Jedes
Ding hat zwei Aspekte: den gewöhnlichen Aspekt, den wir fast immer sehen und
den jedermann sieht, und den geisterhaften und metaphysischen, den nur seltene
Individuen sehen mögen in Momenten der Hellsichtigkeit und metaphysischer
Abstraktion. Ein Kunstwerk muss etwas erzählen, was nicht in seiner äußeren
Gestalt erscheint … Wir konstruieren durch Malerei eine neue metaphysische
Psychologie der Dinge. Das absolute Bewusstsein des Raumes, den ein Gegenstand
in einem Bild einnehmen muss, und des Raumes, der die Gegenstände untereinander
trennt, stabilisiert eine neue Astronomie der durch das starre Gesetz der
Schwerkraft an unseren Planeten gefesselten Dinge … Vor allem ist
ein großes Feingefühl nötig. Sich alles auf der Welt als Rätsel vorstellen,
nicht nur die großen Fragen, die man sich immer wieder gestellt hat – warum die
Welt erschaffen wurde, warum wir geboren werden, leben und sterben -, denn
vielleicht liegt in all dem, wie ich schon gesagt habe, kein Sinn. Aber das
Rätsel mancher Dinge verstehen, die im Allgemeinen als belanglos betrachtet
werden …In erster Linie ist es nötig, die Kunst von allem freizumachen,
was sie bis jetzt an Bekanntem enthält, jedes Sujet, jede Idee, jeder Gedanke,
jedes Symbol muss beiseitegeschoben werden … Den Mut haben, auf alles andere
zu verzichten.
So wird der Künstler der Zukunft sein; einer, der jeden Tag auf etwas verzichtet;
dessen Persönlichkeit jeden Tag reiner und unschuldiger wird … So muss die
Malerei der Zukunft sein. Dass mehrere Menschen auf dieser Welt so malen
können, ist unmöglich.
Giorgio de Chirico
Giorgio de Chirico hat (im Alter von 23 Jahren) gemeint,
große Anstrengungen seien nötig zu unternehmen, um Künstler zu werden, um zum
Metaphysischen vorzudringen, denn: Kunst
ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit, so Nietzsche (mit Bezug auf
Schopenhauer und von dem blutjungen de Chirico zum Vorbild genommen).
Metaphysik interessiert sich dafür, zu einem tieferen, „eigentlicheren“ Wesen
der Dinge vorzudringen, ein tieferes, „eigentlicheres“ Wesen der Dinge
freizulegen. Das will auch (zumindest) die neuzeitliche Kunst; mit zunehmender
Intensivierung und Verbesserung des metaphysischen und wissenschaftlichen
Wissens, des Selbstbewusstseins des neuzeitlichen Menschen und der Methoden, in
die Materie einzudringen, wie diese Methoden dann selbst wieder zu hinterfragen
(Epistemologie) wollte das mit dem höchsten Intensitätsgrad die moderne Kunst. Sie
hat große Anstregungen unternommen, ja, war ein Rahmen um Anstrengungen
metaphysischer Art, zu einem tieferen Kern und Wesen der Dinge vorzudringen und
so einen höheren epistemologischen und moralischen Standpunkt für den Menschen
zu schaffen, zu unternehmen. Alles andere, geringere Anstrengungen zu
unternehmen als eben solche, schien banal und lächerlich. Heute ist das nicht
mehr so. Seit in etwa den 1970er Jahren steht die bildende Kunst mehr oder
weniger unter dem Spirit der Transavantgarde.
„Die Welt ist tief, und tiefer als der
Tag gedacht“. Das ist nicht Mystizismus von mir, sondern das ist unser
heiligstes Lebensgefühl. Es ist einfach töricht, von solchen Menschen (wie Kandinsky)
zu sagen, dass ihre Kunst „nur um einiger weniger krankhafter Mäzene willen,
die so einen Kitzel bezahlen“, geschaffen wurde (…) Man begreift, dass es sich
in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, dass die Erneuerung nicht formal
sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens. Die Mystik erwache in den Seelen
und mit ihr uralte Elemente der Kunst (…) Jene abstrakte reine Linie des
Denkens, nach der ich immer gesucht habe und die ich auch immer im Geist durch
die Dinge hindurch gezogen habe; es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem
Leben zu verknoten – wenigstens nie mit dem menschlichen Leben, ( – darum kann
ich keine Menschen malen).
Franz Marc
Die abstrakte reine Linie des Denkens führt über das bloße
Leben, über den bloßen Menschen hinaus. Es ist schwierig, die abstrakte reine Linie
des Denkens zu denken und sie sich zu vergegenwärtigen, da sie eben rein und
abstrakt ist und nicht im lebensweltlichen Raum verläuft. Allerdings wurde
diese abstrakte reine Linie des Denkens in der modernen Kunst sichtbar gemacht,
aufgezeigt, über die Frakturen und Nuancen, die sie schafft, über die Tableaus
und Plateaus, die sie errichtet, über das, mit was sie den Betrachter
konfrontiert etc. Der Spirit der modernen Kunst und der Avantgarde war eben das Verfolgen der abstrakten
reinen Linie des Denkens. Sinn und Intention dieses Denkens war natürlich
immer, sich mit dem Leben zu verknoten. Dass das trotz aller Anstrengung nicht
gelungen ist, zumindest nicht im gedachten Sinn, trug dazu bei, das Fundament
der avantgardistischen Intention auszuhöhlen. Der Sinn von Kunst und der Sinn
von der abstrakten reinen Linie des Denkens ist aber gar nicht, sich „mit dem
Leben zu verknoten“; der Sinn von Denken und Kunst ist Vorstoßen zur Transzendenz.
Die Anforderungen der Transzendenz stellen sich immer wieder neu. Transzendenz
ist dabei aber etwas, was im Leben und im Menschen vorhanden ist – denn der
Mensch ist ein transzendentes Wesen, wie man sagt. Transzendenz ist etwas ganz
Lebensweltliches. Transzendenz und Immanenz des Menschen und des Lebens treffen
sich und verknoten sich in einer Dimension, die nicht unmittelbar sichtbar ist.
Die Vollendung in der Kunst ist es, dieses Zusammentreffen eben sicht- und
verstehbar zu machen. Die Kunstwerke (unter anderem) sind sichtbare Zeugnisse
und Emanationen aus dieser Dimension. Heute ist die Kunst als Fenster in diese
Dimension weitgehend geschlossen.
Ohne die Dichter und Künstler würden die
höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, rasch verfallen, die
Ordnung, die in der Natur erscheint und die nur das Ergebnis der Kunst ist,
würde verschwinden. Alles würde ins Chaos versinken … Die Dichter und Künstler
determinieren im Wettstreit die Gestalt ihrer Epoche, und gelehrig richtet sich
die Zukunft nach ihren Weisungen.
Guillaume Apollinaire
Auf ihrer höchsten Stufe versucht die Kunst, die Situation
des Menschen im Universum und den „bewussten Zusammenhang des Menschen mit dem
Weltganzen“ auszudrücken (ähnlich zur Metaphysik, die ihn auszusagen versucht). Die „Situation des
Menschen im Universum“ wurde im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts durch die
Technik radikal verändert. Mit dem tatsächlichen Vordringen des Menschen in das
Universum, mit seiner Landung auf dem Mond, stürzt das erhabene Raumschiff der
großen Kunst scheinbar beinahe zeitgleich auf die Erde und liegt dort
zertrümmert, oder aber ist zumindest nunmehr ein bescheideneres und weniger
futuristisches Habitat. Mit Heidegger gesprochen, ist die Funktion von Kunst
(nach dem Verlust der dementsprechenden Verbindlichkeit, die Religion für sich
beanspruchen kann) die Schaffung eines „Zeit-Raums“, also eines integralen
Selbstverstädnisses von einem Raum in der Zeit. Dies wird nunmehr von der
Technik erledigt, ungleich mächtiger und ungleich die Lebensqualität
verbessernder. Aus der Kunst ist die Luft gleichsam folgerichtig so draußen,
wie sie aus der Religion draußen ist, entgegen ihrer avantgardistischen
Intention gibt sie eventuell noch einen matten Kommentar zum Zeitgeschehen ab
und fokussiert sich nunmehr vorwiegend auf ihr eigenes Publikum und ihre
eigenen Regelkreise. Allerdings: die höchsten
Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, verflüchtigen sich damit
tatsächlich. Nur weil die Technik die besten
Ideen hat, heißt das nicht, dass sie auch die höchsten Ideen einschließt (wenngleich das natürlich nicht
unmöglich ist). Die höchsten Ideen,
die der Mensch haben kann, sind mit der seelischen Transzendenz des Menschen
verbunden, verweisen auf den Übermenschen. Und Kunst sei das Medium, wo der
Mensch über sich hinaus weise, Übermensch werde: das sei der Kunst Privileg
(wenngleich die Gen- und Computertechnik in zwei, drei Generationen womöglich
den „Übermenschen“ einfach achselzuckend tatsächlich hinstellen mag – wir sollten
uns aber eben gegen diese Degradierung wehren).
Wenn man
das Unsichtbare begreifen will, muss man so tief wie möglich ins Sichtbare
eindringen. – Mein Ziel ist immer, das Unsichtbare sichtbar zu machen durch die
Wirklichkeit. Es klingt vielleicht paradox, aber es ist tatsächlich die
Wirklichkeit, die das Geheimnis unseres Daseins bildet … Meiner Meinung nach
sind alle wesentlichen Dinge in der Kunst seit Ur in Chaldäa, seit Tel Halaf
und Kreta immer aus dem tiefsten Empfinden für das Mysterium unseres Daseins
entsprungen. – Das Ich ist das große verschleierte Mysterium des Daseins … Ich
glaube an dieses Ich und seine ewige unveränderliche Form … Darum bin ich so
versunken in das Problem des Individuums und versuche auf alle Weise, es zu
erklären und darzustellen.
