Toni Schmale/Gedanken zur Skulptur

Die Skulpturen von Toni Schmale, die derzeit gemeinsam mit denen von Bruno Gironcoli in der Albertina Modern ausgestellt sind, finde ich ganz gut. 

Dabei habe ich es noch immer nicht geschafft, etwas über die Skulptur (oder die Fotographie) an sich zu schreiben. 

Skulpturen haben ein nicht so großes metaphysisches Potenzial wie die Malerei und gelten ihr gegenüber als untergeordnete Kunstform. Tatsächlich ist man in der Malerei als Künstler über die leere Leinwand mit dem metaphysischen Abgrund der eigenen Imagination konfrontiert – ahnungsvolle, unauslotbare Tiefe. Bei der Skulptur stellt man hingegen halt was hin. Das muss auch gekonnt werden. Bei der Skulptur fehlt aber die Möglichkeit, dass man über die bloß vorhandenen noch scheinbar zusätzliche Dimensionen aufzeigt, in denen ein tieferer Sinn auferscheint. In der Skulptur hat man die Möglichkeit (so) nicht, eine Welt darzustellen, durch die noch eine andere Welt hindurchscheint.  Das ist das Charisma der großen Malerei, und der großen Kunst. 

Skulpturen schaffen aber die Möglichkeit, der Materie zu begegnen. Die Materie ist etwas physikalisches, nichts metaphysikalisches, was Plumperes. Aber die Materie erscheint in der Rätselhaftigkeit des Raumes. Skulpturen schaffen Möglichkeiten, der Materie in ihren unerwarteten Möglichkeiten zu begegnen. 

Es ist eine stille Versammlung, in die man mit der Skulptur tritt. Diese stille Versammlung erzeugt dann eine rätselhafte, metaphysische Stimmung. Man begegnet einer Welt, die zwar nicht metaphysisch dämmernd und hyperdimensional ist wie in der Malerei, sondern man trifft auf etwas sehr Konkretes.

In ihrer Konkretheit und in ihrer Direktheit ist die Skulptur eine schweigende Manifestation. Eine schweigende Manifestation hat im glücklichen Fall etwas von einer Epiphanie. Also, wenn man so will, der Erscheinung von etwas Höherdimensionalen in unserer niedrigeren Alltagsdimensionalität. Das ist dann der metaphysische Hauch der Skulptur. 

Die Skulpturen von Toni Schmale hauchen mich sogar metaphysischer an als die von Gironcoli. 

Bemerkungen zu Leibniz

Keine andere Philosophie hat die Bejahung der einzigen und selben Welt und eines unendlichen Unterschieds oder einer unendlichen Mannigfaltigkeit in dieser Welt weiter getrieben.

