann hat man vor allem die unteren Schichten, die sich ebenfalls lustig und selbstgenügsam tummeln und ihren brutalen und/oder harmlosen Vergnügungen nachgehen, zufrieden mit sich und der Welt – bis dass der böse Geist des Ressentiment und des Neides auf die Aristokraten in sie fährt (in der Regel durch ein intelligentes, ressentimentgeladenes Mitglied ihrer Klasse oder einen Sympathisanten). Insofern sich Ressentiment und Neid in einem Kampf um Deutungshoheiten nicht als solche zu erkennen geben können und auch nicht nachhaltig-zersetzend wirken können, oder aber sich selbst verkennen, kleiden sich dieses Ressentiment und dieser Neid in den Mantel einer überlegenen, universalistischeren, allgemein gerechteren Moral (welche aber vorwiegend dazu diene, die starken, vollen Naturen zu schwächen und sie gar nicht erst mehr aufkommen zu lassen). Nietzsche hat Recht, das zu bedenken zu geben. Nietzsche hat auch Recht, dass zwischen Mensch und Ressentiment-Mensch deutlich unterschieden werden muss. Der Ressentiment-Mensch ist eine negative Qualität, an der ein humanistisches Menschenbild in letzter Konsequenz scheitert. Allerdings – und das wird in Nietzsches mannigfachen Aufspürungen ja deutlich – sind die Formen, die das Ressentiment produziert, zahllos (sowie auch die Motivationen und Grundlagen von Ressentiments und Neurosen nicht einheitlich), und die Kompensationsversuche für das Ressentiment (z.B. übertriebene Härte, übertriebene Erfolgssucht oder übertriebene Fürsorge) werden sich in gesellschaftlichen Teilbereichen gut einsetzen lassen. Nietzsche ist es nun aber nicht möglich, einzusehen, dass moralisches Aufbegehren sich weniger aus Ressentiment sondern primär aus tatsächlich vorhandenen Ungerechtigkeiten in der sozialen Welt speist. Und das ist deswegen so, weil er derjenige ist, in dem ein kompaktes Ressentiment, in seinem Fall gegen die unteren Schichten und gegen die „Schwachen“ (ergo also auch gegen das schwache Geschlecht) schaltet und waltet. Dass er keine echte Einsicht in dieses Ressentiment hat und es nicht versprachlichen kann, verschärft es noch, wohl durch ein Ressentiment auf sein/das Ressentiment. Wenn neurotische Menschen aus neurotischen Gründen (unbewusst) hassen, heißt das nicht, dass sie das auch wollen. Vielmehr mag ihnen dieser Hass zuwider sein. Sicher wird das auch bei Nietzsche so gewesen sein, der im konkreten Umgang mit Menschen alles andere als ein Hasser war, was dann neue Spiralen von (Selbst)Hass und schlechtem Gewissen und Versuchen der Immunisierung dagegen nach sich gezogen hat. Die treibende Kraft (beim Christentum) bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen (Nachlass, November 1887 – März 1888, 11(240)). Lou Salomé bezeichnete Nietzsche als ein religiöses Genie – was er auch war. Religion ist die höchste Repräsentation von Ethik und Moral – in ihrer Doppeltheit von positiven menschlichen Werten und negativer sozialer Kontrolle (die die herrschenden Klassen als auch die weniger selbstständigen Menschen einerseits lieben, andererseits auch lieber umgehen würden). Zarathustra hat Nietzsche zum Alter Ego gewählt mit der scheinbar eigenartigen Begründung: da Zarathustra der erste (gewesen) ist, der den religiösen Gegensatz und Kampf zwischen Gut und Böse in die Welt gebracht hat, sei er auch, anzunehmenderweise, der erste, der die Relativität dieser Grundlage und der darauf aufbauenden Werte durchschaue und diese hinter sich lasse und überwinde. Nietzsche hatte viel vom Wesen und der Intelligenz eines Religionsgründers. Zum wahren Genie eines Religionsgründers gehöre aber weniger die Einsicht in authentische Werte, sondern eine Einsicht, welche Werte in seiner eigenen Gesellschaft am besten vertretbar sind: So spiritualisierte Jesus (bzw. Paulus) das bescheidene, tugendhaft gedrückte Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz, Buddha die inoffensive Trägheit und Bedürfnislosigkeit der Asiaten (Die fröhliche Wissenschaft 353). Wie dem auch sei, eine soziale Dimension hat Nietzsches Individualethik und „Religion“ der Selbststeigerung nicht – daher ist sie auch keine, und ist auch nicht als solche gedacht. Das religiöse Genie von Nietzsche tobt sich also an der leidenschaftlichen Kritik an aller Religion aus. Ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Raths erholen können; welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(173)) Das ist eine zutiefst ethische Angelegenheit, und ich kenne dieses Anliegen sehr gut. Ein Band zwischen allen Menschen schaffen kann man nicht. Aber ich habe nach einem Band von idealistischen Menschen gesucht, die stellvertretend das Band der Menschheit und des Menschheitsideals zusammenhalten. Das würde mich beruhigen. Allerdings gibt es vielleicht auch dieses Band nicht; Zarathustra bleibt Einzelgänger – der aber fortwährend nach Gefährten Ausschau hält und sich darin nicht beirren lässt. Ich für meinen Teil stelle fortwährend spirituelle und empathische Verbindungen her und knüpfe virtuelle Bänder. Ahhhh…. diese virtuellen Bänder… ! Sie beherrschen und verknüpfen die Welt. Sie sind die eigentliche, ungeteilte Welt. Um Nietzsche herum aber ist es, aufgrund der Inkompatibilität seiner Philosophie mit der zeitgenössischen Welt, zunehmend einsam geworden. Immer mehr fasziniert sich der spätere Nietzsche für das Böse, unter anderem auch, weil er darin etwas Ganzes, Kraftvolles und Authentisches erkennen will (und weil es ihm, wie man merkt, fremd bleibt); immer mehr jedoch steigert er sich in Hass und Verachtung gegen „die Mittelmäßigkeit“ hinein (die allerdings tatsächlich der wahre Feind des Ideals ist und die sich dadurch auszeichnet, dass sie uneindeutig und durchwachsen ist). Zwischendurch notiert er dabei – entweder als Vorboten des nahenden Wahnsinns oder aus plötzlicher, punktueller Scham heraus – auf einmal: Der Hass gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem Recht auf „Philosophie“. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten (Nachlass Herbst 1887, 10(175)), bevor er mit seinen Vernichtungsphantasien gegen die Mittelmäßigen wieder fortfährt. Zuletzt vergleicht er seinen Übermenschen, als Typus höchster Wohlgerathenheit, mit Cesare Borgia (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 1), also einem interessanten Schurken, dessen Waghalsigkeit und moralisches Abenteurertum aber damit in Verbindung stehen, dass er ein innerlich verarmter und gelangweilter Psychopath war, dessen Karriere auch nur kurz dauerte. – Aufgrund seiner mangelnden psychologischen Selbstintegration und seiner damit in Verbindung stehenden Metaphysik vom chaotischen dionysischen Urgrund als dem tiefsten Weltprinzip glaubt Nietzsche eine Unverbindlichkeit der moralischen Weltordnung herleiten und begründen zu können. Aber Dionysos und das Chaos ist nicht die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt. Soll ich dir sagen, was die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist? — Die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist der Chaosmos und das Kreuz. Aus dem Urgrund heraus und mit dem Urgrund verschmilzt das Kreuz, die eherne Verstrebung, die Ordnung und Stabilität schafft und die vier Himmelsrichtungen und Dimensionen beherrscht. Aus dem Kreuz des Chaosmos ergibt sich DAS GESETZ; und aus dem GESETZ ergibt sich Ethik und Moral. Der Mensch ist Gattungswesen sowie Individuum. DAS GESETZ bedeutet, dass er diese beiden Naturen harmonisch in Einklang zu bringen hat. Daraus ergibt sich dann der Appell an die Ethik und die Moral. Ethik und Moral sind einigermaßen kulturrelativ, aber DAS GESETZ, also der Appell, Ethik und Moral zu schaffen, ist älter als wir alle. DAS GESETZ, also die Grundlage von Ethik und Moral, ist ideell und auch real in der Welt vorhanden, und kann daher weder in der einen noch in der anderen Hinsicht, zwar manipuliert und umgangen, aber nicht zerstört werden. DAS GESETZ steht über uns allen (und der Übermensch verinnerlicht DAS GESETZ). Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 6) Der Übermensch aber wird die christliche Moral gleichzeitig über sich und unter sich fühlen. Er wird die Religion ansehen wie einen um ihn kreisenden interessanten Planeten, DAS GESETZ aber als etwas, das sich aus dem Universum ergibt. Weil Nietzsche das nicht angemessen verstanden hat, wurde Nietzsche auch nicht angemessen verstanden.