Max Beckmann
„Die meisten Leute sind andere Leute“, sagte
Oscar Wilde, und meinte damit: die meisten Leute werden durch Gehalte ihrer
Umwelt definiert. Wenngleich die meisten Leute sehr eitel sind, haben die
wenigsten davon ein eigentliches „Selbst“ und ein Bewusstsein für das eigene
Selbst und ihre Individualität, sprach also Zarathustra/Nietzsche. Der Konflikt
zwischen Individuum und Gesellschaft, dem Individuum, das aus der
traditionell-feudalistischen oder modern-vermassten Gesellschaft heraustreten
will – mit all den schönen utopistischen Hoffnungen, welche Potenziale damit
freigesetzt werden mögen –, der Kampf darum, sein Leben zu einem Kunstwerk zu
machen und „Kunst und Leben zu verbinden“ war, sagen wir, zwischen 1850 und
1950 (oder 1875 und 1975) in der Kunst prominent. Heute ist jeder Künstler.
Deswegen ist er aber noch kein Individuum und kein Selbst. Paradoxerweise haben
es die Künstler und hat es die Kunst auch aufgegeben, ein starkes Selbst zu
entwickeln und zu transportieren. Eine postmodern-selbstironische
Subjektivität, die sich zurücknimmt, hat zwar was Sympathisches und kann ein
gutes Korrektiv sein, aber eben auch, und vor allem, etwas Defätistisches und
kann ein gutes Faulbett sein. Wer ist versunken in das Problem des Individuums
als dem großen verschleierten Mysterium des Daseins und versucht auf alle
Weise, es zu lüften? Kunst soll doch sein, wo der Mensch auf den Übermenschen
trifft!
Hervorragende Kunstwerke zu machen ist für
gewöhnlich eine beschwerliche Arbeit. Doch im Modernismus wurde nicht nur das
Herstellen, sondern vor allem das Betrachten von Kunst noch anstrengender,
musste man sich die Befriedigung und die Freude, die die beste neue Kunst
vermitteln kann, mühsam erringen. In den letzten mehr als einhundertfünfunddreißig
Jahren waren die beste neue Malerei und die beste neue Skulptur (und die beste
neue Dichtung) zu ihrer Zeit für den Kunstliebhaber eine Herausforderung und
eine Prüfung, wie sie es früher nicht gewesen waren. Doch gibt es den Drang
sich auszuruhen, wie es ihn immer gegeben hat. Er ist eine permanente Bedrohung
der Qualitätsmaßstäbe. Dass dieser Drang auszuruhen sich in immer anderer Weise
ausdrückt, bezeugt nur seine Dauerhaftigkeit. Das Gerede von der „Postmoderne“
ist eine weitere Ausducksform dieses Dranges. Und es ist vor allem eine Art,
sich dafür zu rechtfertigen, dass man weniger anspruchsvolle Kunst bevorzugt,
ohne deswegen reaktionär oder zurückgeblieben genannt zu werden (was die
schlimmste Befürchtung der neumodischen Philister der Avantgarde ist).
Clement Greenberg, Modern und
Postmodern, 1980
Dass
der Mensch auf den Übermenschen trifft, erfordert große metaphysische
Anstrengungen. Leute wie de Chirico wollten sich dieser Anstrengung bewusst
unterziehen, wer aber will das sonst? Was man in den o.g. Zitaten hat, sind
tief denkende und empfindende Menschen (Beckmann, Apollinaire, Marc), und viele
andere, darunter eventuell noch tiefere, wurden gar nicht genannt. Dieses tiefe
Denken und Empfinden ist allerdings unter den Künstler(innen) der Moderne ganz
allgemein und verbreitet. Ebenso, wie es heute offenbar weit verbreitet fehlt.
Es waren wunderliche und seltsame Leute, die sich in einer luftigen Sprache
ausdrückten und luftigen Idealen nachjagten – der Sprache der Intelligenz und
der Kreativität (und der Spiritualität) halt allerdings. Der Künstler galt als
Sonderling. Heute hat man ein solches Bild vom Künstler als antibürgerlichem
Sonderling nicht mehr. Es hat sich verflüchtigt. Große Proklamationen und
Manifeste und theoretische Schriften finden sich auch nicht mehr so ganz. Wenn
man angesagte Künstler sprechen hört, hat man eine Idee, warum ihre Kunst immer
wieder so dumm ist. Sie ist eben, dahingehend, „Selbstausdruck“. Angeblich
steigt in jeder Generation der durchschnittliche Intelligenzquotient
(„Flynn-Effekt“), unabhängig davon würde man einen gewissen Grundstock von sehr
intelligenten und kreativen Individuen zu jeder Zeit vermuten. Aus irgendeinem
gespenstischen Grund scheint das in der Kunst der Gegenwart nicht der Fall zu
sein, nicht in Erscheinung zu treten. Und dieser gespenstische Grund scheint
mir, vielmehr, auch der zu sein, wo der Hund wirklich begraben liegt (und nicht
in sozialen und historischen Entwicklungen). Große, interessante, aufregende
Zeiten kommen zumeist in Raum und Zeit geclustert vor. Neben objektiven
sozialen und historischen Bedingungen ist das Zusammentreffen von Individuen
Ausschlag gebend. Eine „Goethezeit“ gibt es (im Gegensatz zu einer „Shakespearezeit“),
weil Geothe der eminenteste unter allerhand eminenten Geistern seiner Zeit und
in seiner Umgebung gewesen ist. Man hat sich an die marxistische Vorstellung
gewöhnt, dass entsprechende Zeiten entsprechende Individuen produzieren, das
„Sein das Bewusstsein bestimmt“ u.Ä., und in der Tat fällt es auch schwer, das
anders zu denken – allerdings, weil das Gegenteil ja eben auch schwer
festzustellen ist. Zeiten, die reif wären, aber nicht zur Reife gelangen, weil
die epochenmachenden Individuen fehlen. Vielleicht ist aber sogar das der
regelmäßigere Fall. Sagen wir, dass eine Zeit zur Reife kommt: im Hinblick
darauf gibt es verstärkende und abschwächende Tendenzen, und der jeweilige Mix
ist durchaus zufälliger, als man vielleicht glaubt. Heute kommen dann eben
scheinbar zu viele abschwächende Tendenzen zusammen, die ihre gespenstische
Sogkraft nach unten ausüben. Das kann schon mal sein. Das ist so aufgrund des Chaosmos, des
kosmischen Zusammenspiels von Zufall und Ordnung. Die Idee vom Chaosmos ist ja
eben das Zentrum meiner Philosophie und Metaphysik; soweit ich feststellen
kann, ist sie sogar grundlegender als alle Metaphysik und Philosophie: denn der
Chaosmos ist die Welt an sich.
Ich will Ihnen etwas entdecken, und
sie werden es in ihrem Leben vielleicht bestätigt finden: alle im Rückschreiten
und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen haben
alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung.
Goethe zu Eckermann
Kunst ist, beliebt man zu sagen, Selbstausdruck. In der
obersten Etage ihrer Pyramide ist sie aber Ausdruck von etwas Objektivem und
Universalem, von einer Subjektivität bestenfalls, die objektive und universale
Wahrheiten auszudrücken anstrebt. Dieses Wissen war den modernen Künstlern, wie
man an den Zitaten hier sieht, zu eigen, es ist aber eher verloren gegangen und
in den Hintergrund gerückt. Die Postmoderne lieferte das intellektuelle
Rüstzeug dazu, die Pluralisierung der Gesellschaft und der Aufstand der
„Minderheiten“ und „Partikularitäten“ und ihr Drang, sich selbst autonom zu
definieren (oftmals eben auch irgendwie künstlich gegen das „Universale“
gerichtet) bildete die realweltliche Basis dazu. Kunst, die von Angehörigen von
„Minderheiten“ oder Frauen kommt, als Versuch des Selbstausdrucks wie der
Erweiterung gesamtgesellschaftlicher Verständnisse, wird nunmehr gerne gesehen
– und das ist auch würdig und das ist auch recht. Allerdings haben
Selbstausdrücke oder Emanzipationsprozesse nicht notwendigerweise was
gesamtgesellschaftlich Verbindendes, sie können genauso gut Ausdrücke eines
saturierten (bzw. nach Satuierung strebenden) Egoismus sein und der Ausdruck
eines Zerfalls von Gesellschaft und eines Zerfalls von Geist und eines Zerfalls
von Streben. Die Abstrakten Expressionisten haben danach gestrebt,
Universalität, Metaphysik und Transzendenz auszudrücken, und haben (angeblich)
auch gemeint, die Subjektivität, die das am Besten könne, sei der (junge) weiße
Mann. „Feminine“ oder ethnoplurale Einflüsse wollten sie außen vor lassen, da
sie der reinen geistigen und universalen Schau entgegenarbeiteten. Da mag man
heute platzen vor Empörung. Es kann aber schon sein, dass das stimmt. Es geht
um die Durchdringung und es geht um die Durchsichtigkeit gegenüber dem
Geistigen. Die Postmoderne heiligt das „Minoritär“-Werden, das Frau-Werden, das Neger-Werden, das Tier-Werden.
Ja, das alles ist sicherlich hilfreich, um sich zu verbessern und seinen
Aktionsradius zu erweitern. Aber vielleicht tut auch das WeißeralterMann-Werden ganz gut. Es formuliert die Möglichkeit
einer Position bzw. verweist auf eine theoretische Position, die es sich
eventuell lohnt, einzunehmen. Man muss daür auch kein weißer alter Mann sein,
eine Kannibalin aus Papua-Neuguinea kann das ja genauso tun. „Objektive“
Gerichtetheit in der Kunst ist auch aus der Mode gekommen, weil in deren
universalistischem Anspruch ein Totalitarismus und Narzissmus des Westens (bzw.
westlicher „Männlichkeit“) vermutet werden kann. Was aber, wenn der westliche
Universalismus nicht totalitär ist, sondern Ausdruck von genuinem Interesse an
der Welt und am Anderen, von Offenheit, Extrovertiertheit, fortschrittlichem
Geist, Empathie und Spiritualität, der dann eben deswegen weltumspannende
Imperien errichtet, weil er dem kleinkrämerischen, introvertierten (und
sexistischen) Chauvinismus in anderen Kulturräumen überlegen ist? Die westliche
Kultur ist die intellektuell, wirtschaftlich und sozial ausdifferenzierteste.