Gilles Deleuze

Leibniz bejaht die Welt und die Mannigfaltigkeit in der Welt, weil die leitende Vorstellung bei ihm die der Harmonie ist. Harmonie bedeutet in der Musik den wohltönenden Zusammenklang von Tönen. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Töne alle schön sind, ihr gleichzeitiges Auftreten im Ganzen ergibt den Einklang, den Zusammenklang. Leibniz soll auch eine eingehende Abhandlung über Musik verfasst haben, die aber verschollen ist. Die Musik des Zeitalters von Leibniz, des Barockzeitalters, wurde von Johann Sebastian Bach vollendet. Die Musik von Bach ist an geistiger Intensität, an geistiger Fähigkeit, Komplexität zu bewältigen, wohl nicht zu überbieten. Trotzdem erhebt die Komplexität ihr Gorgonenhaupt immer wieder und die Aufforderung, Komplexität zu bewältigen stellt sich immer wieder neu. Das Disharmonische wurde schon vor geraumer Zeit in die Musik eingeführt. Trotzdem haben auch disharmonische Kompositionen ein sinnvolles Ganzes zu ergeben, eben eine Komposition zu sein, oder zumindest auf einer (ordnenden) Inspiration zu beruhen. Wie kann man heute Einheit in der Vielheit, wie kann man Harmonie heute denken? Die so genannte Postmoderne gilt als Absage an das Einheitsdenken (das – und das auch nicht zu Unrecht – als vereinnahmend und totalitär zurückgewiesen wird). Allerdings versucht genau der („postmoderne“) Differenzphilosoph Deleuze Harmonie und Einheit in der Vielheit zu denken. Darauf beruht das hohe Charisma seines Denkens und seiner Sprache. Überhaupt ist das postmoderne Denken und seine Sprache von einer hohen ästhetischen Sogkraft, und daher, in seiner Buntheit, auch irgendwie, implizit, harmonisch. Auch wenn das postmoderne Differenzdenken wohl recht hat. Die Differenz – der tatsächlich mangelnde Einklang – zwischen individuellen Einheiten, ist sicherlich was Reales. Zu glauben, zwischen Lebewesen herrsche nur Einklang – oder ein Missklang, der aber ausgeräumt werden könne, wenn er denn herrscht – ist sicherlich zu romantisch. Ich kenne diesen Imperativ zum Denken der Vielheit in Einheit aber auch. Auch ich mag Harmonie und strebe sie an. Auch ich frage mich: wie kann man Vielheit und Einheit zusammendenken? Denn ich empfinde die Welt nicht als zusammenhangslos, sondern als (letztendlich irgendwie) harmonischen Zusammenhang, eventuell sogar Zusammenklang. Das Streben nach Harmonie und auch die Wahrnehmung von Harmonie liegt im eigenen Geist und im eigenen Gefühl. Jemand, der ohne musikalisches Gehör ist, wird die Harmonie als solche nicht wahrnehmen oder sie anders wahrnehmen. Harmonie ist, zu einem gewissen Grad, eine subjektive Halluzination. Das heißt aber nicht, dass ihr nichts Objektives entspricht. So ziehe ich denn einen großen Kreis und sage: Somit markiere ich hier die Arena, es ist die ganze Schöpfung, es ist das Universum; alles was sich darin aufhält, teilt dasselbe Schicksal und im Hinblick darauf ist alles darin einheitlich, auch wenn es in den anderen Aspekten noch so verschieden ist oder einander schädlich ist. Es herrscht ein gerüttelt Maß an – unhintergehbarem – Chaos im Universum. Die Perversion und der Zerfall ist Teil der Schöpfung. Aber es ist eben trotzdem ein Universum. Nach dem, was wir heute zu wissen scheinen, ist es sogar ein höchst erstaunliches Universum. Ein extrem feinabgestimmtes Universum. Würden die Naturkräfte nur ein klein wenig anders aufeinander abgestimmt sein oder wäre die Zahl der Dimensionen eine andere, würde alles im Universum auseinanderfliegen oder kollabieren. Dass unser Universum so ist, wie es ist, gilt als extrem unwahrscheinlich. Doch ist es so. In dem Sinn hat Leibniz Recht, und Gott hat scheinbar eine extrem unwahrscheinliche Wahl getroffen und ein Universum geschaffen das, in Bezug auf uns, harmonisch ist. Das Böse ist etwas, das nicht sein sollte (definiert Heidegger es). Doch dass es sein kann, ist eben der höheren Harmonie zu verdanken. Also sollten wir uns nicht so leichtfertig beschweren. Dass Existenz überhaupt möglich ist, dass Sein ist gegenüber dem Nichts, ist allein schon einmal ein Phänomen von hoher Qualität; dass neben gutem Sein auch schlechtes Sein da ist, hingegen ist von nachgeordneter Bedeutung diesbezüglich, ist ein Derivat. Wir halten fest an der außer Zweifel stehenden Lehre, die Zahl der ewig Verdammten sei unvergleichlich größer als die der Geretteten, und müssen trotzdem sagen, dass das Übel, verglichen mit dem Guten, fast wie ein Nichts erscheint, wenn man auf die wahre Größe des göttlichen Staates achtet. (Theodizee 19) Und: Die Glückseligkeit alles vernunftbegabten Geschöpfe ist eines der Ziele, nach denen (Gott) trachtet, aber sie ist nicht sein ganzes, ja nicht einmal sein höchstes Ziel. Aus diesem Grunde kann also das Unglück einiger dieser Kreaturen begleitweise und gleichsam als Folge anderer weit größerer Güter eintreten … Gott erzeugt so viel Vernunft und Erkenntnis in der Welt, wie sein Plan es zulässt. (Theodizee 119) Harmonie ist der wohltönende Zusammenklang von Tönen. Damit es Harmonie gibt, oder damit Harmonie auferscheint, sind aber eben einzelne Töne notwendig. In vielen Philosophien und Metaphysiken scheinen keine einzelnen Töne auf. Parmenides ist der erste Philosoph, der das Sein im Ganzen zu denken versucht. Es ist aber ein starres und einziges Sein. Bei seinem Antipoden Heraklit ist das Sein zwar dynamisch, aber nicht unbedingt harmonisch. Auch bei Leibnizens Zeitgenossen Spinoza – dem Leibniz offenbar intellektuell nicht wenig verdankt – hat man eine einzige Substanz und die Einzelwesen mehr oder weniger als Emanation dieser Substanz. Das ergibt dann einen gewissen Widerspruch – oder disharmonischen Misston – zwischen dem Postulat einer starren und notwendigen Entfaltung dieser Substanz und der Freiheit, die den Lebewesen doch zu eigen ist. Leibniz löst (so gesehen) den Misston auf, indem er die Substanz individualisiert. Diese individualisierten Substanzen sind dann autonom. Das System der prästabilisierten Harmonie ist am Besten geeignet, dieses Übel zu beseitigen. Denn es zeigt, dass es einfache, unausgedehnte Substanzen geben muss, die in der ganzen Natur verbreitet sind, dass die einzelnen Substanzen von allen anderen, nicht nur von Gott, unabhängig subsistieren und dass sie niemals ganz von organisierten Körpern getrennt sind. (Theodizee 10) Leibnizens Metaphysik geht von den Einzelwesen aus. Das sind bei ihm die so genannten Monaden. Die Monade, von der wir im Folgenden sprechen werden, ist nichts anderes als die einfache Substanz, welche in die Zusammengesetzten eingeht; einfach, das heißt ohne Teile. (Monadologie 1) Es sind diese Monaden die wahrhaften Atome der Natur und, kurz gesagt, die Elemente der Dinge. (Monadologie 3) Die Monaden sind kontingent, aber (als Substanzen) unzerstörbar. Als Substanzen, die kontingent sind, müssen sie daher notwendig von einem absoluten Grund zu Anbeginn der Zeit geschaffen worden sein: also von Gott. Obwohl sie Einzelwesen sind, tragen sie sozusagen den Plan der ganzen Schöpfung mit sich und in sich, sie sind lebendige Spiegel des ganzen Universums: Überdies ist jede Substanz gleichsam eine ganze Welt und wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Universums, das jede auf ihre Weise ausdrückt, etwa so, wie die eine und selbe Stadt nach unterschiedlichen Standorten des Betrachters verschiedenartig vorgestellt wird. Daher wird das Universum gewissermaßen so viele Male vervielfältigt, wie es Substanzen gibt, und die Ehre Gottes wird allen diesen so völlig verschiedenen Vorstellungen seines Werkes entsprechend vermehrt. Man kann sogar sagen, dass jede Substanz in irgendeiner Weise das Merkmal der unendlichen Weisheit und der Allmacht Gottes trägt und ihn nachahmt, soweit sie es vermag. Denn sie drückt, wenn auch undeutlich, alles das aus, was im Universum geschieht, Vergangenes, Gegenwart und Zukunft, was eine gewisse Ähnlichkeit mit einer unendlichen Perzeption oder Erkenntnis hat, und da alle anderen Substanzen diese wiederum ausdrücken und sich ihr anpassen, so lässt sich sagen, dass sie, in Nachahmung der Allmacht des Schöpfers, ihre Macht auf alle anderen Substanzen ausdehnt. (Metaphysische Abhandlung 9) Es erscheint sehr anmutig und versöhnlich, dass alle Monaden, und dass auch die Monade, die ich bin, lebendige Spiegel des ganzen Universums sind – und ein Universum in sich sind; überdies Abglanz einer großen Vollkommenheit. Auch wenn Leibniz seine Metaphysik auf rationalen Schlussfolgerungen aufzubauen sucht, kommt sie hierin einer mystischen Schau und Zuständen einer mystischen Erleuchtung recht nahe. Das ist nicht unbedingt was Schlechtes. Metaphysik versucht ja, Sinn zu machen und unseren Sinn in einem unerklärlichen, sich entziehenden Universum zu erklären oder zu postulieren. Hierin hat die Metaphysik von Leibniz eine gewisse Schönheit und Anrührigkeit. Noch schöner und anrühriger wird es, wenn Leibniz schließlich zur letztmöglichen metaphysischen Schau vordringt, der der Existenz als Gottesstaat. Daher (weil alle Monaden lebendige Spiegel des Universums sind, Anm.) kommt es, dass die Geister in eine Art von Gesellschaft mit Gott gelangen können und dass dieser in Bezug auf sie nicht allein das ist, was ein Erfinder für seine Maschine ist (das ist Gott in Bezug auf die anderen Geschöpfe), sondern zudem das, was ein Fürst seinen Untertanen ist und selbst ein Vater seinen Kindern. (Monadologie 84) Alle Monaden haben mehr oder weniger klare Ansichten und Eindrücke von Gott. Tiere haben deren wenig bewusste Anschauungen, Menschen bewusstere, besonders klare Monaden, wie die der Heiligen aller Art, sehen Gott am deutlichsten. In der Monarchie des Gottesstaates sehen die Monaden also Gott, und Gott ist die höchste aller Monaden. Gott zu sehen ist die höchste Glückseligkeit für alle Monaden: Gott ist der Monarch der vollkommensten, aus allen Geistern zusammengesetzten Republik, und die Glückseligkeit dieses Gottesstaates ist seine Hauptabsicht. (Metaphysische Abhandlung 36) Eine glückselige Republik muss aber eine gute Republik sein, und um gut zu sein, muss die Republik moralisch sein: Dieser Gottesstaat, diese wahrhaft universale Monarchie, ist eine moralische Welt in der natürlichen Welt und das erhabenste und göttlichste unter den Werken Gottes. (Monadologie 86) Moralisch bedeutet, dass sie gerecht ist, und gerecht bedeutet, dass Handlungen adäquate Konsequenzen nach sich ziehen: Darum treten alle Geister, sowohl Menschen wie Geister, aufgrund der Vernunft und der ewigen Wahrheiten in eine Art von Gemeinschaft mit Gott ein, sind Mitglieder des Gottesstaates, d.h. des vollkommenen Staates, der durch den größten und besten Monarchen gebildet und regiert wird, worin es kein Verbrechen ohne Strafe gibt, keine guten Handlungen ohne die entsprechende Belohnung und schließlich so viel Tugend und Güte wie möglich. (Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade 15) Leibniz unterscheidet hier von einem physischen Reich der Natur und einem moralischen Reich der Gnade. Im physischen Reich der Natur mag uns scheinbar keine Gerechtigkeit widerfahren. Das jedoch auch deswegen, weil wir die zahllosen, universellen Verkettungen, in die wir eingelassen sind, nicht zu überschauen vermögen. Das Reich der Gnade überschaut jedoch gleichsam diese Verkettungen und löst sie in einen harmonischen Wohlklang auf, den wir, als Angehörige des Gottesstaates, dann vernehmen können. Gemäß Leibniz leben wir in der besten aller möglichen Welten. Diese Welt ist eine Welt von Monaden, Einzelwesen, die sich (tatsächlich) frei und autonom verhalten. Der göttliche Verstand allein sieht vor, wie sie sich verhalten und stimmt, aus ihren unzähligen Verhaltensweisen, den Gesamtplan ab – der dann die beste aller möglichen Welten ist, und das Höchstmaß an Harmonie beinhaltet. Gott selbst ist die höchste aller Monaden und die universelle Harmonie. Ordnung und harmonische Beziehungen vermögen uns zu entzücken, die Künste der Musik und der Malerei sind ein Abbild davon, Gott dagegen ist die Ordnung selbst, in ihm herrscht strengste Folgerichtigkeit der Beziehungen, und er ist mit der universellen Harmonie identisch; alle Schönheit schließlich ist nichts als ein Abglanz der von ihm ausgehenden Strahlen. (Theodizee, Vorrede) (Die Leibnizsche Vorstellung, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben würden, wird am bekanntesten im Candide von Voltaire lächerlich gemacht. Als ich vor langer Zeit einmal den Candide lesen wollte, ist er mir aber selber lächerlich und erstaunlich primitiv vorgekommen. Ich muss es noch mal probieren damit. Die Schriften von Leibniz hingegen lese ich gerne immer wieder einmal.)

