Heidegger und ich

Heidegger macht uns keine Illusionen und gaukelt uns nicht vor. Man hat bei ihm nicht das Aufgehen des Menschen in einem großen Ganzen, in einem sinnvollen Logos und Weltprozess (wie bei Hegel), einem All-Leben und Weltgeist (wie bei Scheler), einer materialistischen Eschatologie (wie bei Marx), einer sadomasochistischen ewigen Wiederkehr des Gleichen (wie bei Nietzsche) oder einem „summenden“, geschäftigen Universum (wie bei Whitehead). Nein, man hat bei ihm die bloße Geworfenheit des Menschen in ein nacktes Sein. Heideggers Sein hat keine wirklichen Qualitäten. Es ist vorwiegend indifferent. Verlassen und einsam findet sich der Mensch im Sein in seiner bloßen Existenz wieder. Auf unbeschriebene Blätter jedoch kann man die schönsten Schriftzeichen setzen, meinte dereinst der Welterschütter (und Philosoph) Mao Tse-tung. Indifferenz des Seins und bloße Existenz sind gleichsam solche unbeschriebenen, daher beschreibbaren Blätter. Existenz kann das Passivste sein von der Welt – oder das Aktivste. Das Sein, zu dem sich der Mensch in Heideggers Philosophie ins Verhältnis setzt, ist das Ärmste und Nichtigste und das Vollste und Reichhaltigste gleichermaßen. Zwischen beiden Polen des Leersten und des Erfülltesten ist bei Heidegger aufgespannt der Mensch. Den Existenzialismus gleichsam vorweg nehmend hat man Heidegger die Geworfenheit in ein rätselhaftes, genauer gesagt, ein eigentlich geheimnisloses und uncharismatisches Dasein und eine existenzielle Verlassenheit und Isoliertheit des Menschen, eine Art existenzielles Ennui als Grundstimmung, wie sie zu Zeiten des Höhepunktes des Existenzialismus in den 1950er Jahren empfunden wurde. Der Existenzialismus fordert aus dem heraus eine Verantwortlichkeit des Menschen, sich zu entwerfen; bei Heidegger hat man das auch, aber in viel größerem Umfang – der dann freilich in Gefahr läuft, darin gar nicht verstanden zu werden. So erscheint Heidegger, wie auch der Existenzialismus, aus heutiger Sicht als „irgendwie trivial“ und als Weisheit von gestern, die im Heute keinen Platz mehr hat. Ja, das kenne ich. Dieses Verkennen von Heidegger ist mir auch teilweise passiert – damals, als mein Geist sich noch nicht vollständig zusammen- und ineinander gefügt hatte. Da war ich noch jung. Ja, man mag Heidegger entsetzlich banal finden; auch davon unabhängig mag man es sich schwer vorstellen können, wieso Heidegger und Sein und Zeit seinerzeit so hohe Wellen geschlagen haben – ähnlich aber freilich wie der französische Existenzialismus 20 Jahre später (bei dem dies leichter verständlich ist). Aber das – dass man ihn banal findet – wird vorwiegend dann der Fall sein, wenn man selbst noch kein höheres Bewusstsein entwickelt hat, keine Zeitlichkeit angereichert hat, man sich aus dem nivellierenden Man noch nicht ordentlich herausgeschält hat – dann kann man mit Heideggers Kategorien und seinem Niveau des Denkens vielleicht nicht viel anfangen. Heidegger mag man banal finden, wenn man mit der eigenen Existenz noch tief in die Banalität verstrickt ist. Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch? (Georg Christoph Lichtenberg) Ein Buch ist wie ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken. (Georg Christoph Lichtenberg) Natürlich kann man Heidegger auch spontan banal finden, einfach, weil man immer schon eine Art höheres Wesen ist, das immer schon eigentlich und nach seinen selbst ergriffenen Möglichkeiten lebt und schwer begreifen mag, ja, es als die eigentliche Raffinesse empfinden mag dass es auch andere geben sollte. Auch ein dermaßen eigentliches Wesen wird sich aber der Ernsthaftigkeit des Heideggerschen Strebens und seiner Schriften und dem absolut hohen – und absolut authentisch-philosophischen – Niveau seiner Auseinandersetzungen gewahr werden und sich dem darüber ausgeübten Sog nicht entziehen können. Auch ein solches Wesen – oder eben vor allem ein solches Wesen – wird in Heidegger einen authentischen, einen großen Philosophen erkennen und ihn deswegen lieben. Vielleicht sind wird heute alle solche Wesen (weswegen uns auch der französische Existenzialismus heute fremd und überholt erscheint). Vielleicht aber auch nicht; vielleicht bleiben wir praktisch hinter diesen Möglichkeiten zurück. Heil dem, der sich dafür überhaupt interessiert. – Eine Philosophie des lebendigen Lebens wolle er anstellen, hat Heidegger schon 1916 seiner Elfride anvertraut. Stets sei es ihm darum gegangen, zwischen einem gelehrten Gegenstand und einer gedachten Sache zu unterscheiden, wird Hannah Arendt in ihrer späten Hommage an ihn feststellen. In seiner bohrenden, einkreisenden, sich besinnenden, besinnlichen Qualität wird sich dieses Denken auch seinen eigenen Resultaten gegenüber stets kritisch bis destruktiv verhalten. Heidegger bohrt Löcher in das Sein, gräbt Mulden in das Sein und verschafft uns so Zonen des geistigen Aufenthalts im Sein. Ein umfassender, das heißt dann also auch ein selbstreflexiver, selbstkritischer, wenn man so will, „widersprüchlicher“ Denker – Heidegger, ein Philosoph der Freiheit, der Möglichkeiten, des Ekstatischen, Überschreitenden, der Emergenz – als auch des Unheimlichen und Unheimeligen im Sein, der Geworfenheit (also Bedingtheit und Unfreiheit und Orientierungslosigkeit und des Wunsches, im entfremdenden Man aufzugehen). Ein Vordenker des Existenzialismus, der hinwiederum das Ekstatische, Ek-sistierende wenig kennt; bei dem man einen Humanismus hat, aber kein Übermenschentum – bei Heidegger hat man das schon. Ein abgeschwächter, realistischerer Kierkegaard, bei dem man nichtsdestotrotz ein Ringen mit dem Absoluten hat, nur das sein Absolutes nichts Göttliches an sich hat (sein Absolutes, mit dem der Mensch unleugbar konfrontiert ist, ist der Tod und das Dasein als Sein zum Tode) Heidegger dann wieder als Philosoph des Ungeborgenen, des Ennui, der Entfremdung, des Zweifels an der Zivilisation, der Technophobie – und nicht zuletzt auch kurzzeitig des Nationalsozialismus. Angesichts von einem solchen Umfang und Aktionsradius scheint es kaum verwunderlich, dass Paradoxien und Unverständlichkeiten auftreten und mit im Gepäck geführt werden. Eine Philosophie des lebendigen Lebens wolle er anstellen… Man hat Heidegger gerühmt und bewundert, weil er mit einer Philosophie daher kam, die ohne Abstraktionen auskommt, genauer gesagt, die viel konkreter und mit mehr Bezug zur Lebenswelt ist als die sonstige Philosophie seiner Zeit. Gleichzeitig schafft er mit seiner Philosophie bzw. in ihr neue offenkundige Abstraktionen, die dann ihrerseits verdinglichend walten und zu Fetischen werden. Viele seiner Kategorien wie „Herrschaft der Technik“, „rechnendes Denken“, „Besinnung“ oder eben „Sein“ sind solche, die vielleicht eher etwas symbolisieren oder als Metapher fungieren, als das sie etwas analysieren. Heidegger verliert sich dann zu einem Teil darin, in solchen Symbolisierungen zu denken und, wie er meint, zu analysieren: er wird von seiner eigenen Terminologie übermannt. Man kann ihm dann ankreiden: das („rechnende“) bzw. zeitgenössische Denken „ist ja nicht so“, wie er es stets behauptet, der Universitätsbetrieb „ist ja nicht so“ etc. Gleichzeitig ist all das aber eben schon so, und in der Leitbedeutung hat Heidegger vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen – oder eben auch nicht: diese Irritation, dass man nie ganz sicher ist, inwieweit Heidegger von den Gegenständen, die er analysiert deren Leitbedeutung getroffen hat, ist aber eine persistente. Freilich geschieht das in der Philosophie häufig und Heidegger ist da kein Einzelfall. Genau gesagt, ist das in der Philosophie dauernd so; indem das bei Heidegger also auch so scheint, offenbart sich vielleicht eben nur, wie sehr er Philosoph denn ist. Wie bei jedem Philosophen, der bedeutend genug ist, dass er popularisiert wird, hat man bei Heidegger natürlich eine deutlich höhere Intelligenz und deutlich raffiniertere Analyse und Abwägen, als man es von den Popularisierungen kennen würde. So erschließen sich bei der genaueren Lektüre hochgradige Differenzierungsleistungen innerhalb seines Denkens. Überhaupt ist seine Lektüre zu empfehlen. Sein angenehmes, stetiges Einkreisen des Gegenstandes, die Originalität der Wahl seiner Gegenstände; die Meditationen, die er über andere Philosophen unternimmt – und die, trotz der peniblen Zitation, nichts wirklich Akademisches an sich hat. Man hat in diesen Meditationen die Begegnungen zwischen großen und größten Philosophen – denn Heidegger ist ein solcher, ist einer von ihnen. Dass seine Sprache dunkel ist, ist ein verdunkelnder Mythos. Zwar berechtigt, wenn man Heidegger zum ersten Mal lesen mag: dann erscheint er dunkel bis grotesk – was aber genau das ist, was man bei tatsächlichen Philosophen hat: dass sie einem zunächst einmal dunkel und grotesk erscheinen, als klar und eindeutig. Im Lauf der Zeit aber tritt Klarheit ein, geschieht die Lichtung. Heidegger drückt sich klar und – nicht gekünstelt sondern – natürlich, in seiner jeseinigen Sprache aus. Eine Stelle im Gebiet, wo echtes Philosophieren stattfindet. Eine weitere Kuriosität ist, dass Heidegger stets über das Sein meditiert, und dabei das Seiende scheinbar nur mit einem Auge sieht. Der Seinsfrage nachzugehen bedeutet: Auf dem höchsten Abstraktionsniveau zu arbeiten, um so gleichzeitig das Konkrete am konkretesten und am umfangreichsten bestimmen zu können. Das wäre Sinn und Zweck der Unternehmung. Bei Heidegger hat man aber das Problem dass er vor lauter Seinsfrage die seienden Gegenstände in der Welt unterbestimmt lässt: die Technik kennt er zu wenig genau, die Politik, eigentlich auch den Menschen. Auch wenn Heidegger nicht so weltfremd sein mag, wie man das glauben mag, ist er doch wieder weltfremder und esoterischer als einem das lieb sein mag. Ein Philosoph, der über das Sein bzw. über die Welt philosophiert, muss auch welthaltig sein. Heidegger war das nicht unbedingt. All das ist aber schwieriger aufzulösen, als einem wiederum das lieb sein mag. – Heidegger ist auf der Suche nach einer authentischen „Einkehr“. Er fühlt sich in der Gegenwart nicht wohl. Einkehr erhofft er sich von einem Neubeginn, der im Geist einer fernen Vergangenheit geschieht oder der in einer sehr fernen Zukunft geschieht, deren Geist und deren Verständnisse so weit weg sind, dass man sie eben kaum angeben kann, und die daher geradezu außerhalb alles zeitgenössischen Philosophierens zu liegen kommen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, so der andere große Philosoph des letzten Jahrhunderts, Wittgenstein, der daraufhin tatsächlich mit dem Philosophieren aufhörte (bzw. sich eine Auszeit nahm). Heidegger hingegen spricht besinnlich, bohrt ein Loch in das Sein, gräbt Mulden in das Sein und befragt so, in einer nicht alltäglichen Sprache, das Sein. Er wirft sich gleichzeitig in eine ferne (archaische) Vergangenheit und in eine ferne, kaum in ihren Umrissen erkennbare Zukunft, jenseits des Aufklärungszeitalters, jenseits aller Moderne. Er wartet auf das „Ereignis“ und glaubt es dann in der Machtergreifung des Nationalsozialismus zu erkennen – freilich nur kurz. Bis an sein Lebensende jedoch wird es keine handfeste Distanzierung davon geben. Er will etwas „ganz anderes“ als die Zeiten, in denen er lebt, zeichnet sich dann aber aus durch eine „Wut des Dableibens“ (Peter Sloterdijk), die als solche beinahe eigentümlicher ist als jeder Konservatismus. Es ist nicht Aufgabe des Philosophen, jeder Modeerscheinung hinterherzulaufen; gleichzeitig darf er nicht versuchen, die Zeit anzuhalten. Als Philosoph hat er das dann auch nicht wirklich getan, in seinem Lebensvollzug und seiner Hüttenbewohnerexistenz aber schon viel eher. Man fragt sich, wo Heidegger eigentlich hin will und warum? Wo drückt der Schuh? Wer fragt wohl stets nach der „Eigentlichkeit“ und der Authentizität? Na, einer der nicht authentisch ist. Heideggers Philosophieren ist neurotisch, wenngleich es eine produktive Neurose ist. Andersrum ist er vielleicht viel eher der einzige, der korrekt und antineurotisch empfindet – eben indem er dauernd um die Frage nach dem Sein und nach der Authentizität in einer Welt mit gewissem Entfremdungspotenzial kreist und dieses versucht, zu reduzieren. Heidegger, zuletzt, und ich. Ich kann letztendlich feststellen: Heidegger und ich sind bisweilen durchaus eines Schlages. Heidegger will den Menschen in seinem In-der-Welt-sein erforschen – so wie ich mich! Das In-der-Welt-sein ist mein urtümlichstes Empfinden, und sein Erforschen mein urtümlichstes Drängen. Heidegger will, dass wir bewusster leben und achtsamer – das schlage ich auch vor! Heidegger will ein neues Bewusstsein, ein neues Denken propagieren – ich kann sogar ein konkretes Modell davon anbieten! Heidegger hofft, im technologischen Zeitalter, dass es zu neuen Sinnstiftungen durch die Kunst kommt – so wie ich! Er sieht das Ende der Metaphysik und der Philosophie, hofft jedoch auf neue Formen, die das Denken dereinst annehmen wird – ich offeriere den absoluten Geist in der absoluten Form! Heidegger liebt die Philosophie und ihre Gegenstände – so wie ich es tue! Wir begegnen uns, einsam, auf dem Holzweg, in der ewigen Dämmerung, und erkennen uns.

Und so tue ich dann eben Kunde – über Heidegger und mich.

Wir behaupten nun: Das Sein ist das echte und einzige Thema der Philosophie. Das ist keine Erfindung von mir, sondern diese Themenstellung wird mit dem Anfang der Philosophie in der Antike lebendig und wirkt sich in der grandiosesten Form in der Hegelschen Logik aus. Jetzt behaupten wir lediglich, das Sein sei das echte und einzige Thema der Philosophie … Philosophie ist die theoretisch-begriffliche Interpretation des Seins, seiner Struktur und seiner Möglichkeiten. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.15) Und überhaupt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Das ist die Frage. (Einführung in die Metaphysik) – das sei, genau gesagt, die Grundfrage der Metaphysik. Heideggers gesamte Philosophie kreist um die Entfaltung der Seinsfrage, der Frage nach dem „Sein“. Laut eigener Aussage habe ihn diese Frage bereits als Gymnasiast beschäftigt: Unbestimmt genug bewegte mich die Überlegung: Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung? Was heißt Sein? (Mein Weg in die Phänomenologie in Zur Sache des Denkens S.81) Aus einem vulgären, spontanen Verständnis heraus möchte man vielleicht geneigt sein, Heideggers gesamte Philosophie darum zu verwerfen: „Sein“ sei schließlich ein unbestimmter, ein leerer, oder eben ein bloßer Begriff, eine Kategorie unseres Denkens, eine Abstraktion über die Wirklichkeit, jedoch keine Wirklichkeit selbst. Man jage einem Phantom hinterher. Allerdings: so schlau ist das dann auch wieder nicht; eine solche Cleverness ist vielleicht eine, sie hat allerdings ihre Grenzen. Heidegger wäre kein Philosoph, wenn er sein Hauptwerk nicht mit einer Meditation über die Eigentümlichkeit und Problematik des Seinsbegriffs einleiten würde: Man sagt: „Sein“ ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als solcher widersteht er jedem Definitionsversuch. (Sein und Zeit S.2) Wenn etwas nicht definiert werden könne, wie kann es dann Gegenstand eines systematischen Denkens sein? Nun, das systematische Denken könnte dann darum ringen, eine solche Definition zu geben. Oder aber, den Begriff einzukreisen und ihn auf seine Qualitäten hin zu überprüfen, um eine genauere Vorstellung, ein genaueres Verständnis von ihm zu erlangen. Ohne weiteres kann diese Aufforderung zur Einkreisung und Überprüfung auch eine unendliche sein, solange sie nur dadurch am Laufen gehalten wird, indem sie ständig neue Ergebnisse und Erkenntnisse produziert. Oder aber: Dieser allgemeinste und daher undefinierbare Begriff bedarf auch keiner Definition. Jeder gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er damit meint. (ebenda) Das Sein ist zugleich uns am Nächsten und am Fernsten: eine problematische Angelegenheit also. Das Sein hat gleichzeitig offenbar die höchste Präsenz, wie auch eine sich entziehende Absenz. Es ist unmittelbar gegeben und es ist ein sich verflüchtigender Rauch, oder aber ein schnell verblassende Halluzination von etwas, was vielleicht immer schon verflüchtigt war. Aber das Sein bleibt unauffindbar, fast so wie das Nichts oder am Ende ganz so. Das Wort „Sein“ ist dann schließlich nur ein leeres Wort. Es meint nichts Wirkliches, Greifbares, Reales. Seine Bedeutung ist ein unwirklicher Dunst. So hatte Nietzsche ganz recht, wenn er solche „höchste Begriffe“ wie Sein „den letzten Rauch der verdunstenden Realität“ nennt. (Einführung in die Metaphysik S.27) Hegel setzt das Sein überhaupt mit dem Nichts gleich (aufgrund seiner leeren Allgemeinheit, während Realität das hat, und Realität das ist, was sich als Seiendes dialektisch entfaltet) – allerdings ist das Sein, ganz offensichtlich, nicht das Nichts, sondern eben das Gegenteil von Nichts – daher eben auch: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Eine problematische Angelegenheit also; eine so problematische, dass man eben am Grundproblem der Metaphysik wiederum anlangt. Genau aber indem der Seinsbegriff ein problematischer ist, eignet er sich ja zum philosophischen Problem. Der Spruch: Das Seyn ist das Nichts, sagt die höchste Zweideutigkeit, sofern er zumal das Seyn als das Nichtswürdigste ausgibt und sein Wesen als das Fragwürdigste vorgibt. Der Spruch ist das Eingeständnis aller Philosophie, sofern sie als Denken des Seins gilt. (Besinnung S.58) Die Seinsfrage ist durchaus gleichbedeutend mit der tiefsten philosophischen Frage. In ihrer Frage nach den ersten und letzten Gründen will die Philosophie das Reich der Erscheinung durchdringen und hinter sich lassen, um zu irgendeiner allgemeinen Wurzel hinter diesen Erscheinungen zu gelangen. Sie will durch das bloße Dasein, das bloße Seiende hindurch, um zu einem Urgrund des Seienden vorzustoßen: welcher dann eben ist: das Sein. Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der Philosophie: „Was ist das Seiende?“ (…) Dagegen soll der Hinweis darauf, daß Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendländischen Philosophie steht, nur deutlich machen, daß Nietzsche wußte, was Philosophie ist. Dieses Wissen ist selten. Nur die großen Denker besitzen es. Die größten besitzen es am reinsten in der Gestalt einer ständigen Frage. Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet, auch Nietzsche bleibt in der Leitfrage. (Nietzsche 1. Band S.2) Obwohl die Seinsfrage, so gesehen, die allgemeinste philosophische Frage ist, dringen nur die wenigsten Philosophen zu ihr vor. Das sind dann die echten Metaphysiker. Heidegger weist sich über seine Einsicht in die Seinsfrage als ein solcher aus. Der Seinsfrage nachzugehen bedeutet: Auf dem höchsten Abstraktionsniveau zu arbeiten, um so gleichzeitig das Konkrete am konkretesten und am umfangreichsten bestimmen zu können. Die „Allgemeinheit“ des Seins „übersteigt“ alle gattungsmäßige Allgemeinheit. „Sein“ ist nach der Bezeichnung der mittelalterlichen Ontologie ein „transcendens“. Die Einheit dieses transzendental „Allgemeinen“ gegenüber der Mannigfaltigkeit der sachhaltigen obersten Gattungsbegriffe hat schon Aristoteles als die Einheit der Analogie erkannt. (Sein und Zeit S.3) Das Sein ist gleichzeitig das Abstrakteste als auch das Konkreteste … es geht darum, das Konkrete, das Seiende als „im Sein“ oder eben „als Sein“ zu erleben: so gelangt man zu einer reichhaltigeren Anschauung des bloßen Seienden. Die Seinsfrage verlangt nach dem größten Tiefsinn, der größten Immersion. Sie verlangt nach einer transzendierenden Betrachtung gegenüber dem bloßen Seienden, um zu einer allgemeineren, tieferen Qualität – eben dem Sein – vorzustoßen. Es ist eine transzendentierende Bewegung, die endlich im Voraussetzungslosen und im Letztgültigen – im Transzendentalen – ankommen will. Wir können die Wissenschaft vom Sein als kritische Wissenschaft auch die transzendentale Wissenschaft nennen. Dabei übernehmen wir nicht ohne weiteres den Begriff des Transzendentalen bei Kant, wohl aber seinen ursprünglicheren Sinn und die eigentliche, Kant vielleicht noch verborgene Tendenz. Wir übersteigen das Seiende, um zum Sein zu gelangen. Bei diesem Überstieg versteigen wir uns nicht wiederum zu einem Seienden, das etwa hinter dem bekannten Seienden läge als irgendeine Hinterwelt. Die transzendentale Wissenschaft vom Sein hat nichts zu tun mit der vulgären Metaphysik,…. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.23) Das Seiende zu übersteigen, um zu Sein zu gelangen, ist eine Sache nicht allein des Denkens, sondern auch des Empfindens und des Erfahrens, und damit etwas Umfangreicheres als bloßes wissenschaftliches Denken, als eine bloße wissenschaftliche, unmittelbar rationale Herangehensweise. Das Sein ist eine reine Qualität – im Gegensatz zum Seienden, das ebenfalls über Qualitäten erscheint, die aber eventuell quantifizierbar (mathematisierbar) sind und somit zu Gegenständen der Wissenschaften werden können. Wie aber könnte das Sein, als reine Qualität, zu einem (ausschließlichen) Gegenstand der Wissenschaften werden? Heidegger verteidigt die Philosophie gegenüber den „nicht denkenden“ Wissenschaften mit gewissem Recht: Denn die Seinsfrage, und die Frage nach der Eingelassenheit des Menschen in das Sein, ist eine teilweise irrationale Frage, da sie sowohl Anteile des Subjektiven wie des Objektiven hat. Das Sein, grundsätzlich, ist etwas Paradoxes. Aber an den Grenzen des Denkens, und an den Grenzen der Welt, gelangt man zu keinen einfachen Erklärungen mehr: Wohin man gelangt, sind Zustände und Kategorien, die sich bestenfalls eben als Paradoxa beschreiben lassen – und, eventuell, auch nur über Paradoxa bestimmen lassen.  Wenn Heidegger sagt: Man dürfe sich das nicht so vorstellen, dass hinter dem Sein eine „Hinterwelt“ läge, so geht er einher mit Leibniz: Die höchste Monade ist die reflektierteste. Und sie gelangt durch ihre Reflexion auch zu keiner „Hinterwelt“. Wozu sie gelangt, ist eine Ausleuchtung, ein reicheres Erleben und Erfahren des Seins, einen reicheren Kontakt zum Sein, der den üblichen menschlichen Kontakt zum Sein qualitativ überschreitet. Durch die Reflexion über die Reflexion, durch tiefsinniges Eintauchen in Seiendes und Sein, sprengt sie schließlich die materiale Hyle der Dinge, des Seienden. Damit wird diese Monade selbst zu einem reichhaltigeren und präsenteren, verankerteren Sein innerhalb des Seins. Und das ist das, was Heidegger will. Das ist das, worauf die Philosophie von Heidegger abzielt.