Daher ist sie schon ganz gut. Die Kunst der Gegenwart trägt auch dazu bei, sie
weiter auszudifferenzieren, aber ich finde, sie sollte sich auch wieder mehr
auf ihre ernthaft-avantgardistischen Wurzeln besinnen. Falls man gegen den
Westen ist: Die Chinesen sind eh schon fast da. Viel Spaß mit denen. Kunst
spielt in China im Übrigen (aktuell noch) kaum eine Rolle und wird von den
Chinesen kaum wahrgenommen; Ai Weiwei ist bei uns viel bekannter als bei denen
etc. Selbst ein alter Linkdradikaler wie Badiou rümpft die Nase über die
Dominanz von „ethnischen“ und „sexuellen Partikularitäten“ als Leitmotiv in der Gegenwartskunst („Diese Produkte beruhen auf
einer Ichbezogenheit, die so verspielt wie nur möglich ist“) und plädiert
stattdessen für eine Neuaufrichtung der Kunst in universalem Anspruch („Die Kunst
kann kein Ausdruck der Partikularität sein, ganz gleich, ob sie ethnisch oder
ichbezogen ist. Sie ist die unpersönliche Produktion einer Wahrheit, die sich
an alle richtet“).
Für drei gute Dinge in der Kunst haben „Massen“ niemals Sinn gehabt,
für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum –:
um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden.
Friedrich Nietzsche
Friedrich
Nietzsche war ein Philosoph mit einer hohen Affinität zur Kunst, ein
Künstler-Philosoph. De Chirico, Pollock, Modigliani – mehr oder weniger alle
bedeutenden Größen der modernen Kunst – waren Künstler mit einem großen
Interesse an der Philosophie. Für Philosophie interessiert sich, angeblich,
jeder. Denn der Mensch ist ein philosophisches Wesen. Ebenso interessiert sich,
angeblich, jeder für Kunst. Denn der Mensch ist ein künstlerisches Wesen.
Beides, Kunst und Philosophie, ist was für die Massen. Allerdings wird man aus
den Massen niemals schlau. Schau, die Massen, wie sie sich drängeln und den
Eingang zum Museum verstopfen, um sich dann in einer völlig überlaufenen
Ausstellung alter Meister wiederzufinden! Ich habe mich dazu schon mal
geäußert, nachdem ich eine nächtliche Vision hatte, wie es bei Monet oder
Cézanne doch Tränen der Rührung verursachen müsste, wenn sie sähen, wie sich
hundert(e) Jahre nach ihrem Tod die guten Leute in die Ausstellungen drängeln,
nur um ihre Kritzeleien zu begutachten! Gleichzeitig sind die Massen immer
wieder in der Lage, sich für einen aktuellen, aber unbekannten Cézanne so gut
wie überhaupt nicht zu interessieren und ihn genauso gut verrecken zu lassen
(was dann natürlich dessen Charmisma und Symbolgehalt merklich steigert). Man
will den Dingen gerne auf den Grund gehen, man will wissen: was ist das Wesen,
das innerste Wesen der Massen? Es erscheint völlig undefinierbar. Allerdings
wird mir eben gewahr, dass ich das innerste Wesen der Massen ja gerade damit
eben punktgenau definiert habe! – Mit dem W. sitze ich zusammen; da kommt die
P. vorbei. Die P. studiert Philosophie. Der W. ist sowieso immer nervös, weil ihm
die große Kunst heute fehlt; das bereitet ihm (wie mir) Unbehagen. „Und wo ist
eigentlich bei diesen Leuten die Begeisterung für das was sie machen? Wenn die
Philosophie studieren, warum wird da keine Begeisterung für die Philosophie bei
denen sichtbar? Sondern immer nur diese lahme Gleichgültigkeit? Wenn sie
Philosophie studieren, warum ist dann bei denen keine Begeisterung für die
Philosophie spürbar?“, platzt es da plötzlich aus dem W. heraus. Ja, das frage
ich mich auch immer wieder, und seit Jahrzehnten. Menschen und Massen sind
äußerst begeisterungsfähig, und dann auch wieder das genaue Gegenteil davon.
Das Unbekannte und Überlegene begeistert sie nicht, da da in ihnen nichts zum
Arbeiten anfangen kann. Das verkraftet die (offensive oder defensive) Eitelkeit
des Publikums nicht. Die avantgardistische Intention konfrontiert die Gegenwart
und die Menschen der Gegenwart mit einer Antithese, in der Hoffnung auf
Herstellung einer Synthese. Diese Synthese mag lange ausbleiben. Das muss die
(offensive oder defensive) Eitelkeit des Avantgardisten dann ihrerseits
verkraften. Da der heutige Kunstbetrieb auf möglichst rasche und breite
Streuung seiner Güter unter die Massen bedacht ist, verkraftet er eventuell den
Geist der Avantgarde und der meditativen Versenkung umso weniger.
Kunst ist zumeist mechanisch dumme
Wiederholung, eine Ansammlung von Vorurteilen, welche hemmt, voraussetzungslos
zu reagieren, vielmehr ästhetisch mechanisiert und abschwächt.
Carl Einstein
Eine gewisse Dummheit und Ineffektivität, vor allem
mechanische Repetitivität ist der Kunst inhärent. Dass sich irgendwo was auf
den absoluten Höhen des magischen Zusammenklangs trifft, ist selten. „Die
großen magischen Momente im Studio sind rar“, so der Gitarrenmagier Slash. „Kunst
besteht vorwiegend aus dummen Ideen“, geht Willem de Kooning sogar so weit zu
sagen: „man betrachte nur den Kubismus: ein Ding von verschiedenen Blickwinkeln
aus gleichzeitig darzustellen – was für eine dumme Idee“. Ja und, vor allem
aber: nein. Es ist ein zutiefst metaphysisches Verfahren der Entbergung von
verborgenen Seinsqualitäten und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Es zeigt auf, dass
die Welt tief ist, und tiefer als der Tag
gedacht. Es war ein Abbild des fortschrittlichen modernen Zeitgeistes vor
einem Jahrhundert und, aufgrund seines Tiefsinns, etwas, das ewig Bestand haben
wird. Es geht in die verborgenen Tiefen. Es drückt ernsthaften Forschergeist
aus, Bedürfnis nach Exploration. Und hier sprechen wir über den Kubismus (!). Carl Einstein war ein
strenger Richter über die Kunst seiner Gegenwart, und das war, als die moderne
Kunst in ihrer Hochblüte gestanden ist. Er äußert sich sehr kritisch über
Kokoschka, über Modigliani et al. Gerade komme ich von einer Gegenwartskunstausstellung,
und frage mich, was ich mit meinem Ansatz – Kunst solle das „Metaphysische“ zum
Ausdruck bringen – eigentlich überhaupt will, und in welcher Welt ich
eigentlich lebe? Was man da immer wieder sehen kann, ist so dumm, hässlich und
uninspiriert, dass es nicht nur den Gedanken an die Kunst als Metaphysik
unterläuft, sondern eigentlich auch den an die Kunst an sich! Man kann dazu,
als Philosoph, gar nichts sagen. Genauso, wie man als Philosoph zu Fußball kaum
was sagen kann oder zur Tagespolitik; einfach, weil das von der Philosophie
völlig verschiedene Seinsbezirke sind. Genau genommen hat man den Eindruck, die
Gegewartskunst ist nicht allein ein recht verschiedener Seinsbezirk zur
ernsthaften Philosophie, sondern auch zur Kunst. Kunst entspricht dann ihrem
eigenen Wesen nicht mehr. Wir leben einfach in einer sehr interessanten Zeit!
Besinne ich mich darauf, dass wir – in Bezug auf die Kunst – doch in einer
hundertmal interessanteren Zeit leben als vor drei, vier Generationen noch! Wie
leben in einem Zeitalter der Absenkung, die planare, vielleicht sogar die
planetarische Fläche tritt umso mehr hervor, die Urfläche und damit auch der
reine, der Urhorizont der metaphysischen Projektion! Dort und da ragt etwas
empor, aber eher wenig, die Fläche und der Horizont an sich treten immer mehr
in Erscheinung, herausfordernd! Streng genommen finde ich es sehr gut, in einem
Zeitalter wie in diesem zu leben.
The art audience is the worst
audience in the world. It´s overly educated, it´s conservative, it´s out to
criticize, not to understand, and it never has any fun. Why should I spend my
time playing to that audience? … I´ll play with the street audience. That
audience is much more human, and their opinion is from the heart. They don´t have
any reason to play games.
David Hammons
Kunst bereichert das Leben. Sie ermöglicht sogar das Leben, zumindest das der Kunstkritiker. Für
die Kunstkritiker ist es lebensnotwendig, zumindest irgendwo ein wenig
intelligenter zu sein als der Künstler und seine Kunst. Wie soll er sie sonst
kompetent kritisieren? Der große Künstler kommt daher, mit seiner ebenso
neuartigen wie tiefsinnigen Kunst, und der Kunstkritiker mag nicht wissen, wie
er sich da am Besten draufsetzen soll. Also lässt er es bleiben; und als
Revanche dafür, dass er andere ins Dunkel stößt, wird der Künstler im Dunkel
gelassen, dem Dunkel seines Tiefsinns. So weit, so klar. Es gibt wohl durchaus
Kunstkritiker, die noch weit eingebildeter sind als jeder Künstler, und alles,
was Dunkel erzeugt als Affront auffassen gegen ihr Ego, aber in den
allerallermeisten Fällen ist es wohl legitime Selbstverteidigung, wenn sie das
Eigentliche in der Kunst gar nicht erst aufkommen lassen, weil es ihnen
unheimlich ist. Kunst ist nicht zuletzt eine Komfortzone, vor allem für den
Sehr Tiefen Denker, dem kaum jemand folgen kann, die Komfortzone der absoluten,
abgrundhaften Tiefe, aus der helles Licht heraufstrahlt. Der Kunstbetrieb ist
auch eine Komfortzone und auch die Kunstkritik ist eine Komfortzone,
Komfortzonen der Zirkulation von Geld, von Meinungen, von Beweihräucherungen,
von gegenseitig unterstützenden Beweihräucherungen und von
Selbstbeweihräucherungen. Menschen werden nicht gerne aus ihren Komfortzonen
gerissen. Der Sehr Tiefe Künstler reißt Kunstbetrieb und Kunstkritik leicht aus
deren Komfortzone, hinein in seine eigene Komfortzone der bodenlosen Tiefe und
metaphysischen Spekulation. Das ist nicht jedermanns Sache. Der Kunstbetrieb
und die Kunstkritik würden den Sehr Tiefen Künstler ja auch gerne in ihre
eigene Komfortzone der Zirkulation reißen, und da ist der nicht zuhause.