Die Metaphysik von Leibniz erscheint als eines der versponnensten Stücke der Philosophie überhaupt, als Phantastik. Zwar ist sie von hoher interner Konsistenz. Doch genau diese internen Konsistenzen erzeugen Schlussfolgerungen, die im Sinn der externen Konsistenz als haarsträubend anmuten. Immaterielle Substanzen; tatsächlich als solche abgrenzbare Einzelwesen; Seelen, in denen sich das ganzen Universum spiegelt; Vollkommenheiten und beste aller möglichen Welten; prästabilisierte Harmonien… Wenn man jedoch von einem Gott, der vollkommen ist, ausgeht – und eine andere Grundannahme war Leibniz und seinen Zeitgenossen praktisch unmöglich (warum eigentlich?) – dann erscheint es naheliegend, dass wir eben in der besten aller möglichen Welten leben. Wenn ein vollkommener Gott die Welt geschaffen hat, muss diese Welt ja weniger vollkommen sein als er, sonst wäre die Welt ja mit Gott identisch (was dann Pantheismus oder Spinozismus wäre). Die Geschöpfe Gottes können nicht so vollkommen sein wie er, vor allem, wenn man sie in ihrer Eigenständigkeit und Autonomie belassen will. Es folgt daraus auch, dass die Geschöpfe ihre Vollkommenheit dem Einfluss Gottes verdanken, ihre Unvollkommenheit aber ihrer eigenen Natur, die nicht ohne Schranken sein kann. Denn eben darin sind sie von Gott verschieden. (Monadologie 42) Um solche Schlussfolgerungen zu vermeiden, wäre es daher angebracht, gar nicht mit der Vorstellung von einem vollkommenen Gott anzufangen, aber an dieser Vorstellung hing für Leibniz und die meisten seiner Zeitgenossen zu viel und ein ganzer Rattenschwanz von anderem dran, als dass man sich ihrer entledigen hätte können. Bestünde die Möglichkeit, der Vollkommenheit eine Absage zu erteilen (und Gott als eminentes, aber unvollkommenes Wesen zu begreifen). Das wäre logisch, da Begriffe von Allmacht und Vollkommenheit zu inneren Widersprüchen führen, und obendrein menschliche Begriffe sind, von denen man gar nicht weiß, was sie eigentlich bedeuten und inwieweit sie in der Wirklichkeit etwas bedeuten. Wie so oft Spinoza es tut, verwendet Leibniz den Begriff der Vollkommenheit, indem er ihn definiert (d.h. setzt). Zum Beispiel: Daraus folgt, dass Gott absolut vollkommen ist, insofern Vollkommenheit nichts anderes als die Größe der positiven Realität ist, die eben so genommen wird, dass alle Grenzen oder Schranken in den Dingen, die eine haben, zur Seite gesetzt werden. Und dort, wo es keine Schranken gibt, d.h. in Gott, ist die Vollkommenheit absolut unendlich. (Monadologie 41) Kann man also sagen, dass Gott maximale Seinsfülle sei. Damit spiegelt sich dann auch die Qualität der von ihm geschaffenen Welt weniger in einer starren Harmonie als in einer möglichst exorbitanten Vielheit der Geschöpfe und einer ständigen Neuheit, die geschaffen wird. Zumindest Gilles Deleuze zieht die Schlussfolgerung: Die beste aller Welten ist nicht diejenige, welche das Ewige reproduziert, sondern diejenige, worin sich das Neue hervorbringt, die eine Fähigkeit zur Neuartigkeit, zur Kreativität besitzt: teleologische Konversion der Philosophie. (Die Falte. Leibniz und der Barock, Kapitel 6) Neuheit und Werden sind zentrale Elemente im Deleuzianischen Philosophieren, und tatsächlich ist die Philosophie von Leibniz auch eine Philosophie der geistigen Spontaneität und Freiheit, und des Werdens. Monaden sind für Leibniz so etwas wie Entelechien, Einzelwesen, die sich entwickeln. Den einfachen Substanzen oder geschaffenen Monaden könnte man auch den Namen der Entelechien geben. (Monadologie 18) Genau gesagt, ist damit gemeint, dass einer Monade eine Entelechie zugrunde liegt. Die Monade ist vom Prinzip her schon, präformiert, in ihrem Samenkorn, aus dem sie sich schließlich entfaltet, enthalten. In dem Sinn könnte ich sagen: Meine Monade, und die Monade eines jeden Lebewesens, ist eine tatsächliche Monade – und zwar ihr jeweiliger genetische Code. Davon hat Leibniz nichts gewusst, und so bleibt vieles im Zusammenhang mit seiner Monadologie unklar. Was ist eigentlich ein Einzelwesen, eine Seele, etwas, das die Integrität eines Einzelwesens oder einer Seele hätte? Bekanntlich sagt der Deutsche: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust (und hält das scheinbar für den Gipfel der Komplexität); spätestens die Postmoderne begreift das Subjekt als uneinheitlich und das Ich als ein „Ich ist ein anderer“; Derek Parfitt führt überzeugende Argumente gegen den Begriff der Person an. Natürlich kann man das als Spitzfindigkeiten ansehen, die nicht sehen, wo der Hund eigentlich begraben ist (und dass es Einzelwesen eben tatsächlich gibt), aber sie beunruhigen doch. Leibniz auf jeden Fall kommt aber abermals auf den Begriff der Monade, weil er vom Begriff der Substanz ausgeht, was, wie wir schon bei Spinoza gesehen haben, auf Abwege führen muss (da Substanz ein bloßer Begriff ist, dem in der Wirklichkeit so nichts entspricht). Da Leibniz meint (und logische Argumente dafür anführt), eine Substanz könne nicht teilbar sein, muss die Substanz für ihn unausgedehnt und immateriell sein (was die Substanz freilich noch seltsamer aussehen lässt). Das sind dann die einzelnen Monaden. In ihrem Kern sind die Monaden Seelen (die allerdings nur in Verbindung mit einem Körper auftreten, der allerdings nicht Teil der Substanz ist, sondern etwas (aus unzähligen anderen Monaden und ihren Körpern) seinerseits Zusammengesetztes). Dann hat man, aus rationaler Sicht wieder das Problem: was soll eine Seele sein? (wenn man statt ihrer den genetischen Code setzt, sollte es aber eben gehen). Da die Monaden Substanzen sind, können sie, als solche, sich nicht gegenseitig beeinflussen: Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie hineintreten oder sie verlassen könnte. (Monadologie 7) Daraus folgt dann wieder, dass das Verhalten der Monaden zueinander eine prästabilisierte Harmonie sein muss usw. So gesehen führen die Konsequenzen der Leibnizschen Metaphysik wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück, was man als ein wenig zirkulär betrachten könnte. Trotzdem lässt die Leibnizsche Metaphysik die Entwicklung, die Entelechie, auch den Fortschritt hochleben. Die angenehme, beschauliche Prozessphilosophie von Whitehead könnte man als eine modernisierte Version der Leibnizschen Philosophie ansehen. Vor allen Dingen für Gilles Deleuze „bleiben wir Leibnizianer“, obwohl es nicht mehr die Zusammenklänge sind, die unsere Welt oder unseren Text ausdrücken. Wir entdecken neue Weisen zu falten und neue Hüllen, wir bleiben aber Leibnizianer, weil es immerzu darum geht, zu falten, zu entfalten, wieder zu falten. (Die Falte. Leibniz und der Barock, Schluss) Deleuze freut sich und „bleibt Leibnizianer“, weil er in der Philosophie von Leibniz eine vitalistische Philosophie herausliest, in der die Entwicklungen aber weniger von menschlichen Subjekten (die ihm suspekt sind) ausgehen, als von Monaden, die sich ständig zu neuem falten und entfalten und neue Verbindungen und Verknüpfungen herstellen. Wie kann man noch an den alten Leibniz anknüpfen? Leibniz unterscheidet zwischen einem physischen Reich der Natur und einem göttlichen Reich der Gnade im Gottesstaat. Das erscheint eskapistisch. Aber auch rational betrachtet können wir wohl zwischen einem physischen Reich der Natur und einem ideellen Reich der Gnade unterscheiden. Das physische Reich der Natur ist ein amoralisches von reinen Ursache-Wirkungszusammenhängen. Diese haben an und für sich keine moralischen Qualitäten. Doch das ideelle Reich der Gnade und der Moral ist, recht besehen, ebenfalls Teil des Reiches unserer Natur. Dieses ideelle Reich der Moral scheint tief in unser physisches Reich der Natur hinein. Seiner gleichsam physischen Natur zufolge scheint der Mensch geradezu besessen davon, alles moralisch zu beurteilen und der Großteil der zwischenmenschlichen Kommunikation dreht sich darum, zu bewerten, was moralisch richtig ist und was moralisch falsch ist. Zwischen dem physischen Reich der Natur und dem ideellen Reich der Gnade gibt es halt mal nicht notwendigerweise Übereinstimmung, da das physische Reich der Natur materiell und konkret ist, und das göttliche Reich der Gnade ideell ist und abstrakt. Gerade aber weil es ideell und abstrakt ist, scheint es die materiellen Konkretheiten zu überdauern. Ungerechtigkeiten im Hier und Jetzt werden früher oder später als solche erkannt und benannt werden und dann findet ein Ausgleich statt. So hofft man. Im ideellen Reich der Gnade findet der Ausgleich unmittelbar