Bemerkungen zu Spinoza

Spinoza ist bislang nicht einmal ansatzweise begriffen worden, nicht von den anderen und nicht von mir.

Gilles Deleuze

Es gibt bei Spinoza nichts zu begreifen, denn nach allem, was wir wissen, gibt es keine Substanz. Substanz ist keine empirische Kategorie. Substanz ist bei Spinoza eigentlich überhaupt nur eine Definition. Ethik, Erster Teil, Definition 3: Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich vorgestellt wird, d.h. das, dessen Vorstellung nicht der Vorstellung eines anderen Gegenstandes bedarf, von welcher sie gebildet werden muss. Es gibt aber wohl nichts, für dessen Vorstellung es nicht auch die Vorstellung eines anderen Gegenstandes bedarf, auf dass man sie sich bilden könnte. Überhaupt beginnt die Ethik, Erster Teil, mit Definition 1: Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder das, dessen Natur nur als existierend vorgestellt werden kann. Es gibt, soweit wir wissen, aber nichts, was rein Ursache seiner selbst wäre (und es gibt auch, zumindest für mich, nichts, was ich mir nicht auch als nicht existierend vorstellen könnte). Die Kategorie von der Substanz ist für Spinoza ein Mittel, mit dem er sich das Sein als logisch zusammenhängend vorstellen kann. Aber etwas, was logisch zusammenhängt, muss nicht empirisch zusammenhängen. Logik sagt nicht unmittelbar oder zwingend was darüber aus, wie sich etwas empirisch verhält. Zur Zeit Spinzoas, allgemein vor hunderten oder tausenden von Jahren, war es um das empirische Wissen über das Sein noch nicht gut bestellt. Philosophie war daher – am berühmtesten in der Scholastik – ein sich Abarbeiten an begrifflichen Abstraktionen und der Analyse dieser begrifflichen Abstraktionen, über die man das Sein und die Qualitäten des Seins zu verstehen gedachte. „Substanz“ ist eine solche begriffliche Abstraktion. Derartige begriffliche Abstraktionen, die von den alten Griechen geschaffen wurden, sind ein besseres Instrument zur Erkenntnis und Analyse der Welt als (animistische) Gottesvorstellungen oder Mythologien. Die alten Griechen setzen damit also an die Stelle des mythologischen Denkens ein philosophisches Denken und ein rationales und ein wissenschaftliches Denken (oder zumindest Vorstufen davon). Begriffe sind etwas Notwendiges, mit dem sich der Mensch die Welt begreiflich macht. Gleichzeitig sind sie limitiert, da sie abbilden, wie sich der menschliche Verstand die Welt begreiflich macht: sie sind Instrumente unseres Verstandes. Unser Verstand ist begrenzt. Er muss durch (sehr viel) Wissen, welches über die Empirie gewonnen wird, erweitert werden. Wissen über Tatsachen kann nicht über logische Schlüsse gewonnen werden, sondern nur durch Beobachtung (und theoretisches Verständnis). Anstelle von Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesen die Existenz einschliesst, oder das, dessen Natur nur als existierend vorgestellt werden kann sollte der Ausgangpunkt des Philosophierens besser sein: Die Welt ist alles, was der Fall ist. (Vielleicht ist es noch angemessener, keinen definitiven Ausgangspunkt zum Philosophieren zu nehmen, da der dann praktisch immer einen pfadabhängigen Verlauf und, so wie bei Hegel oder bei der Tractatus-Philosophie von Wittgenstein, ein fragwürdiges Ende nach sich zieht.) Spinozas Philosophie ist der Versuch, aus anfänglichen Thesen (bzw. thetischen Setzungen), Definitionen und Axiomen durch Deduktion und durch die „geometrische Methode“ (nach dem Vorbild von Euklid) zu einem vollständigen philosophischen System zu kommen, oder zumindest zu allgemeingültigen