Problem der unterschiedlichen Komfortzonen. Wo sind die Sehr Tiefen Künstler
und Denker, die in den abgründigen Tiefen ihre Komfortzonen errichten?
… die bedauerliche Tatsache, dass
jeder der anerkannten Künstler nur etwa ein Dutzend verstehender Anhänger
besitzt, … aus jahrzehntelanger Erfahrung hat Cézanne resigniert geäußert,
jede Kunst sei nur für wenige da. Erst als Bildungsvorrat erweitert sie die
Peripherie ihres Kreises und schafft die Täuschung, als wären der Erkennenden
viele. Alles dies gehört in in das Gebiet der Auswirkung der Kunst, nicht in
den inneren Bezirk des Geschehens…
Will Grohmann 1926
Was haben die Texte, die Welten von, sagen wir, Samuel
Beckett oder Emily Dickinson mit der Welt des Bachmannpreiswettbewerbs zu tun?
Was haben sie überhaupt mit der allgemeinen Welt des Literaturnobelpreises zu
tun? Es handelt sich um Welten, die – trotz aller scheinbaren Gemeinsamkeit und
Affinität – eigentlich nicht viel miteinander zu tun haben. Allerdings werfen
sie ein Netz über die empirische Welt und vermögen so Beliebiges, ja, die ganze
Mannigfaltigkeit der Welt einzufangen. Sie sind, eben, der Abgrund der
Metaphysik, in dem die Einzelgänger hausen, und das ist der innere Bezirk
dieses Geschehens, des Geschehens der Kunst. Wenn die Betriebe sehen, etwas ist
deutlich intelligenter als sie – und hat dann aber wenig Ähnlichkeit mit ihnen,
werden sie immer wieder krawutisch. Das ist ein altes Stück. Der heutige
Kunst/Literatur/Kulturbetrieb hat, vermeintlich, einen Saumagen. Aber der
Abgrund der Metaphysik, aus dem die Einzelgänger kommen, ist ein noch größerer
Schlund, und daher leicht auch für Saumägen zunächst unverdaulich. Die
avantgardistische Intention hat ihre Grundlage in einer dialektischen
Opposition innerhalb einer von Grundsatzkonflikten durchzogenen Gesellschaft.
Heute tut sich die Gesellschaftskritik schwer, da es in einer demokratischen Wohlstandsgesellschaft
keinen Grundsatzkonflikt mehr gibt und daher auch nichts mit weit ausholender
Geste zu kritisieren. Das ist der Saumagen der Demokratie, der damit die
avantgardistische Intention einigermaßen ihrer Grundlage beraubt. Wie Badiou
bemerkt, vergewissert sich die Demokratie stolz ihrer selbst, indem sie
kommuniziert und Informationen zirkulieren lässt: „Die westliche Demokratie ist
in der Tat Zirkulation und Kommunikation“. Eine Antithese errichtet man dazu
allerdings durch meditatives Schweigen und, als dessen Ergebnis, Kunst die
nicht zirkuliert und kommuniziert: „Ja, das einzige Problem besteht darin,
herauszubekommen, ob sich der künstlerische Imperativ vom westlichen Imperativ
lösen kann, welcher der der Zirkulation und Kommunikation ist … Die wahre Kunst
ist daher das, was die Zirkulation unterbricht und nichts kommuniziert. Immobil
und unkommunizierbar, das ist die Kunst, die wir brauchen und die sich als
einzige an alle wendet, da sie nicht irgendeinem vorgegebenen Netz entsprechend
zirkuliert und mit niemandem im Besonderen kommuniziert“. Ich sage ja auch
immer, das westliche Denken und Kommunizieren soll mit dem östlichen
Nicht-Denken und Nicht-Kommunizieren zusammengebracht werden. Ich glaube, so
kann das heute gehen, so ergibt sich eine neue Einheit, eine neue Totalität,
ein neues, flexibles Universales – eine neue Matrix. Der innerste Bezirk dieses
Geschehens ist Bodhidharma, der schweigend vor einer weißen Wand sitzt.
I´ve always wondered what it would
look like reading other people´s minds. Then I got a Facebook account, and now
i´m over it.
Mem auf Facebook
Great mind dicuss ideas. Average
minds discuss events. Small mind discuss people, heißt es auch. Tatsächlich: Intelligenz- und
Auffassungslevels kann man über Unterschiede im Abstraktionsgrad des Denkens
feststellen. Allerdings schreitet die Realität oft mit solch schönen
Kategorisierungen nicht einher. Von den Angehörigen der besser gebildeten
Schichten kann ich in den sozialen Medien überhaupt nicht groß feststellen,
dass sie großartig was diskutieren würden. Das anzunehmenderweise
intellektuellere und kunstaffinere Publikum ist allerdings in der Lage, sich
tage-, wenn nicht sogar wochenlang das Maul zu zerreissen über Battles Glavinic
vs Sargnagel, über Songtexte und Wortmeldungen von Andreas Gabalier, vor allen
Dingen aber darüber, wie antisemitisch Lisa Eckhart wohl ist. Da gehen dann die
Wogen der Leidenschaft hoch. Angesichts dessen ist es vielleicht viel weniger verwunderlich,
warum die Gegenwartskunst so dumm ist, sondern wie tatsächlich intelligente
Sachen überhaupt jemals so was wie eine breitere Wirkung haben entfalten
können. Lisa Eckhart tritt im Übrigen auch für ein elitäres Kunstverständnis
ein, und sie weist auch die Emanzen in die Schranken, die dauernd jammern und
fordern, alles sollte immer verweiblichter werden. Aber ich traue ihr nicht
ganz über den Weg.
22.-29.10.2020
P.S. 31.10.2020: Gestern war ich mit dem Bertl auf einem
Motörhead-Tribute Konzert (von The Röad Crew). Populäre Musik ist ja auch
längst nicht mehr das, was sie einmal war, so scheint es ebenfalls. Das so was
wie Motörhead so nicht mehr möglich sein könnte heute, scheint einsichtig, da
die Zeit mittlerweile fortgeschritten ist. Allerdings, sich außerhalb und gegen
die Gesellschaft zu stellen, sollte doch zu allen Zeiten möglich sein. Und vor
allen Dingen: gute Musik und Kunst zu machen. Das ist ja, sozusagen, was rein
Handwerkliches, und unabhängig von Klima und Zeitgeist. Der Bertl hat aber
gemeint: Ach was, das unterschätzt du einfach! Die guten Dinge passieren ganz
einfach aus einer Zeit heraus, und aus einem Zeitgeist heraus. Heavy Metal ist
heute nicht mehr aufregend, nicht mehr gefährlich. Wie soll man da noch gute
Songs schreiben? Ja, wenn ich mir das so überlege, hat er da wohl Recht, und
viel mehr vom Mysterium gelöst mit diesen zwei, drei Sätzen als ich mit diesem
ganzen Text (und all den anderen). Mir fällt das nicht so auf. Ich bin durch
die Gesellschaft so gut wie nicht beeinflussbar. Aber vielleicht fast alle
anderen sind das schon irgendwie. Ich finde ja selbst eine Hausmauer
hochinteressant und als Provokation zum tiefen Nachdenken, und zwar ganz
unabhängig von Zeitgeist. Die anderen aber vielleicht nicht so sehr. Bodhidharma
fand ja auch eine weiße Wand hochinteressant und als Provokation zum tiefen
Nachdenken. Und zwar ununterbrochen, über neun Jahre hinweg.
Was ich meine, und auf was ich hinaus will: Wir leben eventuell in einem nach-metaphysischen Zeitalter, oder in einem, wo die Metaphysik pausiert (eventuell sich erholt, nach all den Anstrengungen). Eine authentische Kunst, die das Zeitalter mit sich selbst konfrontiert, kann daher vielleicht auch nur nach-metaphysisch und unangestrengt sein, ohne lächerlich zu sein. Die Kunst distanziert sich von sich selbst, so sehr, dass die Kunstwerke zu – wie der Merowinger sagt – „kunstähnlichen Gegenständen“ werden, zu einer auffälligen, aber weitgehend sinnlosen Idiosynkrasie, die im White Cube irgendwie herumsteht. Wenn ich mir die Diskussionen so ansehe: ja, da werden schon Sinngehalte und Differenzierungen herumgeschoben und Komplexitäten abgewogen. Aber all diese Sinngehalte sind nicht sonderlich stark oder profund. Ein komplexer und differenzierender Zeitgeist, der allerdings nicht sonderlich profund ist. Ich weiß nicht, warum die ganzen Kunstkritiker und Philosophen und Intellektuellen nicht darauf kommen, in ihren Befragungen darüber, warum die Kunst nicht mehr ist, was sie mal war. Ich mache hier ja nur einen Vorschlag, wie sich das aus meiner Sicht darstellt. Aber ich glaube, die Crux von all dem liegt eben darin, dass die Kunst keine metaphysische Kontemplation mehr ist. Sie ist keine reine Bestrebung mehr nach Konfrontation mit dem Geist, dem reinen Geist. Dass die Kunstkritiker und Intellektuellen nicht darauf kommen wird ein Zeichen sein, dass sich entlang der abstrakten reinen Linie des Denkens kaum einer bewegt, oder sich bewegen kann. Es wird Zeit, dass einer daherkommt und das tut.
P.S. 2. September 2022:
Diese Überlegungen, die nur zu begründet sind, führen uns zwagsweise zu der Schlussfolgerung, dass man immer vom Schlechten zum noch Schlechteren gelangt … Die gegenwärtige Entwicklung wird kein Ende haben, bis eines Tages ein neuer Haydn, Mozart oder irgendein anderer Meister von gleicher Qualität wieder erscheint. Seine Aufgabe wird es sein, die Melodie wieder zur Einfachheit zurückzuführen, die Ordnung, Folgerichtigkeit und Symmetrie des Ganzen wiederherzustellen und die Verzierungen auf den Platz zu verweisen, der ihnen zukommt. So wird sich dann die natürliche Musik wieder regeneriert finden und ein neues Goldenes Zeitalter für diese so köstliche und ungewisse Kunst wieder entstehen. Doch die Natur geizt mit Genies, und es fehlen ihr die Jahrhunderte, um einen Raffael, Palladio, Pergolesi, Haydn oder Canova entstehen zu lassen. Gehaben Sie sich wohl!