statt, mehr noch, er war schon vorher vorhanden; da es ein abstraktes Reich ist, ist es zeitlos und ewig. Die Schau dieses zeitlosen und ewigen Reiches ist tatsächlich eine Gnade. Das physische Reich der Natur erscheint dagegen wie ein hilfloses Abstrampeln. Es kann eventuell gar nicht gesagt werden, welches das mächtigere Reich ist: das physische der Natur oder das ideelle der Gnade. Klar ist, dass es, solange es ein physisches Reich der (menschlichen) Natur geben wird, es auch ein ideelles Reich der Moral und der Gnade geben wird. Man kann die Frage, welches Reich stärker ist, rational eventuell so lösen, indem man sie verwindet. Es wäre ein Versuch zu werten, und werten ist letztendlich unmöglich, da Qualitäten sich immer wieder ändern und sowieso nicht eindeutig bestimmbar sind. Lasse man es vielleicht dabei bewenden, dass das physische Reich der Natur und das ideelle Reich der Gnade, als jeweilige Nemesis, füreinander bestehen bleiben und es, aufgrund der Spontaneität der lebendigen Einzelwesen und der lebendigen Prozesse, nicht vorhersehbar ist (außer für den göttlichen Verstand), welches Reich sich da und dort durchsetzen mag. Von großem Interesse aber natürlich, ob wir tatsächlich, so wie Leibniz meint, in der besten aller möglichen Welten leben, oder ob, wie Schopenhauer dem höhnisch entgegensetzt, es nicht vielmehr die schlechteste aller Welten sei (denn, wenn sie nur noch ein wenig schlechter wäre, würde sie überhaupt zusammenbrechen). Was wird wohl die letzte Antwort auf diese Frage sein? Aber die letzte Antwort wird die Antwort sein, die immer schon als solche sich aufgetan hat: nämlich das es einmal nach dem einen erscheint, dann wieder nach dem anderen. Leibnizens Antwort auf diese Frage ist auf jeden Fall eine optimistische, während sich Schopenhauer bekanntlich dem Pessimismus verschreibt. Allerdings keinem Pessimismus, der der heutige Vernunft- und Zivilisationspessimismus wäre. Denn auch Schopenhauer begreift die Welt als einheitlich. Und er begreift sie metaphysisch. Heute hingegen leben wir eher in einem nachmetaphysischen Zeitalter, in dem Ansprüche an die universale und universalisierende Kraft der Vernunft zurückgewiesen werden, zugunsten von „Differenzen“. Das hat gute Gründe, da sich solcherart universalisierende Vorstellungen und Metaphysiken als unhaltbar erwiesen haben. Allerdings ist eben auch das nachmetaphysische Zeitalter der Differenzen kein wirklich glückliches, noch optimistisches. Der Mensch strebt – und das auch aus einem ganz praktischen und moralischen Bedürfnis heraus – nach Zusammenhang, Einklang, Sinn und Harmonie. Pessimismus ist nicht jedermanns Sache. Daher wäre eine Philosophie, die die Nachmetaphysik überwindet, wieder einmal gut. Sloterdijk formuliert im Andenken an Leibniz: Für die künftige Geschichte der Menschheit wird es von Belang sein, ein Prinzip des Optimismus (oder zumindest ein Prinzip des Nicht-Pessimismus) mit nach-leibnizschen Mitteln zu regenerieren. Falls dies gelänge: Wer wollte ausschließen, dass spätere Generationen in Leibniz einen ihrer wichtigsten Anreger finden werden? (Philosophische Temperamente, Leibniz) Versuchen wir es so zu betrachten: Irgendeine Harmonie wird es in der Welt schon geben, sonst wäre die Welt ja ein Chaos. Nur weil etwas nicht chaotisch ist, ist es freilich nicht notwendigerweise harmonisch – aber wer weiß, und man kann versuchen, es so zu betrachten. Aus einer höheren Dimension betrachtet ist die Welt vielleicht harmonisch, aus dem Phasenraum heraus betrachtet ist sie vielleicht das (und aus dieser höheren Dimension heraus – und aus diesem Phasenraum heraus – versucht ja auch Leibniz sie zu betrachten). Es ist sicherlich gut, sich Ansichten aus höheren Dimensionen zu erwerben bzw. diese anzustreben. Genug und übergenug Menschen, inklusive Philosophen, machen das nämlich nicht, und bleiben im Konkreten und im Tagespolitischen – oder eben im Egoischen – hängen. Da sie ihre eigenen Konkretheiten nicht transzendieren, ist ihr Diskurs tatsächlich ziemlich disharmonisch; vorgetragen in einer zerstörten und verstümmelten Sprache, die tatsächlich kaum der Verständigung dient. Vergessen wir die Differenz nicht, aber versuchen wir doch wieder, das Universale anzustreben. Denn das Universale schafft Ausgleich zwischen den Kräften, im Prinzip daher Harmonie. Zwar kann das Anstreben von Universalität aus einem egomanischen Motiv oder einem Willen zur Macht heraus passieren, und eventuell will es sich auch als solches verwirklichen. Dann ist das halt ein schlechtes Universales, dem wir eben ein das Egoische transzendierendes, ins Allgemeine vorstoßendes gutes Universales entgegensetzen und an dem wir festhalten wollen. Das Universale wäre dann so was wie eine Anschauung Gottes. Problem: es gibt keine universale Art, das Universale anzuschauen, keine einheitliche Art, Gott sich vorzustellen. Das Streben nach dem Universalen könnte also zu dessen Gegenteil, zu Meinungsverschiedenheiten und Krieg führen. Das sind dann Dinge, die passieren, und sie passieren immer wieder aus Gründen. Der Grund ist: unsere Existenz splittet sich in Einzelwesen auf, die autonom sind, und diesen Einzelwesen sind gewisse Dinge näher und wichtiger als es anderen Einzelwesen sind. Daher kämpfen sie für sie. Autonomie der Einzelwesen und deren Verteiltheit in Raum und Zeit beinhaltet die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Einzelwesen. Das philosophische Temperament hingegen wird trotzdem das Universale anstreben. Es wird das Universale nicht als etwas Endgültiges zu betrachten, sondern es wird es als einen Imperativ betrachten, es wird den Imperativ setzen, das Universale anzustreben. Das Streben ist das Gute, oder zumindest das Konstruktive. Das Konstruktive ist, implizit, optimistisch. Der Imperativ, das Universale anzustreben, ist also implizit eine optimistische Philosophie. Wer das Universale anstrebt, kann von der bloßen Philosophie zur Metaphysik vorstoßen. Und die gibt der Philosophie Orientierung und Würze. Etwas weiter oben wurde eingeräumt, universalisierende Vorstellungen und Metaphysiken hätten sich immer wieder als unhaltbar erwiesen. Unhaltbar sind sie aber nicht notwendigerweise; die metaphysischen Systeme der Philosophen sind nur von begrenzter Reichweite. Das hingegen ist notwendigerweise so, da Metaphysik ein Ringen mit dem Unbekannten und dem sich Entziehenden ist. Und das Unbekannte und das sich Entziehende schlägt dann halt in die metaphysischen Systeme zurück, in Form von ihren blinden Flecken. Die Metaphysik selbst ist einheitlich und universal. Sie ist jedoch nicht notwendigerweise totalitär. Wie totalitär er seine Metaphysik verfechtet, bleibt dann dem Metaphysiker überlassen. Er mag einen ausgeprägten Willen zur Macht haben, oder aber gar keinen. Wahrhafte Universalität erkennt die Autonomie der Einzelwesen an, und deren differierende Anschauungen. Sie erkennt, dass es einen Unterschied zwischen dem physischen Reich der Natur und dem metaphysischen Reich der Gnade gibt. Der Metaphysiker hofft, dass die Einzelwesen aus dem physischen Reich der Natur näher an das metaphysische Reich der Gnade herangeführt werden können. Er geht im konstruktiven Bemühen auf, das metaphysische Reich der Gnade und den Imperativ zum Universalen vorzustoßen aufzuzeigen. Das ist sein Optimismus. Im metaphysischen Reich selbst gibt es wahrscheinlich keinen Optimismus und keinen Pessimismus. Das sind menschliche Verständnisse und damit verbundene Hoffnungen. Das metaphysische Reich hingegen reflektiert das reine Sein, das, so gesehen, weder zum Optimismus noch zum Pessimismus übermäßig einlädt. Das metaphysische Reich sieht man über einen Zustand der Erleuchtung an, und die Erleuchtung ist jenseits von Optimismus oder Pessimismus, sondern die reflektiert das reine Sein, und die Reinheit des eigenen Geistes. Im erleuchteten Zustand werden – wie die Zen-Meister immer wieder betonen – keine Unterscheidungen getroffen, daher auch nicht zwischen Optimismus und Pessimismus. Ein dermaßen östliches Denken, das weder Optimismus noch Pessimismus kennt, führt irgendwie zu Lethargie und Passivität, während das westliche Denken aktiv, wissenschaftlich-rational und weltverändernd ist. Es hat seine eigenen Probleme und seine eigenen begrenzten Reichweiten. Aber deswegen sage ich ja immer, dass eine gute Philosophie und Metaphysik westliches und östliches Denken kombinieren sollte. Ein solches Denken sollte neue Reichweiten schaffen. So optimistisch bin ich schon.