philosophischen Aussagen. Die geometrische Methode – more geometrico – ist wohl ein angemessenes Verfahren für die Geometrie. Aus Begriffen, die in der Regel keine quantitativen Verhältnisse sondern Qualitäten – und damit etwas Unscharfes – bezeichnen, lässt sich jedoch auch nicht eindeutig was Deduzieren. Wahrscheinlich deswegen frägt man sich bei Spinozas Deduktionen immer wieder ob, angesichts der Zweifel, die sie aufwerfen, der Verstand von Spinoza nicht richtig funktioniert oder der eigene defekt ist. Das ist tatsächlich nicht leicht zu unterscheiden und würde erheblichen Aufwand an Klärung erfordern, der aber wahrscheinlich nicht lohnt (da es ja, wie gesagt, sowieso keine Substanz u. dergl. mehr gibt). Spinoza strebt unerschütterliche Klarheit und Folgerichtigkeit an, aber man fühlt sich kaum wo so sehr in einer Zone der Dämmerung wie in der Lektüre der Ethik. Die Ethik ist auch ein Buch über Gott; indem Spinoza Gott mit der Substanz gleichsetzt. Mit der logischen geometrischen Methode wird dann auch Existenz Gottes in der Ethik bewiesen. Gottesbeweise beruhen in aller Regel auf Logik. Allerdings lassen sich auch gegen alle Gottesbeweise rein logische Einwände erheben, was die Sache selbst – die Frage nach der Existenz Gottes – rein logisch unentscheidbar macht. Die Gottesbeweise oder auch Gegenbeweise reduzieren sich damit von logischen Beweisen zu logischen Argumenten, die also in Ansatz gebracht werden können, oder auch nicht. Nun ja. Bei Spinoza heißt es auf jeden Fall in Ethik, Erstes Buch, Definition 6: Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige oder unendliche Wesenheit ausdrückt. Schopenhauer meint,  – und so könnte man mit ihm meinen –, Substanz sei nichts als ein anderer Begriff für die Materie; mithin also auch für die Selbstorganisation der Materie. Aber Gott ist bei Spinoza ein intelligibles Wesen. Ethik, Zweiter Teil, Lehrsatz 1: Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Ding. Bei Spinoza hat man also die Ontologie eines sich selbst entfaltenden, intelligiblen Gottes, bzw. eines Seins, das Ausdruck dieser Selbstentfaltung Gottes ist (daher gilt Spinoza als „Pantheist“). Gilles Deleuze ist zwar Atheist, aber fasziniert – geradezu hypnotisiert – von Spinoza, da ihm Philosophien von einem immanenten, univoken Sein, das nicht von einem höheren Prinzip geleitet wird und nicht hierarchisch gestaffelt ist und das sich noch dazu gleichsam vitalistisch entwickelt, behagen – und eine solche Philosophie will er (unter anderem) bei Spinoza rauslesen. Bei Spinoza selbst entfaltet sich dieses göttliche Sein allerdings zunächst mit einer gar nicht so vitalistischen Konnotation, sondern mit einer eisernen Notwendigkeit. Gott muss sich notwendigerweise auf die richtige Weise entfalten (und von einer „richtigen“ Weise nimmt man an, dass es eine einzige Weise ist). Was Gott geschaffen hat, ist daher notwendig und notwendigerweise vollkommen. Ethik, Zweiter Teil, Definition 6: Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich ein und dasselbe. Das Verständnis von Spinoza von Vollkommenheit liegt dabei jenseits von Gut und Böse. Als gut und böse mögen wir allenfalls etwas empfinden, was uns innerhalb der viel größeren Entfaltung des göttlichen Seins zustößt. Ein Ziegelstein fällt uns auf den Kopf, weil wir zufällig drunter vorbeigehen, und wir empfinden es als böse. Wir gewinnen im Lotto, weil wir zufällig die richtigen Zahlen haben, und wir empfinden es als gut. Für die Entfaltung des Seins selbst ist das ohne Bedeutung. Das kann man als