Giuseppe Carpani, Zeitgenosse Joseph Haydns, in seiner Haydn-Biographie
Nobody I know is fond of Gerhard Richter. Yet, at least since the turn of the new millennium, Gerhard Richter ranks in the very top segment of best-selling and most influential living artists. That is to say, he is to be considered as a distinctly defining figure of present-day art. Abstract Expressionism had been one of the intellectual peaks in the history of Western art. Its abstractions are meant to express the spiritual, the divine, the gloriousness of mind, they are also meant to be an investigation into the nature of art and painting and the possibilities of methods; Ad Reinhardt`s black paintings assembled within the line of an heroic quest for the „last“ possible paintings. That was in the 1950s and 1960s. In the 1970s, Gerhard Richter came up with his monochromous grey paintings. They are solely meant to express „indifference, shapelessness and refusal to give evidence“. They are meant to mean nothing. Salvador Dali says: Genius spiritualises everything. Yet, how would you spiritualise indifference? Much more than Reinhardt´s black paintings Richter´s grey paintings may be „last“ possible paintings, though rather in the sense of marking the beginning of something new. The limits of human thought and expression, therefore also the possibility of seomething new that lurks behind the horizon can be spiritualised (i.e. via the black paintings), yet indifference may open a much wider and plainer ground, with countless possibilities of exploration; since it may operate at a much lower level and standard of quality. Says Richter: I pursue no objectives, no system, no tendency; I have no program, no style, no direction. I have no time for specialised concerns, working themes, or variations that lead to mastery. I steer clear of definitions. I don´t know what I want. I am inconsistent, non-commital, passive. I like the indefinite, the boundless; I like continual uncertainty. That could translate: I´m a pretty average mind. I am a drifter whose morale will largely will be determined by circumstances. I do not try to erect something and transgress the frontiers that are set by contemporary understandings, etc. In Leonardo da Vinci you also had the indefinite, boundlessness and uncertainty, yet Leonardo was operating way beyond the intellectual frontiers of his time. The radical and the transcendent mind will be prone to the indefinite and to experimental uncertainty – and the objective of art should be to open up the mind and the potential of the mind for transcendence. This is what you had in modern art. Contemporary art is more confusing. What you may have in post-modern, or contemporary art is general consensus of indifference. Alongside with his grey paintings, Gerhard Richter, at least symbolically, opened the gates to hell.
Of course, Gerhard Richter is not stupid. Even
less, he´s devilish. His qualities are undeniable. Gerhard Richter is raumgreifend, he has Volumen, his oeuvre is of „oddly
integral diversity“. He has done abstract paintings, landscapes, portraits, the
RAF cycle, church windows, overpaintings. Despite not being avant-garde, he
always manages to be at the pulse of time, at least with some delay, that
nevertheless, may put more gravity into the whole thing. His art is both
realistic and illusionistic. Consider also that Richter is a hybrid between a
painter and a conceptual artist. He often presents us paintings that are
outtakes or snapshots of reality, without, however, spiritualising them as a
fragment that alludes a greater whole, that adresses your imagination of what
could be beyond these outtakes, no: you are simply confronted with a rather
meaningless snapshot and outtake. Some of Richter´s depictions of clouds,
landscapes and seascapes are quite immersive. The objective, however, is to
de-romanticise nature, to remind us that romantic notions about nature and the
world we inhabit are in the eye of the beholder at best, and not qualities
inherent to nature itself. Yet a quality inherent to art and painting is to romanticise nature and to offer
higher perspectives, a more sophisticated, empathetic worldview; to elevate not
only nature, but also man as the beholder. Occasionally, Richter´s abstract
paintings are quite tasty. They combine elements of geometric abstraction and
gestural abstraction and his signature style is that he uses a squeegee to make
his paintings more interesting. In his RAF paintings there is a mild
uncanniness, a mildly non-conformist confrontation of the Bundesrepublik with
its past. Richter painted the RAF cycle ten years after the events, in the
later 1980s. He has also painted church windows. The respective archbishop did
not like them. Gerhard Richter is no slouch. He is, undeniably, a talent and he
is academic. There are things that can be said about his art, though not very
much. The possibilities of things to be said about his art get drained rather
sooner than later. He may not care so much on that behalf, since with his art
he is among the 500 most wealthy individuals in Germany. He does not appear an
uncomfortable or unlikeable person. It is said he is taken by surprise by the
success of his art himself. Consider that one of Richter´s most iconic
paintings – Betty (1988) – depicts a
woman turning away from the viewer to gaze at a monochromous painting
(respectively a monochromous background). It depicts a woman from behind.
Despite its solidity and tastyness it is a negative icon. It is an icon of
negativity. It is an icon of lukewarm interest, close to being an icon, again,
of indifference. – Despite that, it´s an icon. Richter said, it was not easy to
overcome Beuys. It will neither be easy to overcome Richter. Richter has Volumen and there is intellectual
presicion in his oeuvre, even some space for enigma and mysticism. Upon
reflection, Richter´s work and attidute may serve as a watershed between what
is possible in art, and via art, and what is not. Maybe that is its historic
function. He (at least symbolically) opened the gates to purgatory, the flat
land of nearly infinite space, of indifference and mediocrity in art, the flat
land we currently inhabit. That nobody I know is fond of Gerhard Richter may
just be reflected in his status as the defining artist of our time.
If you like to think about art in a lofty way, you may consider Gerhard Richter and his ineffective art as the enemy. Yet ineffectiveness is inherent to art. Self-criticism about its own relative impotence and incompetence is inherent to art. The problem arises when affirmation of ineffectiveness becomes the substance of art. Yet as such, as the description of the spirit of our age, our present days may go into history´s books: as „the Age of Gerhard Richter and Damien Hirst“. The history of art and of painting had been sensational, and sensationally progressive, for, say, two centuries. (Normally, cultural peaks and climaxes are geographically clustered and last for a generation or two). Naturally, a point will come when all will be said and done in a discipline for quite a while, and it maybe should not come as a surprise that painting had suddenly collapsed in exhaustion, that there had been a big and sudden slump after the radicalities of Abstract Expressionism, Arte Povera and Fluxus. All seemed to be said and done. Pop Art seemed the last occasion to erect distinct icons that capture the contemporary era. Pop Art already was a bit stupid. After the 1960s, society will have become too differentiated and too intelligent for art, to be captured by the means and the spirit of art. The spirit of avant-garde, even art itself, seemed to have become the anachronism in relation to society. The grace that had fallen upon art and, notably, the spirit of avant-garde in the 19th and 20th century maybe had only been the grace of the low hanging fruit. In those bygone days, art could more easily master to be more intelligent and futuristic than society, since society was so stupid. More recently, society may have become too intelligent for art. – Yet also, and most obviously, art has become more stupid and self-defeating, self-depreciating than ever before. That semi-competent artists like Richter, Baselitz, Damien Hirst or Jeff Koons are the defining artists of our age is symptom of a malaise. I don´t know why artists aren´t more intelligent and commited nowadays. Although there are ebbs and floods in the availability of competent people you would also guess that a certain stock of very intelligent and creative truth-seekers are around all the time. The secret of art, and of any enterpise that lies within the mind, is that it is not actually determined by society and Zeitgeist. It´s an enterprise of plunging into depths, of transgression. Despite its insight into its own ineffectiveness, art is meant to be a protest against the ineffectiveness of art. Its purpose should be to erect something. It is, above all, a matter of inspiration. Inspiration is practically independent from society and Zeitgeist. So why isn´t there more inspiration, contemporarily? Yet life, as they say, never ceases to be a mystery.
There´s a Richter exhibition in Vienna right now. Just by the end of this week, the new annual ranking list of most important living artists has come in. Again, Gerhard Richter ranks on top of them all. Yet the ranking mentions also shooting stars and artists that can be expected to have a bright future. I need to look at them. After all, Gerhard Richter is also one of the defining artists of postmodernism, i.e. not necessarily one of the defining artists of the actual present or the future to come. Yet postmodernism at least had a conceptual framework. And there is no guarantee that present and future will have even that, i.e. a minimal insight and self-understanding of what it is doing. Maybe we will lose even that. Maybe it gets even worse than that. Also the Rolling Stone magazine most recently published an update of its list of the 500 greatest albums of all time. Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band got kicked back at postion 24, Elvis Presley has not even an album in the top 50 anymore. Marvin Gaye with his elevator music on What´s Going On is now King, is now President, like Gerhard Richter. I think what is going on in this world is that most people simply are directionless. Also as concerns popular art, popular music, which has clearly been going down the roller coaster (including death metal, which, to my great dissatisfaction, has even become moronic more recently). Yet there are also good things. Two weeks ago I discovered Billie Eilish. I admit that I have not been pretty observant in this respect, but she strikes me as the best thing I have seen in more mainstream popular music in the new millennium. She has synesthesia and her videos are great. I see her in a crown. Her debut album has already been included in the Rolling Stone´s list of the 500 greatest albums of all time. Maybe the Generation Z will push us forward again. Meanwhile, we seem to be able to live off the fat of older generations, and maybe even for a long time to come. Gerhard Richter or Damien Hirst aren´t actually the most expensive artists. The most expensive paintings sold at auctions in the last decade were from van Gogh, Modigliani, and Basquiat. I.e. the center of gravity is still where it should be. The world is still stable and logical. This is so because the structure of the world is chaosmos, as I always emphasise.