Bemerkungen zu Spinoza

Spinoza ist bislang nicht einmal ansatzweise begriffen worden, nicht von den anderen und nicht von mir.

Gilles Deleuze

Es gibt bei Spinoza nichts zu begreifen, denn nach allem, was wir wissen, gibt es keine Substanz. Substanz ist keine empirische Kategorie. Substanz ist bei Spinoza eigentlich überhaupt nur eine Definition. Ethik, Erster Teil, Definition 3: Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich vorgestellt wird, d.h. das, dessen Vorstellung nicht der Vorstellung eines anderen Gegenstandes bedarf, von welcher sie gebildet werden muss. Es gibt aber wohl nichts, für dessen Vorstellung es nicht auch die Vorstellung eines anderen Gegenstandes bedarf, auf dass man sie sich bilden könnte. Überhaupt beginnt die Ethik, Erster Teil, mit Definition 1: Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder das, dessen Natur nur als existierend vorgestellt werden kann. Es gibt, soweit wir wissen, aber nichts, was rein Ursache seiner selbst wäre (und es gibt auch, zumindest für mich, nichts, was ich mir nicht auch als nicht existierend vorstellen könnte). Die Kategorie von der Substanz ist für Spinoza ein Mittel, mit dem er sich das Sein als logisch zusammenhängend vorstellen kann. Aber etwas, was logisch zusammenhängt, muss nicht empirisch zusammenhängen. Logik sagt nicht unmittelbar oder zwingend was darüber aus, wie sich etwas empirisch verhält. Zur Zeit Spinzoas, allgemein vor hunderten oder tausenden von Jahren, war es um das empirische Wissen über das Sein noch nicht gut bestellt. Philosophie war daher – am berühmtesten in der Scholastik – ein sich Abarbeiten an begrifflichen Abstraktionen und der Analyse dieser begrifflichen Abstraktionen, über die man das Sein und die Qualitäten des Seins zu verstehen gedachte. „Substanz“ ist eine solche begriffliche Abstraktion. Derartige begriffliche Abstraktionen, die von den alten Griechen geschaffen wurden, sind ein besseres Instrument zur Erkenntnis und Analyse der Welt als (animistische) Gottesvorstellungen oder Mythologien. Die alten Griechen setzen damit also an die Stelle des mythologischen Denkens ein philosophisches Denken und ein rationales und ein wissenschaftliches Denken (oder zumindest Vorstufen davon). Begriffe sind etwas Notwendiges, mit dem sich der Mensch die Welt begreiflich macht. Gleichzeitig sind sie limitiert, da sie abbilden, wie sich der menschliche Verstand die Welt begreiflich macht: sie sind Instrumente unseres Verstandes. Unser Verstand ist begrenzt. Er muss durch (sehr viel) Wissen, welches über die Empirie gewonnen wird, erweitert werden. Wissen über Tatsachen kann nicht über logische Schlüsse gewonnen werden, sondern nur durch Beobachtung (und theoretisches Verständnis). Anstelle von Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschliesst, oder das, dessen Natur nur als existierend vorgestellt werden kann sollte der Ausgangpunkt des Philosophierens besser sein: Die Welt ist alles, was der Fall ist. (Vielleicht ist es noch angemessener, keinen definitiven Ausgangspunkt zum Philosophieren zu nehmen, da der dann praktisch immer einen pfadabhängigen Verlauf und, so wie bei Hegel oder bei der Tractatus-Philosophie von Wittgenstein, ein fragwürdiges Ende nach sich zieht.) Spinozas Philosophie ist der Versuch, aus anfänglichen Thesen (bzw. thetischen Setzungen), Definitionen und Axiomen durch Deduktion und durch die „geometrische Methode“ (nach dem Vorbild von Euklid) zu einem vollständigen philosophischen System zu kommen, oder zumindest zu allgemeingültigen philosophischen Aussagen. Die geometrische Methode – more geometrico – ist wohl ein angemessenes Verfahren für die Geometrie. Aus Begriffen, die in der Regel keine quantitativen Verhältnisse sondern Qualitäten – und damit etwas Unscharfes – bezeichnen, lässt sich jedoch auch nicht eindeutig was Deduzieren. Wahrscheinlich deswegen frägt man sich bei Spinozas Deduktionen immer wieder ob, angesichts der Zweifel, die sie aufwerfen, der Verstand von Spinoza nicht richtig funktioniert oder der eigene defekt ist. Das ist tatsächlich nicht leicht zu unterscheiden und würde erheblichen Aufwand an Klärung erfordern, der aber wahrscheinlich nicht lohnt (da es ja, wie gesagt, sowieso keine Substanz u. dergl. mehr gibt). Spinoza strebt unerschütterliche Klarheit und Folgerichtigkeit an, aber man fühlt sich kaum wo so sehr in einer Zone der Dämmerung wie in der Lektüre der Ethik. Die Ethik ist auch ein Buch über Gott; indem Spinoza Gott mit der Substanz gleichsetzt. Mit der logischen geometrischen Methode wird dann auch Existenz Gottes in der Ethik bewiesen. Gottesbeweise beruhen in aller Regel auf Logik. Allerdings lassen sich auch gegen alle Gottesbeweise rein logische Einwände erheben, was die Sache selbst – die Frage nach der Existenz Gottes – rein logisch unentscheidbar macht. Die Gottesbeweise oder auch Gegenbeweise reduzieren sich damit von logischen Beweisen zu logischen Argumenten, die also in Ansatz gebracht werden können, oder auch nicht. Nun ja. Bei Spinoza heißt es auf jeden Fall in Ethik, Erstes Buch, Definition 6: Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige oder unendliche Wesenheit ausdrückt. Schopenhauer meint,  – und so könnte man mit ihm meinen –, Substanz sei nichts als ein anderer Begriff für die Materie; mithin also auch für die Selbstorganisation der Materie. Aber Gott ist bei Spinoza ein intelligibles Wesen. Ethik, Zweiter Teil, Lehrsatz 1: Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Ding. Bei Spinoza hat man also die Ontologie eines sich selbst entfaltenden, intelligiblen Gottes, bzw. eines Seins, das Ausdruck dieser Selbstentfaltung Gottes ist (daher gilt Spinoza als „Pantheist“). Gilles Deleuze ist zwar Atheist, aber fasziniert – geradezu hypnotisiert – von Spinoza, da ihm Philosophien von einem immanenten, univoken Sein, das nicht von einem höheren Prinzip geleitet wird und nicht hierarchisch gestaffelt ist und das sich noch dazu gleichsam vitalistisch entwickelt, behagen – und eine solche Philosophie will er (unter anderem) bei Spinoza rauslesen. Bei Spinoza selbst entfaltet sich dieses göttliche Sein allerdings zunächst mit einer gar nicht so vitalistischen Konnotation, sondern mit einer eisernen Notwendigkeit. Gott muss sich notwendigerweise auf die richtige Weise entfalten (und von einer „richtigen“ Weise nimmt man an, dass es eine einzige Weise ist). Was Gott geschaffen hat, ist daher notwendig und notwendigerweise vollkommen. Ethik, Zweiter Teil, Definition 6: Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich ein und dasselbe. Das Verständnis von Spinoza von Vollkommenheit liegt dabei jenseits von Gut und Böse. Als gut und böse mögen wir allenfalls etwas empfinden, was uns innerhalb der viel größeren Entfaltung des göttlichen Seins zustößt. Ein Ziegelstein fällt uns auf den Kopf, weil wir zufällig drunter vorbeigehen, und wir empfinden es als böse. Wir gewinnen im Lotto, weil wir zufällig die richtigen Zahlen haben, und wir empfinden es als gut. Für die Entfaltung des Seins selbst ist das ohne Bedeutung. Das kann man als Verhöhnung empfinden. Oder aber auch als Hinweis, einen abstrakteren Standpunkt gegenüber sich selbst und gegenüber dem eigenen Schicksal einzunehmen. Nicht zuletzt deswegen lädt uns die Ethik von Spinoza ein, unsere Alltagsverständnisse und -empfindungen zu transzendieren und vielmehr das göttliche Wesen zu schauen. Entgegengesetzt zur Philosophie von der Notwendigkeit der Entfaltung des göttlichen Seins gibt es bei Spinoza nämlich auch eine Philosophie von der Freiheit des Menschen, über die er in der Lage ist, das, was ihm als aufoktroyiert erscheint, zu überschreiten und hinter sich zu lassen. Für Antonio Negri, der ein intensives Bedürfnis nach „Befreiung“ hat, ist Spinoza sogar der großen Referenzphilosoph und, neben Marx, der zentrale politische Philosoph. Das, was bei Spinoza in der Ethik als abstrakte Philosophie entgegentritt, war nämlich ursprünglich vielmehr eine politische Philosophie. Weil Spinoza zu frei und unbequem dachte, wurde er bekanntlich früh aus seiner (jüdischen) Religionsgemeinde verstoßen und musste sein Leben unbequem als Verfemter und Außenseiter fristen. Spinoza was also ein Opfer von Politik. Von daher ging es ihm urtümlich darum, eine Politik zu ermöglichen, in