Verhöhnung empfinden. Oder aber auch als Hinweis, einen abstrakteren Standpunkt gegenüber sich selbst und gegenüber dem eigenen Schicksal einzunehmen. Nicht zuletzt deswegen lädt uns die Ethik von Spinoza ein, unsere Alltagsverständnisse und -empfindungen zu transzendieren und vielmehr das göttliche Wesen zu schauen. Entgegengesetzt zur Philosophie von der Notwendigkeit der Entfaltung des göttlichen Seins gibt es bei Spinoza nämlich auch eine Philosophie von der Freiheit des Menschen, über die er in der Lage ist, das, was ihm als aufoktroyiert erscheint, zu überschreiten und hinter sich zu lassen. Für Antonio Negri, der ein intensives Bedürfnis nach „Befreiung“ hat, ist Spinoza sogar der großen Referenzphilosoph und, neben Marx, der zentrale politische Philosoph. Das, was bei Spinoza in der Ethik als abstrakte Philosophie entgegentritt, war nämlich ursprünglich vielmehr eine politische Philosophie. Weil Spinoza zu frei und unbequem dachte, wurde er bekanntlich früh aus seiner (jüdischen) Religionsgemeinde verstoßen und musste sein Leben unbequem als Verfemter und Außenseiter fristen. Spinoza was also ein Opfer von Politik. Von daher ging es ihm urtümlich darum, eine Politik zu ermöglichen, in der so etwas nicht vorkommen kann. In seinem frühen Theologisch-Politischen Traktat formuliert er: Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staates folgt ganz offenbar, dass der letzte Zweck des Staates nicht ist zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit. (20. Kapitel) Vernunft und eine Leitung durch Vernunft ist das, was Spinoza anstrebt, und im Theologisch-Politischen Traktat versucht er nachzuweisen, dass alle auf Religion beruhenden Gemeinschaften eigentlich auf vernünftigen Einsichten beruhen, und nicht auf Dogmen. Die Entrüstung, die Spinoza damit provozierte, war abermals groß, und der Theologisch-Politische Traktat wurde verboten (Spinoza hat daraufhin zu Lebzeiten nichts mehr veröffentlicht). Im späteren, posthum veröffentlichen Politischen Traktat formuliert Spinoza und bleibt dabei (Kapitel V §1): In §11 des Kapitels II haben wir gezeigt, dass ein Mensch dann in höchstem Maße unter eigenem Recht steht, wenn er sich in höchstem Maße von der Vernunft leiten lässt, und dass folglich (vgl. §7 des Kapitels III) dasjenige Gemeinwesen im höchsten Maße über Macht verfügt und unter eigenem Recht steht, das auf der Vernunft sich gründet und dadurch sich regiert. (Im Politischen Traktat untersucht Spinoza, wie verschiedene Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie) wohl geordnet und funktional bleiben können, anstatt zu degenerieren; das letzte Kapitel, Einiges zur Demokratie, bricht leider nach ein paar Seiten ab: aufgrund des Todes von Spinoza blieb es unvollendet. Für diverse Spinoza-Enthusiasten hat es daher einen umso höheren, gleichsam mystischen Stellenwert auf der Suche nach einer großen Verheißung und einer großen Lösung, die das spinozistische Denken bereithielte.) Ja, Spinoza macht sich geradezu utopische Hoffnungen in Bezug auf eine durch Vernunft regierte Gemeinschaft! Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 35: So weit die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, insoweit allein stimmen sie von Natur notwendig immer überein. (Es ist eigenartig, wie Spinoza die Trivialität nicht (an)erkennt, dass sich auch aus der Vernunft allein Streitigkeiten ergeben können. Aber diesen eigenartigen Rigorismus hat man bei Spinoza und seiner streng geometrischen Methode, wie gesagt, überall.) Das große Unglück für Spinoza ist, dass die Menschen nicht gemäß ihrer Vernunft leben, sondern hauptsächlich ihren „Affekten“ unterworfen sind. Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 35, Erläuterung: Es geschieht jedoch selten, dass die Menschen nach der Vernunft leben, sondern es ist mit ihnen so bestellt, dass sie meist neidisch und einander lästig sind. Und nicht nur das: Sie werden von den Affekten der Liebe, des Hasses, der Furcht, der Ehrsucht, des Zorns u.v.m. hin- und hergeworfen. Am besten ist es zudem, man stelle sich diese Affekte nicht allein als etwas unmittelbar Präsentes, als Gefühlsäußerung vor. Affekte können auch neurotische Zentren und Knoten sein, oder überhaupt die innere Architektur eines Menschen bestimmen. Und aus dieser Affektlage heraus nimmt er dann zu einem tatsächlichen Teil die Welt wahr. Oder aber: es ist erstaunlich, wie Affekte darüber bestimmen, ob wir etwas tatsächlich für wahr oder für falsch halten oder aber so oder so handeln. Ich selber halte Affekte auch für was Primitives und Störendes. Zwar vielleicht nicht die Affekte an sich oder die Stimmungen in einem: sondern ihre Bindung an das Ego. Zorn, Stolz, Scham, Hass, Neid, Machtstreben, Dünkel oder Furcht sind zwar Stimmungen und Reaktionsmöglichkeiten auf Umwelteinflüsse, die im Verstand liegen (es ist zum Beispiel eine unmittelbare Eingebung des Verstandes, Ausgleich zu suchen für eine Imbalance, die einem widerfährt: das ist nicht unvernünftig, vielmehr wäre es unvernünftig, das nicht zu tun); zu Affekten werden sie aber erst, wenn sie einen allzusehr als Person, also über das eigene Ego betroffen machen. Dann mögen sie das Ego zur Unvernünftigkeit hinreissen. Ich selbst finde es vor allen Dingen auch gut, zum Feuerkern der Vernunft vorzudringen. Das ist dann die Weiße Hütte. Wenn man alle Traditionen, Ideologien, angelernte Erkenntnisse (hinter denen insgesamt oft Affektbesetzungen stecken) intensiv durchdacht und durchlebt und daher hinter sich gelassen hat, wird man schließlich in einem weißen Licht stehen, in dem Gegenstände als Kräuselungen und Wellen an einem vorbeiziehen. Das ist der Moment der Erleuchtung. Was verbirgt sich aber weiter drinnen, im Zentrum der Weißen Hütte? Das ist ein großes Geheimnis und ein Weg, den nur du selbst gehen kannst. Aber ist die Weiße Hütte erreicht und hat man die Weiße Hütte betreten und kennengelernt, ist das Geheimnis dieses: Man hat volle Manövrierfähigkeit des eigenen Geistes. Dieser ist nicht mehr an traumatische affektive Zentren gebunden. Laut Spinoza ist die höchste Erkenntnis die Erkenntnis Gottes. Ethik, Vierter Teil, Lehrsatz 28: Das höchste Gut der Seele ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend der Seele Gott erkennen. Und Ethik, Vierter Teil, Anhang, Satz 4: Es ist deshalb im Leben das Nützlichste, den Verstand oder die Vernunft so viel als möglich zu vervollkommnen; darin allein besteht des Menschen höchstes Glück oder seine Seligkeit. Denn die Seligkeit ist die Seelenruhe, welche aus der anschaulichen Erkenntnis Gottes entspringt. Die Vervollkommnung unseres Verstandes besteht aber auch nur in der Erkenntnis Gottes, seiner Attribute und seiner Handlungen, welche aus seiner Natur mit Notwendigkeit folgen. Deshalb ist das höchste Ziel eines von der Vernunft geleiteten Menschen, d.h. sein stärkstes Begehren, wodurch es alle anderen zu mäßigen strebt, sich und alles, was seiner Erkenntnis erreichbar ist, zureichend zu begreifen. Die Weiße Hütte oder die Gotteserkenntnis Spinozas sind keine trivialen geistigen Verfassungen. Sie können nur