Nietzsche gilt als einer der größten Psychologen. Für Sigmund Freud war Nietzsche einer der wahrhaft großen Männer aller Zeiten, er habe eine tiefergehende Einsicht in sich selbst gehabt als jeder Mensch, der gelebt habe und, wahrscheinlich, auch jeder, der noch leben werde. (Wobei Otto Weininger, zumindest von seinem Potenzial her, wohl noch über Nietzsche gestanden wäre. Was aus ihm geworden wäre, kann man aber nicht sagen, da er sich vor lauter Einsicht in sich selbst und seine „Verbrechernatur“ ja früh erschossen hat.) Was kann man über Nietzsche nicht alles über die verborgenen Seiten der menschlichen Natur und der Raffinessen psychologischer Verstellungen und Verwicklungen lernen! Gleichzeitig bemerkt Jaspers, dass Nietzsche die Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, die tiefe Einsicht in sich selbst, aber dann wieder nicht zu weit treibt: Der Mensch vermag gewöhnlich nicht mehr von sich als seine Außenwerke wahrzunehmen. „Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar“…. „Jeder ist sich selbst der Fernste“ … „Täglich erstaune ich: ich kenne mich selber nicht“ … „Ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht … Es muß eine Art Widerwille in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben“ …. „Es scheint mir, daß man sich die Tore der Erkenntnis zumacht, sobald man sich für seinen persönlichen Fall interessiert“ (zitiert in Jaspers S.378f.) Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anriet: „Erkenne dich selbst!“ Hieß es vielleicht: „Höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!“ – Und Sokrates? – Und der „wissenschaftliche Mensch“? (Jenseits von Gut und Böse 80) Selbstkenner! Selbsthenker!… (Zwischen Raubvögeln) Einerseits betonen Jaspers und Nietzsche diesbezüglich, dass Selbstreflexion und Selbstbeobachtung einerseits mit produktivem Reflektieren und Beobachten einhergehen muss, andererseits, ins Extrem oder Selbstzweckhafte getrieben, konkrete Bestimmung und Erkenntnis verunmögliche, da man in der totalen (Selbst)Reflexion mit endlosen Möglichkeiten konfrontiert sei, wie was sein könne oder nicht. Totale Selbstreflexion verfehle also Selbstbestimmung. Wieso das so sein soll, erscheint nicht klar – vorausgesetzt, man verfügt über ein Selbst mit einem realen Kern, zu dem man also ohne weiteres vordringen kann, den man feststellen und bestimmen kann. Das muss aber nicht so sein. Nietzsches Sich selbst aus dem Spiel nehmen, seinen persönlichen Fall hintansetzen, um zu vollkommenerer objektiver Erkenntnis zu kommen, war ein authentisches Streben von ihm. Gleichzeitig bleibt seine ganze Philosophie, im positiven wie im negativen Sinn, sehr subjektiv. Immer wieder spricht Nietzsche auch von der Maske (hinter der sich tief verwundete Seelen verbergen): Alles, was tief ist, liebt die Maske (Jenseits von Gut und Böse 40) (dann aber wieder, im (irgendwie) Gegensatz dazu: Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. (Die fröhliche Wissenschaft 173)). Vor allem erfreut sich Nietzsche an seiner Eigenschaft als psychologischer Spürhund – und wir freuen uns darüber mit ihm. Winkel-Ausleuchter! Seelen-Prüfer! Innerer Richter! Kann man vor Zarathustra bestehen? Was wüsste man vom Menschen, wenn man es nicht von Nietzsche wüsste? Was für riesige Tore zum Unbewussten hat er doch aufgestoßen – im Vergleich zu Freud, der die Perspektive auf das Unbewusste in pedantischer, schulmeisterlicher (und recht subjektiver) Weise wieder auf ein paar Grundmechanismen verengen will (und erst recht gilt das von seinen Schülern)! Er hat weiters große Tore aufgestoßen für ein Verständnis, dass hinter der Formulierung von objektivem Wissen oftmals subjektive psychologische Intentionen stecken – ein allerdings offenbar zu weites Tor, denn hinter der Produktion und Selektion von objektivem Wissen rein subjektive psychologische Motivationen aufspüren zu wollen, wird bei ihm zu einem zunehmend totalitären und verabsolutierenden Vorgehen, an den sich abermals zu zeigen scheint, dass Nietzsche in seinem Über-Perspektivismus eine Einsicht in die Objektivität der Außenwelt (wie auch der Innenwelt) ziemlich weit hinten anstellt. Was außerdem auffällt und bekannt ist, ist seine Lust, mit dem Hammer über die besseren Elemente der menschlichen Psychologie zu philosophieren. Dass es authentische Liebe, authentisches Mitleid, authentischen Altruismus gibt, leugnet er zwar nicht, meistens sieht er darin aber nur Masken für den Egoismus. Angesichts des Reichtums seiner Einsichten und der übernatürlichen intellektuellen Penetration, die aus ihnen spricht, wird man geradezu desorientiert darüber, wie viel man auch in seinen besseren Regungen wohl nichts anderes sei als ein Egoist. Aber eben angesichts dieser Sophisticatedness von Nietzsches Analysen fragt man sich gleichermaßen, wieso Nietzsche immer nur maskierten Egoismus vermuten will hinter Dingen, hinter denen normalerweise keiner ist. Offenbar, weil er in seiner eigenen Introspektion immer wieder darauf stößt. Larochefoucauld und jene andere französischen Meister der Seelenprüfung … gleichen scharf zielenden Schützen – aber ins Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. (Menschliches Allzumenschliches 1 36) La Rochefoucauld und Nietzsche (und auch Freud) waren Meister des psychologischen Verdachts. Was bei der Lektüre von La Rochefoucauld aber auffällt, ist dass er mit seinen raffinierten Maximen zwar interessante und raffinierte Verdächtigungen formuliert, eigentlich aber nie ins Schwarze (der Wahrheit) trifft, wenngleich er wohl irgendwie die Zielscheibe trifft. Bei Nietzsche (und Freud) bekommt die Lektüre einen ähnlichen Beigeschmack. Vor allem einer dermaßen imposanten Erscheinung wie Nietzsche wagt man kaum so einfach zu widersprechen. Er scheint höchste Weisheit erlangt zu haben, so hohe, dass die Unschärfe und Vagheit vieler seiner Bestimmungen und seiner so kantigen psychologischen Verdächtigungen dem Umstand geschuldet scheint: Zarathustra ist einfach zu gescheit und überreich für die spezifische Erfassung der Welt! Er denkt über alle Welt hinaus, weil er an Geist und Seele so groß ist! Weiters fragt man sich bei Nietzsche, La Rochefoucauld et al immer, ob aus ihren Sentenzen Einsichten oder Einfälle sprechen, also Erkenntnisse oder aber Manipulationen von Erkenntnissen (offensichtlich, in genialer Weise, beides). Nietzsche ist bei weitem nicht eine so deprimierende Lektüre wie La Rochfoucauld (oder Freud). Nietzsche ist heiterer, sanfterer, vor allem in seiner freundschaftlichen persönlichen Ansprache und seinem Willen, einem bei der Selbstfindung zu helfen sympathischer. Aber mit seiner Systematik des Verdachts rückt er zuletzt vielleicht weniger die Menschheit in ein schiefes Licht, als sich selbst. Selbstermächtiger! Selbstverdächtiger!

Du suchtest die schwerste Last:

da fandest du dich –,

du wirfst dich nicht ab von dir…

Selbstkenner!…

Selbsthenker!…

Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie gibt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich. (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 11) Heidegger, der versucht, das ganze Sein zu denken, hat an Vorlesungen und Essays Texte im Umfang von tausend Seiten über Nietzsche verfasst: weil der ebenfalls versucht habe, das ganze Sein zu denken. Nietzsche gehört zu den wesentlichen Denkern. Mit dem Namen „Denker“ benennen wir jene Gezeichneten unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer „über“ das Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. (Heidegger: Nietzsche 1 S. 427) Nun, das wäre mir nicht bekannt, und dass ich (oder andere) nur einen einzigen Gedanken denken würden, kann ich, zumindest an mir, nicht entdecken. Dass allerdings all diese Gedankenarbeit unter einem (einem siegreichen!) Banner läuft, schon eher: das Seiende im Ganzen festzustellen und Lichtungen des Seins herzustellen. Das Sein stellt sich, nüchtern betrachtet, als eine eigenartige Mischung von großem Stil und großer Stillosigkeit (und vor allem: hybrider Mittelmäßigkeit dazwischen) dar. Jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind; sie führen bis in´s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein. (Die fröhliche Wissenschaft 322) Ich selbst kann mich – auch und vor allem für religiöse oder neuplatonische – Vorstellungen und Realitäten von Ordnung, Harmonie, Gesetzmäßigkeit, Ausgleich, Ideal und Sphärenmusik bekanntlich sehr begeistern. Ebenso für den Zufall, das Idiosynkratische, die Abweichung von der Norm, das Aleatorische: Sie bringen nicht nur Dynamik und Fortschritt, sondern auch Heiterkeit und Leichtigkeit in das starr ideale Sein. Das eine ist, eventuell, der Geist, das andere, eventuell, die Kreativität. Sowohl Ordnung als auch Zufall (als auch Mittelmäßigkeit) haben gute und ungute (und mittelmäßige) Aspekte. Das ganze Sein ist ein Gemisch aus allem: sein metaphysisches Bild ist der Chaosmos, in dem sich Ordnung und Chaos ständig mischen (und offenbar auch sein ganz mathematisch-physikalisches: insofern dynamische Systeme, wie eben unser Universum, sich tatsächlich als eine Zweiheit aus Ordnung und Zufall beschreiben lassen – wie übrigens auch die Musik: insofern treffen schopenhauer-nietzscheanische Vorstellungen von der Musik als Urbild der Welt also tatsächlich zu. – Beweisen lässt sich das allerdings nicht durch die Kontemplation, sondern durch die Mathematik). Um eine solche Ontologie des Chaosmos möglichst gut zu begreifen, bedarf es also wohl einer chaosmotischen, vielfältigen Epistemologie, also eines chaosmotischen Erkenntnissubjektes, und eines chaosmotischen ethischen Subjektes (zur Feststellung der Deontologie des Chaosmos). Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischenrinnen seine großen Augenblicke grandiose Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(119)) Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie (Brief an Ferdinand Avenarius 10. Dezember 1888) Das tatsächlich chaosmotische Erkenntnissubjekt ist nun aber nicht widersprüchlich, und auch nicht unbedingt frivol. Es löst die Widersprüche letztlich auf und stellt ein großes, weites Feld her, in dem allerhand Dinge passieren/passieren können. Es stellt das Einheits-Bewusstsein her. Und die natürliche Sprache des Einheits-Bewusstseins ist der große Stil. Wahrhaft groß ist daher nur jenes, was seinen schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich und niederhält, sondern ihn in sich verwandelt hat, aber gleichzeitig ihn so verwandelt, daß er nicht verschwindet, sondern zur Wesensentfaltung kommt (…) Das eigentliche Wesen der Kunst ist im großen Stil vorgezeichnet. Dieser weist aber hinsichtlich seiner eigenen Wesenseinheit in eine ursprünglich sich gestaltende Einheit des Aktiven und Reaktiven, des Seins und des Werdens (…) Die dem großen Stil eigene Fügung des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen sein. Der Wille zur Macht ist aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben, in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt nennt. (Heidegger: Nietzsche 1 137f.) Der Chaosmos, der nach dem großen Stil verlangt, ist tragisch in seiner Komik und komisch in seiner Tragik. Um diese schärfsten Gegensätze ineinander zu verwandeln, so dass sie nicht verschwinden, sondern zur Wesensentfaltung kommen, bedarf es eines komischen und eines tragischen Sinnes. Für Kierkegaard sind die höchsten Sinne Ironie und Humor. Jaspers (s.345) glaubt festzustellen, dass bei Nietzsche Ironie und Humor weitgehend fehlen (was als Ironie bei Nietzsche zum Vorschein kommen mag, ist eher ein nonkonformistischer intellektueller Möglichkeitssinn, sein Humor blitzt hauptsächlich als grimmiger Humor auf) (außerdem würden bei Nietzsche fehlen: Liebe, Angst und Gewissen). Die Sehnsucht nach den lachenden Löwen war bei Nietzsche freilich prominent. Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! (Die fröhliche Wissenschaft 1) Doch! Ich! HAhahahaha! Ach, der gute Yorick! (In Yorick-Sterne sah Nietzsche übrigens den freiesten Geist, der je gelebt habe – obwohl er darin freilich auch etwas Unentschlossenes, in seiner Zweideutigkeit Gefangenes verkörpert habe (Menschliches Allzumenschliches 2 113) – Ach, armer Yorick! Wer soll das Reich jenseits der zehnten Stufe jemals erobern, und über das Dasein triumphieren?)