Philosophie sind Versuche des menschlichen Geistes, mit der
Welt zurecht zu kommen; PhilosophInnen errichten geistige Gebilde von
unterschiedlicher Qualität und Reichweite um die Welt zu interpretieren und zu
verändern. Der große, systematische Philosoph sitzt auf dem Berggipfel, ein
lächelnder Buddha, unter wohlig abgerundeter, harmonischer Sphäre, sein Auge
erfasst die ganze Welt. Wir (stellen uns das vor und) blicken bewundernd zu ihm
hinauf. Betrachte nun die Meta-Philosophen: Was, wenn eineR auf einem noch
höheren Plateau, einem noch höheren Level der Analyse und Integration, der
Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden sowie Individualitäten und Konkretheiten
(die sich den bekannten Abstraktionen möglicherweise entziehen) zu
identifizieren arbeitet? Kaum schießt ein Gedanke aus ihm raus, wird er schon
vom nächsten, möglicherweise als paradox dazu konzipierten durchdrungen, und
kommt kaum zur Ruhe, ewig ist seine Bewegung. Kaum stellt er ein System auf,
hinterfragt er es schon wieder und wertet es um. Philosophie, ja, das ist so
wie wenn dein Kopf sich auftut und ein Schmetterling fliegt heraus, mag die C.
romantisieren; betrachte nun den Meta-Philosophen, wie er freudig-krawutisch
der Schar seiner Gedanken-Schmetterlinge hinterherjagt, in den obersten Höhen,
jenseits der Eisgebirge: kaum hat er einen eingefangen, droht schon wieder der
nächste davonzuflattern. Das sind die Meta-Philosophen. Es hat große Vorteile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maße zu
entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ozean der vergangenen
Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend,
überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesamte Gestaltung und hat, wenn man
sich ihr wieder nähert, den Vorteil, sie besser im ganzen zu verstehen als die,
welche sie nie verlassen haben. (Menschliches,
Allzumenschliches 1 616) Das ist es, was die (philosophische) Kontemplation
tut. Die meta-philosophische Kontemplation entrückt sich nicht nur von der
Welt, um sie in den Griff zu bekommen, sondern sie befragt die Philosophie in
ihrer Gesamtheit noch dazu. Seltsam und befremdlich, ein Geisterreich. Der
Meta-Philosoph ist so seltsam, dass er kaum ein Mensch scheint. Er ist kaum, im
herkömmlichen Sinn, jemals abgerundet. Eher hat man da eine Aura, ein
Energiefeld, das sich fortwährend transformiert und verformt, nach vorne stürzt
und sich gleichsam von Mensch und Welt abnabelt. Das sind die Konvulsionen der
Meta-Philosophie.
Fünf Fuß breit Erde,
Morgenrot
Und unter mir – Welt,
Mensch und Tod!
In seiner radikalen Abgenabeltheit ist der Meta-Philosoph radikal einsam, aber auch radikal, in der Sphäre des Noumenalen, frei, und unsterblich, und unzerstörbar. Das Menschliche ist ihm am fremdesten, das Menschliche ist keinem vertraut wie ihm. Meta-Philosophie: die radikale Befragung von allem, zum Zwecke der radikalen Feststellung und Festmachung von allem, ist etwas, was man überall finden mag. So wie jeder Mensch Philosoph sein mag, mag auch jeder Mensch (und jeder Philosoph) Meta-Philosoph sein. Das heißt allerdings nicht, dass jeder permanent Philosoph ist und urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, genauso wenig, wie jeder (Mensch oder Philosoph) permanent auf dem Level der Meta-Philosophie denkt und daher urtümlich Meta-Philosoph ist. Eigentlich nur, wer urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, ist Philosoph; nur wer urtümlich auf dem Level der Meta-Philosophie denkt, ist Meta-Philosoph. Meta-Philosophen kommen eventuell kaum vor. Der Impulsgeber des systematischen Philosophierens, das dann eben von Platon in eine Form gegossen wurde, war aber eben ein Meta-Philosoph: Sokrates. Wittgenstein, der Begründer und gleichzeitig Überwinder des linguistic turn in der Philosophie könnte in den Sinn kommen. Kierkegaard, der das Hegelsche System gesprengt hat und das Individuum befreit und an das außerweltlich-Absolute gekettet und aufgespannt hat, auch der. Vor allem aber Zarathustra; vor allem aber Friedrich Nietzsche.
Wenn Nietzsche nicht wäre, was wäre bloß aus uns? Weder wer
wir sind, noch was uns umgibt, noch was aus beidem werden kann, ist etwas, was
klar wäre. So leben wir in Gleichmut und Dunkelheit. Dann und wann kommt
jemand, der/die Licht anzündet. Hin und wieder, ganz selten, jemand, der die
Sonne selbst ist, einen plötzlichen, gewaltvollen Blitz zündet und so unsere
Augen öffnet und unsere Ohren: dann ist es für uns Tag. Zarathustra war so einer.
Schau, wie er zu dir spricht, um dich aus deiner Unmündigkeit zu befreien! Die
lebendige Anrede des Du! Einerseits pathetisch wie sonst nichts,
andererseits empathisch wie sonst nichts. Beides ist leidenschaftlich und
erreicht dich in deiner Leidenschaftlichkeit – denn es geht um dich!
Zarathustra lehrt dich, Fragen zu stellen, Zarathustra lehrt dich, Antworten zu
suchen, das Dunkel zu lichten, im Dunkel ohne Furcht zu navigieren. Er meint es
grundgut mit dir, er will nur das Beste für dich, und ist darin,
notwendigerweise, pathetisch wie sonst keiner und empathisch wie sonst keiner.
Du selbst wirst zum Pathos erhoben! Du selbst wirst von unendlicher
Wichtigkeit, und dein Weg, der vor dir liegt! Werde, der du bist… Er
zerstört die Religion, er nimmt dir Gott; aber ist der Adel, die Wichtigkeit,
die Zarathustra dir verleiht, nicht von höherem Wert als die Würde, die die
Religion verleiht? Dieser Eingang, vor dem der Zarathustra-Türhüter steht,
scheint immer nur für dich bestimmt. Was Zarathustra sagt, ist (wie du selbst)
ohne Vorbild. Zarathustra zitiert nicht, Nietzsche zitiert kaum.
Ich wohne in meinem eigenen Haus,
Hab Niemandem nie nichts nachgemacht
Und – lachte doch noch jeden aus,
Der nicht sich selber ausgelacht.
Der originellste Denker und Empfinder vielleicht von allen.
Das höchste Welt-Sensorium vielleicht von allen. Zumindest einer der höchsten
Dichter. Schau, wie in seinen schön und plastisch formulierten Aphorismen die
Verschachtelungen sichtbar werden, die Komplexitäten, die Dimensionen! Was er
nicht alles zu sehen imstande, was er nicht alles zu erfassen imstande ist –
und vor allem: was er nicht alles davon empfindet! Kannst du da mithalten? Wenn
Zarathustra nicht aus seiner Höhle getreten wäre, wir wären in unserer immer
noch drin. Wenn Nietzsche nicht wäre, wir könnten uns gegenseitig willkommen
heißen im Club der Geistlosen, ja das ist ganz klar. Der Mensch ist etwas, das
überwunden werden muss. Wer könnte, darin, ein besserer Freund sein, als
Zarathustra? Erden-Floh bleibt derjenige, an dem Zarathustra nicht vorbei ging!
Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb ich dich! Ohne
Nietzsche wäre ich aufgeschmissen. Ohne Nietzsche wäre die Kulturgeschichte
aufgeschmissen. Und was sagt er nicht alles der Kultur, was sagt er nicht
alles, ruft nicht alles zu der Kunst? Er, der Bastard, der himmlische
Hermaphrodit des Erklärenden und Verklärenden, von Dionysos und Apoll, der
Künstler-Philosoph! Er etabliert eine “künstlerische” Metaphysik und versetzt
uns in einen Rausch, einen Taumel des Erkennens, dem wir uns umso lieber
aussetzen. Und indem er eine “künstlerische” Metaphysik etabliert, kann es
natürlich auch keinen anderen Ausweg aus diesem Labyrinth geben, als eben die
Kunst! Und wir alle lieben die Kunst. Die Kunst ist für ihn das Mittel, die
a-logische Welt auf die Ebene des Logos, in die über-logische Welt der Sphären
zu heben, den klaffenden, zähnefletschenden, mahlenden Abgrund mit der
himmlischen kreativen Sphäre zu überdecken. Kunst ist die eigentliche
metaphysische Tätigkeit. Großer Liebender, Großer Ernstnehmender der Kunst
(wo bist du heute? Dein Urteil wäre umso notwendiger… doch dein Urteil
fehlt)! Nach dem Tod Gottes befreit er den starrten Eispalast des Seins in die
Unschuld des Werdens – alles wird Bewegung und Dynamik. Gleichzeitig hat
niemand die metaphysische Katastrophe vom Tod Gottes so ernst genommen wie er,
und niemand im fröhlichen Farbenspiel des Werdens, der Evolution, das Chaos und
den Abgrund, die Instabilität und die Gewalt gesehen. Mithilfe seiner rasenden
Intelligenz kommt er der befreiten Welt entgegen und versucht sie – lehrt sie!
– in den Griff zu bekommen über das experimentelle Denken, den Perspektivismus,
der die Facettenhaftigkeit der realen Welt einerseits betrachtet und den
Möglichkeitscharakter der Welt – als reale und radikale Wirklichkeit – umso
schärfer ins Auge fasst. Sein Geist ist so groß, überschreitet die Welt so
sehr, dass für ihn die Welt zum Experiment wird. Tausende Spekulationen,
Millionen von Spekulationen stellt er an, sich an der Tiefe der Welt erfreuend,
wie an der Tiefe seines eigenen Geistes und seiner eigenen Seele – und er hellt
darin unsere Tiefen auf! Macht uns unserer eigenen Tiefen bewusst! Der Mensch
wird für ihn zum bloßen Experiment – im Hinblick auf das ultimative Experiment,
den Sinn der Erde: den Übermenschen, der über das Dasein triumphiert! Dem
eigentlichen Telos von dir und mir: denn der Übermensch ist das Telos von dir
und mir. Er – Zarathustra, Nietzsche – richtet sich an alle und er richtet
sich, da er außermenschliche Ideale aufstellt, an keinen. Wer aber ewig
strebend sich bemüht, den können sie erlösen. Extremer Verkünder und Prophet!
Bescheidener Mitmensch und Einzelgänger; Wanderer allein mit seinem eigenen
Schatten, der keinem auf die Zehen tritt und jemals treten will – wenn es
passiert, entschuldigt er sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Er nimmt sich
zurück. Wenn er seine „Weibs-Wahrheiten“ verkündet, stellt er voran, dass es
eben nur seine Weibs-Wahrheiten seien. So sehr ist er in der Lage, sich
aus sich selbst herauszustellen! So weit ist er in der Lage, zwischen sich und
anderem in sich zu differenzieren! Nein, wie erleuchtet, der große Ja-Sager,
nein, wie vieldeutig! Unüberschaubar sein Maulwurfsbau, den er, einer der
wenigen, uneitlen Maulwürfe, die sich durch das Dasein und seine großen Fragen
graben, die es umgraben wollen, gegraben hat! Nietzsche hat, indem er seine
eigenen Tiefen durchleuchtet hat, das Wissen des Menschen auf ein neues
Allgemeines gehoben. Er hat neue Verständigungsmöglichkeiten geschaffen. Er hat
in die kommenden zwei Jahrhundert geblickt!