durch Anstrengung (und Glück) erreicht werden und basieren auf einer höheren Art zu denken. Spinoza spricht von einer „dritten Art“ des Denkens. Ethik, Zweiter Teil, Lehrsatz 40, Erläuterung 2.3: Außer diesen beiden Arten von Kenntnis gibt es noch, wie ich demnächst zeigen werde, eine dritte Art, welche ich das anschauliche Wissen nennen werde. Diese Art der Erkenntnis schreitet von der zureichenden Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute Gottes zu zureichender Erkenntnis des Wesens der Dinge vor. Ich kann nur für das Hüttendenken sprechen, aber im Licht der Weißen Hütte erscheinen die Gegenstände luzider und die Unterscheidungen zwischen den Gegenständen deutlicher – sie scheinen überhaupt zum ersten Mal als tatsächliche Gegenstände wahrnehmbar. Das scheinbar synthetische Licht der Weißen Hütte stärkt das Analysevermögen. Das wiederum stärkt die Fähigkeit zu Syntheseleistungen. Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 24: Je mehr man die einzelnen Dinge erkennt, desto mehr erkennt man Gott. Und im Beweis zum folgenden Lehrsatz 25 steht: Die dritte Art des Wissens schreitet von der zureichenden Vorstellung einiger Attribute Gottes zur zureichenden Erkenntnis der Dinge fort (II L.40 E.2). Je mehr man die Dinge erkennt, desto mehr erkennt man Gott (V L.24). Und schließlich Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 30: Soweit unsere Seele sich und den Körper in der Form der Ewigkeit kennt, insoweit hat sie notwendig die Erkenntnis Gottes und weiß, dass sie in Gott ist und durch Gott vorgestellt ist. Die dritte Art der Erkenntnis führt bei Spinoza also zur Erkenntnis, dass man Teil der göttlichen Substanz ist, quod erad demonstrandum im Rahmen seiner Philosophie. Ich halte das für eine Fantastik, sich (tatsächlich, buchstäblich) für einen Teil einer göttlichen Substanz zu halten. Aber ähnliche Zustände sind mir schon bekannt – und sind einem allgemein im Leben bekannt. Das sind die guten Zustände (bei denen die Gefahr aber besteht, dass sie mit Affekten besetzt werden und dann verklärt werden). Im säkularisierten Spinozismus von Deleuze bedeutet die ominöse dritte Art des Denkens, dass man die Dinge so erkennt, wie Gott selbst sie erkennt. In der dritten Erkenntnisart bilden wir Ideen und aktive Affekte, die so in uns sind, wie sie unmittelbar und ewig in Gott sind. Wie denken, wie Gott denkt, wir empfinden selbst die Affekte Gottes. Wir bilden die Idee von uns selbst, so wie sie in Gott ist, und wenigstens zum Teil bilden wir die Idee Gottes, so wie sie in Gott selbst ist: die Ideen der dritten Art konstituieren also eine noch tiefere Dimension des Eingeborenen, und die Freuden der dritten Art sind die einzig wahren Affektationen des Wesens in uns selbst (Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, Neunzehntes Kapitel). Im Inneren der Weißen Hütte ist man auf eine Art im Innenraum des Geistes und die Erkenntnisse werden so allgemein und tiefenscharf, dass sie des Zeitlichen enthoben werden, und abstrakt, dass sie also ewig und unsterblich werden. Diese abstrakte Unsterblichkeit des Verstandes, seine ewige Geborgenheit in Gott, hat man auch bei Spinoza als letztes menschenmögliches Ding. In diese abstrakte Unsterblichkeit ist auf jeden Fall der Geist von Spinoza eingegangen, der mit dem werdenden Gott des Weltprozesses mitzieht. Während des Lebens ist man, laut Spinoza, allerdings weniger abstrakt und vollkommen, sondern Affekten unterworfen. Für die Affekte hat sich Spinoza sehr interessiert, er betrachtete ihre Analyse und Würdigung