Das Sein ist offener als das Seiende. Das Seiende ist begrenzt, endlich, steht herum und im Weg, verdeckt den Blick auf anderes Seiendes, verdeckt, unmittelbar, den Blick auf das Sein. Das Sein hingegen ist grenzenlos, öffnet Blick und Herz und eröffnet uns, dass es etwas jenseits unserer Tagesgeschäfte gibt; es eröffnet uns eine grenzenlose Weite. Den Blick zu erweitern ist Aufgabe der Philosophie. Den Blick auf das Sein hin zu erweitern, ist Intention der Heideggerschen Philosophie. Das Seiende soll in das Offene des Seins selbst und das Sein soll in das Offene seines Wesens gebracht werden. Die Offenheit von Seiendem nennen wir die Unverborgenheit: Wahrheit. (Nietzsche 1. Band S. 64) Was ist Wahrheit wiederum? Wir wissen es nicht. Am ehesten aber ist Wahrheit, und liegt Wahrheit dort, wo Offenheit für Wahrheit herrscht: das heißt, im unbedingt wahrheitsliebenden, wahrheitssuchenden Subjekt, das der Wahrheit gegenüber eine aufrechte Haltung hat. Dieses wahrheitssuchende Subjekt wird die Welt als etwas erleben, was Wahrheit enthält: Diese Wahrheit zwar gerne verbirgt, aber, wenn man sich in ein entsprechendes Verhältnis zu ihr setzt, auch entbirgt und offenbart. Wahrheit, im ursprünglichen Sinn verstanden, gehört zur Grundverfassung des Daseins. (Sein und Zeit S.226) Ein solches wahrheitssuchendes Subjekt wird nicht allein die Wahrheit hinter Seiendem zu entbergen suchen, sondern des Seins selbst: was dann eben „die“ Wahrheit ist. Heidegger spricht davon, dass der Mensch, in dieser Eigenschaft, Hüter des Seins ist. Er allein ist in der Lage, Sein und die Wahrheit des Seins zu entbergen. Heidegger spricht vom Entbergen der Wahrheit als einer Lichtung des Seins; einer Lichtung, die gleichsam im Sein vorhanden ist und sich auftut, die allerdings auch als solche aufgesucht und als solche begriffen werden muss. Inmitten des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. Eine Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her gedacht, seiender als das Seiende. Diese offene Mitte ist daher nicht vom Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist, wie das Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.41) In der Lichtung entbirgt sich das Sein selbst. Das Sein selbst ist lichtend. An diese Lichtung will uns Heidegger heranführen: denn es müssen diese Möglichkeiten, die im Sein liegen, auch als solche ergriffen werden. – Und Heidegger ist gleichsam der Denker, der vor Holzwegen warnt, auf denen sich Mensch und Seinswahrheit nicht begegnen. Insofern er der Denker der „Eigentlichkeit“ ist, ist er auch Reflektierer und Warner vor der „Uneigentlichkeit“. Die Möglichkeit; ja, die dringende, drängende Wirklichkeit der Uneigentlichkeit liegen wiederum im Sein und im Dasein selbst. Die Un-eigentlichkeit wird als Verfallen an das Seiende begriffen, … Das Verfallen an das Seiende ist die sich selbst verhüllte Zustimmung zur Machenschaft .. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind … Existenzialien…  (Besinnung S.324) Uneigentlichkeit bedeutet: Die Flucht vor dem Dasein selbst und die Verschüttung seiner Begegnismöglichkeiten für es. (Einführung in die phänomenologische Forschung  S.284) Uneigentlichkeit liegt darin, dass es sehr schwer ist, „eigentlich“ zu sein, und zu Seinswahrheit vorzudringen. Es ist im Dasein selbst begründet, in dem sich die menschliche Sorge hauptsächlich darum bemüht, Auskommen im Dasein zu finden. Mitsein ist ein Existenzial: Um „eigentlich“ zu sein, und um Wahrheit herauszufinden, braucht man andere Menschen. Dieses Mitsein mit anderen Menschen, das Lernen von anderen Menschen, führt jedoch primär dazu, dass Menschen einander kopieren und sich aneinander anpassen. Die Einzelne tut dann nicht, was sie tut, denkt und empfindet nicht, was sie denkt und empfindet, sondern tut, denkt und empfindet, was man tut, denkt und empfindet. Das ist dann das beklemmende Reich des Man (eine von Heideggers stärksten und bekanntesten kategorialen Schöpfungen). Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen: so charakterisiert Heidegger die Sphäre der nivellierenden Alltäglichkeit, die Sphäre des Man.(Sein und Zeit S.127) Die Mimesis an das Man verhindert, dass der Mensch „zu sich kommt“ und „er selbst ist“. „Uneigentlich“ heißt hier nicht, es sei kein wirkliches Verstehen, sondern es meint ein solches Verstehen, worin das existierende Dasein primär sich nicht aus der eigensten selbstergriffenen Möglichkeit versteht. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S. 395) Die Uneigentlichkeit, und überhaupt die Täuschung und die Irre, seien zunächst der eigentliche Normalzustand. In de anima betont Aristoteles, dass die früheren Philosophen viel zu wenig den Tatbestand beachtet hätten, dass der Mensch den größten Teil seiner Zeit sich in der Täuschung bewege. Weil der Trug beim Menschen viel mehr zu Hause ist, als man gemeinhin glaubt, genügt es nicht, den Trug nur nebenbei und nicht prinzipiell zum Problem zu machen. (Einführung in die phänomenologische Forschung S.25) Abgesehen davon, dass es die Wurzel des Wesens von dem einen und anderen Menschen ist, mehr oder weniger im Man aufzugehen, sind es Mächte und Ohnmächte, die uns davon abhalten, uns in unseren eigensten selbstergriffenen Möglichkeiten zu ergreifen und begreifen. Unkenntnis, Unwissen, Sorge, Angst etc. mögen vom Ergreifen der Eigentlichkeit abhalten. Die Unkenntnis und das Unwissen, das Unterbestimmte der Welt, sind weniger etwas subjektiv Verschuldetes, sondern liegen in der Natur selbst, die es liebt, sich zu verbergen. Umgekehrt wurzelt die Undurchsichtigkeit des Daseins nicht einzig und primär in je „egozentrischen“ Selbsttäuschungen, sondern ebensosehr in der Unkenntnis der Welt. (Sein und Zeit S.146) Die Welt, das Sein, ist eine Heimat, die auch unheimlich ist. Angst ist demgemäß eine Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins; Angst vor den Seinsmöglichkeiten zunächst, wegen derer man sich ins Man zurückzieht, Angst aber auch vor der Unheimlichkeit des Seins, die in der Unterbestimmtheit und latenten Rätselhaftigkeit der Welt liegt. Diese Unterbestimmtheit ist gleichsam nichts Dringendes und Drängendes, einem an die Gurgel Springendes: es ist eher die eherne Neutralität der Welt: Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit (Sein und Zeit S.186) Auch und nicht zuletzt von daher entspringt der Appell der Seinsfrage: Das Sein zu bestimmen, um dem Dasein die Unheimlichkeit zu nehmen, und im Sein heimisch zu werden. (Der spätere Heidegger verabschiedet sich hinwiederum von der starken Betonung der Angst als Grundbefindlichkeit: Die Vorlesung erhebt eine vereinzelte und dazu noch gedrückte Stimmung, die Angst, zu der einzigen Grundstimmung. Weil jedoch die Angst der seelische Zustand der „Ängstlichen“ und Feigen ist, verleugnet dieses Denken die hochgemute Haltung der Tapferkeit. Eine „Philosophie der Angst“ lähmt den Willen zur Tat. (Nachwort zu „Was ist Metaphysik?“ in Wegmarken S.305).) – Ja, das mit der Lichtung, der Entbergung, dem Hüten des Seins – das kenne ich nur allzu gut! In mir ist es ja auch so, als ob meine Wahrnehmungen und meine wahrheitssuchenden Prozesse aus meinem Körper nach oben schießen und dann auf einen Schirm stoßen, der, als Lampe, die Umgebung erhellt. In meinem fortwährenden Sortieren, Assoziieren, Umwälzen und Umpflügen, in meinem Synthetisieren und Amalgamieren und in meinem Unterscheidungen treffen fühle ich mich auch als Hüter des Seins; nicht zuletzt, weil ich einen so empathischen, nicht-rechnenden Bezug zum Sein habe. Als eine Lichtung empfinde ich – ganz unmittelbar und NICHT metaphorisch – meine Geistseele, die lichtend alle Umgebung und ihr Dunkel erhellt und das Erhellte, und das noch zu Erhellende, behütet und in seinen empathischen Kreis zieht. – Diese bildhaften Begrifflichkeiten, die Heidegger mit „Wahrheit“ assoziiert – Entbergung, Lichtung, Öffnung, Hüten etc. – erinnern nicht an wissenschaftliche Begrifflichkeiten; ja, erscheinen womöglich esoterisch und schwärmerisch und mögen Anlass zu Spott geben. Allerdings sind es empathische Begriffe; und sie stehen damit in Verbindung, dass sie sich auf keine naturwissenschaftlich-objektive Wahrheit beziehen, sondern auf eine künstlerisch-philosophisch-religiöse (oder eben: eine existenzielle) Wahrheit hinsichtlich der (subjektiven) Eingelassenheit des Menschen in eine (objektive) Welt. Die Wahrheit des Seins erscheint als eine Epiphanie. Das Sein selbst ist, wie erwähnt, eine paradoxe, subjektiv-objektive Kategorie. Das Sein ist eine viel allgemeinere Kategorie als die des Menschen, allerdings auch wieder eine Kategorie des Menschen, und eine Kategorie, die allein für den Menschen diesen und jenen Sinn macht. Die Seinsfrage ist eine Frage nach einer „objektiven“ Bestimmung des Seins, die allerdings allein „subjektiv“ für den Menschen Sinn macht. Und es geht darum, die „Seinswahrheit“ ständig neu herauszufinden, die Suche nach dieser Wahrheit ist ein unabschließbarer Prozess. Das Sein muss deshalb von Grund aus und in der ganzen Weite seines möglichen Wesens neu erfahren werden, wenn wir unser geschichtliches Dasein als ein geschichtliches ins Werk setzen wollen. Denn jene Mächte, die dem Sein entgegenstehen, die Scheidungen selbst bestimmen, beherrschen und durchsetzen in ihrer vielfachen Verflechtung seit langem unser Dasein und halten es in der Verwirrung des „Seins“. (Einführung in die Metaphysik S.155/6) Das Sein muss erfahren, und ständig neu erfahren werden. Dasein ist ständige Unabgeschlossenheit (Sein und Zeit S.236) und Unganzheit (ebenda S.242) Allein indem man ins Offene kommt, Freund, kann man diese Unabgeschlossenheit und Unganzheit, und damit das Sein adäquat erfassen, und in dieser Unabgeschlossenheit, Offenheit, Unbestimmtheit und Unganzheit heimisch werden. Diese Freundin ist eigentlich, und lebt nahe den selbstergriffenen Möglichkeiten, die das kann.

Auf Heidegger bin ich gekommen, weil Antonioni in seinen meisterhaften Filmen, in seiner künstlerischen Vision, den Menschen als Menschen in der Welt, als Menschen in seiner Umgebung und in seinem Wechselverhältnis zu seiner Umgebung darstellt. Als Menschen in seinem – wie man dann mit Heidegger sprechen könnte – „In-der-Welt-sein“. Seiner urtümlichen Eingelassenheit in die Welt. Im Wesentlichen ist das auch das, was ich versuche: ich empfinde mich als in der Welt, und alles, was ich tue, zielt darauf ab, mir über mein In-der-Welt-sein Klarheit zu verschaffen. Ich empfinde mich als sehr eingelassen in die Welt, und versuche, diese Eingelassenheit zu reflektieren, und also mein Territorium zu markieren. Dem Erkennenden kommt es darauf an, im Seienden heimisch zu werden, in ihm selbst zu Hause zu sein in der Weise des gesicherten Daseins, so drückt es, ähnlich, Heidegger aus (Einführung in die phänomenologische Forschung S.289). Die Frage nach dem Sein stellt sich immer von der urtümlichen Position des In-der-Welt-seins aus. Die Interpretationen des Ontischen geschehen immer von der Eingelassenheit des Menschen ist das Ontische aus. Heidegger verzichtet gleichermaßen auf einen Anspruch, man könnte in der Philosophie über das Ontische hinausgehen, einen archimedischen Standpunkt einnehmen und in eine Hinter- oder Überwelt zu blicken. Der archimedische Standpunkt ist das In-der-Welt-sein, und allein über die konzentrierte Reflexion wird man in diesem Sein heimisch und zu einem aktiv metaphysischen Wesen, das zu einer aktiv metaphysischen Schau des Daseins gelangen kann. Ausgangspunkt des Heideggerschen Philosophierens ist die Welt. Welt ist nicht etwas Nachträgliches, das wir als Resultat aus der Summe des Seienden errechnen. Die Welt ist nicht das Nachherige, sondern das Vorherige … Auf innerweltlich Seiendes können wir einzig deshalb stoßen, weil wir als Existierende je schon in einer Welt sind. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.235) Heidegger ist auch niemand, der sich in epistemologische (oder phänomenologische) Raffinessen vertieft. Er legt wenig Gewicht auf Analyse des Erkenntnisapparates; für ihn stellt sich Erkenntnis spontan über den Kontakt mit der Welt ein, und diese Erkenntnis wirkt dann wieder auf die Welt zurück und ist in der Lage, die Welt zu manipulieren. Die Arten und Weisen, wie das passieren kann, sind nur begrenzt vorhersehbar – und so wirkt Heidegger als erfrischender Kronzeuge gegen philosophische Versuche, einem als starr, grundlegend und unveränderlich angenommenen Erkenntnisapparat auf die Schliche zu kommen. Epistemologie ist im Wandel. Über neue Erkenntnisse (und über neue Erkenntnisapparaturen) verändert sich unser Erkenntnisapparat fortwährend, und dieser verändert dann wieder die Welt und den konkreten Status des In-der-Welt-seins: Ein weiterer Hinweis auf eine der Hauptthesen von Sein und Zeit, dass sich Dasein und Erkenntnis und In-der-Welt-sein eben in der Zeitlichkeit entfalten. Erst aus der Verwurzelung des Da-seins in der Zeitlichkeit wird die existenziale Möglichkeit des Phänomens einsichtig, das wir zu Beginn der Daseinsanalytik als Grundverfassung kenntlich machten: des In-der-Welt-seins. (ebenda S.351)Vor allen Dingen ist das Erkenntnisproblem ein Zirkelproblem: Das Verstehen betrifft als die Erschlossenheit des Da immer das Ganze des In-der-Welt-Seins. In jedem Verstehen von Welt ist Existenz mitverstanden und umgekehrt – das ist der Zirkel der Erkenntnis (Sein und Zeit S.153): Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch nur zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichen Erkennens … Seinendes, dem es als In-der-Welt-Sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische Zirkelstruktur. (ebenda S.152) Genauer gesagt, hat sie die Struktur eines Hypercycle (eines von mir gerne gebrauchen Ausdrucks). – Entsprechend dem Sinnspruch, dass die meisten Menschen nur existieren, N.N. aber ein besonderer Mensch ist, der tatsächlich lebt, gibt es ein passives und ein aktives In-der-Welt-sein. Passiv, weil das In-der-Welt-sein die urtümliche Verfassung des Menschen und aller Lebewesen und Objekte ist. Zu diesem In-der-Welt-sein muss der Mensch gar nichts dazu tun. Aktives In-der-Welt-sein bedeutet dann, „tatsächlich zu leben“, also sich über sein In-der-Welt-sein im Klaren zu sein und seine Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. Das ist dann also ein Transzendenzbestreben, und dadurch wird der Mensch zu einem genuin transzendenten Wesen. Ein solches Transzendenzbestreben mündet letztendlich in die Metaphysik. Philosophie ist Metaphysik. Diese denkt das Seiende im Ganzen – die Welt, den Menschen, Gott – hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens. (Zur Sache des Denkens S.61f.) Die Metaphysik unterscheidet sich von der Physik, indem sie ebenfalls eine Art Zirkelstruktur hat. Sie will eine objektive Antwort auf eine subjektive Frage: auf die Frage des Menschen nach seinem Status in der Welt und nach dem Status der Welt allgemein (den er allerdings immer nur von seinem subjektiven Standpunkt aus als so oder so begreifen kann). Metaphysik ist eine Art „Sinnfrage“, die also als solche primär für den Menschen Sinn macht. Natürlich ist es aber falsch, die Metaphysik daher als eben etwas rein Subjektives abzutun: denn ihr Streben geht ja ins Objektive, und letztendlich will sie die Welt erhellen und freilegen als das, was sie eben ist. Die Metaphysik ist sehr schwierig und sie erzeugt den Sog des Abgrundes wie den Rausch der Höhen. Metaphysik will Klarheit über den Status des Menschen in der Welt, und zwar eine objektive Klarheit (die freilich ihre subjektivistischen Grenzen hat). Sie ist Vertiefung, Introspektion und Besinnung, sie will – abstrahierend – eine Karte des Seins zeichnen und – konkretisierend – Gebiete des Daseins mit ihrer Hilfe verorten.  Eine (atheistische) Metaphysik öffnet keine Tore zu Hinterwelten; die Überwelt, die sie eröffnet, besteht in einer gleichzeitigen Superabstraktion und Superkonkretisierung des Daseins, einer umfassenden Verständlichmachung der conditio humana in der Welt. Das ist, wenn man den grundlegendsten Grund erreicht, dann die Fundamentalontologie. Metaphysik ist seltsam nicht allein, weil sie subjektiv und objektiv ist, sondern auch, weil sie gleichzeitig deskriptiv und konstruktiv (und/oder normativ) ist. Metaphysische Gebäude sind deskriptive Konstruktionen. Sie erscheinen nicht allein als Konstruktionen in etwas, in eine Welt, hinein, sondern auch in ein Nichts, in ein über die Welt hinaus hinein. In seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? im Jahr 1929 formuliert Heidegger die Eigentümlichkeit des metaphysischen Strebens. Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. (Was ist Metaphysik? S.35) Es finden sich auch Sätze darin über den Zusammenhang zwischen Metaphysik und der Langeweile des Daseins: Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichheit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. (ebenda S.31) Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. (ebenda S.32) Auf jeden Fall aber bedeutet hier die Grundlage für die Metaphysik die Hineingehaltenheit des Menschen in ein Nichts. Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigen des Seienden im Ganzen: die Transzendenz …. Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten. (ebenda S.38) Ja, dieses transzendente Hineinragen in das Nichts, das kenne ich nur allzu gut! Im obersten, im Bau befindlichen Stockwerk des riesigen Wolkenkratzers, der wie so einige Wolkenkratzer über die nächtliche, punktuell funkelnd erleuchtete Megalopole des 21. Jahrhunderts ragt – in diesem obersten, im Bau befindlichen Stockwerk, da bin und arbeite ich! Einsam, allein. Ich baue die Metaphysik des 21. Jahrhunderts, hoch oben. Über mir nur das Firmament, das paradoxerweise schirmt und das auch nicht tut. Ich bin, einigermaßen, im Nichts. Nur meine Metaphysik ist bei mir. Straßen- und Megalopolenlärm dringt verhalten zu mir hinauf. Ich richte meinen Blick eben auf das nächtliche 21. Jahrhundert, nachdenklich, bevor ich wieder weitermache und weiterbaue. Es ist ein großes Geheimnis. Ich bastle an der Metaphysik der kommenden Jahrhunderte. Wie sollte das anders als seltsam sein, und ein Pakt mit dem Nichts?