„Der Übermensch“ ist der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens. (Heidegger: Nietzsche 1 S. 224) Der Sehr Tiefe Denker durchdringt denkend das Sein – in seiner Tiefsten Form alles Sein. Der große Schöpfer greift in das Sein ein, schafft im Sein, schafft Sein. Der große Überwinder überwindet das Sein. Das Sein selbst überwinden wollen hieße, das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben. (Heidegger: Nietzsche 2 S.330) Der, der das Wesen des Menschen aus der Angel hebt, ist also der Übermensch. Der Übermensch akkumuliert Welt und Mensch. Er bläht sich auf, ins Gigantische, der übermenschliche Ballon, und nabelt sich schließlich, selbststabilisiert, ab. Mit meinen Tränen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder (ich hätte übrigens gesagt, und sage da übrigens meistens: Schwester!)! Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra 1, Vom Wege des Schaffenden) Der Übermensch reflektiert alle menschlichen Probleme, die Totalität aller menschlichen Probleme, und ist daher „der Sinn der Erde“. Das meiste Menschliche wird ihm vertraut sein, und das meiste Menschliche wird ihm fremd sein. Und daß du unter Menschen immer wild und fremd sein wirst: – wild und fremd auch noch, wenn sie dich lieben (Also sprach Zarathustra III, Die Heimkehr). Nietzsche verortet den Übermenschen einerseits in der Zukunft (und in seiner eigenen Hoffnung auf die/seine Zukunft), andererseits findet man Übermenschliches und Übermenschen zu allen Zeiten. Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren; oder Stärkeren; oder Höherem dar, in dem Sinne, in dem es heute geglaubt wird (…) in einem anderen Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus, in denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältniß zur Gesammt-Menschheit eine Art „Übermensch“ ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden viell<eicht> immer möglich sein… (Nachlass November 1887 – März 1888, 11(413)) Man kann vielleicht sagen: Ideale zeichnen sich dadurch aus, dass man nach ihnen streben soll, es allerdings gleichzeitig außerhalb des Menschenmöglichen liegt, sie tatsächlich zu erreichen. Allerdings werden authentische kleinere und größere Ideale ja auch von irgendjemand erreicht, aufgestellt, vertieft, verkörpert – sonst gebe es ja keine authentische Vorstellungen von Idealen. Wer also Ideale erreicht, kann man vielleicht sagen, hat also übermenschliche Qualitäten. Wer umfassende Ideale, die die ganze Welt betreffen, erreicht, wie zum Beispiel der Buddha, ist Übermensch. Selten ist der Übermensch, wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und Gespenst (Also sprach Zarathustra I 3). Die großen Philosophen sind selten gerathen. Was sind denn diese Kant, Hegel, Schopenhauer, Spinoza! Wie arm, wie einseitig! Da versteht man, wie ein Künstler sich einbilden kann, mehr als sie zu bedeuten … Goethe steht gut da. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 16(3)) Der große Stil des Übermenschen liegt darin, dass er in der noumenalen Sphäre völlig autonom und ohne Beispiel agiert und sein Stil der Geist selbst ist (Goethe steht da nicht so gut da, man könnte unter den Schriftstellern und Dichtern aber vielleicht an Rimbaud, Büchner, Lautréamont oder Emily Dickinson denken). Auratischer, sphärischer Übermensch! Goethe wurde von einem Engländer „panoramic ability“ zugesprochen (wofür er allerschönstens zu danken habe). Büchner (Lenz) oder Rimbaud aber sehen alles gleichzeitig. Das, was sie sehen, und was sie in ihrem Stil beschreiben, ist der Chaosmos. Ihr Stil ist der große Stil. Sie beherrschen alle individuellen Stile und amalgamieren das Gestammel der Welt zu einem Monolog Gottes (F. Hebbel). Das Ich erst in der Heerde. Gegensatz dazu: im Übermenschen ist das Du vieler Ichs von Jahrtausenden zu Eins geworden. (also die Individuen sind jetzt zu Eins geworden (Nachlass Juli – August 1882, 4(188)) Weniger Du-zentriert und mehr Ich-zentriert formuliert: Allein die vollendete Subjektivität verwehrt ein Außerhalb ihrer selbst. Nichts hat den Anspruch auf das Sein, was nicht im Machtkreis der vollendeten Subjektivität steht. (Heidegger: Nietzsche 2 S.272) Diese Subjektivität „vollendet“ sich aber, indem sie profund Innerhalb wie Außerhalb ist, ein offener Raum, der das ganze Sein umfasst, der sich in das ganze Sein, und in sein Geheimnisvolles, offen erstreckt. Ihr Machtkreis ist ein Empathiekreis. Der Übermensch ist nur im technischen Sinne Einzelgänger. Wenn man ihn als das Resultat einer reinen Selbststeigerung und Selbstermächtigung begreifen will, verfehlt man ihn, denn reine Selbststeigerung läuft naturgemäß letztendlich ins Leere. Denn das eine ist das Ich, das andere ist das/der Andere, und beides zusammen ergibt die Welt. Der Übermensch ist der absolut  mit-seiende Mensch. Er ist nicht nur der höhere Mensch, der den Menschen unter sich lässt, sondern auch die höhere Welt, die die Welt unter sich lässt. – Nietzsche war der Philosoph des Übermenschen, gleichzeitig spricht er aber eigentlich nur im Zarathustra vom Übermenschen (eine ansonsten so zentrale Gestalt ist er in seinem Gesamtwerk eigentlich gar nicht). Und Zarathustra ist nicht der Übermensch, sondern der Prophet des Übermenschen. Der Übermensch selber bleibt bei Nietzsche einerseits ein kraftvolles, andererseits ein vages, widersprüchliches und ahnungsvolles, aber nicht wohlformuliertes Konzept. Und Nietzsche wäre freilich auch nicht Nietzsche gewesen, wenn er nicht auch den „Übermenschen“ wieder infrage gestellt und „überwunden“ hätte: … alle diese Götter und Übermenschen. Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde… (zitiert in Jaspers S.169). Wie Lou Salomé es formuliert hat, war das Ziel von Nietzsche die Steigerung aller Lebenskräfte – und daher auch die Steigerung des Bösen als Werkzeug dafür, als Lebensmöglichkeit (S.232). Diese absolute Steigerung der Lebenskräfte ist dann der Übermensch, der jenseits von Gut und Böse ist. Jenseits von Gut und Böse bedeutet allerdings auch: amoralisch-indifferent. Ursprünglich wäre der Übermensch bei Nietzsche eine Art Über-Künstler, Über-Genie, Über-Heiliger gewesen: also etwas Gutes. Jenseits von Gut und Böse bedeutet aber auch die Möglichkeit, dass eines in das andere rutscht. Wenn es mit dem einen nicht klappt, probiere man es halt einfach mit dem anderen. Das Wort „Übermensch“ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit … ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als „idealistischer“ Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger“, halb „Genie“ … Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehen, der traute seinen Ohren nicht. (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 1) Zarathustra ist an Nietzsche vorbeigegangen. Sein Übermensch ist unter all die gescheiterten höheren Menschen aus dem vierten Teil von Also sprach Zarathustra gerutscht, auf die Stufe eines attraktiven, dann aber auch wieder nur mäßig interessanten Bösewichts. Darin scheint freilich weniger zum Vorschein zu kommen, dass der eigentliche Kern von Nietzsche böse war, sondern eher, dass Nietzsche vom Bösen einfach keine Ahnung hatte.