der so etwas nicht vorkommen kann. In seinem frühen Theologisch-Politischen Traktat formuliert er: Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staates folgt ganz offenbar, dass der letzte Zweck des Staates nicht ist zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit. (20. Kapitel) Vernunft und eine Leitung durch Vernunft ist das, was Spinoza anstrebt, und im Theologisch-Politischen Traktat versucht er nachzuweisen, dass alle auf Religion beruhenden Gemeinschaften eigentlich auf vernünftigen Einsichten beruhen, und nicht auf Dogmen. Die Entrüstung, die Spinoza damit provozierte, war abermals groß, und der Theologisch-Politische Traktat wurde verboten (Spinoza hat daraufhin zu Lebzeiten nichts mehr veröffentlicht). Im späteren, posthum veröffentlichen Politischen Traktat formuliert Spinoza und bleibt dabei (Kapitel V §1): In §11 des Kapitels II haben wir gezeigt, dass ein Mensch dann in höchstem Maße unter eigenem Recht steht, wenn er sich in höchstem Maße von der Vernunft leiten lässt, und dass folglich (vgl. §7 des Kapitels III) dasjenige Gemeinwesen im höchsten Maße über Macht verfügt und unter eigenem Recht steht, das auf der Vernunft sich gründet und dadurch sich regiert. (Im Politischen Traktat untersucht Spinoza, wie verschiedene Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie) wohl geordnet und funktional bleiben können, anstatt zu degenerieren; das letzte Kapitel, Einiges zur Demokratie, bricht leider nach ein paar Seiten ab: aufgrund des Todes von Spinoza blieb es unvollendet. Für diverse Spinoza-Enthusiasten hat es daher einen umso höheren, gleichsam mystischen Stellenwert auf der Suche nach einer großen Verheißung und einer großen Lösung, die das spinozistische Denken bereithielte.) Ja, Spinoza macht sich geradezu utopische Hoffnungen in Bezug auf eine durch Vernunft regierte Gemeinschaft! Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 35: So weit die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, insoweit allein stimmen sie von Natur notwendig immer überein. (Es ist eigenartig, wie Spinoza die Trivialität nicht (an)erkennt, dass sich auch aus der Vernunft allein Streitigkeiten ergeben können. Aber diesen eigenartigen Rigorismus hat man bei Spinoza und seiner streng geometrischen Methode, wie gesagt, überall.) Das große Unglück für Spinoza ist, dass die Menschen nicht gemäß ihrer Vernunft leben, sondern hauptsächlich ihren „Affekten“ unterworfen sind. Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 35, Erläuterung: Es geschieht jedoch selten, dass die Menschen nach der Vernunft leben, sondern es ist mit ihnen so bestellt, dass sie meist neidisch und einander lästig sind. Und nicht nur das: Sie werden von den Affekten der Liebe, des Hasses, der Furcht, der Ehrsucht, des Zorns u.v.m. hin- und hergeworfen. Am besten ist es zudem, man stelle sich diese Affekte nicht allein als etwas unmittelbar Präsentes, als Gefühlsäußerung vor. Affekte können auch neurotische Zentren und Knoten sein, oder überhaupt die innere Architektur eines Menschen bestimmen. Und aus dieser Affektlage heraus nimmt er dann zu einem tatsächlichen Teil die Welt wahr. Oder aber: es ist erstaunlich, wie Affekte darüber bestimmen, ob wir etwas tatsächlich für wahr oder für falsch halten oder aber so oder so handeln. Ich selber halte Affekte auch für was Primitives und Störendes. Zwar vielleicht nicht die Affekte an sich oder die Stimmungen in einem: sondern ihre Bindung an das Ego. Zorn, Stolz, Scham, Hass, Neid, Machtstreben, Dünkel oder Furcht sind zwar Stimmungen und Reaktionsmöglichkeiten auf Umwelteinflüsse, die im Verstand liegen (es ist zum Beispiel eine unmittelbare Eingebung des Verstandes, Ausgleich zu suchen für eine Imbalance, die einem widerfährt: das ist nicht unvernünftig, vielmehr wäre es unvernünftig, das nicht zu tun); zu Affekten werden sie aber erst, wenn sie einen allzusehr als Person, also über das eigene Ego betroffen machen. Dann mögen sie das Ego zur Unvernünftigkeit hinreissen. Ich selbst finde es vor allen Dingen auch gut, zum Feuerkern der Vernunft vorzudringen. Das ist dann die Weiße Hütte. Wenn man alle Traditionen, Ideologien, angelernte Erkenntnisse (hinter denen insgesamt oft Affektbesetzungen stecken) intensiv durchdacht und durchlebt und daher hinter sich gelassen hat, wird man schließlich in einem weißen Licht stehen, in dem Gegenstände als Kräuselungen und Wellen an einem vorbeiziehen. Das ist der Moment der Erleuchtung. Was verbirgt sich aber weiter drinnen, im Zentrum der Weißen Hütte? Das ist ein großes Geheimnis und ein Weg, den nur du selbst gehen kannst. Aber ist die Weiße Hütte erreicht und hat man die Weiße Hütte betreten und kennengelernt, ist das Geheimnis dieses: Man hat volle Manövrierfähigkeit des eigenen Geistes. Dieser ist nicht mehr an traumatische affektive Zentren gebunden. Laut Spinoza ist die höchste Erkenntnis die Erkenntnis Gottes. Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 28: Das höchste Gut der Seele ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend der Seele Gott erkennen. Und Ethik, Vierter Teil, Anhang, Satz 4: Es ist deshalb im Leben das Nützlichste, den Verstand oder die Vernunft so viel als möglich zu vervollkommnen; darin allein besteht des Menschen höchstes Glück oder seine Seligkeit. Denn die Seligkeit ist die Seelenruhe, welche aus der anschaulichen Erkenntnis Gottes entspringt. Die Vervollkommnung unseres Verstandes besteht aber auch nur in der Erkenntnis Gottes, seiner Attribute und seiner Handlungen, welche aus seiner Natur mit Notwendigkeit folgen. Deshalb ist das höchste Ziel eines von der Vernunft geleiteten Menschen, d.h. sein stärkstes Begehren, wodurch es alle anderen zu mäßigen strebt, sich und alles, was seiner Erkenntnis erreichbar ist, zureichend zu begreifen. Die Weiße Hütte oder die Gotteserkenntnis Spinozas sind keine trivialen geistigen Verfassungen. Sie können nur durch Anstrengung (und Glück) erreicht werden und basieren auf einer höheren Art zu denken. Spinoza spricht von einer „dritten Art“ des Denkens. Ethik, Zweiter Teil, Lehrsatz 40, Erläuterung 2.3: Außer diesen beiden Arten von Kenntnis gibt es noch, wie ich demnächst zeigen werde, eine dritte Art, welche ich das anschauliche Wissen nennen werde. Diese Art der Erkenntnis schreitet von der zureichenden Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute Gottes zu zureichender Erkenntnis des Wesens der Dinge vor. Ich kann nur für das Hüttendenken sprechen, aber im Licht der Weißen Hütte erscheinen die Gegenstände luzider und die Unterscheidungen zwischen den Gegenständen deutlicher – sie scheinen überhaupt zum ersten Mal als tatsächliche Gegenstände wahrnehmbar. Das scheinbar synthetische Licht der Weißen Hütte stärkt das Analysevermögen. Das wiederum stärkt die Fähigkeit zu Syntheseleistungen. Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 24: Je mehr man die einzelnen Dinge erkennt, desto mehr erkennt man Gott. Und im Beweis zum folgenden Lehrsatz 25 steht: Die dritte Art des Wissens schreitet von der zureichenden Vorstellung einiger Attribute Gottes zur zureichenden Erkenntnis der Dinge fort (II L.40 E.2). Je mehr man die Dinge erkennt, desto mehr erkennt man Gott (V L.24). Und schließlich Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 30: Soweit unsere Seele sich und den Körper in der Form der Ewigkeit kennt, insoweit hat sie notwendig die Erkenntnis Gottes und weiß, dass sie in Gott ist und durch Gott vorgestellt ist. Die dritte Art der Erkenntnis führt bei Spinoza also zur Erkenntnis, dass man Teil der göttlichen Substanz ist, quod erad demonstrandum im Rahmen seiner Philosophie. Ich halte das für eine Fantastik, sich (tatsächlich, buchstäblich) für einen Teil einer göttlichen Substanz zu halten. Aber ähnliche Zustände sind mir schon bekannt – und sind einem allgemein im Leben bekannt. Das sind die guten Zustände (bei denen die Gefahr aber besteht, dass sie mit Affekten besetzt werden und dann verklärt werden). Im säkularisierten Spinozismus von Deleuze bedeutet die ominöse dritte Art des Denkens, dass man die Dinge so erkennt, wie Gott selbst sie erkennt. In der dritten Erkenntnisart bilden wir Ideen und aktive Affekte, die so in uns sind, wie sie unmittelbar und ewig in Gott sind. Wie denken, wie Gott denkt, wir