Es liegt, wie wir sehen werden, in der Idee des Seins so etwas wie Verbundenheit, ganz äußerlich genommen, und es ist kein Zufall, dass das „ist“ den Charakter der Kopula erhält. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.303) Paula ist die Schwester von Perla. Perla ist die Mutter von Noemi. Chong Ing Fo ist Chinesin. China ist in Asien. China und fast der gesamte Rest der Welt sind in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Das ist/sind – mithin also das Sein – bestimmt Seiendes über die Verknüpfung und Zuweisung von Qualitäten (und Quantitäten, Lokalitäten…). Seiendes, bzw. Dinge, die einem im Sein begegnen, die durch das Sein entborgen werden, ist bzw. erscheint als über in bestimmte Verhältnisse verknüpft. Seiendes ist also wesentlich nicht isoliert, sondern erscheint urtümlich in Zusammenhang mit Anderem. Kopula bedeutet lateinisch „Band“. Das Sein, könnte man meinen, ist also etwas, innerhalb dessen Zusammenhänge möglich sind; und unter dem „Sein“ selbst versteht man etwas Zusammenhängendes oder Einheitliches. Es gehört zu den guten, wohltuenden menschlichen Gefühlen, wenn man das Sein als einen guten Zusammenhang erlebt. Der Erleuchtete sieht das Sein mithin als irgendeinen gloriosen Zusammenhang. Ich selber sehe und empfinde, über meine alles miteinander verknüpfende Wahrnehmung, das Sein als einen Zusammenhang; genauer gesagt: Ich sehe und empfinde dringend den SEINSZUSAMMENHANG. Dieser glorreiche SEINSZUSAMMENHANG ist für mich urtümlich das Sein, und das Studium des SEINSZUSAMMENHANGS ersetzt für mich von vornherein das Studium des Seins. Die Seinsfrage stellt sich für mich gar nicht so dringend, da ich den SEINSZUSAMMENHANG sehe. Über den SEINSZUSAMMENHANG ist das Sein für mich ausreichend, mehr als vollständig und zufriedenstellend bestimmt. Meine große Sorge gilt freilich der Frage, inwieweit das Sein überhaupt ein „Seinszusammenhang“ ist (oder nicht etwas eher Auseinanderfallendes) bzw. wie sich der Zusammenhang im Sein verbessern und robuster machen lässt (denn praktisch erscheint er mir mangelhaft). Was ich gut finde, ist auch, dass ich im Sein mit-sein kann; dass mir das Sein ein Dasein ermöglicht, das mit-seiend ist. Das authentische Mit-sein ist das große Geheimnis. Es geschieht über Empathie. Durch das Mitsein mit Anderem gleitet man durch das Dasein wie durch ein physikalisches Feld, über das alles mit allem verbunden ist. Wer das Dasein so erlebt, der wetteifert an Glückseligkeit mit den Göttern; und hat wohl auch deren Verstand. Dasein ist, in jedem Fall, Mit-sein. Das weiß natürlich auch Heidegger: Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des In-der-Welt-Seins … Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. (Sein und Zeit S. 125) Allerdings ist Heidegger kein Philosoph, der über das Mitsein viel reflektiert. Seine Besinnungen dazu beschränken sich mehr oder weniger auf jenen §26 in Sein und Zeit. Wohl aus dem heraus stellt sich für ihn immer wieder die Seinsfrage: indem er das Dasein wenig als Mitsein zu erleben scheint und daher auch als unterbestimmt und sinndefizitär. Sein besinnliches Denken hat, insgesamt, das Charisma einer vorwiegend einsamen, solitären Beschäftigung; mit seiner spezifischen Besinnung bohrt er sich gleichsam in das Sein hinein (oder eben nur: in die Frage nach dem Sein ohne Antwort), gräbt er sich eine Mulde – damit erobert er einen eigenen Bezirk, aber, so hat man den Eindruck, nicht das Sein im Ganzen. Ich hingegen, mit meinen dauernden Verknüpfungen, tue das schon. Ich selber mag alles, was anders ist, und ich will mit dem Anderen eine symbiotische Beziehung eingehen. Durch das fortwährende Eingehen von symbiotischen Beziehungen bzw. über die Disposition dazu, symbiotische Beziehungen mit dem Anderen einzugehen, erweitere ich fortwährend meinen Wirkungskreis und reichere mein eigenes Sein an. Ich ziehe so große Kreise und Aktionsradien. Ich habe zu mir begegnendem Seienden ein offenes Verhältnis, und so ist auch das Sein für mich jene von Heidegger viel beschworene Offenheit. Das Sein ist somit für mich nicht wirklich ominös. Heidegger hat zum Seienden vielleicht keinen so tiefen empathischen Draht (und schon gar nicht zum Anderen: er bleibt eben am liebsten in seinem Wald und seiner Hütte – und eben auch im Rahmen seiner eigenen Philosophie). Er wirkt weltflüchtig. In seiner denkwürdigen Begegnung mit Cassirer verkörpert Cassirer die umfangreiche, enzyklopädische Bildung (als Welt-Aneignung); Heidegger hingegen ein sich von scheinbar überkommenem Bildungsballast frei machendes intellektuell-spirituelles „Zurück zum Ursprung“. Cassirer ist extravertiert und offen und will stets die Gemeinsamkeiten betonen. Heidegger betont die Gegensätzlichkeit der beiden Auffassungen und verweigert sich einer Fortsetzung des Gesprächs. Um das Sein zu erfassen, muss man dem Seienden begegnen; um auf die Seinsfrage Antwort zu geben, oder sie hinter sich zu lassen, muss man welthaltig sein. Umgekehrt ist bildungsmäßiges Denken und Wissen nicht notwendig empathisch und eine enzyklopädische Bildung kann der empathischen Qualitäten – und damit der eigentlichen Durchdringung ihrer Inhalte – ermangeln. Heideggers besinnliches, anti-enzyklopädisches Denken ist sehr wohl empathisch und „fühlend“; allerdings ist seine spezifische Empathie auf gewisse Bezirke beschränkt, und sie ist nicht wirklich Empathie mit dem Anderen, so dass sie eben auf sich selbst und eben auf die Seinsfrage beschränkt bleibt. Irgendeiner sollte daher kommen und die positiven Seiten der über Heidegger und Cassirer exemplifizierten Pole zusammenbringen. Das wäre dann wohl was. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend ihm voraus, vor seinem Geiste, zitiert Heidegger Kleist im Interview mit Richard Wisser. Heideggers spezifische Philosophie gibt keine letztgültigen Antworten, sie hält aber die Seinsfrage für die Zukunft hin auf kommende Antworten offen. ——- Jetzt ist es freilich so, dass der glorreiche Seinszusammenhang zu erheblichen Teilen gar keiner ist. Im Sein ist Seiendes über Qualitäten miteinander verbunden, die völlig unterschiedlich sind, und teilweise inkompatibel. Und das Sein also etwas, in dem völlig unterschiedliche Qualitäten erscheinen, und teilweise inkompatible, wenn nicht gegeneinander gerichtete. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Miteinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges, Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander. (Sein und Zeit S.175) Indem im Sein völlig unterschiedliche, vielfach schlechte Qualitäten erscheinen, erscheint das Sein selbst als ein gleichgültiger Behälter, zu dem man in keinem wirklichen Verhältnis steht: Das Sein ist dann etwas Gleichgültiges und Leeres, eben wieder gleichbedeutend mit dem Nichts – wenn nicht sogar etwas Maliziöses, in dem Gutes nur erscheint, um als Illusion zu täuschen. Das Sein ist nicht notwendigerweise ein guter Zusammenhang, eine gute Kopula. Mit Schelling, auf den Heidegger öfter Bezug nimmt, ist die Schöpfung etwas, das notwendigerweise in Einzelwesen zerfällt, deren Telos die Selbstbehauptung sei und die daher in einem Konkurrenzkampf zueinander stehen. Dasein ist nicht zuletzt Daseinskampf. Nietzsche zieht die Konsequenz daraus, indem er den selbstbehaupterischen Daseinskampf verabsolutiert und ihn als eigentliches Ziel des Daseins – in einem sadomasochistischen „ewig wiederkehrenden“, ansonsten ziellosen Sein – fasst und proklamiert. Allerdings hat die Philosophie Nietzsches hier keinen rechten Erfolg, und scheint vor allem widersprüchlich und in sich gebrochen. Das Telos von Philosophie kann kaum anders vorgestellt werden, als irgendwas Gutes und Erwärmendes über Sein und Dasein zu sagen. Der Sinn des Lebens, das Gute im Leben, besteht darin, dass man gute Bezüge herstellt, gute Verhältnisse zu irgendetwas anderem Seienden; schließlich ist es eben gut, wenn man zum Sein an sich einen guten Bezug hat. Der Mensch schließlich und vor allem ist Hüter des Seins, weil er vernünftig und moralisch ist und weil er in das Dasein eingreift: die Macht hat, Seiendes zusammenzuführen und Seiendes zu trennen. Aus dieser Fähigkeit und seiner Anlage zur Vernunft, und aus seinen prosozialen Gefühlen heraus, ergibt sich also für den Menschen die Aufgabe, ethisch zu sein und zu handeln. Der Mensch kann nicht Hüter des Seins sein, wenn er das nicht tut. Es ist Aufgabe der Philosophie, der Königsdisziplin, Seiendes in ethischer Weise zusammenzuführen (und zu trennen). Aufgabe der Philosophie ist die Konstruktivität. Sie muss Vorstellungen und Normen und Haltungen finden und formulieren, die solche der Konstruktivität sind. Daher ist es auch notwendig, den Charakter des Seins zu bestimmen: Als etwas, in dem Seiendes erscheint, das der Mensch als Hüter des Seins zusammenführen und trennen kann. Daraus ergibt sich das ethische GESETZ für den Menschen: Nämlich Seiendes in guter und konstruktiver Weise zusammenzuführen und zu trennen, um höheres Seiendes und ein höheres Sein zu schaffen. Dieses ethische GESETZ ist, als Apell, für den Hüter des Seins in das Sein gleichsam eingeschrieben. Das Sein – um es von der Seinsfrage her aufzuwerfen – lässt sich als etwas bestimmen, in dem das GESETZ eingeschrieben ist und als Apell wirkt. Und das ist wiederum ein Modus des SEINSZUSAMMENHANGS.

Heidegger wird manchmal als Existenzphilosoph gesehen, oder als Existenzialist. Das ist er nicht, wenngleich er wesentlicher Wegbereiter des Existenzialismus ist. Er ist aber deswegen kein Existenzialist, weil sein „Existenzialismus“ kein Humanismus ist. Heidegger will eigentlich eine Philosophie entwickeln, bei der der Mensch nicht im Zentrum steht – sondern eben das Sein. Und dass in der westlichen Philosophie der Mensch im Zentrum stehe, ist für ihn ein weiteres Merkmal ihrer Seinsvergessenheit. Der Beginn der Metaphysik im Denken Platons ist zugleich der Beginn des „Humanismus“ … Hiernach meint „Humanismus“ den mit dem Beginn, mit der Entfaltung und mit dem Ende der Metaphysik zusammengeschlossenen Vorgang, daß der Mensch nach je verschiedenen Hinsichten, jedesmal aber wissentlich in eine Mitte des Seienden rückt, ohne deshalb schon das höchste Seiende zu sein. (Platons Lehre von der Wahrheit S.38) Diese Fixiertheit auf den Menschen verstellt den Blick auf das höchste Seiende (bzw. das Sein), sie verstellt die Seinsfrage und die Frage nach dem grundlegendsten Grund. Die Unverborgenheit enthüllt sich dieser Erinnerung als der Grundzug des Seins selbst. Die Erinnerung an das anfängliche Wesen der Wahrheit muß jedoch dieses Wesen anfänglicher denken. Sie kann daher die Unverborgenheit niemals nur im Sinne Platons, d.h. in der Unterjochung unter die idea, übernehmen. Die platonisch begriffene Unverborgenheit bleibt eingespannt in den Bezug zum Erblicken, Vernehmen, Denken und Aussagen. Diesem Bezug folgen, heißt das Wesen der Unverborgenheit preisgeben. Kein Versuch, das Wesen der Unverborgenheit in der „Vernunft“, im „Geist“, im „Denken“, im „Logos“, in irgendeiner Art von „Subjektivität“ zu begründen, kann je das Wesen der Unverborgenheit retten. Denn das zu Begründende, das Wesen der Unverborgenheit selbst, ist hierbei noch gar nicht hinreichend erfragt. (S.39f.) Heraklit und Parmenides seien Denker gewesen, die – übersetzt gesehen – grundlegender gedacht hätten als deren Nachfolger Sokrates, Platon und Aristoteles, über die die Philosophie mehr und mehr zu einem Fragen nach dem Seienden geworden sei und weniger nach dem Sein. Freilich scheint eine Philosophie, die in dem Sinn nicht-humanistisch ist, vor großen Schwierigkeiten zu stehen. Wie lässt sich eine nicht-humanistische Philosophie, die den Menschen aus dem Zentrum und das Sein in das Zentrum rückt, überhaupt formulieren (ohne zum Denken Heraklits oder Parmenides, das schließlich auch archaisch ist, zurückzufallen)? Kann menschliches Denken und Erkennen überhaupt jemals anders verfahren als in einer ständigen Bezugnahme auf das menschliche Dasein? Folgt daraus, dass in diesem Sinne der Mensch „Maßstab“ bleibt, ohne weiteres eine Vermenschlichung alles Erkennbaren und Wissbaren? (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.197) (Ironischerweise drückt sich laut Schelling die Schöpfung notwendigerweise in der Schaffung von Einzelwesen aus, die miteinander kooperieren, nebeneinander existieren und vor allem – aus ihrem grundlegenden Telos der egoistischen Selbsterhaltung heraus – gegeneinander im Konkurrenz- und Daseinskampf stehen. Das ist nicht Thema von Heideggers Abhandlung über Schelling. Aber es lässt sich mit Schelling vielleicht sagen, dass seine Metaphysik über die menschliche Perspektive hinausgeht und auch auf Außerirdische – sofern sie ebenfalls Einzelwesen sind – anwendbar ist: Jene physischen und metaphysischen Beschränkungen gelten gleichermaßen auch für sie.) Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Sein und Zeit (das tatsächlich ein unvollendetes Werk ist) gesteht Heidegger auf jeden Fall, warum es in einen zweiten Band hinein nicht fortgeführt wurde: Weil es der Philosophie in all der Zeit nach dessen Erscheinen nicht gelungen sei, eine Metaphysik zu entwickeln, innerhalb derer der Mensch nicht dergestalt Zentrum sei. Versteht man den in „Sein und Zeit“ genannten „Entwurf“ als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie „das Seinsverständnis“ im Bereich der „existenzialen Analytik“ des „in-der-Welt-Seins“ allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins. (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.327) Der „Humanismusbrief“ wendet sich gegen den Existenzialismus; mit ihm will sich Heidegger abgrenzen gegenüber Sartre. Sartres Existenzialismus ist ein Humanismus; Heidegger strebt jedoch eine andere, die den Humanismus überschreitende Perspektive an. Aus heutiger Perspektive scheint Heidegger damit weitsichtiger zu sein: Während die 1950er Jahre das große Jahrzehnt des Existenzialismus waren, wirkt dieser, und wirken die Weisheiten Sartres bereits seit Jahrzehnten als verstaubt, unspektakulär und als eine Sache der Vergangenheit. Indem er den Entwurf der individuellen Existenz gegenüber dem Nichts anstellt, ist er gleichsam weniger ergiebig als wie wenn Heidegger das gegenüber dem Sein tut, und noch mehr gegenüber Kierkegaard, der das gegenüber dem Göttlich-Absoluten tut. (Dagegen hat Kierkegaard zu der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Seins nicht das geringste Verhältnis, moniert Heidegger(Was heißt Denken? S.129), auch wenn es zwischen Kierkegaard und ihm entscheidende Berührungspunkte gibt – die er allerdings nicht explizit ausgearbeitet hat.) Heidegger geht dazu über, von der Ek-sistenz zu sprechen, als das, worauf es ankäme und als das, was ihn interessiert. Die Ek-sistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des Seins … Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen, was der Mensch im Geschick der Wahrheit ist. (ebenda S.326) Dieses ekstatische Hinausstehen des Menschen in die Existenz hat man bei den Existenzialisten nicht: Sartres Pathos des menschlichen Selbstentwurfs scheint, was die Möglichkeiten des modernen Menschen anlangt, schal – bzw. keiner zu sein, sondern eher eine nüchterne Adresse an die moderne Menschheit der Nachkriegszeit. Heidegger hingegen verlautbart: … die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz (ebenda S.329), da er den Menschen (und das Sein an sich) als etwas Ekstatisches begreift. Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt … Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins „geworfen“, dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. (S.330) Heideggers ekstatischer, ek-sistierender Mensch hat etwas von einem Übermenschen an sich – worauf noch zurückzukommen sein wird.