Karl Japsers glaubt erste Vorboten des Wahnsinns bei Nietzsche bereits um 1880 herum ausfindig machen zu können (Jaspers S.98). Seine Visionen würden ab da in Art und Intensität auch über das Maß hinausgehen, das bei Künstlern gemeinhin vorhanden ist, und sie würden neben etwas Eigenem auch etwas irgendwie Beklemmendes und Fremdes enthalten. Cosima Wagner wollte Anzeichen des Wahnsinns bereits in ihrer sehr flüchtigen Lektüre von Menschliches, Allzumenschliches ausmachen (dem Werk halt freilich auch, mit dem Nietzsche seinen Bruch mit Wagner und dem Wagnerianismus implizit deutlich gemacht hat). Die zunehmend intensivere und radikalere Sprache und die Ideen, ihre Entfesseltheit und Enthemmtheit, das Prophetentum im Vortrag, zumindest ab dem Zarathustra, scheinen auch allgemein grelle Schatten, die der spätere Wahnsinn bereits vorauszuwerfen scheint, nicht zu reden von den allerletzten Schriften. Jedoch wirken, wenn man sie dann wieder liest und genauer kennt, aber weder Der Antichrist noch Ecce homo als so irrational und entrückt. In all der Fieberhaftigkeit und Rauschhaftigkeit des Vortrages hat man eine große Klarheit und geradezu simple Konsequenz der Gedankenführung, die eben die Resultate zeitigt, die in der längeren Denkbahn von Nietzsche ja bereits vorgezeichnet waren. Von den Wahnsinnsbriefen, die Nietzsche kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch verschickt, sind sie auf jeden Fall grundsätzlich verschieden, so dass man von einem graduellen Absinken in den Wahnsinn bei Nietzsche nicht gut sprechen kann. Dieses war ein plötzlich eintretendes Phänomen (auf organischer Grundlage). Nietzsches Entwicklung in Inhalt und Stil kann man genauso gut als die selbstentfesselnde und –ermächtigende Entwicklung des absoluten Genies sehen, das von seiner eigenen, „dionysischen“ Intensität einerseits fortgerissen wird, diese gleichzeitig aber auch kontrolliert lenkt und kanalisiert, zu dem Zwecke, fortwährend neue inhaltliche, „apollinische“ Formen zu werfen bzw. Gedanken zu produzieren, oder eben „Werte zu schaffen“ und (sich in seiner permanenten Selbsttransformation) „umzuwerten“. Im Lauf dieser Entwicklung, sagen wir eben ab 1880, treten aufgrund des intensiven und bildhaften Denkens im Nietzsche-Gehirn Veränderungen auf, die eine solche (bildhafte) Intensität des Denkens immer mehr begünstigen und befördern. Werde, der du bist – solche Veränderungen im Gehirn sind aber an sich nicht krankhaft, sondern Resultat dessen, was man tut, und was man tun will. Im Antichrist, in Ecce homo und in den Dionysos-Dithyramben (die teilweise allerdings schon vorher, Mitte der 1880er Jahre verfasst wurden), kommt dann eben die absolute Genialität, die Gottwerdung (bzw. Dionysoswerdung) Nietzsches, die absolute Transzendenz zum Ausdruck. Eine problematische und labile Emotionalität und Affektivität allerdings – und wie bei den altgriechischen Göttern ja – auch. Das große Ringen ist Zeichen des großen Dichters und Denkers, die große, friedliche Ausgeglichenheit, wo alle Gegensätze befriedet sind und man sich der Alltagswelt enthoben (oder „entrückt“) fühlt, auch. – Einen völlig ausgeglichenen, milden, mit sich und der Welt befriedeten Nietzsche hat man übrigens in der vielleicht am wenigsten bekannten von seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften, dem zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches, sowie auch in den Nachlassschriften der früheren 1880er Jahre; zumindest, bis Zarathustra an ihm vorbeiging. Einen wohlig sich räkelnden, halkyonischen Nietzsche, der sich, zufrieden lächelnd, mit geschlossenen Augen auf hohem Plateau ausstreckt, dem, das er wacker erklommen hat. Selige Öde auf wonniger Höh` (Wagner, Siegfried, Dritter Aufzug, Dritte Szene). Einen sich an sich selbst und an der Welt und an seiner eigenen Milde, der Milde des weltimmanenten Überwinders, erfreuenden Nietzsche, der ausgeglichen in sich selbst und in seiner eigenen Weisheit ruht ( – und dessen Schriften, wenn er so geblieben wäre, wohl heute so häufig gelesen werden würden wie die von Philosophen und Weisheitslehrern wie Proklos oder Malebranche: gut also, dass er es nicht dabei bewenden hat lassen). Aber da die Welt dann doch tiefer ist, und tiefer als der Tag gedacht, trieb es Nietzsche naturgemäß weiter. Die Welt lädt einen, wenn man sich das recht überlegt und man es recht empfindet, nicht zum Bleiben und zum Genießen und sich Ausstrecken ein. Nietzsche musste welttranszendenter Überwinder werden, auch, wenn er seine Fähigkeiten und sein eigenes, höchst eigenes Telos nicht vernachlässigen wollte. Der Überwinder ist vielleicht, insgesamt, keine so harmonische Gestalt, wie man sich das eventuell vorstellen mag, da er permanent mit dem Überwinden beschäftigt ist, mit der Aufrechterhaltung seiner Heiligkeit. Auf der anderen Seite stellt ihn diese Stabilisierung in sich selbst und in seiner eigenen Transzendenz wohl auch nicht vor allzu große Schwierigkeiten. Bei Nietzsche hingegen hat man dann aber ein ständiges Pendeln zwischen Extremen, die sich gegenseitig immer mehr aufschaukeln – ohne dass die Extrempositionen an sich eigentlich wirklich verständlich wären. Nietzsches Denken kreist ständig um „Stärke“ und „Schwäche“, Unter- und Überordnung, aufsteigende und absteigende Kräfte, formuliert einen obsessiven Vitalismus, als Kontrastprogramm zu einer Angstbesessenheit vor einer negativen, lebensverneinenden und angeblich allseitig wirksamen „décadence“: Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz (Ecce home, Warum ich weise bin 2). Gleichzeitig zu seiner Proklamierung der Stärke fühlt er sich andauernd durch irgendwas geschwächt. Sein leidenschaftliches Pathos der kettensprengenden Selbstermächtigung macht einen wundern, warum für ihn eigentlich so viel Ketten da sind, und warum von ihm überall Ketten wahrgenommen werden, bzw. warum er hochgradig multidimensionale und polyvalente Dinge wie Mitleid, Demokratie, Religion usw. geradezu ausschließlich negativ bzw. als Ketten gelten lassen will (und eben als Ketten für ihn abgeschafft wissen will, ohne sich groß zu fragen, ob sie nicht positiv für andere sind). Das ist auch aus dem bloßen Konservatismus seines Zeitalters nicht wirklich einsichtig. Sein ewiges Werde, der du bist macht vermuten, dass er nie das ist, was er sein will. Oder dass er nie das sein will, was er eben ist. Lou Salomé fühlte sich irritiert von Nietzsches Bestrebungen, sich eine Aura des Gefährlichen und Verruchten überzustülpen, obwohl er solche Qualitäten ja gar nicht besaß (so wie der den religiösen Wahnsinn tangierende Kierkegaard immer wieder mit seiner lasterhaften, ausschweifenden Jugend geprotzt hat, ohne dass Hinweise darauf vorliegen, dass es eine solche gegeben hätte). Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (Lou Salomé S.239) Dass Nietzsche gegen das Mitleid, das Christentum, das Asketentum, gegen die Bildungseinrichtungen, gegen Frauen, Schopenhauer und Richard Wagner polemisiert, weil er sie, inklusive seiner latenten und beizeiten heftigen Kränklichkeit (gegen die er dann das Pathos der großen Gesundheit setzt), in seinem Leben als vereinnahmende oder negative Mächte erfahren hat, oder aber weil er sie in seinem selbstreferenziellen Unabhängigkeitsstreben „überwinden“ will, überrascht nicht ganz, wohl aber die Vehemenz, mit der er gegen diese doch (mit Ausnahme seiner schlechten Gesundheit) eher harmloseren Mächte vorgeht. Nietzsche ist, ganz offensichtlich, neurotisch. Woher diese Neurose gekommen sein soll, ist weniger offensichtlich. Traumatische Einschnitte fehlen in Nietzsches Leben. Es enthält nichts, und nichts an kleineren und größeren Unannehmlichkeiten, womit ein normaler Mensch nicht einigermaßen fertig werden kann – win some, lose some, it´s all the same to me (that´s the way I like it, baby, I don´t wanna live forever (… and don´t forget the Joker!)) (Motörhead, Ace Of Spades). Umso mehr erscheint das dann bei einem so außergewöhnlichen Menschen wie Nietzsche befremdlich, dem, in seiner nahezu unendlichen Weisheit, eine gelungene psychologische Selbstintegration doch umso möglicher sein sollte. Andererseits kann ein unterschwelliger Größenwahn und Überlegenheitsdünkel einer solchen psychologischen Selbstintegration aber wohl hinderlich sein, indem man mit den unvermeidlichen Niederlagen in den diversen Bereichen des Lebens vielleicht weniger gut umgehen kann. Nietzsche geht aber, scheinbar, gegen eher harmlose Mächte vor, weil er seine eigene Harmlosigkeit hasst. Und diese hasst er vielleicht umso mehr, weil er alles, was seinen größenwahnsinnigen Phantasien von absoluter Machtvollkommenheit entgegenarbeitet, hasst. Betrachte die paranoide Persönlichkeit! Die paranoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch übergroße, anhaltende Verletzlichkeit gegenüber Niederlagen im Leben aus, Neid gegenüber anderen und dann also einer misstrauischen Vermutung, andere wollten einem Böses, Größenwahn und Selbstreferenzialität und dann also der Vermutung, großangelegte Verschwörungen seien gegen einen im Gange. Die Betreffenden mögen den Eindruck haben, auf einer Mission zu sein, um als Propheten die Menschheit zu erwecken, und sind dabei in ihrer Bestrebung, ein neues, besseres Miteinander zu schaffen, oftmals von unguten „Reinlichkeits“-Phantasien und solchen der gesellschaftlichen „Säuberung“ von „unreinen“ Elementen durchzogen (vgl. Hitler). Sie sind streitlustig bis –süchtig und bedienen sich dann einer radikalen, dehumanisierenden Sprache. Ihr Gefühlsleben und ihre Fähigkeiten zum menschlichen Miteinander sind eingeschränkt bzw. überwiegen die destruktiven Gefühle deutlich gegenüber den konstruktiven. Ihr (Gefühls)Leben ist ziemlich friedlos und freudlos. Ihre Ego-Pathologie scheint die zu sein, dass sie sich dem anderen gegenüber unbedingt als dominant erleben wollen und keine Frustrationstoleranz für andere Erfahrungen haben. Bei Nietzsche hat man all diese Elemente (wie im Übrigen auch bei Schopenhauer und bei Wagner). Man hat allerdings, vor allem bei Nietzsche, ganze gegenteilige und hochheilige Eigenschaften ebenfalls, und zwar offensichtlich als was ganz Authentisches und Ursprüngliches (nicht allein im Rahmen einer Kompensationsleistung bloß Verstärktes). Gerade in seinen späteren Versuchen, dem Bösen mit wohlwollender Faszination zu begegnen, wirkt Nietzsche geradezu albern, so, als wie wenn das Böse ihm eben wesensfremd bleibt. Trotzdem hat er reaktionäre, inhumane politische Entscheidungen mitgetragen und hätte vor einer Einführung eines kastenähnlichen Systems wohl nicht zurückgeschreckt. Während ein ausgezeichnetes Angriffsziel und Hassobjekt für Paranoide immer wieder die Juden sind, ist Nietzsche einer der wenigen ausgesprochenen (im Rahmen der Genealogie seiner Moral allerdings auch paradoxen) Philosemiten seiner Zeit. Während er in der konkreten Begegnung freundlich und aufmunternd bleibt, ist er auf abstraktem Niveau und bei abstrakten Entscheidungen ziemlich negativ – genau gesagt, verwundert dann seine Unfähigkeit, Qualitäten und Entitäten, die ihm nicht gefallen, anders als als abstrakt zu begreifen bzw. sie hinter Abstraktionen (von irgendetwas Negativem) verschwinden zu lassen. Ende der 1880er Jahre vertraut er seinen Freunden Köselitz und Overbeck an, er fürchte, in seinen Urteilen zu unerbittlich zu werden und selbst von der Hölle des Ressentiments erfasst zu werden; seine chronische Verwundbarkeit bräche übermäßige Härte in ihm hervor (Prideaux S.385). Inwieweit Nietzsche und Schopenhauer tatsächlich in dem Sinn gestört waren oder aber nur in die Nähe dessen kamen, also einen so genannten paranoiden Persönlichkeitsstil hatten, bleibt offen (Wagner könnte diese Qualitäten eher auf dem Level einer Persönlichkeitsstörung gehabt haben, bei Otto Weininger, gleichzeitig einem der höchsten Menschen aller Zeiten (der sich von Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ sehr abgestoßen gefühlt hat und der Nietzsche als einen „bloß originellen“ Philosophen der untersten Qualitätsstufe angesehen hat), ist die Paranoia offenbar in den Wahnsinn gegangen, bzw. in eine Klarsicht in den ihr immanenten eigenen negativen Charakter, die ihn in den Selbstmord getrieben hat). Irgendwie scheint es aber so zu sein, dass der innerste Kern der Widersprüche von Nietzsche keine dialektische und synthetisierbare Widersprüchlichkeit gewesen ist, sondern der Kern war eine Widersprüchlichkeit an sich (und die Erscheinung dann eben eine umso radikalere Aufteilung der Welt in Gut und Böse).