empfinden selbst die Affekte Gottes. Wir bilden die Idee von uns selbst, so wie sie in Gott ist, und wenigstens zum Teil bilden wir die Idee Gottes, so wie sie in Gott selbst ist: die Ideen der dritten Art konstituieren also eine noch tiefere Dimension des Eingeborenen, und die Freuden der dritten Art sind die einzig wahren Affektationen des Wesens in uns selbst (Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, Neunzehntes Kapitel). Im Inneren der Weißen Hütte ist man auf eine Art im Innenraum des Geistes und die Erkenntnisse werden so allgemein und tiefenscharf, dass sie des Zeitlichen enthoben werden, und abstrakt, dass sie also ewig und unsterblich werden. Diese abstrakte Unsterblichkeit des Verstandes, seine ewige Geborgenheit in Gott, hat man auch bei Spinoza als letztes menschenmögliches Ding. In diese abstrakte Unsterblichkeit ist auf jeden Fall der Geist von Spinoza eingegangen, der mit dem werdenden Gott des Weltprozesses mitzieht. Während des Lebens ist man, laut Spinoza, allerdings weniger abstrakt und vollkommen, sondern Affekten unterworfen. Für die Affekte hat sich Spinoza sehr interessiert, er betrachtete ihre Analyse und Würdigung als etwas, das zu wenig beleuchtet sei. Die Affekte, von denen wir mitgenommen werden, verstehen Philosophen als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Deshalb pflegen sie sie zu belachen, zu beklagen, zu verspotten oder (sofern sie sich den Anschein besonderer Sittenreinheit geben wollen) zu verdammen. Sie glauben dergestalt etwas Erhabenens zu tun und den Gipfel der Weisheit zu erreichen …. Um das, was Gegenstand dieser Wissenschaft ist, mit derselben Unbefangenheit, mit der wir es bei der Mathematik zu tun pflegen, zu erforschen, habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. Deshalb habe ich die menschlichen Affekte, wie beispielsweise Liebe, Hass, Zorn, Neid, Ruhmsucht, Mitleid und die übrigen Gemütsbewegungen, nicht als Fehler der menschlichen Natur betrachtet, sondern als deren Eigenschaften, die zu ihr so gehören wie zu der Natur der Luft die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und anderes dieser Art… (Politischer Traktat, Kapitel I) Das Philosophieren über die Affekte nimmt bei Spinoza großen Raum ein. Der gesamte Dritte Teil der Ethik handelt von dem Ursprung und der Natur der Affekte. Es scheint gut, dass ein Philosoph so vieles über die Affekte sich überlegt und somit sich ein überzeugendes Bild von Menschen zu machen bereit scheint; bei Spinoza steht der Mensch wirklich als ganzer Mensch da. Irritierend ist allerdings, wie anämisch und klinisch kalt die Beschreibungen der Affekte bei Spinoza bleiben. Darüber hinaus scheint er der Affekte gleichsam Herr werden zu wollen, indem er sie definiert und etwas über sie deduziert und so die Betrachtung über sie jeweils abschließt. Irgendwie scheint er den Affekten damit ihre Würde und ihr Eigenleben zu nehmen. Dabei stellt Spinoza im besagten Dritten Teil der Ethik in der Vorrede auch in Aussicht: Ich werde daher über die Natur und Kraft der Affekte und die Macht der Seele über sie in derselben Weise die Untersuchung anstellen, wie ich bis hier über Gott und die Seele getan habe, und ich werde die menschlichen Handlungen und Begierden ebenso betrachten, als wenn es sich um Linien, Ebenen oder Körper handelte. Wer ist derjenige, der menschliche Handlungen und Begierden so betrachtet, als wie wenn es Linien, Ebenen und Körper wären? In der Kurzen, aber wahrhaftigen Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza aus authentischen Stücken und mündlichem Zeugnis noch lebender Personen zusammengestellt von Johannes Colerus, deutschem Prediger der lutherischen Gemeinde in´s Gravenhage wird Spinoza eindrucksvoll beschrieben derart: Sein Verkehr und seine Lebensweise waren still und eingezogen. Seine Leidenschaften wusste er in bewundernswerter Weise wohl zu bändigen. Niemals sah man ihn allzu traurig noch fröhlich. Seinen Zorn und sein Missvergnügen konnte er sehr wohl bemeistern oder sich ihm verscbließen, indem er es mir durch ein Zeichen oder einige kurze Worte zu erkennen gab, oder aufstand und fortging, aus Furcht, seine Leidenschaften möchten überhandnehmen. Im Übrigen war er freundlich und umgänglich im täglichen Verkehr. Spinoza gilt heute gemeinhin als der beinahe sympathischste und liebenswerteste unter den Philosophen, mit einer Philosophie, die nirgendwo aneckt und auf die sich alle einigen können, vernünftig und menschenfreundlich wie sie ist. Ganz im Kontrast dazu, was Spinoza zu Lebzeiten widerfahren ist, und bis lange über seinen Tod hinaus. Da sah man in ihm etwas Satanisches. Diese Tragik erhöht jedoch auch sein Charisma. Spinozas unterdrücktes, verfolgtes, gefährliches Leben mag leicht zu seiner „eingezogenen“ Lebensweise geführt haben. Diese Eingezogenheit und Selbstunterdrückung wird jedoch in einer gewissen Weise zur höchsten Tugend in der Philosophie von Spinoza. Ethik, Vierter Teil, Vorrede: Die Ohnmacht des Menschen in Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan. Er befindet sich in solchem Grad in dessen Hand, dass er oft gezwungen ist, dem Schlimmeren zu folgen, obwohl er das Bessere sieht. Spinoza, so könnte man meinen, verabscheut die Knechtschaft nicht nur philosophisch, sondern in einer viszeralen Weise. Um „Handeln“ und „Tätigwerden“ hingegen betreibt er gleichsam einen Kultus. Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 40: Je mehr Vollkommenheit ein Ding besitzt, umso mehr handelt es und umso weniger leidet es, und umgekehrt, je mehr es handelt, desto vollkommener ist es. Leidenschaften sah Spinoza als etwas, dass einem widerfährt, dass man erleidet, dem man unterworfen ist. Allein der Verstand, der die Leidenschaft unterdrückt, sei eine aktive, daher positive Kraft. In der Praxis freilich gehören Leidenschaften, die uns widerfahren, immer wieder zu den besten Dingen im Leben, zu der Würze des Lebens. Von daher scheint auch der Gegensatz „Vernunft = gut versus Leidenschaft = schlecht“ ein wenig eine Konstruktion. In der sich der idiosynkratische „Wille zur Macht“ bei Spinoza ausdrückt, in einer freilich ein wenig hilflos erscheinenden Weise. Für Ben-Ami Scharfstein, in seinem beeindruckenden Werk über das Leben und die Marotten der großen Philosophen (The Philosophers. Their Lives and the Nature of their Thought), scheinen bei Spinoza die Affekte der Unlust und des Hasses zu überwiegen (weswegen er sie so gleichsam panisch zu unterdrücken scheint), die der Liebe hingegen bleiben im Wesentlichen abstrakt und diffus (eben „Gottesliebe“, die, so betrachtet, eine Liebe zur eigenen kultivierten Vernunft und ihrer überlegenen Einsichtsfähigkeit ist: als Machtinstrument; und als eine Art Amor fati zum Schicksal, das man durch einen eminent indifferenten Gott erleidet, durch das man aber, zumindest irgendwie, durch Einsicht triumphiert). Spinoza hatte wenig Beziehungen zu Menschen und noch weniger zu Frauen und könnte misogyn gewesen sein (im Politischen Traktat zumindest will er Frauen, Unmündige und Knechte von der politischen Partizipation und vom Stimmrecht in der ersehnten Demokratie ausschließen). Misogynie (und Misandrie) ist gemeinhin Ausdruck eines unglücklichen, griesgrämigen, neurotisch-nekrophilen, lebensabtötenden Temperaments. Wer sich etwas so Herrlichem wie dem anderen Geschlecht versagt, ist ja gleichsam lebendig eingesargt. (Im Politischen Traktat will er Frauen und Knechte dabei konkret deswegen vom Stimmrecht ausschließen, weil sie den Männern und ihren Herren „unterworfen“ seien, und damit keine selbstständigen Individuen. Und Spinoza eben hasst Unterworfenheit.) Schopenhauer ist indigniert, insofern Spinoza „Hunde ganz und gar nicht gekannt“ zu haben scheine (Spinoza behauptet an einer Stelle, nur der Mensch könne dem Menschen ein würdiger Gesell sein). Dafür hatte Spinoza ein Faible für Spinnen und Fliegen. Allerdings ein merkwürdiges und ein wenig irritierendes. Johannes Colerus berichtet: Außerdem bestand sein Vergnügen darin, eine Pfeife Tabak zu rauchen, oder wenn es ihm um irgendeinen anderen Zeitvertreib zu tun war, so suchte er einige Spinnen und ließ sie miteinander kämpfen, oder er fing einige Fliegen, warf sie in das Netz der Spinne und sah diesem Kampf mit großem Vergnügen, selbst mit Lachen zu.