Zum künftigen Denker taugt nur, wer solche verschwiegene lange Bahnen immer wieder neu zu durchschreiten vermag. Wer darin nie vorgedrungen ist und nie auf der Verwandlungsschwelle des Menschen in das Da-sein für die kurze Zeit starker Erschütterungen aller Wesenszeiträume gestanden hat, weiß nicht, was denken ist. Die Gänge in die Ergründung der Wahrheit des Seyns streifen an verlorenen Punkten zeitweilig die Grenzen menschlichen Vermögens und besitzen in dieser Eigenschaft die Gewähr, den Zeitspielraum des Seyns zu lichten, der durch kein Seiendes je abstützbar ist. (Besinnung S.41)Heidegger ist durch und durch Denker. Dass er sich der Seinsfrage widmet, weißt ihn als echten, tiefen Denker aus. In einer solche Tiefe des Denkens, auf einer solchen Abstraktionsebene, denkt im Wesentlichen keiner; die meisten sind in Tagesgeschäfte verstrickt oder zumindest darin, über Seiendes nachzudenken; über Erscheinungen nachzudenken, die einem im Sein begegnen. Ein Denken ist umso denkender, je radikaler es sich gebärdet, je mehr es an die radix, die Wurzel alles dessen geht, was ist. Immer bleibt das Fragen des Denkens das Suchen nach den ersten und letzten Gründen. (Unterwegs zur Sprache S.175) Heidegger mag allzu professoral wirken, in seinem beharrlichen Denken und Fragen nach dem Sein an sich, ist er radikal. An und für sich würden einem nur Heidegger und Wittgenstein einfallen, die im 20. Jahrhundert ähnlich radikal sind, und meistens wird entweder in dem einem oder dem anderen der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts gesehen. Fast keiner sonst kommt in seinem Suchen nach den ersten und letzten Gründen den ersten und letzten Gründen tatsächlich so nahe; gelangt in seinem Denken tatsächlich an den grundlegendsten Grund. (Mit der Ausnahme von Otto Weininger, der sowohl Wittgenstein als auch Heidegger wohl an Tiefsinn überboten hätte, dessen kurze Karriere aber zu abrupt endete, um überhaupt eine zu sein. Über die letzten Dinge aber: Weininger hat sie tatsächlich erreicht, ist tatsächlich in ihrer (todbringenden) Arena angekommen – wenngleich der Grund für Weiningers Selbstmord weniger in seinem Genie zu suchen sei denn in seiner tatsächlichen, daneben bestehenden Verrücktheit.) An den grundlegendsten Grund kommt man – bzw. kann sich dort aufhalten – nur durch fortwährendes, ständiges Denken. (Das epistemologische Korrelat zum grundlegendsten Grund ist der Zustand einer Art permanenten intellektuellen Trance, in der sich der grundlegendste Denker meistens befindet.) Der grundlegendste Grund gleicht einem Quantenschaum, in dem ständig Frage-Antwort Teilchenpaare aus dem Nichts bzw. der grundlegenden Energie des Urgrundes heraus entstehen und sich sogleich wieder gegenseitig vernichten. Im grundlegendsten Grund ist das Fragen die Antwort. Vom grundlegendsten Grund des Seins scheiden sich die Erscheinungen des Seienden, fortwährend, und werfen somit Fragen auf, und stellen somit Antworten bereit. Der grundlegendste Grund ist sowohl leer als auch extrem dynamisch, er verweist auf eine Virtualität und daher auch auf das Denken, das sich ebenfalls im Virtuellen vollzieht. – Auch wenn man es nicht so grundlegend betrachtet und zu solchen Visionen gelangt, ist das Denken nichts Stationäres. Es gibt auch nicht notwendigerweise Antworten. Das Denken ist ständige Bewegung, ist ständiges Fragen. Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentlich Frage. (Einführung in die Metaphysik S.109) Indem der Mensch ein fragendes Tier ist in einer Welt, die hauptsächlich verborgen ist, einer Natur, die es liebt, sich zu verbergen, und die nur ungerne einfache und offenbare Antworten und Lösungen bereitstellt, ist es nur billig, wenn der Versuch seiner Bestimmung wesentlich der einer Frage ist (anti-human ist es vielmehr, bestimmte, kategorische, normative Antworten darauf zu geben oder geben zu wollen: Insofern Heidegger auch hier ständig das Fragen offenhält, ist er schon einmal von den Faschisten wesensverschieden). Das Denken und Fragen ist gut, denn es hält die Dinge offen und gibt ihnen Raum, sich zu entfalten; es wehrt sich gegen Geschlossenheit und ist demokratisch und antifaschistisch. Allerdings stößt das Denken, und das jemeinige Denken, auch an Grenzen, und an jemeinige Grenzen. (Jemeinige) Fragen bleiben ohne (jemeinige) Antworten. Das kann frustrierend sein. Denkersein heißt, den Mut zu einem Fragen besitzen, das fragt, um überfragt zu werden. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.19) Und es kann sein, dass einem dieses Überfragtwerden zu enervierend wird, oder den jemeinigen Stolz verletzt und so der Mut verlorengeht. So mag sich der Denker sehr unbeliebt machen; oder aber eben: je höher sein Denken, desto weniger wird er „verstanden“: vielleicht weniger, weil man ihn tatsächlich „nicht versteht“, sondern weil die Lebenswelten der meisten Menschen andere sind, und vor allen Dingen weniger ausführlich. In der Tiefe seines Denkens fühlt sich Heidegger, der im Sein  und im Fragen nach dem Sein weilt, vom Seienden oft genug entfremdet: Wie viele von denen, die heute in der „Philosophie“ als Gelehrte sich hervortun, sind noch gemäß ihrer Herkunft getragen und gestoßen von den Notwendigkeiten der ursprünglichsten Entscheidungsfragen unserer abendländischen Geschichte? Ich kenne  keinen und weiß nur, daß die lediglich bildungsmäßig und „interessiert“ an die „Philosophie“ geraten sind … ohne jemals wirklich in die Notwendigkeit des Fragens der Grundfrage gestoßen zu werden. (Mein bisheriger Weg in Besinnung S.416) Oder: Der schärfste Einwand gegen (Jaspers, Anm.) ist die Umfänglichkeit seiner Schriftstellerei, in der sich nicht eine einzige wesentliche denkerische Frage findet (…) Und dennoch übertrifft der Ernst dieser Bemühung alle sonstige Gelehrsamkeit und vollends alle Weltanschauungs-scholastik. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.400) Oder: Die „Intellektuellen“ haben in Beziehung auf die „Metaphysik“ und in Beziehung auf die Menschenmasse eine zweideutige Stellung … (w)enn … die Angleichung und die Einschmelzung in das Massentum einsetzt … sind die „Intellektuellen“, und nicht etwa die dumpfe und dumme Masse, die ärgsten Feinde jeglicher Besinnung – sie, nicht diejenigen, die von ihnen lernen und sie nur nachmachen, sind die eigentlichen Träger der Zerstörung. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.38) Das ist wohl zu plakativ. Aber diese Zweideutigkeit existiert in der Wirklichkeit: Und das eindeutiger, als man es hoffen mag. Aber eben: Der Durchschnitt in allem Seienden ist der schärfste Widersacher der Götter. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.511) Heidegger wendet sich wiederholt gegen den akademischen Philosophiebetrieb u.dergl., so wie er sich gegen alles wendet, was einen Widerstand oder urtümliche Hürde gegen das besinnliche Denken ausmacht, oder einen solchen zumindest symbolisiert (und Heideggers Denken wird immer wieder unscharf und selbstgerecht, indem er diese Symbolisierungen allzu mühelos mit der Sache selbst identifiziert: das ist sogar eine entscheidende Schwäche seines Denkens!) Als tiefer Denker ist er allem Zeitgemäßen abhold; Fragen wie die Seinsfrage können sich nur im Unzeitgemäßen entfalten: Alles wesentliche Fragen der Philosophie bleibt notwendig unzeitgemäß … Die Philosophie ist wesenhaft unzeitgemäß, weil sie zu jenen wenigen Dingen gehört, deren Schicksal es bleibt, nie einen unmittelbaren Widerklang in ihrem jeweiligen Heute finden zu können und auch nie finden zu dürfen. Wo solches scheinbar eintritt, wo eine Philosophie Mode wird, da ist entweder keine wirkliche Philosophie oder diese wird missdeutet und nach irgendwelchen ihr fremden Absichten für Tagesbedürfnisse vernutzt. (Einführung in die Metaphysik S.6) Was für ein Glück, könnte ich meinen, denn meine Philosophie ist ganz eindeutig keine Mode. Allerdings fühle ich mich auch weder zeitgemäß noch unzeitgemäß: Eher beides auf einmal, denn ich will in Ewigen und Universalen mit ihr ankommen. Das ist der höchste Sinn und ist die höchste Erscheinungsform von Philosophie. Wenn man zum Ewigen und zum Universalen vorstoßen will, ist man weder zeitgemäß noch unzeitgemäß: sondern eben ewig und universal. Es besteht dann aber das Problem des Kontakts zur Sphäre des Zeitlichen und Konkreten. Auch wenn das Ewige und das Universale in einem unmittelbaren Korrelationszusammenhang mit dem Zeitlichen und dem Konkreten stehen, scheinen sie doch in der Geschäftigkeit des Zeitlichen und Konkreten als von der geringsten Bedeutung. Das Zeitliche und das Konkrete beachtet das Ewige und das Universale hauptsächlich dilatorisch. Und das ist eine Erscheinungsform des relativen Scheiterns von Philosophie – was sie gerade aber dadurch als genuine Philosophie bestätigt – … denn jede Philosophie scheitert, das gehört zu ihrem Begriff. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.118) Indem die Philosophie ständig fragt, macht man sich vielleicht falsche Vorstellungen von ihr oder richtet falsche Hoffnungen auf sie. Der genuine Philosoph ist nicht dazu da, um zu beruhigen oder zu coachen, sondern zunächst einmal um Unruhe zu stiften und aufzuwühlen: Aber – die Philosophie macht ihrem Wesen nach die Dinge nie leichter, sondern nur schwerer. (Einführung in die Metaphysik S.9) Das finde ich nicht, aber es kann sein, dass andere das so empfinden. Wenn ich mir meine eigenen Texte durchlese, verspüre ich manchmal, dass sie sehr nervig zu lesen sein müssen und überlege mir, ob ich nicht den Laden besser dichtmachen sollte. Nervig zu sein – ist allerdings eben das Merkmal eines jeden tatsächlichen Philosophen und Künstlers. Daran soll man sie erkennen. Ihr Geist und die Komplexität ihres Denkens und Empfindens – und eben ihre eigene nervliche Ausnahmesituation – sind zu ungewöhnlich, um nicht zu nerven. Liebe sei angeblich das Wichtigste von der Welt – aber jene kann man schwer lieben … denn die Großen Denker können nicht geliebt werden – die eisige Einsamkeit, die um sie sein muß und in die nur der fragende Kampf mit ihnen einbricht, versagt jeden ausruhenden und behüteten Bezug. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.481) Trotzdem kann ich als echter Künstler und Philosoph den Laden nicht einfach dichtmachen: denn ich habe dann einen Auftrag. Ich muss durch etwas hindurch. Der echte Künstler und Philosoph versucht, Komplexität zu bemeistern und differenziertere Verständnisse zu schaffen. Durch diese Mimesis der Komplexität wird er andere vor den Kopf stoßen. Was er aber will, und was geschieht, ist, dass er, indem er sich durch die Komplexität hindurcharbeitet, zu einer neuen Einfachheit gelangt. Einer neuen Trivialität vielleicht, wie man missgünstig monieren will. Erst in Zukunft wird sich seine Wühlarbeit mit dem Zeitlichen und Konkreten pazifiziert haben und dadurch harmonisiert werden. Dann kann der Philosoph beruhigen und coachen. – Heidegger sah, in der ihm eigentümlichen Art, für die Philosophie und die Metaphysik keine Zukunft. Sie würde von den Wissenschaften und der Technik überrollt werden, und ihren Anspruch auf Totalität nicht mehr einlösen können. Diese Nachrichten vom Tod der Philosophie sind übertrieben. Das Denken aber wird, laut Heidegger, sowieso bleiben. Er scheint zu hoffen, dass es einstmals in Formen stattfindet, die nicht mehr unbedingt Philosophie sind. Das totale Denken wird aber in Hinkunft sein: der absolute Geist in der absoluten Form.

Was mich interessiert, ist die Sache vom Sehr Tiefen Denker. Nietzsche gehört zu den wesentlichen Denkern. Mit dem Namen „Denker“ benennen wir jene Gezeichneten unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer „über“ das Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. (Nietzsche 1. Band S. 427) Na, das kann ich so nicht ganz bestätigen – wenn man so will, dreht sich bei mir aber tatsächlich alles um die Frage nach dem Sehr Tiefen Denker: Wenn ein Sehr Tiefer Denker daherkommt, der an der letzten Schicht arbeitet: Was würde der dann (heute) sagen? Wie würde er unser Zeitalter feststellen, und außerdem – eben aufgrund seines sehr penetrierenden Blicks – so durch alle Zeitalter hindurchblicken? Denn das ist es, was der Sehr Tiefe Denker macht, oder was man sich von einem Sehr Tiefen Denker erhofft. Der Sehr Tiefe Denker denkt über das Seiende im Ganzen nach und will zu den grundlegenden Dimensionen und Bestimmungen des Seienden im Ganzen vordringen, das grundlegende Koordinatensystem der (Lebens)Welt freilegen – also eben Fundamentalontologie machen. Er transzendentiert, um im Transzendentalen anzukommen, den letzten, unhintergehbaren Kategorien, die da sind. Er ist somit eher eschatologisch als philosophisch, und eventuell etwas anderes als ein Philosoph, insofern die Philosophie praktisch eher eine Koordinatenachse in der Bestimmung des Seins ist, aber nicht das Koordinatensystem selbst. Im Sehr Tiefen Denker treffen sich die Koordinaten, im mysteriösen Koordinatenursprung, der er dann eben ist, den er in sich ausbildet. Das ist entweder in einem Ursprung möglich, oder aber in einer zeitgemäßen Fassung und Wiedereinholung eines solchen Ursprungs. Heraklit und Parmenides waren noch keine „Philosophen“. Warum nicht? Weil sie die größeren Denker waren. „Größer“ meint hier nicht das Verrechnen einer Leistung, sondern zeigt in eine andere Dimension des Denkens. Heraklit und Parmenides waren „größer“ in dem Sinne, daß sie noch im Einklang standen mit dem logos.. (Was ist das – die Philosophie? In Identität und Differenz  S.15) (Das heißt in dem Fall: Heraklit und Parmenides dachten über das Sein an sich, das Sein im Ganzen nach; ab Sokrates-Platon-Aristoteles beginnt dann die Seinsvergessenheit in der Philosophie: denn diese dachten vielmehr über das Seiende im Sein nach und suchten es von anderem Seienden logisch zu unterscheiden). Heideggers Denken gilt eben einer solchen Wiedereinholung eines solchen Ursprungs. Und was mich interessiert, ist auch eine Wiedereinholung eines solchen Ursprungs (wenngleich ich mir das weniger in Ursprüngen in der Vergangenheit erwarte, sondern über eine penetrative Durchdringung der jeweiligen Gegenwart): das ist eben die Sache vom Sehr Tiefen Denker. Der Sehr Tiefe Denker blickt auf den Grund, und kommt schließlich am Grund an. Der Sehr Tiefe Denker will eine Schneise durch das Sein ziehen, er will das Sein umpflügen. Sein Denken ist so grundlegend und eine Grundlage für Konstruktivität, dass er sich gleichsam als gründend erlebt. Gründer sind jene, die, das Wesen des Seyns wandelnd, seine Wesung auf den Grund eines ursprünglichen Wesens der Wahrheit bringen. Schaffende dagegen erneuern und vermehren je nur das Seiende. Jeder Gründer ist – in einer ihm gleichgültigen Folge – auch ein Schaffender. Kein Schaffender ist schon ein Gründer. Die Gründer sind die Seltenen der Einsamen. Ihr Einziges „besitzen“ sie in dem, daß sie, was ihnen Stand und Halt gibt, nie vorfinden, sondern als das Fragwürdigste entwerfen und schutz- und stützenlos aushalten müssen. (Besinnung S.60) Wie anders soll es sein, dass er sich als gründend erlebt, wo doch auch alles aus diesem Grund, in dem er zuhause ist, aufsteigt? Als Gründer rammt der Sehr Tiefe Denker den Speer des Denkens, den Speer der Präsenz in den Urgrund. Der signalisiert: Aus dem ungeteilten, mystischen Urgrund ist was aufgestiegen, ist schließlich einer aufgestiegen, dessen Denken, Fühlen und Trachten, dessen Ethik nach dem Urgrund gestrebt hat, und der diesen schließlich auch wieder erreicht hat. Indem er mit Speer und Schwert die materialen Hylen, die gemachten Formen, die Täuschungen und die Ideologien durchschlagen hat, sich seinen Weg durch den Dschungel des Daseins gehauen und gebahnt hat. Jetzt steht er also am Urgrund, am Urfundament, und zeigt mit seinem Reinrammen des Speers in den Urgrund, dass eine solche Begegnung eines geteilten Wesens mit dem ungeteilten Urgrund möglich ist. Der stählerne, singuläre Held, der Sehr Tiefe Denker der Zukunft wird in der Lage sein, den Speer herauszuziehen und weiterzuschleudern, mit diesem Notung, mit diesem Artusschwert seinerseits die Täuschungen und Kategorien auf seinem Wege zu durchschlagen. Damit begründen die Sehr Tiefen Denker einen virtuellen Bund (der notwendig virtuell auch deshalb ist, weil das Ankommen im Urgrund mit dessen permanenter Befragung identisch ist – bzw. weil das Sehr Tiefe Denken eben fortwährend denkt). Die Jasagenden bleiben in ihrer eigentlichen Zukünftigkeit notwendig unerkannt und selbst unter ihresgleichen sich befremdlich. Das Echte, Wesensgerechte, ist nur bei den Jasagenden, sie verwahren Ursprünge, wenngleich sie nicht immer selbst sie zum Sprechen bringen. (ebenda S.119) Einen solchen Bund schmieden diese Jasagenden aber, weil sie Jasagende, Ihresgleichen sind. Sie denken, empfinden: Sie schmieden den Ring des Seins, in dem das Sein einen sinnvollen Zusammenhang ergibt, und das daher auch über einen Bund zusammengehalten wird, auch wenn er im profanen Seienden als lose oder gar nicht vorhanden, nicht echt erscheint. Ein einsames Geschäft ist das Sehr Tiefe Denken schon; und Heidegger spricht beredt von dieser Einsamkeit: Kein Denker ist je in die Einsamkeit eines anderen eingetreten. Gleichwohl spricht jedes Denken nur aus seiner Einsamkeit verborgener Weise in das folgende oder in das vorausgehende Denken. (Was heißt Denken? S.164) Freilich bringt er das Fragen noch nicht an jenen metaphysischen Ort, in den sich Hölderlin dichterisch hinauswerfen musste, um damit allerdings erst recht einsam zu bleiben. Die Geschichte der Einsamkeiten dieser Dichter und Denker wird nie geschrieben werden können; es ist auch nicht nötig. Genug, wenn wir immer etwas davon im Gedächtnis behalten. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.4/5) In diesem Urteil zeigt sich die Grenze des Hegelschen Verstehens gegenüber Schelling, es zeigt sich darin aber – als an einem großen Beispiel – noch mehr: dass die größten Denker im Grunde einander nie verstehen, eben weil sie jeweils in Gestalt ihrer einzigen Größe dasselbe wollen. Wollten sie Verschiedenes, dann wäre die Verständigung, d.h. hier das Gewährenlassen, nicht so schwer. (ebenda S.15) Das Einsame und Bundlose, das Nicht-Begegnen überwiegt bei Heidegger; wenngleich er meint, dass sich die Fragenden, bewusst oder unbewusst, zumindest in der Frage einig sind. Aber der Bund der Sehr Tiefen Denker ist notwendigerweise ein Bund von Fragenden. Der Bund der Sehr Tiefen Denker ist notwendigerweise virtuell – in Bezug auf die Antworten – weil der Urgrund virtuell ist; letztendlich eine Kategorie des Denkens und Empfindens, die nicht dort erscheint, wo es notwendigerweise aufhört, sondern dort, wo es sich selbst begegnet. Das Sein selbst hat was Virtuelles. Am Ende des Denkens und des dringenden und drängenden Empfindens des Seins kommt man zu keiner eigentlichen Ruhe. Wohin man gelangt, sind Zustände und Erkenntnisse – Wirklichkeiten – die sich am Ehesten mithilfe von Paradoxien beschreiben lassen – also eben zum Beispiel zum Seinsbegriff, der ein solches Paradoxon ist. Die Sehr Tiefen Denker sind so gründlich, dass sie logischerweise abgründig sind, sich immer in einen Abgrund hineinwerfen und mit ihm ringen. Dies geschieht in notwendiger Mimesis mit dem Sein selbst: Das Seyn aber – ist der Abgrund. (Besinnung S.63) Die Sehr Tiefen Denker werden so vollständig sein, dass sie eine Aura des Paradoxen haben. Diese Aura des Paradoxen hat man bei Wittgenstein, Kierkegaard, Rimbaud oder Kleist. Aber hat man sie bei Heidegger? Ist Heidegger ein (sehr) Tiefer Denker oder ein Sehr Tiefer Denker? Er war nicht schlagfertig, noch weniger geistreich, eher schwerfällig, worüber ich mich nicht wunderte. Ursprüngliche Gedanken, wie er sie dachte, lassen sich nicht so leicht hin- und herschieben. (Emil Staiger in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger, S.229): erinnert sich Staiger an Heidegger, und das macht ihn schon einmal sympathisch. Bei Heidegger, so scheint es aber auf jeden Fall, hat man diese Aura des Paradoxen nicht unbedingt; allerdings treten seine Paradoxa äußerlich hervor: der Professor im Landmannanzug, seine „Weltfremdheit“, seine Begegnung mit dem Nationalsozialismus, und allgemein seine paradoxe Philosophie um die paradoxe Seinsfrage. Vielleicht weil Heidegger die ultrakomplexe Vollständigkeit nicht inkorporiert, hat er diese Aura des Paradoxen nicht, erscheint das Paradoxe dann aber folgerichtig im Äußerlichen. Heidegger ist auch kein Zertrümmerer und kein künstlerischer Chaot, wie es der Seht Tiefe Denker außerdem ist. Aber er hat den Speer, den er in den grundlegendsten Grund, oder besser: in den Begriff des grundlegendsten Grundes rammt. Er wartet dort auf Künftige, die ihn herausziehen. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend ihm voraus, vor seinem Geiste, um Heidegger nochmal zu zitieren, wie er Kleist zitiert. Ist Heidegger ein (sehr) Tiefer Denker oder ein Sehr Tiefer Denker? Zumindest steht Heidegger als ein paradoxer Hüter an der Schwelle zum Sehr Tiefen Denken.