Jetzt –

zwischen zwei Nichtse

eingekrümmt,

ein Fragezeichen,

ein müdes Rätsel –

ein Rätsel für Raubvögel!…

 – sie werden dich schon „lösen“,

sie hungern schon nach deiner „Lösung“,

sie flattern um dich, ihr Rätsel,

um dich, Gehenkter!…

O Zarathustra!…

Selbstkenner!…

Selbsthenker!…

Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich mich beinahe jedes Jahr zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit beiseite legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das was dann jedesmal geschah, war in komischer und unheimlicher Weise das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte. (Briefe, zitiert bei Jaspers S.77) HA, ja das kenne ich – und ich kenne es natürlich auch, die unmittelbare Einsicht, dass man ja keinen Anspruch hat darauf, kein Recht darauf, geliebt oder gehört zu werden; schon gar nicht, dass andere, in all ihren momentanen Verstrickungen, alles beiseite legen müssten für einen. Ich kenne es aber auch, dass in der Realität schon komische und unheimliche Gegenteile passieren von dem, wie es in einer idealen Welt eigentlich sein sollte. Nietzsches brutale Polemik gegen den Bildungsphilister in der ersten Unzeitgemäßen steht eine durchaus brutale Realität des Bildungsphilisters eben gegenüber. Es ist deprimierend und gehört tatsächlich zu den unheimlichsten möglichen Dingen, wenn sich die Träger des Bildungsgedankens gegenüber der lebendigen Produktion von Bildungsgut als indifferent oder ablehnend erweisen (nur um einen dann posthum begeistert auf die Welt zu bringen); egal, wie man sich das dann zu erklären oder zu entschuldigen versucht. Es ist deprimierend und unheimlich, wenn sich die vorgeblichen Freunde des Geistes in der Realität dann eher als indifferente Fremde oder gar als dessen Feinde erweisen. Es lebe der Bildungsphilister! Er hasst die kulturellen Erneuerer immer wieder, wenn er sie als außerhalb seines Gesichtskreises erlebt, um sie dann zu lieben, wenn er sie unter die Erde gebracht hat und sich einverleibt hat. Er liebt, vorwiegend, sich selbst. Nietzsches erste Unzeitgemäße über den Bildungsphilister hat z. B. Gottfried Keller, zu dem Nietzsche damals Kontakt gesucht hat, in ihrer Polemik abgestoßen, aber angesichts der selbstzufriedenen Bildungsdummheit von David Strauß erscheint Nietzsche vornehmlich in rächendem Zorn über den Verrat an der Authentizität des Bildungsgedankens. Bildung soll Transzendenz und Selbst-Überwindung ermöglichen; während sie bei so manchen aber das Gegenteil: Immanenz und falsche Selbstkultivierung durch Kultivierung der eigenen Eitelkeit befördert, dadurch auch Geistlosigkeit, Lieblosigkeit und Sterilität befördert. Das ist dann der Bildungsphilister. Der Bildungsphilister ist dann Freund und Feind zugleich. Man muss sich an ihm abmühen, und es kostet viel Kraft, und es ist diese Mühe ganz sinnlos und sie hilft einem nicht weiter, weil der Bildungsphilister kein dialektischer Gegner ist, sondern einfach nur wie ein Stein im Weg liegt. Es lebe der Bildungsphilister!  Dass Nietzsche und co. von den Zeitgenossen nicht verstanden werden (während sie von der Nachwelt dann ohne weiteres verstanden werden), liegt vielleicht weniger an ihrer Schwerverständlichkeit, als daran, dass man sie gar nicht verstehen will. Wenn es ein menschliches „Ding an sich“ gäbe, ist das wohl die Eitelkeit, steht in Menschliches Allzumenschliches (2, Vermischte Meinungen und Sprüche 46) (oder aber auch bei LaRochefoucauldt oder dem überaus erfolgreichen Lebenshilferatgeber von Dale Carnegie). Amanshauser meint, während Typen wie Goethe oder Thomas Mann vom Bildungsbürger gern zu Lebzeiten gelitten werden, würden Individuen wie Nietzsche, Baudelaire oder Edgar Alan Poe zu Lebzeiten immer nur von demselben in die Gosse getreten werden (da sie sich in ersteren – und das auch noch in schmeichelnd vergrößerter Form – selbst spiegeln können, in zweiteren aber eher nicht). Nietzsche ist ein wilder und radikaler Denker. Er ist das so sehr, dass er quasi das Denken an sich ist. Man würde meinen, denkende Zeitgenossen würden sich von einem solchen angezogen fühlen wie von einem Magneten. Dann aber scheint die magnetische Wirkung von Nietzsche und co. eine genau umgekehrte: eine abstoßende. Abenteuer des Denkens unternehmen, Denken als wildes Unternehmen zu begreifen, ist, wie man feststellt, kein Mehrheitsprogramm. Dass Denken Leiden bedeutet, und Leidenschaft erfordert, steht im Gegensatz dazu, dass die Mehrheit hauptsächlich dem harmonisiert vorgetragenen Vortrag von Gedanken gegenüber zutraulich ist. Dass das Zentrum des Denkens woanders liegt, als sie es vermuten, nicht innerhalb ihres eigenen Kreises, mag für die denkenden Zeitgenossen, oder zumindest für ihre Egos, eine Erfahrung sein, die sie lieber vermeiden wollen – aus offensiven Gründen, oder aber auch aus ganz legitim erscheinenden defensiven Gründen. Ich muß weg über hundert Stufen, und niemand möchte Stufe sein. Das muss ich zwar auch (weg über hundert Stufen), aber ich möchte niemand als Stufe behandelt sehen wissen. Das ist in der Tat ein erheblicher Konflikt, der mir gar nicht gefällt. Von der verbreiteten Eitelkeit und Eigennützigkeit des akademischen Betriebes, und nicht zuletzt des Philosophiebetriebes, mit der auch etablierte Philosophen konfrontiert sind und behindert werden (und eventuell dann auch dasselbe machen) kann man auch lesen in der Heidegger-Biographie von Safranski (S.262) und in der Hegel-Biographie von Vieweg (S.205). Philosophen mögen sich gerne für die Könige halten; dass die Meta-Philosophie eine der Philosophie übergeordnete Instanz ist, sehen sie dann womöglich nicht so gerne. Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch, spricht also Zarathustra aber überhaupt zu seinen Jüngern. (Vom höheren Menschen 9) Leider hat Schopenhauer durch nichts zahlreiche Gelehrte mehr beleidigt als dadurch, daß er ihnen nicht ähnlich sieht, vermutet Nietzsche bereits in Schopenhauer als Erzieher (7), wo er auch (in Abschnitt 6) andere zahlreiche Vermutungen anstellt, warum Gelehrte oftmals nicht das sind, was sie zu sein scheinen (also objektive Menschen der Wissenschaft). Er (der Gelehrte) ist zutraulich, doch nur wie einer, der sich gehen, aber nicht strömen läßt; und gerade von dem Menschen des großen Stroms steht er umso kälter und verschlossener da – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmäßigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmäßigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber – abzuspannen sucht, heißt es dann in Jenseits von Gut und Böse (206). Thomas Bernhard kommt einem mit seinen Polemiken und seinen Requien für die Hollensteiners in den Sinn; ich will mir das aber sogleich jetzt vertreiben und lieber die Schönheit besingen und an das Gute glauben. OH, meine Schwestern, ich erhebe mein ideelles Glas mit euch auf die Unschuld des Werdens und der Jugend, auf die Reinheit eurer Leiber, auf die göttliche Kindlichkeit meiner Liliana —- da lese ich dann aber in der Neuen Zürcher Zeitung eben gerade: Eine Integration der Disziplinen wird es dadurch in den Sozialwissenschaften jedoch kaum geben; denn anders als in den Naturwissenschaften, wo sich die Disziplinen auf eine gemeinsame Sprache einigen konnten (genetischer Code, Periodensystem usw.), gehen die Bestrebungen in den Sozialwissenschaften in Richtung sprachlicher Abgrenzung. Dabei entwickeln sich die Disziplinen immer mehr zu selbstreferenziellen Systemen. Sie basieren auf einem Selektionsverfahren, das interdisziplinäre Forschende mit Praxisbezug frühzeitig aussortiert. Was zählt, sind weltanschauliche Kompatibilität, eine identitätsstiftende Fachsprache und die Meriten in der eigenen Zunft… Generell wirft der Trend Richtung Nabelschau in den Sozialwissenschaften ein schiefes Licht auf das moderne angelsächsische Modell. Paul Romer, amerikanischer Ökonomienobelpreisträger und selbst Kritiker des Modells, argumentiert, dass der akademische Wettbewerb innerhalb der jeweiligen Disziplin häufig auf Kosten der gesellschaftlichen Relevanz und der geistigen Erneuerungsfähigkeit gehe. Er macht dafür auch mächtige akademische Seilschaften verantwortlich, die bloss noch an der Fortsetzung der wissenschaftlichen Routineverfahren («normal science») interessiert seien und abweichende Meinungen bestraften. In der Covid-19-Krise sieht er eine Chance, die institutionellen Spielregeln an sozialwissenschaftlichen Fakultäten so anzupassen, dass sich interdisziplinäre Forschung mit Praxisrelevanz wieder lohnt. (Zu viel Nabelschau in den Sozialwissenschaften? Eine kritische Debatte ist überfällig von Philipp Aerni, NZZ 22.9.2020) Institutionen und Meta-Philosophen sind Welten, die vielleicht mehr voneinander trennt als verbindet. An Overbeck schreibt Nietzsche im Sommer 1886: In dieser Universitätsluft entarten die Besten: Ich spüre fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie R.(ohde?) eine verfluchte allgemeine Wurschtigkeit und den vollkommenen Mangel an Glauben zu ihrer Sache. Dafür, daß einer (wie ich) dio noctuque incubando von frühester Jugend an zwischen Problemen lebt und da allein seine Not und sein Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl! R. Wagner, wie gesagt, hatte es: und deshalb war mir Tribschen eine solche Erholung, während ich jetzt keinen Ort und keine Menschen mehr habe, die zu meiner Erholung taugten. Rohde und Nietzsche waren Freunde aus Studientagen. In den späteren 1870er Jahren ist die Freundschaft zunehmend loser geworden, bevor es 1887 zum endgültigen Bruch gekommen ist. Entnervt über seine Lektüre von Jenseits von Gut und Böse wendet sich auch Rohde zu derselben Zeit brieflich an Overbeck und klagt seinerseits über Nietzsche: Das eigentlich Philosophische ist so dürftig und fast kindisch, wie das Politische albern und weltunkundig … alles bleibt willkürlicher Einfall … Ich bin nicht mehr imstande, diese ewigen Metamorphosen ernst zu nehmen … Ausdruck eines geistreichen, aber zu dem, was er eigentlich möchte, eben doch unfähigen ingenium … Nietzsche ist und bleibt zuletzt ein Kritiker … Wir anderen genügen uns selbst auch nicht, aber wir verlangen auch keine absonderliche Verehrung für unsere Mangelhaftigkeit … Zur Abkühlung lese ich Ludwig Richters Selbstbiographie (Brief von Rohde an Overbeck 1886, zitiert in Jaspers S.63f.) Rohde hat es, im Gegensatz zu Nietzsche, geschafft, sich im akademischen Betrieb zu etablieren und sich zu verheiraten. Geistige Anregungen hat er aber vorwiegend von außen empfangen – was auch der Grund für seine ursprüngliche Hinzugezogenheit zu Nietzsche war, und wohl auch der Grund für sein latentes Gefühl des sich nicht selbst Genügens. Aus heutiger Sicht mag ein grobes Verkennen von Nietzsche auffallen. Allerdings ist es für Zeitgenossen wohl praktisch unmöglich, jemanden wie Nietzsche zu verstehen. Zu viele alteingesessene Vorstellungen müssten transformiert werden, innere Bilder, bis hin zu verkörperlichten Reiz-Reaktionsmechanismen und Abwehrmechanismen. Dass das umso Gescheitere, darin gleichzeitig umso klarere und Universellere, gleichzeitig aus der zeitbezogenen und konkreteren Perspektive rückt, dass die Avantgarde sich von ihrem Zeitalter entfremdet, ist eine ganz natürliche Wechselbeziehung. Theoretisch besteht eine solche Möglichkeit vielleicht, dass einer wie Nietzsche verstanden wird, praktisch kommt sie wohl kaum vor. Gleichzeitig hat Rohde das Nietzsche-Problem aber auch erkannt (was wiederum aus heutiger Sicht vielleicht die größere und originellere Leistung darstellt): Es lebe also die Universitätsluft und die guten Einsichten, die man in ihr bekommt! Wer aber war Ludwig Richter? Das muss ich jetzt nachsehen. Eventuell ein Bildungsphilister, der eine Autobiographie geschrieben hat, weil er sich für so wichtig gehalten hat. So wie sich die erste Unzeitgemäße von Nietzsche ja an der (wichtigtuerischen) Autobiographie von David Strauß entzündet hat.

Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte, um in ihm eine Fülle innern Lebens – Gedanken-Erlebens, auszulösen. Er selbst hat einmal gesagt: „Es gibt zwei Arten des Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes, welches sich gern befruchten lässt und gebiert.“ (Jenseits von Gut und Böse 248) Zweifellos gehörte er der letzteren Art an. In Nietzsches geistiger Natur lag – ins Große gesteigert – etwas Weibliches; aber er ist darin in einem solchen Maß Genie, daß es fast gleichgültig erscheint, woher er die erste Anregung empfängt (…) Seine Ueberlegenheit bestand darin, daß er jedem Samenkorn, welches in sein Inneres fiel, entgegenbrachte, was er selbst als das Kennzeichen des echten Genies anführt: „den neuen, treibenden Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft.“ (Der Wanderer und sein Schatten 118.) (Lou Salomé S.70) Kreative Menschen sind in ihre Genderidentität immer wieder hybrid. Kreative Männer sind gemeinhin mitfühlender und intuitiver als ihre Brüder, kreative Frauen aggressiver und autonomer als ihre Schwestern. Und Nietzsche war in einem solche Maße Genie, dass eine große Weiblichkeit bei ihm geradezu zu erwarten ist. Seine Sanftmütigkeit, seine Umsicht und sein Mitleidenkönnen im Umgang mit anderen sind an ihm bekannt genug. Seine Basler Wohnung (die er gemeinsam mit Elisabeth bewohnt hat) war eingerichtet mit großen, weichen Fauteuils mit Blumenmuster-Überzügen, Vasen voller Blumen auf zerbrechlichen Tischchen, verschwommenen Aquarellen auf hellen Wänden, durch die Vorhänge drang rosiges Licht in das Zimmer. Sie vermittelte Besuchern den Eindruck, „bei einer lieben Freundin“ zu sein und nicht bei einem Basler Professor (Prideaux S.172). Entgegen zu seinen Idealen und Idolen von maßloser Härte und Stärke und Durchsetzungsfähigkeit war Nietzsche weiblich-harmlos. Darin mag ein Konfliktpotenzial gelegen haben, das sich dann eben auch in seiner späteren Misogynie entladen hat; um die betreffende Stelle bei Lou Salomé jetzt, glaube ich, zum dritten Mal zu zitieren: Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (Lou Salomé S.239) Insgesamt ist Nietzsches Philosophie nicht sonderlich weiblich (aber überhaupt auch nicht sonderlich menschlich – sondern eben übermenschlich). Wahnsinnig in Frauen vernarrt und ihnen tollkühn verliebt hinterher und ihren ästhetischen und charakterlichen Reizen zugetan war Nietzsche in seinem Leben nicht – in seinem lauwarmen Bedürfnis, Liebe zu nehmen und zu geben übrigens ähnlich den meisten Menschen. Er schätzte kluge und intelligente, selbstbewusste und unabhängige Frauen, dass er sich Frauen gegenüber jemals rüpelhaft oder herablassend verhalten hätte, ist unbekannt (von der Ausnahmesituation des Zerwürfnisses mit Lou abgesehen, wo er allerdings in seiner prompten Aggressivität in Intensität und Ausdruck – übelriechende Äffin mit falschen Brüsten – nicht zuletzt von seiner eifersüchtigen Schwester angestachelt wurde). In seinem Feldzug gegen alles „Schwache“ war das „schwache Geschlecht“ eventuell eine besondere Provokation für ihn, vor allem, wenn diese Schwäche von Frauen, als umgekehrter Ausdruck ihres Willens zur Macht, ja auch durchaus gewollt war. Immer wieder hat Nietzsche erlebt, dass die Ideale der Weiblichkeit, so wie alle anderen Ideale, in der Wirklichkeit selten auf etwas treffen, was ihnen entspricht. Nietzsche hat den Vater früh verloren und ist in einem Haushalt mit fünf Frauen, darunter zwei neurotischen Tanten aufgewachsen. Die Mutter ist im Großen und Ganzen gütig, aber in ihrer Gütigkeit beschränkt, kein Wesen, das seine Gütigkeit und seine Qualitäten insgesamt reflektieren und hinterfragen oder ändern kann; auf die Karriere ihres Sohnes will sie einerseits fördernd wirken und nur das Beste für ihn, andererseits ist er darin auch Objekt ihres verhaltenen narzisstischen Eigendünkels. Weniger Individuum als Verkörperung eines Typus, mag Nietzsche an sie gedacht haben, wenn er bei sich überlegte: Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Mit seiner Schwester Elisabeth hatte Nietzsche in seiner Kindheit und Jugend ein vertrauliches (manche munkeln auch: inzestuöses) Verhältnis. Elisabeths Tragödie war, dass sie einerseits zu intelligent und eigenständig für ihre soziale Umgebung war, dann aber auch nicht intelligent und eigenständig genug, um sich über diese Umgebung zu erheben. So wurde sie zu einem passiven Ressentiment-Menschen, der schließlich weder tragisch noch komisch war. Nietzsches mögliche Ehe mit Lou Salomé wollte sie vereiteln, selbst hat sie dann (wohl auch, weil sie lange unverheiratet geblieben war) einen chaotischen Antisemiten geheiratet, der gemeinsam mit seinem ebenso narzisstischen wie undurchdachten Unternehmen in Paraguay untergegangen ist – und Elisabeth beinahe mitgerissen hätte. Ihre antisemitischen Tendenzen hat sie nicht abgelegt, in Hitler zuletzt den leibhaftigen Übermenschen erblickt und ihm Nietzsches Spazierstock geschenkt. Den kranken Bruder hat sie gut gepflegt, allerdings auch Acht darauf gegeben, andere und wichtigere Personen aus Nietzsches Umkreis (wie Peter Gast) von der Deutungshoheit über sein Werk und seinen Nachlass auszuschließen. Früh hat sie von Mutter und Schule vermittelt bekommen, Intelligenz und Eigenständigkeit seien nichts für Mädchen, da die Rolle der Frau sich darauf beschränke, dem Gatten eine behagliche Gemahlin zu sein. Der Einzige, der immer wieder Anstrengungen unternommen hat, sie zu bilden und sie aus dieser Lethargie zu reißen, war eben ihr Bruder Friedrich, der damit zu seinem Leidwesen aber immer erfolglos geblieben ist. Trotz ihrer lebhaften Intelligenz hat sie sich früh in diese Passivität gefügt, und sich intellektuellen Anstrengungen stets verweigert, um sich in die Weiblichkeit in all ihrer mysteriösen Banalität und mädchenhaften Taktlosigkeit zurückzuziehen und oft zu betonen, dass sie „nur eine Dilettantin“ sei (Prideaux S.171) und so aller Verantwortlichkeit für ihr eigenes Tun auszuweichen: mit den „Waffen einer Frau“ also umso grobschlächtiger ihren exuberanten Willen zur Macht auszuleben. Cosima Wagner, im Grunde die einzige Frau, die ich (Nietzsche, Anm.) verehrt habe, hat sich nach dem Tod von Richard an die Brust von Houston Steward Chamberlain geworfen und Hitler in die bessere Gesellschaft eingeführt. Du gehst zum Weib? Vergiss die Peitsche nicht! Es ist schade, dass zwischen Nietzsche und Lou nichts geworden ist, aber dass bei allen Gemeinsamkeiten das Trennende zwischen Personen überwiegen kann, gehört zu den Tragiken des Lebens. Er betrachtete Lou schließlich – vielleicht aus Zorn darüber, dass sie nicht zu seiner Jüngerin geworden ist, vielleicht aber auch zu Recht – als Parasitin, für die das intellektuelle Streben kein authentisches, waghalsiges, gefährliches Unternehmen sei, für das man was riskiert, wie es das für Nietzsche war und wie er es selbst heroisch praktizierte, sondern eine Genüsslichkeit, die man konsumiert wie ein Bonbon, mit denen man sich dann füttern lässt bevorzugt von intellektuell authentisch strebenden und ringenden Männern, ohne sie dafür dann großartig zu renumerieren. Vor dem Zerwürfnis mit Lou (und gleichzeitig auch seiner Mutter und seiner Schwester) war bei Nietzsche keine großartige Frauenfeindlichkeit zum Vorschein gekommen – wenngleich in der Schwebe bleibt, ob z.B. seine Ausführungen zu Weib und Kind in Menschliches, Allzumenschliches eher vom Geist der Achtung oder der Verachtung getrieben sind – oder eben einfach nur, wie der Untertitel schon sagt, vom freien Geist (in etwa zur selben Zeit notiert er sich:  Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einer und derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und der Verspottung sich befindet. (Nachlass Sommer 1876, 17(16))). Nach der Affäre mit Lou will er zum Weib nur mehr mit der Peitsche gehen, im Zarathustra und in Jenseits von Gut und Böse finden sich dann die bekannten frauenfeindlichen (allerdings insgesamt der Menschheit gegenüber eben nicht freundlichen) Äußerungen. Sie verschwinden dann großteils wieder. Zu den Frauen, die Nietzsche später im Leben, über seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug kennengelernt hat, gehörten Rosa von Schirnhofer und Meta von Salis-Marschlins, beide Feministinnen. Die Beziehungen blieben bei einer freundlichen Bekanntschaft, Lebenswege, die sich gekreuzt haben, insgesamt aber anderwertig verlaufen sind. Seinen boshaften „Weibs-Wahrheiten“ in Jenseits von Gut und Böse (231-239) stellt er voran, dass und wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind. Er will sie also nicht als etwas Allgemeingültiges betrachtet wissen. Und sie sind kein eigentliches Element seiner Philosophie.