Er hat das Verständnis von Mensch und Welt aus den Angeln gehoben. Er
ist ständig explodiert und verursacht erhebende Explosionen in uns, wenn wir
ihn lesen, wenn wir ihn uns vergegenwärtigen; er lässt es in der
Kulturgeschichte explodieren! Kein Mensch: Dynamit! Unvorsichtiges Kind soll
nicht – kann nicht – mit diesem Feuer spielen: Nietzsche ist nichts für
Nicht-Denkende! Nietzsche ist nichts für solche, die lieber im Verborgenen
bleiben wollen! Nietzsche ist nichts für Ressentiment-Menschen. Und nichts für
Faschisten. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel anfangen … er ist nicht
mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von Leni Riefenstahl
gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde (vgl. Prideaux S.481).
Ich mißtraue allen
Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel
an Rechtschaffenheit. (Götzen-Dämmerung,Sprüche und Pfeile 26) Zarathustra, der
große Anti-Totalitäre. Der Befreier des Denkens, der Befreier der Seele
des Denkens, der Philosophie, aus dem Gefängnis der Systemhaftigkeit! Nietzsche
bringt uns das Denken bei, das Philosophieren bei, ja, er zeigt uns, wie
Denken, Empfinden, Getriebensein und sich Sichtreibenlassen, Strömen u. dergl.
mehr eine leidenschaftliche Einheit bilden! Die sich ohne weiteres über
das Pathos ausdrücken darf, ja, ausdrücken soll! Deren lebendige Rede
und Anrede und ihre Aphorismenhaftigkeit notwendig sind! Nietzsche wird dann
und wann – eigentlich gar nicht einmal so selten – als „schwacher Denker“ und
als „fragmentarischer Denker“ abgetan. Er stellt kein Erzgebirge hin an Monumentalem,
Unüberwindlichem, wie Kant, wie Hegel. Denken aber, an sich, ist etwas
Schwaches. Es ist vorsichtig, tastend, tappt letztendlich fortwährend im
Dunkeln und kommt nie zu seinem eigentlichen Ziel, seine Siege bleiben
Etappensiege. Je größer man als Denker ist, und je mehr man das Denken als
Notwendigkeit empfindet, desto stärker ist man sich dessen bewusst. Nietzsche
hat viel über die Stärken und Schwächen des Denkens nachgedacht und uns
mitgeteilt – dafür lieben ihn die starken Denker (vielleicht aber nicht eben
die schwachen). Sein aphoristischer Stil ab Menschliches,
Allzumenschliches war ursprünglich seiner schlechten Gesundheit und seinem
Augenleiden geschuldet: Es wurde für ihn zu anstrengend, längere Texte am Stück
zu verfassen, also musste er sich „telegrammartig“ ausdrücken, woraus dann der
aphoristische Stil entsprang. Fernando Pessoa hat es bedauert, „nur Fragmente“
verfassen zu können. Wie sollen Geister und Sensorien wie Pessoa, wie Nietzsche,
die die Welt so umfassend wahrnehmen, für die Beliebiges plötzlich
herausspringt und sich aufdrängt, bevor es wieder hinter etwas anderem
verschwindet, die Welt aber anders wahrzunehmen und zu Beschreiben imstande
sein als „fragmentarisch“? Das „Fragmentarische“ ist die notwendige
Erscheinungsform der Super Sanity.
Zwischen den differenzierenden, in Aphorismen gegossenen Ausformulierungen,
diesen Gedanken-Inseln, kommt das undifferenzierte Licht der Welt an sich, das
ihrer unendlichen Aussagbarkeit, zum Vorschein, wo der momumentale,
unüberwindliche Text dieses Licht gerne verbergen will, um sich seiner
Totalität und Monumentalität zu erfreuen. Aber das, was der momumentale,
systematisch-geschlossene Text versucht zu verdecken, in das
„Systemirrelevante“ zu verdrängen, kommt früher oder später zum Vorschein: und
wie steht der monumentale, unüberwindliche Text dann da? Der „fragmentarische“ Text,
das „aphoristische“ Denken kann wohl eleganter, mimetischer damit umgehen, mit
der ewigen Offenheit der Welt. Mit der ewigen Tiefe der Welt. Der fragmentarische Text knallt kein Massiv hin,
sondern lässt implizit Schleichwege offen, über die man eventuell durch das
Massiv kommt, das ganze Massiv vielleicht, siegreich, unter sich lässt.
Nicht mehr zurück? Und
nicht hinan?
Auch für die Gemse
keine Bahn?
So wart ich hier und
fasse fest,
Was Aug und Hand mich
fassen läßt!
Fünf Fuß breit Erde,
Morgenrot,
Und unter mir – Welt,
Mensch und Tod!
Der fragmentarische Text ist der notwendige Text des
Wanderers und seines Schattens. Die Welt stellt der Wanderer tief unter sich,
erlebt sie als tief unter sich: Weil er aber, wie kein anderer, empfindet: Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag
gedacht! Nietzsche empfindet, wie kaum ein anderer, die Tiefe der Welt, die der Tag nicht
erfassen kann. Je mehr er in diese Tiefen steigt, ehrfurchtsvoll und furchtlos,
desto mehr kommt er schließlich über die Welt hinaus; schließlich steht er in
einer metastabilen Position über der Welt und ihren Tiefen, die er ermessen hat
– die aber nach wie vor da sind, und die ihn, wie er natürlich weiß, aus dieser
metastabilen Position herausreißen und sein Schiff zum Kentern bringen können.
Letztendlich wird es, aufgrund der Endlichkeit von Mensch und Welt,
unweigerlich dazu kommen. Dabei hat sich die Welt dem Weltüberwinder gegenüber
allerdings nicht als etwas Stärkeres oder Gefährlicheres erwiesen, es ist nur
irgendwas passiert, was auch genauso gut (gerade) hätte nicht passieren müssen.
Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht; es geht aber eben darum,
dass man das selber auch tief, und tiefer als der Tag wird. Das ist der Sinn
der Philosophie Nietzsches. Das ist die Lehre von Zarathustra. – Aus seiner
Position der Höhe, aus hohen Bergen,
lässt es Zarathustra-Nietzsche herabschneien, seine zahllosen Weisheiten. Immer
wieder glaubt man zu spüren, wie diese, in Aphorismen gegossenen Weisheiten
einerseits präzise und rational und intuitiv, andererseits locker und
phantastisch und scheinbar allzu spontan scheinen. Hat Nietzsche das Wesen
einer Sache erfasst und dabei auf einen Grund geblickt, der uns verborgen war?
Ist er sogar so klug und lässt es von so hohem Berge herabschneien, dass die
Welt für ihn gar nicht genug ist? Sind seine Einschätzungen und ist seine
Philosophie eine Überinterpretation der Welt, in der er Tiefen vermutet,
die real gar nicht vorhanden sind? Der
Genius ist das als rein anschauend Vorgestellte: was schaut der Genius an? Die
Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen. Der Mensch, der Nicht-Genius,
schaut die Erscheinung als Realität an oder wird so vorgestellt: die
vorgestellte Realität – als das vorgestellte Seiende – übt eine ähnliche Kraft
wie das absolute Sein: Schmerz und Widerspruch. (Nachlass Ende 1870 – April
1971, 7(172)) Der Genius erfreut sich nicht allein (oder: vielleicht weniger)
an der Welt, sondern am Spiel der reinen Erscheinungen. Laut Schopenhauer ist
der Genius derjenige, der Erscheinungen losgelöst von der ihnen zugrunde
liegenden Realität und ihrer Zweckhaftigkeit enthoben anzusehen imstande ist.
Diese Welt der Erscheinungen ist für ihn genauso präsent wie die „reale“ Welt,
und so kann er neue Verbindungen (allerdings auch neue Täuschungen und
Illusionen) in die Welt bringen. Indem er die Erscheinungen rein anschaut,
schaut der Genius nicht zuletzt sein eigenes Vorstellungs- und
Anschauungsvermögen an. Und so mag Nietzsche sein eigener Gaul immer wieder ein
wenig durchgehen. Lou Salomé bemerkt dazu aber, dass Nietzsche einfach ein
weniger genauer und präziser Denker gewesen sei, als sein ungenialer, aber
wissenschaftlicherer und rationalerer Freund Paul Rée (Lou Salomé S.152). Es
gibt also nicht nur atombombengleiche Fähigkeiten in Nietzsche, sondern auch
Unfähigkeiten. Seinen Genius hat er vielleicht darauf verwendet, diese
Unfähigkeiten zu verklären? Als Psychologe verdächtigt er immer Unfähigkeiten
als Ding an sich hinter Erscheinungsformen von Fähigkeit – wurde er vielleicht
sogar aus diesem Grunde Psychologe? – Philosophische Systeme, um darauf
zurückzukommen, wurden spätestens in der Postmoderne arg verpönt, sie haben
allerdings einen guten Grund, wenn man fragmentierte Wirklichkeit mehr als nur
fragmentiert erklären will, und nicht nur allgemeingültige Erklärungen sondern
auch allgemeingültige Normen ableiten will. Nietzsche hat es aber eben nicht
geschafft, systematisch zu philosophieren; seine Versuche, seine Philosophie
großangelegt-systematisch darzustellen (über Der Wille zur Macht und dann Die
Umwertung der Werte) sind im Sand verlaufen. Und Nietzsche hat es nicht
geschafft, allgemeingültige Normen zu formulieren oder die Gesellschaft
überhaupt allgemeingültig zu erfassen; in einem subjektivistischen
aristokratisch-faschistischen Selbststeigerungs- und Selbstermächtigungsrausch
hat er die Werte ständig umgewertet und er wusste, da er Ich und Welt nicht
verbinden konnte, nicht mehr wirklich, wohin. Kaum einer war so skandalös
darin, kaum einer hat begriffen, was echte Selbststeigerung und was echter
aristokratischer Adel der Seele ist. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel
anfangen … er ist nicht mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von
Leni Riefenstahl gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde.