Es ist nach Hegel der innerste „Trieb“, „das Bedürfnis“ des Geistes, sich vom Abstrakten zu lösen, indem er sich in das Konkrete der absoluten Subjektivität absolviert und so sich zu sich selbst befreit. Daher kann Hegel sagen: „… die Philosophie ist dem Abstrakten am entgegengesetztesten; sie ist gerade der Kampf gegen das Abstrakte, der stete Krieg mit der Verstandesreflexion“ … Wahrheit ist für Hegel die absolute Gewissheit des sich wissenden absoluten Subjektes. (Hegel und die Griechen in Wegmarken S.438/9) Das Denken deduziert und induziert. Um sich in der Welt zu orientieren, bildet es Abstraktionen, um zum Handeln oder Beurteilen zu verhelfen, muss es (aus diesen Abstraktionen heraus) konkret werden, bzw. erhofft es sich, über diese Abstraktionen Konkretes dann (umso umfassender) benennen und feststellen zu können. Inwieweit gelingt das Heidegger? Angesichts der Veröffentlichung von Sein und Zeit berichtet Herbert Marcuse von seiner Begeisterung darüber, dass da endlich jemand „konkret“ zu philosophieren schien, statt sich in nebulose und verschleiernde, wenn nicht verdinglichende und fetischisierende Abstraktionen zu versteigen. Um dann allerdings schnell enttäuscht und irritiert zu sein: Schien Heidegger doch, auf dieser Basis, nur schnell wieder neue Abstraktionen zu bilden und sich in diesen zu verlieren, und das den ganzen Rest seiner philosophischen Karriere lang: Das war auch dann noch der Fall, als die „Frage nach dem Sein“ von der „Frage nach der Technik“ abgelöst wurde: wieder eine anscheinend drohende Konkretion, die dann schnell dem Abstraktionsprozeß anheimfiel – schlechte Abstraktion, in der das Konkrete nicht aufgegeben wurde sondern verloren ging. (Herbert Marcuse in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S.162) Durch diese „schlechten“ Abstraktionen habe sich Heidegger seinen authentischen Zugang zur Welt und zu einem dynamischen Verständnis der Welt verbaut und seine Philosophie sei dann nichts als eine persistente Klage über diese „selbst verschuldete Unmündigkeit“ gewesen. Herbert Marcuse sollte schließlich zu einem wichtigen Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule werden – deren Verhältnis zu Heidegger bekanntermaßen paradox war. Beide Philosophien und Intentionen scheinen einander ähnlich, doch innerhalb dessen – bzw. praktisch – hat das Trennende überwogen. Adorno hat gegen Heidegger polemisiert, der wiederum der Frankfurter Schule mit eisigem Schweigen begegnet ist. Beide aber wollen doch scheinbar dasselbe: einen „natürlicheren“, „befreiten“ Zugang des Menschen zu sich und zur Welt über eine subversive Umwälzung der herrschenden Verhältnisse. Beide betrachten sie (in etwa) die Zivilisation als Verhängnis, das den Menschen von seiner originären, primordialen Natur entfremdet. Beide wollen den Menschen der Verfügungsgewalt von Verhältnissen entreißen, die ihn zu einem unpersönlichen Abstraktum machen (und seine „Konkretheit“ zurückerobern). Beide gehen so weit, die vorhandenen Verhältnisse geradezu insgesamt als seins/menschheitsgeschichtliche Irre zu betrachten. Beide sind sowohl fortschrittlich als auch konservativ. Wo Heidegger das „rechnende Denken“ beklagt, kritisiert Horkheimer die „instrumentelle Vernunft“. Wo Heidegger auf ein meditatives, sich von Verhaftungen lösendes besinnliches Denken setzt, setzt Adorno auf eine sich von Verhaftungen lösende Negative Dialektik. Umgekehrt aber will Heidegger mit seinem besinnlichen Denken eher zur Ruhe kommen, während die Kritische Theorie ständig aus einer konstatierten falschen Beruhigtheit heraus in eine Bewegung kommen will. Heidegger setzt tiefer – im „Sein“ – an als die Kritische Theorie, und seine Philosophie ist – im Gegensatz zu dieser – weder eine politische noch eine Sozialphilosophie: Und man kann jetzt fragen, ob das eine notwendige Abstraktion ist (aufgrund des Tiefsinns, der eben auf einem höheren Abstraktionsniveau operiert), oder eine „schlechte“, die zwar nicht seinsvergessen aber weltvergessen ist. Heidegger beklagt das Negative an der Zivilisation als „Seinsgeschick“, während die Kritische Theorie die konstatierte menschheitsgeschichtliche Irre (scheinbar konkreter) als in „Herrschaft“ wurzelnd begreift. Heidegger tut das höchstens auf seine Weise: Wo alles in berechenbare Abstände gestellt wird, macht sich durch die losgelassene Berechenbarkeit von Jeglichem gerade das Abstandlose breit, und zwar in der Gestalt der Verweigerung der nachbarlichen Nähe der Weltgegenden. Im Abstandlosen wird alles gleich-gültig zufolge des einen Willens zur einförmig rechnenden Bestandssicherung des Ganzen der Erde. Darum ist der Kampf um die Erdherrschaft in eine entscheidende Phase getreten. (Unterwegs zur Sprache S.212) Herrschaft, als Herrschaft des Menschen über den Menschen, hat Heidegger nicht nur im Rahmen seiner menschenleeren Philosophie nicht interessiert; er war bekanntlich sogar unempfindlich dafür, als sie, in Form des Nationalsozialismus, in ihrer maliziösesten Form aufgetreten ist. Als „Herrschaft“ oder „Machenschaft“ beklagt er – recht egoistisch – etwas nur dann, wenn ihm etwas seinen authentischen Zugang zum Sein zu verbauen scheint. Die Kritische Theorie wiederum ist von „Herrschaft“ besessen, die sie überall ausmacht, und sie tendiert im Rahmen ihrer (negativen) Dialektik der Aufklärung stark dazu, sämtliche Emanzipationsversuche von Herrschaft als (kurzen) Weg in eine neue Falle anzusehen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. „Herrschaft“ ist das zentrale Abstraktum der Kritischen Theorie: Ist es aber ein gutes oder ein schlechtes? So fortschrittlich und nach vorne gewandt sie ist, so pessimistisch ist sie dann wieder. So fortschrittlich ihr Wollen und ihr Drang ist, so erzkonservativ scheint ihr eigentlicher dunkler Grund. So sehr sie – vor allen Dingen – sich gegen Totalisierungen wehrt (die sie gleichsam paranoid überall erblickt) – so sehr ist sie selbst totalisierend, und scheint in ihrem denkerischen Tun ihr eigenes Gefängnis des Denkens und der Wahrnehmung zum Vorschein zu bringen. In ihrer Fixiertheit auf „Herrschaft“ ist die Kritische Theorie offensichtlich neurotisch – so wie Heidegger mit seiner Eigentlichkeits-Sehnsucht neurotisch ist. Ihre Wirkungen und jeweiligen Treffsicherheiten entfalten beide, indem sie neurotische Knoten in der Wirklichkeit benennen und sich an ihnen abarbeiten und dazu – im Hinblick auf ihre Qualität doppeldeutige: einerseits konkretisierende und operable, andererseits fetischisierende und praktikable Lösungen aus den Augen verlierende – Abstraktionen als theoretisches Instrumentarium anbieten. Und Heidegger und die Kritische Theorie wollen nicht dasselbe. Heidegger will Authentizität, während die Kritische Theorie den Menschen als eher in seiner Spontaneität gestört und durch die Machtapparate vereinnahmt sieht, die sie deshalb freisetzen will. Bei der Kritischen Theorie ist der Mensch der (ihr jeweiligen) Gegenwart in seinem Fortkommen und seiner Fortbewegung verhindert, bei Heidegger in seinem Verweilen und Verharren, weswegen sie Lösungen in den entsprechenden Extremen suchen – die, als Extreme notwendigerweise, nicht balanciert sind. Heidegger ist nicht utopisch. Die Kritische Theorie ist es, in ihrer Weise, an und für sich auch nicht. Der Horizont, in den sie blickt, ist das Imaginäre. Und das Imaginäre ist Teil des Lebens. Die gewaltige Kraft der Dialektik der Aufklärung liegt darin, dass sie dieses Imaginäre als welt- und gesellschafts- und persönlichkeitsverändernde Kraft (negativ) beschwört. Wie eine gewaltige Saugglocke zieht sie die beklemmende und enge Nachkriegsgesellschaft aus ihrem ideellen und praktischen Morast in die Öffnungen des Imaginären hinein. Solche Kraft kann wohl kaum anders als auf Einseitigkeit beruhen. Heidegger wiederum entfaltet seine Kraft in der einkreisenden Beschwörung des Besinnlichen. So sind beides Kräfte, die, bei aller Ähnlichkeit, dann doch aus was anderem stammen und was anderes wollen. Wahrheit ist für Hegel die absolute Gewissheit des sich wissenden absoluten Subjektes… dieses sich wissende absolute Subjekt streben beide an, erreichen es aber beide nicht. Es ist kein Wunder, dass ihre jeweiligen/jemeinigen Wege dorthin nicht führen, denn der Weg, der dorthin führt, ist der weglose Weg.

Nach der Lektüre der Schriften von D. T. Suzuki über den Zen-Buddhismus meint Heidegger: In etwa das habe er in all seinem eigenen Schreiben versucht auszudrücken! Tatsächlich sind Heideggers philosophische Intention und die des Zen-Buddhismus einander erstaunlich ähnlich; und es kommt, über Heidegger, zu Begegnungen zwischen Ost und West (und einer Beliebtheit der Heideggerschen Philosophie im Fernen Osten). We can understand how Professor Heidegger´s mind has deeply entered into the origin of art and thus paved the way for the identity of aesthetic feeling with pre-ontological experience, which is his „new way of thinking“. (Ghung-yuan Chang in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S. 65-70) Zen ist vor-philosophisch und eben prä-ontologisch (und prä-epistemologisch)  (gleichzeitig ist es meta-ontologisch und meta-epistemologisch). Im Zen geht es um die Begegnung des Geistes mit sich selbst: In dem Sinn, dass er seiner selbst vollkommen gewahr wird und so zu reinem Gewahrsein und zu reiner Achtsamkeit wird; zu einem Gewahrsein, das jenseits allen begrifflichen Denkens liegt und damit auch wieder in eine Ursprünglichkeit der reinen, vor-begrifflichen Wahrnehmens einkehrt. Der Dichter versammelt die Welt in ein Sagen, dessen Wert ein mild-verhaltenes Scheinen bleibt, worin die Welt so erscheint, als werde sie zum erstenmal erblickt. (Hebel – Der Hausfreund S.25) „Die Welt ständig mit neuen Augen sehen“ (und gleichzeitig mit der unerschütterlichen Klarheit des ruhenden Einen Welt-Auges): das tut jener, der die Vollkommenheit, die Erleuchtung: mithin die Ausleuchtung des Geistes, innerhalb derer sich der Geist selbst als reines Vermögen gewahr wird, erreicht hat. Zen erklärt nichts. Zen analysiert nichts. Es verweist lediglich zurück auf unseren Geist, so dass wir aufwachen und Buddha werden können. (Zen-Meister Seung Sahn) Dieses Erleben des Geistes als primordiales Vermögen bedeutet, dass der Geist nicht mehr von Begriffen und Kategorien abhängig ist, die kulturell vermittelt worden sind und diesen unterworfen, sondern dass er diese tranzendentiert und schließlich in seiner transzendentalen Fähigkeit ankommt (paradoxe) Begriffe und Wahrnehmungen zu schaffen und verschieben zu können, und er so gleichzeitig zu maximalem Kontakt mit der Welt (und zu sich selbst) gelangt wie zu maximaler Unabhängigkeit von ihr (und von sich selbst): Und das ist dann Buddha. Alle Buddhas und alle empfindenden Wesen sind nichts als der Eine Geist, außerhalb dessen nichts existiert. Dieser anfangslose Geist ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist nicht grün oder gelb und er hat weder Form noch Aussehen. Er gehört nicht zur Kategorie der Dinge, die existieren oder nicht existieren, ebenso wenig kann er in Begriffen wie „neu“ oder „alt“ vorgestellt werden. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, da er alle Bestimmungen, Maße, Namen, Spuren und Vergleiche transzendiert. Er ist das, was du vor dir siehst – fang an, darüber nachzudenken, und du befindest dich augenblicklich im Irrtum. Er ist wie die grenzenlose Leere, die weder auszuloten noch zu durchmessen ist. Der Eine Geist allein ist der Buddha und es besteht kein anderer Unterschied zwischen dem Buddha und den empfindenden Wesen als der, dass empfindende Wesen an Formen haften und so außerhalb ihrer selbst nach Buddhaschaft suchen. Gerade durch ihr Suchen verlieren sie sie aber, denn das bedeutet, den Buddha zu benutzen, um nach dem Buddha zu suchen, und den Geist zu benutzen, um den Geist zu fassen. Selbst wenn sie ein ganzes Äon lang ihr Äußerstes täten, würden sie es doch nicht schaffen. Sie wissen nicht, dass es genügt, das begriffliche Denken einzustellen und ihre Befasstheit zu vergessen, damit der Buddha vor ihnen erscheint, denn dieser Geist ist der Buddha und der Buddha ist alles Lebendige. Er ist um nichts darum geringer, dass er sich in gewöhnlichen Dingen manifestiert, und er ist um nichts darum gewaltiger, dass er sich in den Buddhas manifestiert. (Zen-Meister Huangbo) Man sieht: Der Eine Geist ist wohl das epistemologische Korrelat zum Einen, Reinen Sein, dem Heidegger hinterherjagt. Er ist das Erkenntnisinstrument für das Eine, Reine Sein, das ihm qualitativ ähnlich ist: Das ursprüngliche, reine, strahlende Weltall ist weder viereckig noch rund, weder groß noch klein. Es ist ohne solche Unterscheidungen wie lang oder kurz, ist jenseits von Bindung und Bewegung, von Unwissenheit und Erleuchtung etc. — Ja, der Zen-Buddhismus geht sogar so weit, dass der Eine, Reine Geist das alleinige Sein sei, und so schafft er es, dass er durch seine Intensivierung des Kontaktes zwischen Mensch und Welt diesen Kontakt dann auch wieder radikal verliert. Wenn Huangbo lehrt: „Existenz“ und „Nichtexistenz“ sind empirische Begriffe und nichts anderes als Illusionen. Oder: Alles begriffliche Denken ist eine irrtümliche Meinung. Oder: Du musst ganz klar sehen, dass es wirklich gar nichts gibt – keine Menschen, keine Buddhas. Die großen kosmischen Systeme, zahllos wie der Sand, sie alle sind nur wie Luftblasen, so kommt das einer Leugnung von Mensch und Welt gleich und es ist nicht auf dem neusten wissenschaftlichen Stand: Wissenschaft und die Etablierung eines wissenschaftlichen (oder auch eines philosophischen) Weltverständnisses ist daher als Geburt aus dem Geist der Zen-Buddhismus nicht zu erwarten. (In Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten berichtet Robert Pirsig von der Begegnung mit einem japanischen Professor, der auch die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki als „Illusion“ abtut – was Pirsig dann seinerseits dazu bringt, zum Zen-Buddhismus auf Distanz zu gehen.) — Was ich mit „normaler Geist“ meine, ist der Geist ohne Künsteleien, ohne subjektive Urteile, ohne Begehrlichkeit oder Abneigung. (Zen-Meister Mazu) Einen solchen Geist, eine solche Philosophie „ohne Künsteleien“ wollte Heidegger schaffen (und notwendigerweise kann man in der Fundamentalontologie nur ohne subjektive Urteile, ohne Begehrlichkeit oder Abneigung ankommen). Sobald du „richtig“ oder „falsch“ denkst, gerätst du in Verwirrung und verlierst deinen wahren Geist. Die beiden kommen von dem Einen, aber es darf auch kein Haften an dem Einen geben. / Indem du alle Dinge gleichmütig betrachtest, wird es die gelingen, zur Natur zurückzukehren. Indem du alle Bedingungen beseitigst, bist du jenseits aller Unterscheidung. (Sengcan) Zen betont immer wieder, dass es über das „Denken“ und das Philosophieren nicht erfasst werden kann; dass die Erleuchtung, das Satori über Denken nicht allein passieren kann. Es funktioniert, zu guter Letzt, über spezifisches Empfinden. Und es funktioniert – im Hinblick darauf, dass es Paradoxa bemeistert – über einen Geist, der zu paradoxem Assoziieren fähig ist (also eher „künstlerisch“ ist als rein rational). Wenn du eine Brücke überquerst / Fließt die Brücke, steht das Wasser still (Zen Sand 10.123/124) Letztendlich besteht alle Wahrnehmung, und auch die gegenseitige Bestimmungsmöglichkeit von Sein und Seienden darin, dass uns ein Motiv vor einem Hintergrund erscheint. Die totale, vollkommene, „unendliche“ Wahrnehmung und die Wahrnehmung der Unendlichkeit des Seins ist die, die zwischen Motiv und Hintergrund ständig switchen kann, ein unendlich gedoppelter Blick, in dem das eine stets im und über das andere hindurchscheint: das, Schwester, lehre ich dich, ist der Blick in die Totalität und in die Unendlichkeit – so sieht er aus. Yang-shan fragte seinen Lehrer: Wenn all die unzähligen Erscheinungen auf einmal hervortreten, was dann? Wei-shan erklärte: Blau ist nicht gelb, lang ist nicht kurz. Alle Dinge befinden sich jedes für sich an ihrem eigenen Platz. Mich betrifft das alles nicht! Yang-shan verbeugte sich darauf in Verehrung. (Shobogenso Sambyakuzuko 14) „Westliches“, rechnendes Denken fixiert sich – sehr plakativ ausgedrückt – zu sehr auf das Motiv, das östliche verliert sich zu sehr in einen undifferenzierten Hintergrund. Die Philosophie Heideggers will beides synthetisieren – wenngleich Heidegger selbst eben der Gefahr, die aus dem Osten kommt, unterliegt. Seine Philosophie ist aber dabei praktisch der Versuch, das prä-philosophische östliche Denken auf die Basis von Philosophie (als einer Methode westlichen Denkens) zu stellen; und allgemein könnte man Philosophien, die westliches und östliches Denkprinzip zusammenbringen wollen (also auch die meine) dann eben auch als „heideggerianisch“ fassen. – Indem Zen eine Betrachtung des Seienden transzendieren will und zu einer Betrachtung und Erfassung eines reinen Seins vorstoßen will – und das reine Sein paradox ist – gelangt der Suchende zu Paradoxa. Diese Paradoxa liegen allerdings im begrifflichen Denken; indem man begriffliches Denken überschreitet, überwindet man die Paradoxa. Nur wer vollkommen frei ist von Begriffen, kann einen Körper unendlicher Ausdehnung besitzen. (Zen-Meister Huangbo) Ein Körper unendlicher Ausdehnung ist das Sein selbst. Wer einen („organlosen“) Körper unendlicher Ausdehnung hat, korreliert mit dem Sein; seine Wahrnehmung, sein Geist, wird ein weites – „unendliches“ – Feld, das mit dem Wirklichkeitsfeld korreliert. Allein die vollendete Subjektivität verwehrt ein Außerhalb ihrer selbst. Nichts hat den Anspruch auf das Sein, was nicht im Machtkreis der vollendeten Subjektivität steht. (Nietzsche 2. Band S. 272) Das ist dann also der Buddha, der in Nirwana und Samsara gleichzeitig lebt. (Bzw. fällt einem auf, dass es in der westlichen Philosophie sehr wohl ein Korrelat dafür zu geben scheint, nämlich das der transzendentalen Subjektivität. Das östliche Satori korreliert im Verständnis der westlichen Philosophie mit dem Durchbruch zur transzendentalen Subjektivität, also der reinen, abstrakten Subjektivität als Rahmen, in der die empirische Subjektivität erscheint, also die jemeinig-kontingente Subjektivität und ihr jeweiliges Weltverhältnis; als Bedingung der Möglichkeit, dass die empirische Subjektivität erscheint. Der Erleuchtete hat also seine jemeinige empirische Subjektivität in die tranzendentale Subjektivität hinein überschritten.) Umgekehrt wird dann eben in einer solchen Wahrnehmung auch das Dasein zu einem Einen, Reinen Sein, einem unendlichen Feld, auf dem zwar heftige Turbulenzen stattfinden mögen, das in sich aber vollkommen ruhig und plan ist; bzw. wird eben in einer solchen Wahrnehmung jene des Daseins hinter sich gelassen und gelangt in einer Wahrnehmung des Einen, Reinen Seins an. Die Große Leere aber ist Vollkommenheit, in der es weder Mangel noch Überfluss, sondern nur eine gleichförmige Stille gibt, in der alles Wirken zur Ruhe gekommen ist. (Zen-Meister Huangbo) Das ist das Eine, Reine Sein. – Heidegger selbst war nicht unbedingt ein Genie des paradoxen Assoziierens, sein Genie lag eben im beharrlichen, besinnlichen Denken. Er war nicht wild, chaotisch, künstlerisch. Über sein Empfinden wissen wir wenig. Zen-Meister war er keiner, aber eben wenn man so will, hat er die östliche „Metaphysik“ auf eine „westliche“ Basis gestellt. Wie tief er das Geheimnis von allem erschaut hat, bleibt sein Geheimnis. Wer dem Sein nachjagt / dem entgeht es / Wer hinter dem Nichts herläuft / Dem kehrt es den Rücken zu (Sengcan) Wäre ich Heidegger, würde mir dieses Paradoxon zu denken geben. Es ist aber eben was, „was mit dem Verstand nicht erfassen werden kann“ – fang an, darüber nachzudenken, und du befindest dich augenblicklich im Irrtum.