R.I.P. Brigitte Bierlein

Es ist wohl an der Zeit, dass wir auf eine meritokratische Expertenregierung umstellen, so wie wir sie unter Frau Bierlein hatten. Eine meritokratische Expertenregierung wird wohl früher oder später dysfunktional werden, so wie andere Regierungen. Wenn die meritokratische Expertenregierung dysfunktional wird, stellen wir eben wieder auf Demokratie um. Bis dahin sollte es lange genug dauern, da meritokratische Experten gescheit genug sein sollten, um Dinge nicht so schnell degenerieren zu lassen. Beziehungsweise, wenn ein demokratisch gewählter Präsident eine meritokratische Expertenregierung einsetzt, hat das dann ja eine gewisse demokratische Legitimität. Politik sollte vielleicht nicht mehr den Politikern überlassen werden. Politiker haben zu viel Reibungsfläche und zetteln untereinander unnötige Konflikte an, um sich voneinander zu unterscheiden, obwohl sie insgeheim meistens wissen und sich untereinander einig sind, wie die bestmögliche Lösung für ein Problem auszusehen hätte. Es wird von ihren Wählern ja auch erwartet, dass sie sich voneinander unterscheiden und dass sie bestimmte ideologische Positionen besetzen bzw. Pfründe in bestimmte Richtungen verteilen. Daher sollte man sowohl die Politiker als auch die Wähler relativ entmachten, zugunsten der meritokratischen Experten.

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