als etwas, das zu wenig beleuchtet sei. Die Affekte, von denen wir mitgenommen werden, verstehen Philosophen als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Deshalb pflegen sie sie zu belachen, zu beklagen, zu verspotten oder (sofern sie sich den Anschein besonderer Sittenreinheit geben wollen) zu verdammen. Sie glauben dergestalt etwas Erhabenens zu tun und den Gipfel der Weisheit zu erreichen …. Um das, was Gegenstand dieser Wissenschaft ist, mit derselben Unbefangenheit, mit der wir es bei der Mathematik zu tun pflegen, zu erforschen, habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. Deshalb habe ich die menschlichen Affekte, wie beispielsweise Liebe, Hass, Zorn, Neid, Ruhmsucht, Mitleid und die übrigen Gemütsbewegungen, nicht als Fehler der menschlichen Natur betrachtet, sondern als deren Eigenschaften, die zu ihr so gehören wie zu der Natur der Luft die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und anderes dieser Art… (Politischer Traktat, Kapitel I) Das Philosophieren über die Affekte nimmt bei Spinoza großen Raum ein. Der gesamte Dritte Teil der Ethik handelt von dem Ursprung und der Natur der Affekte. Es scheint gut, dass ein Philosoph so vieles über die Affekte sich überlegt und somit sich ein überzeugendes Bild von Menschen zu machen bereit scheint; bei Spinoza steht der Mensch wirklich als ganzer Mensch da. Irritierend ist allerdings, wie anämisch und klinisch kalt die Beschreibungen der Affekte bei Spinoza bleiben. Darüber hinaus scheint er der Affekte gleichsam Herr werden zu wollen, indem er sie definiert und etwas über sie deduziert und so die Betrachtung über sie jeweils abschließt. Irgendwie scheint er den Affekten damit ihre Würde und ihr Eigenleben zu nehmen. Dabei stellt Spinoza im besagten Dritten Teil der Ethik in der Vorrede auch in Aussicht: Ich werde daher über die Natur und Kraft der Affekte und die Macht der Seele über sie in derselben Weise die Untersuchung anstellen, wie ich bis hier über Gott und die Seele getan habe, und ich werde die menschlichen Handlungen und Begierden ebenso betrachten, als wenn es sich um Linien, Ebenen oder Körper handelte. Wer ist derjenige, der menschliche Handlungen und Begierden so betrachtet, als wie wenn es Linien, Ebenen und Körper wären? In der Kurzen, aber wahrhaftigen Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza aus authentischen Stücken und mündlichem Zeugnis noch lebender Personen zusammengestellt von Johannes Colerus, deutschem Prediger der lutherischen Gemeinde in´s Gravenhage wird Spinoza eindrucksvoll beschrieben derart: Sein Verkehr und seine Lebensweise waren still und eingezogen. Seine Leidenschaften wusste er in bewundernswerter Weise wohl zu bändigen. Niemals sah man ihn allzu traurig noch fröhlich. Seinen Zorn und sein Missvergnügen konnte er sehr wohl bemeistern oder sich ihm verscbließen, indem er es mir durch ein Zeichen oder einige kurze Worte zu erkennen gab, oder aufstand und fortging, aus Furcht, seine Leidenschaften möchten überhandnehmen. Im Übrigen war er freundlich und umgänglich im täglichen Verkehr. Spinoza gilt heute gemeinhin als der beinahe sympathischste und liebenswerteste unter den Philosophen, mit einer Philosophie, die nirgendwo aneckt und auf die sich alle einigen können, vernünftig und menschenfreundlich wie sie ist. Ganz im Kontrast dazu, was Spinoza zu Lebzeiten widerfahren ist, und bis lange über seinen Tod hinaus. Da sah man in ihm etwas Satanisches. Diese Tragik erhöht jedoch auch sein Charisma. Spinozas unterdrücktes, verfolgtes, gefährliches