Bald nachdem „S.u.Z.“ erschienen war, frug mich ein junger Freund: „Wann schreiben sie eine Ethik“? (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.353) Eine Ethik hat Heidegger nie geschrieben. In dem sehr Wenigen, was er je dazu gesagt hat, bedeutet er, dass die Ethik in seiner Philosophie und seinem besinnlichen Denken sowieso implizit enthalten sei. Bevor wir versuchen, die Beziehung zwischen „der Ontologie“ und „der Ethik“ genauer zu bestimmen, müssen wir fragen, was „die Ontologie“ und „die Ethik“ selbst sind (ebenda): Ethos ist die Haltung in allem Verhalten dieses Aufenthalts inmitten des Seienden. Die „Ethik“ betrifft den Menschen nicht als gesonderten Gegenstand unter Gegenständen, sondern sie betrachtet den Menschen hinsichtlich des Bezugs des Seienden im Ganzen zum Menschen und des Menschen zum Seienden im Ganzen (…) In jedem Fall geht aber auch die Ethik, obzwar sie nur vom Menschen handelt … auf das Ganze des Seienden. (Heraklit S.214) Beziehungsweise, dass das besinnliche Denken und sein Gestus höchste Ethik sei: „Das sinnende Denken ist der höchste Edelmut“, gibt Heidegger Heraklit wieder (ebenda S.373). Das ist in etwa alles, was man bei Heidegger zur Ethik findet: Dass Ethik im besinnlichen Denken bereits an sich enthalten sei bzw. dass das besinnliche Denken Vollzug der höchsten Ethik sei (quasi also ein Überlegenheitsanspruch, der moralische Anfechtungen geradezu abschmettert). Wie bei Wittgenstein hat man bei Heidegger eine Unfähigkeit, ethische Sätze auszusprechen. Während Wittgensteins ganzes philosophisches Trachten (und sein gespannter, heroischer persönlicher Lebensvollzug) aber darauf abzielte, wie man ethische Sätze aussprechen könnte bzw. wie man logische Sätze in ethische überführen könne, hat man bei Heidegger aber tatsächlich dann nur eine persönliche Unfähigkeit, ethische Sätze auszusprechen. Große Philosophen begeistern sich und schwärmen für ethische Sätze (und auch im Zen-Buddhismus ist die Suche nach dem Buddha und nach dem erleuchtenden Satori ganz wesentlich eine Suche nach dem Dharma (dem Gesetz, der Sitte, der Religion, der kosmischen Ordnung)). Heidegger ist eine Ausnahme, bei der das fehlt. Daher dann wohl eben auch sein ewiges Problem von einem fehlenden authentischen Bezug zum Sein. Denn wer ethisch ist, wird sich auch im Sein geborgen fühlen, und es so empfinden, dass entweder das Sein ethisch ist, oder aber ethische Anforderungen stellt bzw. ethische Anforderungen sich aus dem Sein selbst, aus dem Sein heraus stellen. (Ich selber spreche, wie schon erwähnt, vom GESETZ, das aus dem Sein selbst hervorgeht und das bedeutet, dass man sein Dasein ethisch auszurichten habe – dieser Appell an das Dasein ist im Sein selbst enthalten.) Er wird das dann als „Wahrheit“ empfinden, die über bloßes Seiendes hinausgeht, und die daher transzendental und ewig ist. Daß es „ewige Wahrheiten“ gibt, wird erst dann zureichend bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, daß in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird, heißt es aber in Sein und Zeit (S.227) Dass Heidegger sich lebenslänglich fragt: Was ist das Sein?, kann man als Erscheinung einer inneren ethischen Desorientiertheit ansehen, eines Individuums, das das ethische, religiöse Licht nicht gesehen hat und daher fortwährend nach einer Lichtung sucht. Philosophie ist Metaphysik. Diese denkt das Seiende im Ganzen – die Welt, den Menschen, Gott – hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens. (Zur Sache des Denkens S.61f.) Metaphysik aber fächert sich auf in Ontologie (der Frage nach der wahren Natur des Seins), in Epistemologie (der Frage, inwieweit wir mit unserem Erkenntnisapparat die wahre Natur des Seins erkennen können) und in Deontologie: der Frage, wie wir als vernunft- und gefühlsbegabte Wesen, die Dasein erschaffen und manipulieren können, als in das Sein also aktiv eingreifen könnende Wesen handeln sollen, welchen Regeln wir folgen sollen. Das sind Fragen der Ethik, und solche sind notwendigerweise Teil der metaphysischen Spekulationen des Menschen – also der Spekulationen über die qualitative Eingelassenheit des Menschen in das Sein. Der Mensch zeichnet sich vor aller anderen Kreatur nicht nur aus, indem er (laut Heidegger) Sprache hat, sondern auch Ethik. Eine Philosophie und Metaphysik, bei der die Deontologie und Ethik fehlt, wirkt daher unvollständig – nicht zuletzt deswegen, weil Ethik und Deontologie viel allgemeiner als nur im Rahmen der sozialen Sitte oder Moral die Frage betreffen, was richtig ist und was falsch, welchen Regeln man folgen solle und welchen nicht etc.: All das sind auch unmittelbare Fragen des richtigen Denkens, daher auch des richtigen Philosophierens und des richtigen metaphysischen Spekulierens. Dass der Mensch „Hüter des Seins“ ist, ist eine wohltuende und wärmende, eher meta-ethische Feststellung, aus der allein aber keine zwingenden ethischen Sätze folgen. So sind dann eben – wie im Fall Heideggers – ethische Verirrungen möglich. Allgemein wird bei Heidegger offenbar, dass ihm irgendwie der innere moralische Kompass fehlt. Sartre hat, in seiner Verteidigung Heideggers nach dem zweiten Weltkrieg gemeint: Ein trotzdem großer und bedeutender Philosoph könne trotzdem einen schlechten Charakter haben. Man hat aber den Eindruck, auch das trifft es nicht ganz. Denn ein schlechter Charakter scheint Heidegger dann eben auch nicht. Als in den 1930er Jahren Hannah Arendt und Karl Jaspers in ihrem Briefwechsel über Heideggers Charakter rätseln, meint Hannah Arendt schließlich: Heidegger habe „buchstäblich überhaupt keinen (Charakter), bestimmt auch keinen besonders schlechten“. Wir Heutigen wissen jedoch den Grund nicht, warum das Innerste der Metaphysik Nietzsches von ihm selbst nicht an die Oberfläche gebracht werden konnte, sondern im Nachlaß verborgen liegt; noch verborgen liegt, obwohl dieser Nachlaß in der Hauptsache, wenngleich in einer sehr mißdeutbaren Gestalt, zugänglich geworden ist. (Nietzsche Zweiter Band S. 35) Wir haben festgestellt: Das Innerste von Nietzsches Metaphysik ist die Neurose bzw. eine paranoide Persönlichkeit, die gespalten ist und nicht einheitlich. Daher nun also seine gespaltene, nicht einheitliche Philosophie (mit ihren anti-ethischen Anteilen daran). Bei Heidegger hat man im Zentrum, im Innersten seiner Metaphysik, so betrachtet und wenn man es so will, buchstäblich überhaupt keinen Charakter. Und so hat Heidegger dann auch keine ethischen Sätze formuliert. Denn diese stammen aus dem Charakter. Sein besinnliches Denken ist ein Ethos, der, in seinem speziellen Fall, die Ethik aber vergisst. Sein besinnliches Denken ist nicht davor gefeit, eine losgelöste, elitäre und, vor allem, egoistische Ethik zu sein. Eine Haltung, die ein Ethos ist, aber keine Ethik. Meine Ethik, die aus dem extremen Heavy Metal stammt, hat ihre Grundlage darin, dass sie erfreut ist über das Andere (das Sonderbare, Ausgestoßene, nicht unmittelbar im Gesichtskreis Liegende usw.) und sich mit dem Anderen im symbiotische Verbindung bringen will. Diese Verbindungen bringen Frieden und Verständnis und Achtsamkeit und lösen Probleme in der äußeren wie auch in der inneren Welt. Sie erweitern den persönlichen seelischen Aktionsradius ins Unendliche, und nichts kann einen dann erschrecken, nichts erscheint einem dann „uneigentlich“, dort, wo alles nur mehr zu einer großen ich- und welt-syntonen Eigentlichkeit wird. Heidegger hat sich, so hat man den Eindruck, zumindest weniger primär für das Andere interessiert, vielmehr immer nur für das Eigene, das Örtliche, das Heimatliche. Auch das gereicht seiner Ethik – um nicht zu reden von seinen Möglichkeiten, Welt aufzunehmen – nicht zum Vorteil. Vor allen Dingen ist es dann kein Wunder, wenn einem alles, was anders ist als man selbst, als „uneigentlich“ erscheint und man sich also konsequentermaßen von Uneigentlichkeit umgeben und bedroht  fühlt.

Heideggers Denken und Philosophie kreist um – das Denken. Was heißt Denken? Zur Sache des Denkens… Sein ganzes Charisma beruht auf der Intensität, der Sogwirkung seines denkerischen Gestus, sei es bei unpersönlicher Begegnung oder bei persönlicher: Die wenigsten seiner Bekannten konnten sich dem entziehen. Es denkt in mir, gab Heidegger über sein Selbstgefühl Auskunft; und als ob das Denken, die Philosophie an sich in diesem alten Mann einen Avatar gefunden hätte, so erschien es anderen, wenn sie ihn betrachteten. Was aber leistet das Denken?

  1. Das Denken führt zu keinem Wissen wie die Wissenschaften
  2. Das Denken bringt keine nutzbare Lebensweisheit
  3. Das Denken löst keine Welträtsel
  4. Das Denken verleiht unmittelbar keine Kraft zum Handeln  (Was heißt Denken?, S.161)

Trotzdem ist das Denken dem Menschen eben wesenseigen. Es scheidet ihn vom Tier. Es ist, wenn man so will, Ausdruck seiner Sorge. So viele denkende Menschen gibt es hinwiederum nicht. Daher soll man diejenigen, die denken, behüten. Sie tragen ihr Karma ab, und das Karma der Welt. Nötig ist in der jetztigen Weltnot: weniger Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr Pflege des Buchstabens. (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.364) Darum kreist alles Denken Heideggers. Es geht um die Ermöglichung von mehr Achtsamkeit gegenüber dem Sein. Achtsamkeit ist aber wohl weniger eine Sache des Denkens als eine des Fühlens und der Empathie. So viel er vom Denken spricht: Über das Fühlen und die Empathie tut er das nie. Wie soll dann eben sein achtsames, besinnliches Denken gelingen, an sein Ziel gelangen? Vielmehr ist anzunehmen, dass es unter solchen Umständen das Ziel zwar stets gut einkreist, aber eben nur umkreist, die „Eigentlichkeit“ aber eben nie erreicht. Ohne Empathie ist keine wirkliche, eigentliche Verankerung im Sein möglich. Heidegger spricht nie von der Empathie. Das Bedenkliche in unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken. Das ist der Leitsatz und das Leitmotiv vom Was heißt Denken? Das Bedenkliche an Heidegger ist, dass er nirgendwo richtig fühlt. Gleichzeitig kreist dabei all sein Denken ja nur um ein Gefühl: das der Uneigentlichkeit und Heimatlosigkeit, dem er Eigentlichkeit und Beheimatung entgegensetzen will (da sein Denken um einen Gefühls-Komplex kreist, bzw. aus einem solchen heraus stattfindet, ist es ja eben so insistierend). Gefühle sind nur potenziell ein Korrektiv gegenüber den Egoismus. Starke Gefühle, Kerngefühle, sind eher einmal das Egoistischste, was es gibt. Außerdem neigen (starke) Gefühle zur Projektion. Dass Heidegger sich so verfolgt fühlt von den Machenschaften des „rechnenden Denkens“, seiner Sterilität, seiner Auf-einem-Auge-Blindheit, seines inhärenten Egoismus und Willens-zu-sich-selbst, seinem Vergewaltigungsversuch an aller Welt, am Sein… erscheint irgendwie als negativer Doppelgänger, als Schatten seines besinnlichen Denkens, genauer gesagt: der Exzesse und Ausschließlichkeiten, in die er es treibt. Das „Höchste“, was die Machenschaft zuläßt, sind „Interessen“ (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), S.125) Es gibt keine Garantie, dass nicht auch das besinnliche Denken, die Achtsamkeit, die Eigentlichkeit, die Tugend ein starkes Interesse an sich selbst und an der Gestaltung der Welt nach ihrem Bild entwickeln, das sehr egoistisch, wenn nicht ausschließlich wird. Heideggers besinnliches Denken, bzw. die Art, wie er es exekutiert, ist – zwar gründlich, aber – statisch. Es möchte zu irgendwelchen traumhaften Ursprüngen gelangen und dann die Zeit anhalten. In einer solchen zeitlosen, zeitarmen Blase hat Heidegger dann auch gelebt. Georg Wolff schildert, angesichts des Spiegel-Gesprächs zwischen Augstein und Heidegger, das erst posthum veröffentlicht wurde, seine Eindrücke von Heidegger und seiner selbstgewählten Lebenswelt in seiner Hütte irritiert so: Nichts Schmückendes ist an ihr … Die Kargheit ist eisig. In der Nähe dieses Denkers hält sich, so scheint es, keine Augenweide. Hier ist alles kahl … Dem Alemannischen fühlt Heidegger sich verbunden. Daß Schöpferisches nur aus heimatlichem Boden komme, hatte er uns am Vormittag gesagt … Er fühlt sich wohl in der Sprache seiner Heimat. Doch wieviel zählt das? Und: Wieweit versteht Heidegger sich selber? Seine Hütte am Wiesenhang – wenn sie etwas verrät, so, paradox genug, seine Heimatlosigkeit. (Georg Wolff in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S.290/91) Alle Bewegungen nach vorwärts erscheinen für Heidegger als Weg in eine Irre – gerade darin beraubt er aber das Seinsverhältnis bzw. das Verhältnis des Menschen zur Welt in wesentlichen Aspekten seiner Reichhaltigkeit. Die Möglichkeiten der Lichtung ändern sich im Lauf der Zeit. Heideggers beharrliche Besinnlichkeit bzw. sein weltarmer, mönchischer Konservatismus beraubt, konsequent durchexerziert, die Menschenwelt einer besseren Zukunft. Man kann fast sagen, Heideggers Gehen, Bewegung über Wegmarken und auf Holzwegen beschreibt die Entwicklung des eigenen Denkens, aber kein wirkliches Weltverhältnis. Mancher sagt man: Du denkst zu viel! Kopfmenschen sagt man: Du denkst zu viel und fühlst zu wenig. In seiner idiosynkratischen Emphase auf „das Denken“ fühlt man sich geneigt, das auch Heidegger zuzurufen. Es erscheint klar, warum Heidegger ständig der „Eigentlichkeit“ hinterher läuft. Wer läuft stets der Eigentlichkeit hinterher? Derjenige der nicht eigentlich ist. Vor langer Zeit sagte Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ Das ist der Beginn der Philosophie. Aber was, wenn du nicht denkst? Das ist der Beginn der Zen-Übung. (Zen-Meister Seung Sahn)

Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins. Grundstimmung (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.112), notiert Heidegger bei sich im Jahre 1933, und leitet jenes Kapitel in seiner Biographie ein, das ihm zu seiner großen Schande gereicht, ja, seinen Status als Philosophen und seine Philosophie selbst hinterfragbar zu machen scheint. Es bleibt ein großes Rätsel in der Philosophiegeschichte. Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins: Ab 1930 nimmt Heidegger den Nationalsozialismus wahr und rückt ihm näher um dessen Machtergreifung schließlich als ein Ereignis von geradezu seinsgeschichtlicher Tragweite aufzunehmen – genauer gesagt, erhofft er sich ein solches. Das liegt in der Bahn seiner Philosophie. Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins: Ein Volk wird nun für ihn zu einer Entität, die einen „Neubeginn“ und ein Zurück zu einem originären, schöpferischen Ursprung möglich macht und die sich so authentisch im Sein verankere. Als einziges Volk freilich hätten allein die alten Griechen dergleichen fertiggebracht. Nun hofft Heidegger, dass das auch den Deutschen möglich wäre. Bald schon sieht er seine kapitale Fehleinschätzung ein. Der große Irrtum dieser Rede (zu seinem Rektoratsantritt 1933, Anm.) besteht freilich darin, daß sie noch annimmt, im Raum der deutschen Universität sei noch ein verborgenes Geschlecht der Fragenden, daß sie noch hofft, diese ließen sich an die Arbeit der inneren Verwandlung bringen. Aber weder die Bisherigen noch die inzwischen Nachgekommenen gehören zu diesem Geschlecht (…) Daß ich dieses in jener Rede nicht vorauswußte, ist ihr Hauptmangel. Und deshalb konnte sie nicht verstanden werden. (ebenda S.286) Er tritt vom Rektorat zurück und geht auf Distanz zum Nationalsozialismus, die zwar einerseits deutlich und markant, andererseits dann wieder ambivalent ist. In den folgenden Jahren und schließlich im Krieg notiert er bei sich einiges, was ebenso seiner philosophischen Haltung entspricht und konsequent ist wie weltfremd: Solange aber die Völker in der bloßen Ziellosigkeit oder Ziel-erfindung verharren, bleibt ihnen nur der Wettlauf der „Interessen“, ein Machen (d.h. Technik) der Historie als ausweichen vor der einzigen Möglichkeit einer Geschichte, das „Groß“ und „Klein“ vermischt. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), S.106) Der Bolschewismus und der autoritäre Sozialismus (Faschismus, Anm.) sind metaphysisch dasselbe und gründen in der Vormacht der Seiendheit des Seienden. (S.109) Dieser Krieg entspringt der Seinsverlassenheit des zu Ende gekommenen neuzeitlichen Menschen. (S.225) Im Amerikanismus erreicht der Nihilismus seine Spitze. (S.225) Die Veröffentlichung seiner privaten Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit (der Schwarzen Hefte) vor einigen Jahren verschaffte der Debatte neuen Auftrieb, wie antisemitisch Heidegger gewesen sei; wie weit der Antisemitismus/Faschismus in einer Philosophie an sich enthalten wäre, vielleicht sogar deren neurotischer Kern seien. Das „Jüdische“ identifiziert er mit Prinzipien, die im Rahmen seiner Philosophie als die großen Antipoden agieren: dem rechnenden Denken und dem Geist der Machenschaften und der seinsvergessenen kosmopolitischen Entwurzeltheit: Die Juden „leben“ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen (ebenda S.106) Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menscheneigentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche „Aufgabe“ übernehmen kann. (ebenda S.243) Jetzt kann man sich fragen, inwieweit das bloß Figurierungen und Metaphern für Inhalte seines Denkens sind, die er vor zeitgenössischem Hintergrund ergreift, oder aber eine Begegnung mit dem eigentlichen, unausgesprochenen Kern des Heideggerschen Denkens (besser: Empfindens): einer paranoiden Sucht nach „Blut und Boden“-Eigentlichkeit, die in der Regel antisemitisch ist. Einer genuinen Philosophie des Antisemitismus und Faschismus also. Ohne aber, dass man zu einer befriedigenden Antwort gelangt. Heidegger hatte immer schon antisemitische Tendenzen gehabt, doch hatte er sich nie als (entschlossener) Antisemit hervorgetan und seine Notizen über „die Juden“ sind extrem vereinzelt (eventuell auch momentanen Eindrücken über seine dann doch durchaus antisemitische Frau Elfride geschuldet – ebenso wie Heideggers lebenslange Weigerung sich markant vom Nationalsozialismus darin ihre Ursache haben mag). Der Antisemitismus ist etwas für neidische Paranoide, Hasserfüllte oder Idioten: In seiner Phobie gegenüber dem „entwurzelten Juden“ ist er etwas für Leute, die nicht in sich selbst gegründet sind (und daher auch umso mehr Phantasien von der Herstellung einer „Eigentlichkeit“ hinterherrennen), also so genannten Fake-Persönlichkeiten (das wiederum könnte man Heidegger in sein Schwarzes Heft schreiben). Jean-Luc Nancy meint, Heideggers „metaphysischer“ Antisemitismus – dass also „die Juden“ eine verhängnisvolle Rolle im Sein selbst spielen bzw. diese in das Sein an sich eingeschrieben sei – sei noch schlimmer als der kulturelle oder rassistische Antisemitismus (wonach die verhängnisvolle Rolle „der Juden“ ihre Grundlage in vergleichsweisen Akzidenzien wie ihrer Kultur oder „Rasse“ hätte); überhaupt liege in Heideggers Philosophie das Potenzial (vielleicht sogar als Kern) für einen „Hyperfaschismus“, und Heidegger habe sich vom Nationalsozialismus nicht abgewandt, weil er ihm zu radikal, sondern zu wenig radikal gewesen sei. Wie wir gesehen haben, hat sich Heidegger aber nicht aus politischen Gründen vom Nationalsozialismus abgewandt, sondern weil er in ihm keinen Bund von philosophisch Fragenden erkennen konnte. Da könnte man meinen, dass Heidegger und der Faschismus eigentlich so gut wie überhaupt nichts miteinander zu tun haben. (Abgesehen davon, dass der Nationalsozialismus bereits eine Hyperversion des Faschismus gewesen ist; jenseits derer politisch kaum mehr was möglich ist: Ein „Hyperfaschismus“ Heideggers wäre daher unpolitisch und ein bloßes Gedankenexperiment – das allerdings zu anderen Zwecken angestellt werden würde.) Heideggers Flirt mit dem Nationalsozialismus war (spontan und) kurz. Viele Professoren haben sich schwererer und anhaltenderer moralischer Degradationen schuldig gemacht, und viele ernstzunehmende Intellektuelle haben sich in die eigentümlichsten Assoziationen verstiegen, warum Hitler eine Lichtgestalt höchsten Grades sei. Nichtsdestoweniger wiegt eine vergleichsweise geringere Last auf den Schultern eines Jahrhundertphilosophen schwerer und sie erscheint unheimlicher. Moralisch hat sich Heidegger vor allem nie ausreichend vom Nationalsozialismus distanziert; zu seiner tiefen Unmoral, seiner extremen Gewalt und seiner Vernichtungspolitik und zum Holocaust ist ihm nie viel eingefallen und es hat ihn nie viel bedrängt, außer dass er sie als Ausdruck einer allgemeinen seinsgeschichtlichen Irre verdammt hat. Trauerte er dem Nationalsozialismus als einer vertanen Chance nach? Aber, genau, welcher? Der einer vertanen Chance auf „Eigentlichkeit“ und eines „Neubeginns“ eines Volkes: Was aber Heidegger genau damit meint, ist sowieso nicht klar – und ist vielleicht auch ihm selber nicht klar gewesen: daher die Episode mit dem Nationalsozialismus, die Episode geblieben ist. Heideggers Philosophie ist sowohl konservativ als auch fortschrittlich – und dann beides nicht, und weder das eine noch das andere nimmt sie überhaupt für sich in Anspruch zu sein. Insofern sie auf ein anderes Seinsverständnis drängt und dahingehend zur Tat und zum Handeln, zur Umsetzung drängt, ist sie in die Welt eingreifend und politisch; gleichzeitig ist sie weltabgewandt und denkerisch-solitär. In der Terminologie von Deleuze und Guattari hat die Eigentlichkeits-Philosophie Heideggers, bzw. der Gestus, in dem er sie durchexerziert, gleichzeitig einen extrem paranoiden Pol als auch einen extrem schizophrenen Pol; und sie etabliert eine so genannte Fluchtlinie (paradoxerweise: des radikalen Dableibens). Paranoide Faschisten er/begreifen diese Fluchtbewegung niemals. Sagt ein Nazi-Professor zum anderen: Heidegger sei kein Nationalsozialist, sondern ein „ewiger Revolutionär“, der, nachdem der Nationalsozialismus seine „revolutionäre Phase“ hinter sich gebracht und „geordnete Verhältnisse“ geschaffen habe, sich vom Nationalsozialismus abwenden und irgendeiner anderen radikalen Bewegung zuwenden werde. In etwa hat er da Recht behalten (wobei die neue radikale Bewegung dann der Geist Hölderlins war). Was aber gespenstisch ist, ist, dass Heidegger im Nationalsozialismus kaum ein moralisches und menschliches Problem gesehen hat. Im Krieg schreibt er sich ins Schwarze Heft: Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volker zu opfern (ebenda S.262), bringt es also buchstäblich fertig, Opfer und Täter umzukehren, und die Wahrheit und das Leiden und die Gewalt, das Verbrecherische am Nationalsozialismus nicht zu sehen (wenngleich es sich auch hierbei wieder um eine vereinzelte Bemerkung handelt: nach dem Krieg, und bis zu seinem Lebensende scheint ihn all das menschlich aber eben auch nichts anzugehen). Tatsächlich: Heidegger strebte eine Metaphysik an, die nicht humanistisch ist, und in der nicht der Mensch im Zentrum steht, sondern das Sein; und es gibt keine ethischen Sätze in ihr. Und so exemplifiziert sich an der nationalsozialistischen Episode seine Sicht auf und sein Empfinden von der Welt tatsächlich als menschen- und moralisch leer. Es erscheint also insgesamt nicht so rätselhaft, dass Heidegger und der Nationalsozialismus sich begegnet sind. Es ist auch nicht so rätselhaft, dass sie wieder voneinander gegangen sind. Die Begegnung ist eine Kreuzung, Heidegger und der Nationalsozialismus überkreuzen sich kurz, laufen dann aber auseinander. Vor allem aber ist Heidegger kein Faschist, Gewaltmensch oder Mörder. Sein Antisemitismus steht auch damit im Zusammenhang, dass er allein die alten Griechen und die Deutschen als „authentische“ Völker wahrgenommen hat. Heideggers Grundmotiv ist es, das Seiende ins Offene zu bringen, seine Grundhaltung die einer radikalen Offenheit für das Sein – und Offenheit ist dem Faschisten ein Gräuel. Vor allem hat Heidegger mit seiner eigenen die Philosophie nicht in eine Irre gebracht. Ein Paradephilosoph für Reaktionäre oder Faschisten ist er nicht geworden, eher waren es Fortschrittliche, Subversive und Ikonoklasten, die sich seiner annahmen.

Hölderlin, der Größte der Deutschen… (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.114) wird, nachdem er sich von Hitler abwendet, zur neuen Führungsfigur für Heidegger (oder aber: die Begegnung mit Hölderlin hilft Heidegger, sich von Hitler abzuwenden…?). Auch bei Hölderlin geht es um die Erneuerung eines Volkes, um das Setzen eines neuen, originären Anfangs; als Idol fungieren ebenfalls die alten Griechen. Hölderlin will neu gründen, Hölderlin will neu dichten: (I)ndem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit. Es ist die Zeit der entflohenen Götter u n d des kommenden Gottes. Das ist die d ü r f t i g e Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.47) Hölderlin ist der Konstatierer einer Abwesenheit des Göttlichen (bzw. einer „Seinsvergessenheit“) in der Gegenwart und der Utopist einer Wiederkunft des Göttlichen als der Herstellung einer neuen Gemeinschaft, eines neuen Bundes zwischen den Menschen und des Menschen zum Sein; einer Art göttlichen Übermenschlichkeit, die das Geviert beherrscht (indem es das Geviert ist): Wenngleich die Einheit des Ganzen von Erde und Himmel, Gott und Mensch … ungesagt bleibt, wir sehen schon dies eine deutlicher: Erde und Himmel und ihr Bezug gehören in ein reicheres Verhältnis. (ebenda S.162) In diesem – ihrem wesentlichsten – Bestreben treffen sich also Heidegger und Hölderlin. Beide sind besinnlich, beschwörend, bohrend, einkreisend. Sie stürzen sind in die Gesamtheit des Geistes und in die Gesamtheit des im Geist erscheinenden und des den Geist gebärenden Seins. Hölderlin ist ähnlich monomanisch wie Heidegger; und das aus gutem Grund (da er über die Gesamtheit der Themen dichtet und sinnt): Werden wir jetzt noch meinen, Hölderlin sei verstrickt in eine leere und übersteigerte Selbstbespiegelung aus dem Mangel an Weltfülle? Oder erkennen wir, daß dieser Dichter in den Grund und in die Mitte des Seins dichterisch hinausdenkt aus einem Übermaß des Andrangs? (ebenda S.47) Ist er monomanisch, weil er aus seiner Position heraus die Allgegenwart der Welt wahrnimmt? Ja, das kann man wohl so sehen. Diese Einheit der Allgegenwart ist das Entrückende. Die allgegenwärtige Natur berückt und entrückt. Das Zumal der Berückung und Entrückung ist aber das Wesen des Schönen (…) Die Schönheit ist die Allgegenwart (…) (D)er Gott vermag doch den höchsten Schein des Schönen und kommt so dem reinen Erscheinen der Allgegenwart am nächsten. (ebenda S.54) Hölderlins Dichtung als die vollständigste Dichtung, als die beseelteste Dichtung, ist zugleich Meta-Dichtung: Was sie zum Ausdruck bringen will, sind letztendlich nicht Eindrücke, sondern den Geist, das Wesen der Dichtung selbst. Der Dichter Hölderlin ist von der Schöpfung begeistert und dichtet aus einer fortwährenden Begeisterung heraus und sich in fortwährende Begeisterung hinein: da er es unmittelbar aus dem poetischen Geist heraus tut, zu dem er singulären Zugang hat. Die Natur be-geistert alles als die allgegenwärtige, allerschaffende. Sie ist selbst „die Begeisterung“. Be-geistern kann sie nur, weil sie „der Geist“ ist (…) Der Geist ist die einigende Einheit. Sie läßt das Zusammen alles Wirklichen in seiner Versammlung erscheinen. (S.60) „Begeistert ist, wer Geist hat“ (Paul Häberlin) Er sieht also die Versammlung, da er das Offene sieht, in dem Versammlung möglich ist, das zur Versammlung einlädt, das Versammlung erfordert – und das ist es auch, was der Geist tut: er versammelt. In seiner reinsten Ausprägung ist er Lichtung, auf der Versammlung stattfindet. Diese Lichtung etabliert Hölderlins Dichtung, und so ist Heidegger naturgemäß von ihr be-geistert. Der Dichter versammelt die Welt in ein Sagen, dessen Wert ein mild-verhaltenes Scheinen bleibt, worin die Welt so erscheint, als werde sie zum erstenmal erblickt. (Hebel – Der Hausfreund S.25) Die Dichtung Hölderlins ist von einer solchen Primordialität. Insofern Hölderlins Dichtung Geist ist bzw. eine Schöpfung aus dem dichterischen Geist heraus, hat sie jene eigentümliche Dimensionalität, die sonst kaum eine Dichtung aufweist. Sie ist von einem Schein der Unbestimmtheit umgeben, bzw. erscheint in einem solchen, aus einem solchen heraus – denn sie zeigt damit gleichzeitig das sich entziehende Medium auf, in dem sie und aus dem heraus sie erscheint: den poetischen Geist, das poetische Vermögen (das heißt also: das Vermögen zur schöpferischen Entbergung), dessen zeichenhafte Erscheinung sie ist. „Ein Zeichen sind wir, deutungslos…“ (Hölderlin) … Die Kunst ist als das zeigende Erscheinenlassen des Unsichtbaren die höchste Art des Zeichens. (ebenda S.162) Das Wesen des Zeichens ist die entbergende Verbergung. (Heraklit S.179) Diese entbergenden Qualitäten erreicht Hölderlins Dichtung auch durch ihre wechselseitige Spiegelung der Urqualitäten Statik und Dynamik: seine frostige, klirrende, klassische Sprache mit romantischem Inhalt; Klarheit, die mit Unklarheit gekreuzt wird; seine Philosophie vom „Harmonischentgegengesetzten“ (das allein Vollständigkeit ermöglicht); die Welt, die er aufzeigt, hinter der/in der immer auch noch eine andere Welt zu erscheinen scheint… Das ist das Wabern, das Leuchten, das Sein des Seins, in dem das Seiende erscheint, als etwas Kosmisches, als etwas Chaotisches… Allein die Natur ist doch „aus heiligem Chaos gezeuget“. Wie gehen „Chaos“ und „Nomos“ („Gesetz“) zusammen? „Chaos“ bedeutet uns doch das Gesetzlose und Wirre (…) Deshalb nennt Hölderlin das „Chaos“ und die „Wirrnis“ „heilig“. Das Chaos ist das Heilige selbst. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.62f.) Bei Heidegger fehlt dieses Chaos, dieser Zugang zum „Irrationalen“, in seinen Möglichkeiten, sich auszudrücken. Er strebt freilich danach (und so ist es denn kein Wunder, wenn seine Philosophie in ihrem monomanischen Streben an und für sich selbst irrational wird bzw. keine rationale Grundlage für einen Umgang mit der Welt mehr bilden kann (daher also Heideggers „Ahnungslosigkeit“ und sein „Unverständnis“ von Politik…)). Das letzte Prinzip der Welt, und warum es Seiendes im reinen Sein gibt, ist das von Nomos und Chaos, dem Zusammenspiel von Ordnung und Zufall, der Chaosmos. Hölderlin ist Dichter des Chaosmos und gewährt mit seiner Dichtung Einblicke und Anschauungsformen vom Chaosmos. Wer Nomos und Chaos gleichermaßen bändigt und gegeneinander abwägt, beherrscht das Geviert und ist am vollständigsten im Sein, am vollständigsten ein Sein. Heidegger war vielleicht zu sehr Nomos, Hölderlin zu sehr Chaos. Der Chaosmotiker durchbricht die Hyle der Dinge und rammt den Speer in den Urgrund, das Artusschwert in das Sein: Wer, außer der reine, starke Held vermag es herauszuziehen? Er rammt einen Signifikanten in das Offene und macht so die Erscheinungen im Offenen deutbar. „Äther“ und „Abgrund“ nennen zumal die äußersten Bezirke des Wirklichen, aber auch die höchsten Gottheiten (…) Das Offene vermittelt die Bezüge zwischen allem Wirklichen. (ebenda S.61) Hölderlins Dichtung hat etwas Absolutes und Endgültiges. Das deswegen, weil sie zu den „letzten Dingen“, den Transzendentalien, tatsächlich gelangt ist; Transzendentalpoesie ist. Daher die ständige Anwesenheit und Abwesenheit Gottes. Das ist die Dynamik der Welt und des Geistes, der sie erkennt und der schöpferisch in sie eingreift. In der jeweiligen Gegenwart, der „dürftigen Zeit“, ist das Göttliche immer „abwesend“, da er brütend schafft und umwälzt, mit unklarem Ausgang. Als Vermögen ist das Göttliche immer (virtuell) anwesend. Was heißt Denken? Nun ja, das heißt Denken.

Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschickes zum Leuchten. (Die Technik und die Kehre S.34) Die Kunst ist ein menschliches Existenzial. Sie ist die Entfaltung der artistischen Fähigkeiten des Menschen sowie seiner metaphysischen Fähigkeiten und der zu seiner Transzendenz. Jetzt ist der Status der Kunst und des Künstlers an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in der Welt (scheinbar) recht unterschiedlich, aber es macht Sinn, sie als Erscheinungsform des absoluten Geistes (nach Hegel) aufzufassen: Mit der Kunst will der Mensch (höhere) Wahrheit feststellen oder sie ausdrücken, höhere Wahrheit (als solche) glorifizieren. Sie ist ein investigatives und tranzendierendes Unternehmen. Mithilfe ihrer will der Mensch die Wahrheit seiner subjektiven Eingelassenheit in eine objektive Welt feststellen und zum Ausdruck bringen. „Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit“, so Nietzsche in Rekurs auf Schopenhauer. Und auch bei Heidegger ist die Kunst ein Wahrheits-entbergendes Unternehmen:  Das Wesen der Kunst, worin das Kunstwerk und der Künstler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.59) Das Kunstwerk eröffnet in seiner Weise das Sein des Seienden. Im Werk geschieht diese Eröffnung, d.h. das Entbergen, d.h. die Wahrheit des Seienden. Im Kunstwerk hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. Die Kunst ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Was ist die Wahrheit selbst, daß sie sich zu Zeiten als Kunst ereignet? Was ist dieses Sich-ins-Werk-Setzen? (ebenda S.28) Das ist, in einem gewissen Sinne, wandelbar; das große Kunstwerk bringt die Wahrheit eines Zeitalters zum Ausdruck; und je größer es ist, desto mehr scheinen darin Wahrheiten über alle Zeitalter auf: um gleichzeitig wieder verrätselt zu werden, aus einem dunklen Abgrund scheinen die Wahrheiten hervorzutreten, um auch wieder potenziell in ihn zurückzufallen. Abermals ist es die Sache der Kunst eine der Entbergung von Wahrheit: Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Wahrheit ist also Entringung jeweils in der Weise der Entbergung. (Platons Lehre von der Wahrheit S.25) Das Kunstwerk ist ein subjektiver Ausdruck einer objektiven Wahrheit. Es ist der Ausdruck eines Subjekts, das sich einen privilegierten Zugang zum Objektiven verschafft hat und auf überraschende Weise das scheinbar innere, tatsächliche Wesen dieses Objektiven (heißt in dem Zusammenhang: seine Wahrheit) zu erschauen imstande ist und uns ebendies im Kunstwerk mitteilt. Das Kunstwerk ist so eine Epiphanie dieser tieferen objektiven Wahrheit, die (vielleicht nur) subjektiv erschaut wird (bzw. die vielleicht nur in der subjektiv-menschlichen Anschauung Sinn macht oder Referenz hat). Um dorthin zu gelangen, muss die Künstlerin, neben genuin künstlerischen Fähigkeiten, in der Lage sein, Konkretes und Individuelles zu abstrahieren und zu verallgemeinern, wie dann wieder diese Verallgemeinerungen zu konkretisieren und, vor allem, zu individualisieren (und eben in Form von ganz konkreten Individualitäten auszudrücken). Die Künstlerin muss, um zu solchen Antworten zu gelangen, also abermals, wie die Philosophin, tief ins Fragen verstrickt sein. Bist du ein Fragender? Einer aus dem Geschlecht jener, die nicht taumeln und süchtig sind nach Neuem, jener die im Ab-grund den Grund wissen und fester stehen als alle nur Überzeugten? … Diese Fragenden setzen den neuen Rang der Zugehörigkeit zum Seyn. Ihr Bund – ihnen selbst verborgen – kennt nicht die Zahl, bedarf keiner Einrichtung und Bestätigung. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.285) Heideggers Vertiefungen und sein vertieftes Fragen nach den Möglichkeiten der Kunst geschehen dabei übrigens im Zusammenhang mit seiner zunehmender Sorge über eine andere Möglichkeit – eine Aktualität! – des dem Menschen gewährten Entbergens in der jüngsten Zeit des abendländischen Geschickes: der Herrschaft der Technik, des Ge-stells. Ge-stell bedeutet nicht Technik, sondern ein neues Verhältnis zum Entbergen von Wahrheit. Mithilfe des technischen „Stellens“ von Artefakten schafft der Mensch neue Wahrheiten und neue Weisen und Entbergungen seines In-der-Welt-seins: die Herrschaft des Ge-stells bedeutet, dass dieses technische und technologische Stellen zum privilegierten Modus des dem Menschen gewährten Entbergens wird bzw. überhaupt zu einer Heteronomie, die anonym über ihn herrscht und die er nicht mehr begreift noch kontrolliert (wie freilich vormals die Religion). Wir nennen jetzt jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen – das Ge-stell. (Die Technik und die Kehre S.19) … Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist. (S.20) Insofern das Ge-stell zum privilegierten Modus des dem Menschen gewährten Entbergens wird, degradiert es alle anderen Modi: Die Herrschaft des Ge-stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren. (ebenda S.28) So verbirgt denn das herausfordernde Ge-stell nicht nur eine vormalige Weise des Entbergens, das Her-vor-bringen, sondern es verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d.h. Wahrheit ereignet. Das Ge-stell verstellt das Scheinen und Walten der Wahrheit. (ebenda S.27) Heidegger ist pessimistisch über die Möglichkeiten der Philosophie, sich als privilegierter Modus des Entbergens von Wahrheit unter solchen Umständen zu behaupten: Die Ausfaltung der Philosophie in die eigenständigen, unter sich jedoch immer entschiedener kommunizierenden Wissenschaften ist die legitime Vollendung der Philosophie. Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit aber ist ihr kybernetischer, d.h. technischer Charakter. Vermutlich stirbt das Bedürfnis, nach der modernen Technik zu fragen, im gleichen Maße ab, in dem die Technik die Erscheinungen des Weltganzen und die Stellung des Menschen in diesem entschiedener prägt und lenkt. (Zur Sache des Denkens S.64) Ja, er sieht die Gefahr, dass die Herrschaft des Ge-stells den ganz primären Modus des Entbergens von Wahrheit: des Fragens unter sich verschütt gehen lässt. Seine Hoffnung, dass der Mensch im Zeitalter der Herrschaft des Ge-stells zu Autonomie und „Jemeinigkeit“ in den Möglichkeiten des Entbergens von Wahrheit und dadurch zu Authentizität gelangt, setzt er daher in seiner späteren Philosophie in die Kunst. Diese hat, als moderne Kunst, in den 1950er und 1960er Jahren tatsächlich einen ihrer Höhepunkte. Um dann aber bekanntlich in etwa ab dem Zeitpunkt von Heideggers Tod an irgendwie ihren Biss zu verlieren. Das „Irgendwie“ ist wohl nicht so schwer zu bestimmen: Ob die Kunst diese höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist, vermag niemand zu wissen. … Freilich (kann sie das) nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen. (Die Technik und die Kehre S.35) Kunst ist entbergend und metaphysisch, eine Anstrengung, die man unternimmt, um auf was Neues,  Bahnbrechendes oder Tiefsinniges draufzukommen. So sahen die Künstlerinnen der Moderne das auch im Wesentlichen. Aus irgendeinem Grund ist das in etwa seit dem Tod Heideggers als Selbstverständnis von Künstlern nicht mehr verbreitet. Und so ist man mit einer Gegenwartskunst konfrontiert, die nicht metaphysisch ist, gedankenlos scheint und ohne scheinbar eigentlichen künstlerischen Anspruch. Das „Warum“, wonach das so ist, bleibt, trotz allen möglichen multikausalen Erklärungsmöglichkeiten rätselhaft. Die Möglichkeiten, auf was Neues oder Bahnbrechendes in der Kunst draufzukommen, sind so vielleicht nicht mehr da, da zu viel Neues und Bahnbrechendes in der künstlerischen Moderne bereits passiert ist. Tiefsinn sollte aber immer möglich sein. Er wird nur scheinbar nicht gesucht. Aber verzage man deswegen nicht: Das große Wesen des Menschen denken wir dahin, daß es dem Wesen des Seins zugehört, von diesem gebraucht ist, das Wesen des Seins in seine Wahrheit zu wahren. (ebenda S.39) Lichtungen sind selten im Wald. Vielleicht sind es heute auch derer zu viele, da zu viel Wald geschlägert wird, aufgrund der Herrschaft des Ge-stells, das eine viel potentere Wahrheit und ein viel potenterer Modus der Entbergung von Wahrheit ist als zum Beispiel die an und für sich schwache Kunst. Aufgrund der Vielzahl von Lichtungen kommt es also auf Lichtungen durch die Kunst nicht mehr an. Oder aber: als Geschäft hat die Kunst, inmitten einer kunstunsinnigen und materialistischen Menschheit zu ihrer eigentlichen Wahrheit, zur Lichtung ihres Wesens gefunden, und versucht daher auch gar nicht mehr zu sein, als eben Geschäft. Aber dennoch bleibt der Mensch ein transzendentes, ek-sistierendes Wesen, und so bleibt auch der transzendierende, ek-sistierende Anspruch der Kunst, die entscheidende Beiträge zur Öffnung, zur Entbergung und zur Lichtung leistet und leisten wird. Das Werk hält das Offene der Welt offen. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.34)