Dort draußen, jenseits der Galaxien, im Raum wo die urtümlichen Bewegungen stattfinden, schmeißt die Kelle, ächzend und gewaltig, die Materie durch die Form. Das Gedicht muss werden! Noch liegt es am Boden. Schlaff und kraftlos, es kann nicht für sich selbst stehen. Noch dazu ist die Welt stärker als das Gedicht. Die Kelle wirft Materie durch die Form, in fortwährenden Versuchen rotiert sie gegenläufig zur Form, die sich langsam aufrichtet. Etwas Materie fällt durch die Form, vieles davon prallt an ihren Begrenzungen ab. Die Materie des Ausdrucks wird durch die sprachliche Form geworfen, fortwährend, ächzend mahlt diese Mühle. Das Gedicht richtet sich langsam auf, erigiert sich, wächst über die Erde hinaus. Materie und Form füllen sich gegenseitig langsam aus, umschließen sich. Schließlich fällt nichts mehr daneben, die äußere Rotation ist beendet, der Erde enthoben stehen sie da, augenlose Augen, stumm sprechende erstarrte Feuerzeichen, in sich abgeschlossene und sich in sich selbst enthaltende Entitäten: die Dionysos-Dithyramben. Das letzte von Nietzsche herausgegebene (wenngleich teilweise schon vorher verfasste) Werk, und die letzten aller Gedichte. Die Dionysos-Dithyramben sind stehende Zeichen des Absoluten. Sie sind unbesiegbar, da sie reines Licht sind. Die Doppeltheit von Energie als Masse multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Sie können beliebige Formen und beliebige Ausdrücke annehmen, denn beides ist eins geworden und kann, in dieser Selbstidentität, in unendlichen Formen unendlich wiederkehren. Die Dionysos-Dithyramben sind das Endprodukt und die endgültige Form des transzendenten Geistes selbst. Form und Inhalt sind wechselseitig identisch, Apoll und Dionysos spiegeln sich ineinander, amalgamieren sich und heben sich jeweils in eine höhere Einheit auf – der Einheit nicht allein von Form und Inhalt sondern auch von Ergebnis und Intention. Die Dionysos-Dithyramben sind keine bloß radikale Konsequenz des Denkens und seiner möglichen Winkelzüge, wie Finnegan´s Wake oder die Diabelli-Variationen, und sie stehen ein wenig höher und straffer auch als die – stets ein wenig in sich selbst verbogen bleibende – späte und späteste Lyrik Hölderlins. Sie sind das Jenseits im Diesseits. Nietzsche hat andere geistige Zustände erreicht als selbst Rumi oder Hafis. – Freilich haben die Dionysos-Dithyramben auch etwas statisches und starres, stationäres. Dieser stationäre Zustand einer sich selbst reflektierenden und genießenden, sich selbst durchspielenden Dynamik und Intensität ist wohl der göttliche Endzustand von allem, was möglich ist, von allen Entitäten und Erscheinungen, die möglich sind. Noch aber leben wir, und unser Geist wandert dann schon wieder weiter, zu irgendetwas Banalerem, in seiner Geworfenheit in die Welt. Was hätte Nietzsche gemacht, wenn er noch länger am Leben geblieben wäre? Ständig irgendwas Neues, die endlose Bewegung und Transformation fortgesetzt? Oder wären seine Transformationen die ewige Wiederkehr des Gleichen gewesen? Hätte er, der Kriegerische, als altersweiser Starintellektueller vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg gewarnt, ja, wäre seine Autorität vielleicht so groß gewesen, dass er, der Erd-Regierer, ihn verhindert hätte? Nicht zu schweigen von ihm als Warner vor Faschismus und Nationalsozialismus und Antisemitismus? Hätte er in der Weimarer Republik eine fröhliche Freisetzung von dionysischen kreativen Energien erblickt, sowie dass die Demokratie ja gar nicht so schlecht ist, oder wäre er, im Hinblick auf das kleinere Übel, eben umso mehr in den Faschismus geflüchtet? Oder wäre er, in diesem nunmehr hochpolitischen Zeitalter umso unpolitischer geblieben? Wäre er, wie in dem fiktiven Und Nietzsche weinte, auf Freud getroffen und von seinen Neurosen geheilt worden? Was hätte er von der Avantgardekunst gehalten und allgemein von den kreativen Explosionen in Wissenschaft und Kunst und Kultur im eingehenden zwanzigsten Jahrhundert? Die Bereicherung der Welt durch Nietzsche ist kaum ermessbar, der mögliche Verlust, den sie durch seinen lebensunzeitgemäßen Tod erlitten hat, ist vielleicht aber noch schwerwiegender. Aber ist dann sein Werk Torso ohne logisches Finale geblieben, ein nach dem vierten Akt von Zarathustra unterbrochenes Drama? Oder hat Zarathustras Adler es geschafft, letztlich zu landen? Vielleicht hat Nietzsche ab 1887 deswegen eine besonders exzessive Produktivität an den Tag gelegt, weil er geahnt hat, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben möge. Denn trotz des ständig offenen Charakters seines Werkes und seines Philosophierens haben die letzten Schriften dann scheinbar auch was Abschließendes. Plötzlich schließt er die Akte zum Fall Wagner und zum/seinem „Musikanten-Problem“, er stürzt Götzen und philosophiert über die Philosophie mit dem Hammer, und bleibt dankbar gegenüber den Alten. Im Anschluss bereits an den Zarathustra hätte er mit Der Wille zur Macht ein großes systematisch-darstellendes Werk über seine Philosophie verfassen wollen, nicht zuletzt mit dem Fortschreiten seines Denkens verlief diese Intention dann aber im Sande. Stattdessen plante er zuletzt als großangelegtes, systematisches Werk in diesem Sinne das mehrbändige Die Umwertung der Werte, von dem Der Antichrist als der erste Teil gedacht gewesen war. Und Ecce homo als darauf vorbereitenden autobiographischen Abriss, mit dem er sich selbst, einerseits pompös, andererseits bescheiden und wenig voluminös (vgl. die ausladenden und geschwätzigen Autobiographien von anderen), dem breiteren Publikum vorstellen wollte. Zuletzt hat er dann aber auch den Plan zur Umwertung der Werte verworfen, und stattdessen Der Antichrist und Ecce homo als zusammengehörige Werke, als Dyade betrachtet. Seine endgültige, abrechnende Überwindung seiner Herkunft als Pastorensohn aus bigottem Hause (gleichsam stellvertretend für das Erden-Gefängnis an sich, in das jeder geworfen wird und von dem er „gemacht“ wird), und der abschließende Rückblick auf sein Leben als Dokument einer Selbsterschaffung, einer Gottwerdung, einer Einswerdung mit dem „Schicksal“? Dann die abschließende Herausgabe der Dionysos-Dithyramben: ewige leuchtende Feuerzeichen der Intensität in der Höhe, wo Apoll und Dionysos schließlich ineinander verschmelzen, eine statuarisch gewordene Dynamik, augenlose riesige Augen, die, indem sie in sich selbst blicken, in die Welt blicken, durch Brand unzerstörbare Formen des verzehrenden Brennens, ein mächtiger, zuletzt sogar der absolut triumphierende Schild gegen das Nichts… in ihrer transzendenten Selbstidentität an und für sich nicht bloß das angestrengte Ja-Sagen des Übermenschen, sondern der transzendente Sieg über die ewige Wiederkehr des Gleichen, indem sie keinem äußeren Wandel mehr unterworfen sind, sondern nur mehr fortwährender innerer Wandel sind… Also sprach Zarathustra dann zum letzten Mal —

Höchstes Gestirn des Seins!

Ewiger Bildwerke Tafel!

Du kommst zu mir? –

Was keiner erschaut hat,

deine stumme Schönheit –

wie? Sie flieht vor meinen Blicken nicht? –

Schild der Notwendigkeit!

Ewiger Bildwerke Tafel!

 – aber du weißt es ja:

was alle hassen,

was allein ich liebe:

– daß du ewig bist!

daß du notwendig bist! –

meine Liebe entzündet

sich ewig nur an der Notwendigkeit.

Schild der Notwendigkeit!

Höchstes Gestirn des Seins!

 – das kein Wunsch erreicht,

 – das kein Nein befleckt,

ewiges Ja des Seins,

ewig bin ich dein Ja:

denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! —

Tönnies über Nietzsche, ob seine Wahrheitsliebe, Ruhmgier oder Zerstörungslust größer sei. – Keines davon, sondern eine Verwechslung, dämonischer Art, von sich selbst mit dem bevor er beständig kniet. Dies ist es, was immer, auch in den zerstörendsten Wahrheitstendenzen, Höhen um ihn aufbaut, und auch, was den unheimlichsten Abgrund in seiner Natur aufreißt. Dies Gemisch von Wahrheitsdrang und Ruhmgier, Begeisterung und Eitelkeit, richtet sich als Zerstörungswut gegen alles, was außerhalb dieses dämonischen Kreises steht. Gewiß ist Nietzsche einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten Menschen, die gelebt haben. Unerwartet, aus dem Dunkel wirkend, so daß man fast fühlt, es müsse selbst aus dem verborgenen Dunkel der Irrenzelle sein Geist noch einmal mit seinem Werk herausspähen, sei es auch in einer gigantischen Fratze. (Vorwort zu Lou Salomé S. 20, Tagebucheintrag zu einem Brief an Ferdinand Tönnies) Nietzsche ist einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten Menschen, die je gelebt haben. Dass solche Menschen erst  posthum geboren werden mögen, liegt in der Natur der Sache. Ihre Einsamkeit ist die des Langstreckenläufers. Gescheitert ist Nietzsche nicht (notwendigerweise) im Leben, sondern an seiner Krankheit, als einer heterogenen Macht, die ihn zu früh aus dem Leben gerissen hat. Was wäre aus ihm geworden, wenn er länger gelebt hätte? Hätten sich die Nebel in ihm und zwischen ihm und der Welt gelichtet, oder wäre er immer mehr und immer tiefer im Nebel verschwunden, wo kaum ein Mensch ihm mehr nach kann, so wie der spätere Einstein, Wittgenstein oder Gödel? Wäre er Wanderer geblieben – und dessen irritierender Schatten? Als Wanderer sind wir ihm dankbar für die steilen Wege, die er erklommen hatte, und die er dennoch umso fester und sicherer unter sich fühlte. Wir sind ihm dafür dankbar, dass er uns unsere eigenen Schatten, und die Schatten unserer Kultur aufzeigt, und uns hilft, sie auszuleuchten. Wir sind ihm dankbar, für den Reichtum, für die Schätze, die er aus dem Schatten des Unbekannten holt, mehr noch aber dafür, dass die Welt, und die Welt in uns, diese Reichtümer enthalten, diese Reichtümer sind. Wenn er uns was lehrt, dann, dass die Welt tief ist, und tiefer als der Tag gedacht. Wie Hölderlin verlangt er nach einer intensiveren Erfahrung der Wirklichkeit; Kultur ist für ihn eine Anstrengung gegen die Gleichgültigkeit der Wirklichkeit; er will der Gleichgültigkeit der Wirklichkeit etwas entgegensetzen. Dass er darin aristokratisch ist, ist würdig und recht, denn: Für drei gute Dinge in der Kunst haben „Massen“ niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum –: um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden. (zitiert in Heidegger: Nietzsche 1 S.124) Hölderlin hat er, wie Kleist, deutlich früher als seine Umgebung verstanden und geliebt; er liebt die ungewöhnlichen Menschen, die Grenzgänger, und setzt ihnen Orientierungshilfen, wie sie sich über sich selbst orientieren können (Dritte Unzeitgemäße Betrachtung) und wie sie sich gegen die Gesellschaft orientieren können (Erste Unzeitgemäße Betrachtung) – beziehungsweise ist sein ganzes Werk gerade eben dem gewidmet. Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden) Die Kultur ist nicht nur das, was den Menschen über die Natur erhebt, sondern was den Menschen über den Menschen erhebt. Aufgrund seines extrem hohen Niveaus, weil er im Dachgeschoß des Denkens haust, ruft er aus eisigen, klaren Höhen herab, und lehrt uns den Übermenschen. Denn dass der Mensch was ist, was überwunden werden soll, darauf kann man sich wohl schon einigen. Jeder Mensch ist dabei in eine Lebenskämpfe geworfen, sie zu überwinden oder zu befrieden ist das Telos des Menschen, von jedem von uns: und jedem spricht er Mut zu und erteilt Ratschläge über Ratschläge, er spricht zu uns allen, und er spricht ganz konkret zum Einzelnen, der naturgemäß auch der erste ist, vielleicht sogar der einzige, der sich um sich selbst bekümmert … was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Menschheit. – Man muß der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele – durch Verachtung (Der Antichrist, Vorwort). Es ist, wie Jaspers sagt, der Kampf von Substanz gegen Nichtigkeit, den er führt (Jaspers S.446), er exerziert ein „schaffendes Denken“ (ebenda S.278); bei all der Verneinung bleibt eine kraftvolle, bejahende Stimmung (ebenda S.253). Es bleibt das Denken, das Hinterfragen, das Schaffen und Aufstellen und Umwerfen, wenn es sich als falsch erweist, an sich. Es bleibt, es ist, was Nietzsche tut, die Philosophie an sich. Der Zweck von Philosophie ist es, laut Jaspers (und wie man es auch von der Kunst einfordern kann), Transzendenz anzustreben, Lebensmöglichkeiten hinter den vorhandenen Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Nietzsche hat sich daran gehalten, und wer das tut, begibt sich wahrscheinlich auf eine gefahrenvolle Reise und entfremdet sich, einerseits indem er in der Zukunft sucht und gleichzeitig im vornehmlich ewig schon Vorhandenen, ins Unzeitgemäße. Und Nietzsche hat den Bogen dabei sehr weit gespannt: Das Seiende soll in das Offene des Seins selbst und das Sein soll in das Offene seines Wesens gebracht werden. Die Offenheit von Seiendem nennen wir die Unverborgenheit: Wahrheit. (Heidegger: Nietzsche 1 S.64) Nietzsche war für Heidegger einer der größten Denker, weil er das Seiende und seinen Charakter ins Offene bringen wollte, um Wahrheiten über das Seiende auszusagen, die von einer herkömmlichen Intelligenz nicht ergriffen werden können, sondern die eine totale Intelligenz erfordern. Derjenige ist dann Metaphysiker. Metaphysik ist die Wahrheit über das Seiende als solches im Ganzen. (Heidegger: Nietzsche 2 S.171) Nietzsche übertrifft Heidegger, der immer wieder als der größte Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen wird, indem er auch noch die Philosophie und Metaphysik selbst in sein Umwälzungs- und Umwertungswerk miteinbezieht, über sie mit dem Hammer philosophiert. Er, der Meta-Philosoph. Der Meta-Philosoph steht jenseits der Philosophie und jenseits der empirischen Welt. Wenn man ihn nicht versteht, wieso soll es seine Schuld sein? Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, und der Meta-Philosoph lehrt uns gerade das. Die empirische Welt ist zutiefst gespalten, in einen komischen und in einen tragischen Pol (dazwischen klafft gähnend die Mittelmäßigkeit). Der Meta-Philosoph will die Gespaltenheit der Welt unter sich lassen. Wieso soll er nicht formulieren einen „Pessimismus der Stärke“ (Versuch einer Selbstkritik 1 zu Die Geburt der Tragödie)? Wenn er sich dieser neurotischen Gespaltenheit der Welt aussetzt und hingibt, ohne Teile von sich und der Welt zu verlieren, wieso soll das dann nicht ergeben eine „Neurose der Gesundheit“ (ebenda 4)? Was ist an Nietzsche überhaupt schlimm? Was ist negativ? Wie eitel und ruhmgierig Nietzsche tatsächlich war, oder wie weit er, in seiner Begeisterung, vor was „kniet“ (wo er doch, im vornehmlichen Gegensatz zu den meisten Schöngeistern, die schönen Dinge tatsächlich und ganz authentisch, und so wie es ihnen gebührt, liebt), nicht einmal das ist überhaupt klar. In dem, was er sich zu Bewusstsein hat bringen können von sich selbst, war er das offensichtlich nicht – in dem, was ihm davon verborgen geblieben war, hat er sich aber offenbar umso lauter durch seine Sprache, seine Philosophie und seinen Pathos artikuliert. Fast jeder liebt heute Nietzsche, so wie ihn früher fast keiner geliebt hat. Nietzsche wurde harmonisiert. Aufgrund seiner äußerst imposanten Erscheinung und seines tiefen Nachdenkens über so viele Dinge mag man – zumindest als intelligenter und sympathetischer Mensch – geneigt sind, bei Nietzsche Einsichten zu vermuten, die so tief und gründlich sind, dass man als gewöhnlicher Sterblicher nicht in der Lage sein kann, sie angemessen zu verstehen, oder aber dass man auf seinem eigenen Denk- und Lebensweg noch nicht tief oder hoch genug gestiegen, um das tun zu können. Was aber, wenn viele von Nietzsches Positionen sich am besten so erklären lassen, dass sie nicht besonders durchdacht sind, sie deswegen von ihm nicht angemessen erklärt und verdeutlicht werden, weil sie dumm, genauer gesagt: neurotisch sind und daher in ihrem Kern für Nietzsche selbst gar nicht zugänglich? Tatsächlich klafft in Nietzsche ein tiefer Abgrund, bei aller kraftvollen Pathetik gibt es Rechnungen, die nicht aufgehen – und die das Dasein so gar nicht notwendigerweise stellt. Er stellt es sich wohl immer so vor, dass er über den Abgrund wandelt, weil er ihn in sich selbst spürt. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Licht liegen! wie frei man atmet! wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein (…) Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? (…) Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich… (Ecce homo, Vorwort 3) (Ha, wenn der wüsste, wie ich in Wirklichkeit aussehe, verschissen, verkotzt und Spermakrusten überall, ich glaube dann wäre er ruiniert!) Ich aber lehre euch: Wahrheiten und Widersprüche auszuhalten ist gar nicht schwer, wenn man kein nennenswertes „Ego“ hat. Ich brauche mich dann nicht pathetisch zu nehmen. Wer aber traut sich, gegen Zarathustra in den Ring zu steigen? Wer kann so gut dichten und denken, wer hat so viele Erfahrungen, und so viele leidvolle Erfahrungen verarbeitet, dass er sagen könnte: In Zarathustras Höhlen und Höhen finde ich mich zurecht?! „Wer mit 40 Jahren nicht Misanthrop ist, der hat die Menschen nie geliebt“, pflegte Chamfort zu sagen. (Nachlass Herbst 1881, 15(71)) Wer traut sich, über Zarathustras Misanthropie so einfach zu richten? Hat er mit seinen 80 Jahren immer noch nicht erlebt, was Nietzsche mit 40 erlebt hat? Oder hat er die Menschen, wie es ganz wahrscheinlich ist, nie wirklich geliebt? Ich bin jetzt in etwa so alt wie Nietzsche bei seinem geistigen Zusammenbruch. Zwischen meinem Leben und dem seinen gibt es Ähnlichkeiten. Während die seitherigen Philosophen und Nietzsche-Deuter ihm hinsichtlich Geist und Seelenumfang unterlegen waren, bin ich ihm an Geist nicht unterlegen und an Seelenumfang wohl eher überlegen: ich habe keine Angst vor den Armen und nicht vor Dissonanz in der Musik, meine Bücher werden gar nicht erst verlegt, zum Bildungsphilister bin ich vielleicht ein noch größerer Antitypus etc. Ich weiß, im Gegensatz zu Nietzsche, was der Übermensch ist und warte nicht, wie Zarathustra, ewig auf ihn. Dass ich aber, in meiner kleinmütigen Bescheidenheit, überhaupt jemals auf den Übermenschen gekommen wäre, so wie Nietzsche, glaube ich nicht. Auf wie viel wäre ich überhaupt gekommen ohne Nietzsche, wie viel verdanke ich dem Alten? Nietzsche war für mich, seitdem ich angefangen habe, mich mit Philosophie zu beschäftigen, der wichtigste Philosoph, an und für sich die wichtigste, prägendste Einzelgestalt für mich überhaupt. Denn er lehrt einem das Philosophieren, und nicht nur das Philosophieren: das Leben. Er lehrt einem, Innenräume und Außenräume zu durchmessen, genau gesagt, den Innenraum und den Außenraum. Er ist der Raum selbst. Heil dem, der der Raum selbst ist! Wenn ich was lehre, dann aber den Raum selbst. Mein Raum ist kein dionysischer Abgrund, und kein Chaos, dort wo er am tiefsten ist. An der tiefsten Stelle des Raumes hat man den Chaosmos und das Kreuz, aus dem DAS GESETZ entspringt. Der Machtkreis der vollendeten Subjektivität ist ein Empathiekreis, wo Subjektivität und Objektivität ineinander übergehen. Die Steigerungsdynamik der Ich-Werdung bei Nietzsche muss mit der absenkenden Dynamik der Welt-Werdung bei Schopenhauer einhergehen. Das ist der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring, der jenseits der ewigen Wiederkunft ist.

Nietzsche hat einmal das paradoxe Wort ausgesprochen: „Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen“ (Fröhliche Wissenschaft, 200). Eine solche überlegene Schadenfreude, die des eigenen Schadens froh zu werden, ja, ihn sich selbst zuzufügen imstande ist, geht als ein heroischer Selbstwiderspruch und ein heroisches Lachen durch Nietzsches gesamtes Leben und Leiden. In der gewaltigen Seelenkraft aber, durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen vermochte, lag, psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung, sich als mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn und Werth seiner Werke.

Denn auch uns tönt ein erschütternder Doppelklang aus seinem Lachen entgegen: das Gelächter des Irrenden – und das Lächeln des Überwinders. (Lou Salomé S.296)

Es missfällt mir ein wenig, meine Hommage an Friedrich Nietzsche ausgerechnet mit den Schlussworten seiner Erzfeindin zu beenden – auch wenn er sich vielleicht wieder mit ihr versöhnt hätte, oder jetzt, im Kontinuum, vielleicht versöhnt mit ihr lebt. Wir antworten uns aber, glücklicherweise, immer wieder über Echos und Ähnlichkeiten, Referenzen und Assoziationen. In diesem Sinn mag es vielleicht dazu herausschallen

Da, plötzlich, Freundin! Wurde eins zu zwei –

– Und Zarathustra ging an mir vorbei…

15. September – 15. Oktober 2020

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In seinen zu Lebzeiten publizierten Werken hat Nietzsche die Absätze und Aphorismen dankenswerterweise nummeriert, so dass man, unabhängig von der jeweiligen Ausgabe, darüber aus ihnen zitieren kann.

Den Verweisen aus dem Nachlass liegt die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari editierte Kritische Studienausgabe, erschienen bei de Gruyter, zugrunde.

Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt/Main, Insel 1994

Martin Heidegger: Nietzsche 1. Band/Gesamtausgabe Band 6.1, Frankfurt/Main 1996

Martin Heidegger: Nietzsche 2. Band/Gesamtausgabe Band 6.2, Frankfurt/Main 1997

Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin, Walter de Gruyter & Co 19520

Osho (Bhagwan): Zarathustra – Ein Gott der tanzen kann, Zürich, Osho International Foundation 1994

Sue Prideaux: Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche, Stuttgart, Klett-Cotta 2020

Rüdiger Safranski: Nietzsche: Biographie seines Denkens, Frankfurt/Main, Fischer 2002