Leben mag leicht zu seiner „eingezogenen“ Lebensweise geführt haben. Diese Eingezogenheit und Selbstunterdrückung wird jedoch in einer gewissen Weise zur höchsten Tugend in der Philosophie von Spinoza. Ethik, Vierter Teil, Vorrede: Die Ohnmacht des Menschen in Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan. Er befindet sich in solchem Grad in dessen Hand, dass er oft gezwungen ist, dem Schlimmeren zu folgen, obwohl er das Bessere sieht. Spinoza, so könnte man meinen, verabscheut die Knechtschaft nicht nur philosophisch, sondern in einer viszeralen Weise. Um „Handeln“ und „Tätigwerden“ hingegen betreibt er gleichsam einen Kultus. Ethik, Fünfter Teil, Lehrsatz 40: Je mehr Vollkommenheit ein Ding besitzt, umso mehr handelt es und umso weniger leidet es, und umgekehrt, je mehr es handelt, desto vollkommener ist es. Leidenschaften sah Spinoza als etwas, dass einem widerfährt, dass man erleidet, dem man unterworfen ist. Allein der Verstand, der die Leidenschaft unterdrückt, sei eine aktive, daher positive Kraft. In der Praxis freilich gehören Leidenschaften, die uns widerfahren, immer wieder zu den besten Dingen im Leben, zu der Würze des Lebens. Von daher scheint auch der Gegensatz „Vernunft = gut versus Leidenschaft = schlecht“ ein wenig eine Konstruktion. In der sich der idiosynkratische „Wille zur Macht“ bei Spinoza ausdrückt, in einer freilich ein wenig hilflos erscheinenden Weise. Für Ben-Ami Scharfstein, in seinem beeindruckenden Werk über das Leben und die Marotten der großen Philosophen (The Philosophers. Their Lives and the Nature of their Thought), scheinen bei Spinoza die Affekte der Unlust und des Hasses zu überwiegen (weswegen er sie so gleichsam panisch zu unterdrücken scheint), die der Liebe hingegen bleiben im Wesentlichen abstrakt und diffus (eben „Gottesliebe“, die, so betrachtet, eine Liebe zur eigenen kultivierten Vernunft und ihrer überlegenen Einsichtsfähigkeit ist: als Machtinstrument; und als eine Art Amor fati zum Schicksal, das man durch einen eminent indifferenten Gott erleidet, durch das man aber, zumindest irgendwie, durch Einsicht triumphiert). Spinoza hatte wenig Beziehungen zu Menschen und noch weniger zu Frauen und könnte misogyn gewesen sein (im Politischen Traktat zumindest will er Frauen, Unmündige und Knechte von der politischen Partizipation und vom Stimmrecht in der ersehnten Demokratie ausschließen). Misogynie (und Misandrie) ist gemeinhin Ausdruck eines unglücklichen, griesgrämigen, neurotisch-nekrophilen, lebensabtötenden Temperaments. Wer sich etwas so Herrlichem wie dem anderen Geschlecht versagt, ist ja gleichsam lebendig eingesargt. (Im Politischen Traktat will er Frauen und Knechte dabei konkret deswegen vom Stimmrecht ausschließen, weil sie den Männern und ihren Herren „unterworfen“ seien, und damit keine selbstständigen Individuen. Und Spinoza eben hasst Unterworfenheit.) Schopenhauer ist indigniert, insofern Spinoza „Hunde ganz und gar nicht gekannt“ zu haben scheine (Spinoza behauptet an einer Stelle, nur der Mensch könne dem Menschen ein würdiger Gesell sein). Dafür hatte Spinoza ein Faible für Spinnen und Fliegen. Allerdings ein merkwürdiges und ein wenig irritierendes. Johannes Colerus berichtet: Außerdem bestand sein Vergnügen darin, eine Pfeife Tabak zu rauchen, oder wenn es ihm um irgendeinen anderen Zeitvertreib zu tun war, so suchte er einige Spinnen und ließ sie miteinander kämpfen, oder er fing einige Fliegen, warf sie in das Netz der Spinne und sah diesem Kampf mit großem Vergnügen, selbst mit Lachen zu.