Das Dunkel liegt nicht in der unklaren Ausdrucksweise Heraklits, sondern in der „Philosophie“ selbst, weil sie in einer Weise denkt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht vertraut und deshalb für ihn jederzeit schwierig ist. (Heraklit S.29) Schopenhauer würde dagegen teilweise protestieren: Die höchste Logik und die höchste Wahrheit stellt sich dar in der höchsten Einfachheit und der höchsten Klarheit. Einfachheit ist die höchste Form der Vollendung, sagt einer, der es ja wissen muss: Leonardo da Vinci. Eine Eigentümlichkeit Heideggers liegt darin, dass er von Schopenhauer gar nicht viel hält; ihm sogar abspricht, ein echter Philosoph zu sein (sondern eher ein philosophierender Schriftsteller). Seine Polemiken gegen andere Philosophen, vor allem gegen Hegel, Fichte und Schelling – das Dreigestirn des Deutschen Idealismus –, verargt er ihm und meint überhaupt, dass Schopenhauer – neben seiner neidischen Befindlichkeit – nicht einmal in der Lage gewesen sei, die Raffinessen des deutschen Idealismus zu durchschauen. Naja. Schopenhauer zu lesen sollte bedeuten, zu sehen, dass man es hier mit einem gründlicheren, tiefer im Grund verankerten Geist zu tun hat, als beispielsweise Fichte (oder eben auch Schelling oder Hegel). Schopenhauers Sprache ist die eines Geistes, der vollständig in sich selbst gegründet, in sich zur Ruhe gekommen, mit sich selbst identisch ist. Bei Fichte merke ich ein nervöses Herumlaufen; bei Hegel — Eigenartig vor allem ist, da Schopenhauer ja gerade das einlöst, was Heidegger stets einfordert: Eine Philosophie, die nicht humanistisch ist, indem sie nicht den Menschen ins Zentrum stellt, sondern das Sein an sich. Schopenhauer erklärt ja, was das Sein ist: Ein blinder, egoistischer und sich ins eigene Fleisch schneidender Wille, den der Mensch, als Ausdruck dieses Willens, allerdings mithilfe seiner Vorstellungskraft in der Lage ist zu durchschauen und zu überwinden, und so in einem höheren, transzendenten Sein schließlich zur Ruhe zu kommen. Voraussetzung dafür ist moralische Einsicht. Im ekstatischen Mitleidenkönnen liegt die eigentliche eks-tatische Möglichkeit des Menschen bzw. des Seins an sich. Aber diese moralische Einsicht und ekstatisches Mitleidenkönnen haben, so scheint es ein weiteres Mal, bei Heidegger eben gefehlt bzw. waren keine Wurzeln seines Antriebes. So hat er, scheinbar konsequentermaßen, auch Schopenhauer verfehlt, obwohl Schopenhauer die konsequente Forderung von Heideggers Philosophie einlöst. Dass die wahre Philosophie trotzdem dunkel und schwierig ist, weniger wegen ihres mehr oder weniger klaren Ausdrucks, sondern weil sie in einer Weise denkt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht vertraut und deshalb für ihn jederzeit schwierig ist, wird Schopenhauer sehr wohl unterschrieben haben. Er hat es ja an eigenem Leib erfahren. Heidegger gilt als dunkler und schwieriger Autor, geradezu als ein Mysterium. Zumindest wenn man eine gewisse Vertrautheit zur Philosophie hat, kann man das wohl nicht bestätigen. Sein Ausdruck hat nicht die anschauliche, ergreifende Plastizität von Schopenhauer, aber doch Intensität gepaart mit Unmittelbarkeit genug. Es ist eine klare und einfache, gleichzeitig charismatische und soghaft wirkende Sprache. Sie ist mysteriös, weil sie um das Mysterium des Seins kreist. In diesem Kreisen ist sie aber einfach und klar, und ihre Ausdrücke sind hilfreich. Man meint vielleicht, Heideggers selbstgeschaffene Terminologie sei dümmlich und steif, tatsächlich ist sie aber unmittelbar innerlich erlebt und, wenn man sich umschaut, scheint es kaum eine bessere zu geben. Wie Schopenhauer hat auch Heidegger gedichtet. Schopenhauers Dichtung ist nicht so gut wie seine Prosa, und er sieht auch ein, dass er kein Dichter ist. Heideggers Dichtung ist ebenfalls so gut nicht wie seine Prosa (die wiederum nicht so gut ist wie die von Schopenhauer). Heideggers Dichtung ist geistiges Konzentrat. Als Dichter kommt er beinahe aus dem Fernen Osten. – Im Schopenhauerschen Mitleidenkönnen hat man das Ekstatische, Ek-sistierende, nach dem Heidegger sucht. Indem er mit-leidet, löst der im principium individuationis gefangene Mensch seine Ich-Grenzen auf, und erweitert sich zu den Grenzen der Welt, der grenzenlosen Grenze des Seins und somit überwindet er das Sein. Damit wird der Mensch in höchstem Grade zu einem eigenen Sein. In jedem Menschen liegt diese Möglichkeit. Jeder Mensch, jedes Lebewesen, jedes Objekt der Schöpfung ist eigentlich immer schon – kein Seiendes, sondern – ein Sein. Sodass sich die Seinsfrage so gar nicht stellt. Ich, du, wir sind jeweils ein Sein. Allerdings ist dazu eventuell eine spirituelle Sichtweise auf sich und andere notwendig. Man muss erst die Seinsfrage durchquert haben – wie Schopenhauer – um sich wahrhaft – nicht bloß als Seiendes, sondern – als Sein zu begreifen. Inwieweit stellt sich dann noch – die Seinsfrage?

Der Grund der Ideen und ihrer Einheit, d.h. der Grund des Systems ist dunkel. Der Weg zum System ist nicht gesichert. Die Wahrheit des Systems ist fraglich. Und doch – die Forderung des Systems ist unumgänglich. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.53f.) Die Forderung nach dem philosophischen System stellt sich immer wieder neu. Da der Mensch ein philosophierendes Wesen ist, und Philosophie jene Art von Fragen, in der sich der Mensch seiner Subjektivität in einer objektiven Welt gegenwärtig zu machen versucht. Die triumphale Erforschung der objektiven Welt durch die Wissenschaften scheint die anderen Erscheinungsformen des Geistes: Kunst, Religion und Philosophie in der jüngeren Neuzeit auf hintere Plätze zu verweisen. Heidegger war ein Philosoph, der in einem solchen Zeitalter der triumphierenden Wissenschaften gelebt hat, und der versucht hat, die Philosophie (und die Kunst) zu retten. „Die Wüste wächst“ sagte Nietzsche vor fast 70 Jahren. Er fügte hinzu: „weh dem, der Wüsten birgt“. (Was heißt Denken? S.12). Mit Nietzsche kritisiert Heidegger die metaphysische Wüstenhaftigkeit und Obdachlosigkeit des Zeitalters. Gleich Nietzsche schießt er über sein Ziel hinaus. Gleich Nietzsche verschätzt er sich dann doch (ein wenig) in seinen Prophezeiungen, die Wissenschaften würden die Welt vollständig „entzaubern“ und Philosophie, Kunst und Religion schlechthin obsolet machen. Gleich Nietzsche ist er wissenschaftlich ein wenig borniert (allerdings nicht so sehr, wie man das vielleicht glauben mag). Allerdings respektiert Heidegger natürlich die Wissenschaften. Sie seien allerdings eben eine andere Art zu fragen und denken, als die Philosophie. Die Philosophie und die Wissenschaften seien unterschiedliche Systeme, auch wenn sie sich natürlich (z.B. über die Geisteswissenschaften: also eben die Wissenschaften vom menschlichen Geist und seiner Erzeugnisse) auch überlappen. Zwischen der Philosophie und den Wissenschaften gebe es einen „Sprung“ zu vollziehen. Die Wissenschaft denkt nicht … Das ist ein anstößiger Satz … Diese Weise ist allerdings nur dann eine echte und in der Folge eine fruchtbare, wenn die Kluft sichtbar gemacht worden ist, die zwischen dem Denken und den Wissenschaften besteht, und zwar besteht als eine unüberbrückbare. Es gibt hier keine Brücke, sondern nur den Sprung. (ebenda S.4) Das ist vielleicht etwas dramatisch. Was aber Heidegger tut: Er versucht, den Status der Philosophie, in ihrer Urtümlichkeit, zu bestimmen. Wie Heidegger zu denken, wie Heidegger zu fragen, ist wie eine Philosophin zu fragen. Wenn man Heidegger aus dem Fenster wirft, wirft man die Philosophie gleich mit. Darin gründet sich die Solidität Heideggers, und seines philosophischen Systems bzw. seiner philosophischen Systematik. Das System allein verbürgt ja die innere Einheit des Wissens, seine Wissenschaftlichkeit und Wahrheit. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.50) Heideggers philosophisches System ist eine „Wissenschaft“ vom Sein im Ganzen. Dieses ungegenständliche Wissen des Seienden im Ganzen weiß sich jetzt als das eigentliche und schlechthinnige Wissen. Was es wissen will, ist nichts anderes als das Gefüge des Seyns, das nun nicht mehr als ein Gegenstand irgendwo dem Wissen gegenübersteht, sondern das im Wissen selbst wird, welches Werden zu sich selbst das absolute Seyn ist. (ebenda S.55) Wie erlebt man das Seiende im Ganzen oder eben das Gefüge des Seyns, das absolute Seyn? Als etwas ewig Verborgenes und sich ständig Entbergendes: in dieser Doppeltheit. Das Wesen des Zeichens ist die entbergende Verbergung. (Heraklit S.179) Das Wahre ist das Ungesagte, das nur im streng und gemäß Gesagten das Ungesagte bleibt, das es ist. (S.180) Wisse denn: Die Wahrheit ist geheimnis- und ahnungsvoll; wer in der Wahrheit lebt, haust am Geheimnis, könnte man mit Heidegger sagen. Das ewig Wahre und das ewige Geheimnis ist dort, wo sich der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring des Seins so schließt. Der Wahrheitssucher ist zurückhaltend und nachdenklich, er versucht zu spüren: die Tiefengestaffeltheit des Seins; die Schichten des Seienden hinter den Schichten des Seienden; das Experimentierfeld der Möglichkeiten des Seienden in der Virtualität des Seins; die Unendlichkeit des Seins, die sich in einer fraktalen Struktur zeigt. In dieser fraktalen Struktur zeigt sich die Allgegenwart des Seins, in ihrer paradoxen Einheit. Diese Einheit der Allgegenwart ist das Entrückende. Die allgegenwärtige Natur berückt und entrückt. Das Zumal der Berückung und Entrückung ist aber das Wesen des Schönen (…) Die Schönheit ist die Allgegenwart (…) (D)er Gott vermag doch den höchsten Schein des Schönen und kommt so dem reinen Erscheinen der Allgegenwart am nächsten. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.54) Das Schöne ist das Hervorscheinende (des Seins), gleichzeitig das Entrückteste. Damit ist das Schöne gleichsam über-sinnlich, und damit ähnlich der Wahrheit und der Logik, ein der Subjektivität übergeordneter Wert. (vgl. Nietzsche 1. Band S.199–204) Die Wahrheitssucherin wird dieser Allgegenwart und Schönheit des Seins – und des Seienden im Sein – gewahr. Die Wahrheitssucherin wird sich des Absoluten gewahr. Dieses Ganze des Seyns ist verhältnislos zu anderem, nicht relativ, und in diesem Sinne schlechthin abgelöst von jeglichem anderen, herausgelöst aus Relationen, weil es solches gar nicht zulässt. Abgelöst sein heißt das Ab-solute. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.52) Wer, was, also kann dem Ganzen des Seyns entsprechen, dem Absoluten? Der absolute Geist in der absoluten Form. Der absolute Geist in der absoluten Form versammelt alle Erscheinungsformen des Geistes – Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion – und synthetisiert sie; die Rede des absoluten Geistes in der absoluten Form ist Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion in einem. Er ist qualitativ verschieden von allem relativen Geist. Aber der absolute Geist in der absoluten Form ist ein Leitbild für den Geist und für den Menschen in der Zukunft. Daher ist er so wichtig, und wichtig ist es – wenn man dabei sein will – sich mit dem absoluten Geist in der absoluten Form schon heute vertraut zu machen. Der absolute Geist in der absoluten Form überwindet das heutige Seinsverständnis, hin in eine neue Totalität. Das Sein selbst überwinden wollen hieße (aber), das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben. (Nietzsche 2. Band S.330) Heidegger will gleichsam, in seinem Apell zum Verständnis des Seins und seiner Ablehnung des Humanismus neue Möglichkeiten im Menschen entdecken – die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz … gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt… Heidegger ist eine Art Transhumanist. Er ruft einen neuen Menschen aus, der sich mit dem Sein in ein intensiveres Verhältnis setzt, die Allgegenwart des Seienden und des Seins spürt; der, wie man sagen kann, das Geviert beherrscht: einen nietzscheanischen Übermenschen. Der Über-Mensch ist derjenige, der das Wesen des bisherigen Menschen erst in seine Wahrheit überführt und diese übernimmt. Der so in seinem Wesen festgestellte bisherige Mensch soll dadurch in den Stand gebracht werden, künftig der Herr der Erde zu sein… (Was heißt Denken? S.26) „Der Übermensch“ ist der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens. (Nietzsche 1. Band S.224) Das Reich des Seienden ist ein Reich von bisweilen schroffen Gegensätzen, Inkommensurabilitäten und Animositäten. Der große Stil glättet das Reich des Seienden hin in das Reich des ebenen und ideell pazifizierten Seins. Wahrhaft groß ist daher nur jenes, was seinen schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich und niederhält, sondern ihn in sich verwandelt hat, aber gleichzeitig ihn so verwandelt, daß er nicht verschwindet, sondern zur Wesensentfaltung kommt (…) Das eigentliche Wesen der Kunst ist im großen Stil vorgezeichnet. Dieser weist aber hinsichtlich seiner eigenen Wesenseinheit in eine ursprünglich sich gestaltende Einheit des Aktiven und Reaktiven, des Seins und des Werdens (…) Die dem großen Stil eigene Fügung des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen sein. Der Wille zur Macht ist aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben, in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt nennt. (ebenda S. 137f.) Dieser Übermensch und große Stil sind Telos der Ek-sistenz des Menschen. Die Grundlage dieser Ek-sistenz ist die Freiheit des Menschen, aus der heraus er seine Möglichkeiten wählt. Die Freiheit ist der Grund des Grundes … Als dieser Grund aber ist die Freiheit der Ab-grund des Daseins. Nicht als sei die einzelne freie Verhaltung grundlos, sondern die Freiheit stellt in ihrem Wesen als Transzendenz das Dasein als Seinkönnen in Möglichkeiten, die vor seiner endlichen Wahl, d.h. in seinem Schicksal, aufklaffen. (Vom Wesen des Grundes in Wegmarken S.174) Hinwiederum sind Sein und Grund wesentlich identisch. Sein und Grund „sind“ im Wesen das Selbe. (Der Satz vom Grund S.152) Am Ende stellt sich freilich heraus, dass das Sein aber „grundlos“ ist und „ein Spiel“.

Das „Weil“ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne „Warum“. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste.

Aber dieses „nur“ ist Alles, das Eine, Einzige.

Die Frage bleibt, ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels hörend, mitspielen und uns in das Spiel fügen. (ebenda S. 188)

Welt-Rad, das rollende

Streift Ziel auf Ziel:

Noth – nennt´s der Grollende

Der Narr nennt´s – Spiel…

Also sprach auch Zarathustra. Und weiter spricht er:

Welt-Spiel, das herrische

Mischt Sein und Schein: –

Das Ewig-Närrische

Mischt uns – hinein!

Still wendet sich das Seyn zur Bergung des Lichten, in das einst das noch verwahrte Einstige seine Huld verschenkt, um dem Menschenwesen die einzige Würde beginnlich zu schenken: das Wahrende der Wahrheit des Seyns zu werden. (Heraklit S.386f.)

Sommer 2021

Erwähnte Literatur von Heidegger:

Besinnung, Frankfurt/Main, Klostermann 1997

Der Satz vom Grund, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1957

Die Technik und die Kehre, Pfullingen, Verlag Günter Günther Neske 1962

Die Grundprobleme der Phänomenologie (Marburger Vorlesung Sommersemester 1927), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 1975

Einführung in die Metaphysik, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1953

Einführung in die phänomenologische Forschung (Marburger Vorlesung Wintersemester 1923/23), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 1994

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung Frankfurt/Main, Klostermann 1981

Hebel – Der Hausfreund, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1957

Heraklit, Frankfurt/Main, Klostermann 1979

Holzwege, Frankfurt/Main, Klostermann 1972

Nietzsche 1. Band/Gesamtausgabe Band 6.1, Frankfurt/Main 1996

Nietzsche 2. Band/Gesamtausgabe Band 6.2, Frankfurt/Main 1997

Identität und Differenz, Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 2006

Platons Lehre von der Wahrheit, Frankfurt/Main, Klostermann 1967

Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Tübingen, Max Niemeyer 1971

Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1993

Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann GmbH 2014

Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann GmbH 2014

Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, Verlag Günther Neske 1959

Was heißt Denken?, Tübingen, Max Niemeyer 1987

Was ist Metaphysik? (Antrittsvorlesung 24. Juli 1929), Frankfurt/Main, Klostermann 1969

Wegmarken; Frankfurt/Main, Klostermann 1996

Zur Sache des Denkens, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1969

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Günther Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1977