Die Philosophie von Nietzsche ist ein eigentliches Hybrid von
Subjektivität und Objektivität. Für einen Philosophen, und erst recht für einen
Philologen, stellt er sich selbst und seine idiosynkratischen Ansichten
bedeutungsvoll heraus und verstößt so offensichtlich gegen das Ethos objektiver
Wissenschaftlichkeit (was ihm in seiner akademischen Karriere nicht zugute
gekommen ist). Für einen Dichter und Künstler, und auch für einen Philosophen
und Wissenschaftler, nimmt er sich in seinem Erkennenwollen dann aber wieder so
leidenschaftlich zurück und weist dem objektiven Erkenntnisstreben einen so
überragenden Platz zu, dass man sich selber als der wahre Eitle und
Großtuerische ertappt fühlen mag. Safranksi bemerkt: kein anderer Philosoph hat
so oft „Ich“ gesagt und von sich selbst gesprochen wie Nietzsche (mit der
Ausnahme vielleicht von mir). War er ein ganz ein Eingebildeter und dem
Größenwahn schon immer Verfallener? Oder ist gerade sein oftmaliges Sprechen
von sich selbst, sein „Ich“-Sagen, Zeichen der höchsten Philosophie und
Reflexion – die notwendigerweise die lebhafte Selbstreflexion miteinschließen
muss? Ist seine Verortung des Menschen, des Subjekts in der Welt – als der
zentralen Aufgabe der Philosophie – umso deutlicher, plastischer, mitfühlender
und mitreißender als bei so gut wie allen anderen Philosophen, weil er eben von
sich – und damit genauso gut von Dir spricht? Ist ein notwendiges
Korrelat zum antiautoriären Perspektivismus als fortschrittlicher, toleranter
Philosophie eben nicht die Betonung des Subjekts, das diese Perspektiven allein
errichten mag? Muss ein radikal fragendes und philosophierendes Ich nicht ein
irgendwie auch radikales, auffälliges Ich sein? Kein anderer Philosoph würde
einem aber auch einfallen, der seinen Status des radikalen philosophischen
Suchens und Fragens so intensiv und leidenschaftlich empfunden hat
(selbst Kierkegaard, Wittgenstein oder Pascal bleiben in ihrem Ausdruck im
Vergleich zu Nietzsche geradezu nüchtern). In
Nietzsche pflegten die abstractesten Gedanken sich in Gefühlsmächte umzusetzen,
die ihn mit unmittelbarer und unberechenbarer Gewalt fortrissen. (Lou
Salomé S.95) Daher rührt auch Nietzsches großes Charisma, gegen das jenes der
anderen mehr oder weniger verblasst. Bescheiden und gequält meint er: Ich
habe fast jeden Tag zwei bis drei Stunden diktiert, aber meine „Philosophie“,
wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein
malträtiert, so zu nennen, ist nicht mehr mitteilbar, zumindest nicht durch
Druck. (Brief an Overbeck 2. Juli 1885) Ein intensiv um die Feststellung
des Objektiven ringendes Subjekt also scheinbar, dass sich in diesem Ringen
also umso mehr subjektiv spürt. Gleichzeitig ringt es vielleicht aber weniger
mit der Welt, sondern mit sich, und mit seinen Selbstprojektionen in die Welt
hinein, die, aufgrund von Diskrepanzen, unphilosophisch werden und, weil ein
rationaler Kern fehlt, nicht mehr mitteilbar sind? — Das Gefühl seiner
Ichheit ist bei Nietzsche auf jeden Fall aber früh erwacht. Im Alter von zwölf
Jahren beginnt Nietzsche Tagebuch und darin ausführlich über sich selbst zu
schreiben, und bis in seine Studentenzeit wird er immer wieder
autobiographische Abhandlungen verfassen, über die eine erhebliche Bezogenheit
auf sich selbst, vielleicht auch Verliebtheit in sich selbst, zumindest aber
Faszination über sich selbst zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig haben sie den
Charakter von Versuchen der nachdenklichen Vergegenwärtigung von sich selbst
und dem Ziehen einer bisherigen objektiven Bilanz über sich selbst – und
allgemein auch ganz einfach den von Schreibversuchen. Im Alter von vierzehn
Jahren dichtet er:
Ein Spiegel ist das
Leben.
In ihm sich zu
erkennen,
Möcht ich das erste
nennen,
Wonach wir auch nur
streben.!!
Ein geborener Philosoph, ein geborener Metaphysiker also. Im Gegensatz zu den meisten bescheiden Auftretenden ist da deutlich mehr Weltbezug in diesem Selbst. Bereits als Kind trachtet Nietzsche danach, sich ein „Universalwissen“ anzueignen. Ein voluminöses Selbst also, weil in diesem Selbst mehr (Bezug zur) Welt ist; ein Selbst, das von der Welt besessen ist und daher, wie bei großen Künstlern gemeinhin der Fall, auch von sich selbst – nicht zuletzt als Sensorium für diese Welt – einigermaßen besessen sein darf und ist. Dass er bei all seinem dichterischen Feuer und seiner Pathetik ein geradezu verschwindendes, wasserhaftes Ego hat, das in die Welt hinein entfließt, das indifferente Ego des wissenschaftlichen Menschen, wenn nicht gar eines tibetischen Lama, macht er auch immer wieder (glaubhaft) deutlich: Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen Vortheil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachtheilen nicht aus, die sie mir bringen (Nachlass November 1887 – März 1888, 11(300)) Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen- – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. (Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5(184)) Was ich an mir vermisse: jenes tiefe Interesse für mich selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgibt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht. (Nachlass Ende 1880, 7(100)) Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas „wollen“, nach etwas „streben“, einen „Zweck“, einen „Wunsch“ im Auge haben – das alles kenne ich nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 9) Diese Münze, mit der alle Welt bezahlt, Ruhm – mit Handschuhen fasse ich diese Münze an, mit Ekel trete ich sie unter mich. (Ruhm und Ewigkeit) Die Eitelkeit, der Selbstbezug, die Egozentrik treten aber in vielfältigen, und gemeinhin verborgenen Formen auf, und gerade als Psychologe wird Nietzsche erhebliche Energien darauf verwenden, niedere Motive hinter glänzenden Erscheinungen aufzuspüren (was seinerseits als Hinweis für Psychologen begriffen werden könnte). Vor allem aber ist es auch so, dass verschiedenste Wünsche und Motivationen in einer Person ja auch koexistieren können, und so auch Eitelkeiten und Gleichgültigkeiten gleichermaßen: warum also nicht auch bei Nietzsche? Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind – das allein ist der gute Hang! (…) Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zu Anderen!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem „Angenehmen“ und Unangenehmen „Wahre“ ist die höchste – darum Seltenste bisher! (Nachlass Frühjahr – Herbst 1881, 11(10)) Das neutrale sachliche Sehen ist aber eine Anstrengung, die das Ich unternimmt. Je neutraler und sachlicher es sehen will, desto mehr muss es sich herausnehmen – indem es sich selbst in seiner Relativität in den Erkenntnis-Regelkreis miteinbezieht, sich selbst und seiner Relativität gewahr wird. Es redet viel von sich und denkt viel an sich, weil es sich selbst nicht anders loswerden und aus dem Blickfeld bekommen kann. So allein ist ein perspektivistisches Sehen möglich und eine Philosophie des Perspektivismus – denn die (soziale) Realität kann man nur dann am besten umfassend und objektiv begreifen, wenn man möglichst viele Perspektiven auf sie errichten kann: und das eben durch das neutrale sachliche Sehen. Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie große Lerner und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. (Morgenröte 540) Künstler, und genauso wenig Philosophen und religiöse Naturen stellt Nietzsche nicht notwendigerweise an die Spitze der Erkenntnis-Subjekthaftigkeit: die Eitelkeit, das Rechthabenwollen, die Schwärmerei mögen ihrem neutralen sachlichen Sehen entgegenarbeiten. Denker, die still ihre Maulwurfslöcher graben, seien die eigentlichen Denker und wissenschaftlichen Arbeiter in jenem Sinn (ebenda 41). Maulwürfe sind blind und auf sich selbst zurückgeworfen, auch und vor allem in ihrem Maulwurfsgängegraben. Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eignen Wege“ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muss er allein fertig werden. (ebenda, Vorrede 2) Der philosophische Maulwurf ist also urtümlich der Mensch mit sich allein. Er findet sich immer wieder, da er sich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen findet. – Ja, all das kenne ich sehr gut! Ich spreche in meinen hochintellektuellen Schriften ja auch immer wieder von mir selbst, und schäme mich auch immer wieder ein wenig dafür. Das Geheimnis dahinter ist aber das: Mein ganzes Trachten gilt der objektiven Erkenntnis der Welt. Das „Ego“ wiederum ist der Antipode dazu, und der Antipode zur Ethik und zum guten moralischen Durchnavigieren durch die Welt, die durch die gute Subjektivität gestaltet und verbessert werden kann und soll. Gerade aber wenn ich versuche, mir die Welt möglichst objektiv und unparteiisch zu vergegenwärtigen, erlebe ich mich letztendlich auf mich selbst zurückgeworfen, dem Umstand dass ich es bin, der versucht, die Welt – ein großes Außerhalb – festzustellen. Und ich versuche, die Welt ganz grundsätzlich festzustellen, mit einem tiefen Spaten tief in das Erdreich reinzugraben. Auf dem Level der Meta-Philosophie wird also beides radikal, und beides rein: das Subjekt und die Objektivität der Welt, treten wechselseitig immer mehr zum Vorschein. Es geht bei diesem Unternehmen darum, Traditionen, Theorien und Ideologien, das, was als Vorstellungsformen also vorhanden ist, zu durchdringen und diese hinter sich zu lassen (bzw. auf dem Level der Meta-Philosophie die Philosophie insgesamt), um zu reinen Anschauungen vorzudringen: um auf dieser Basis umso mehr neue reine Ideen und reine Begriffe und Konzepte entwickeln zu können. In diesem Vakuum der Reinheit bin ich also ganz auf mich selbst zurückgeworfen. Gleichzeitig erlebe ich die reine Welt. Objektivität und Subjektivität und deren Betonung gleichermaßen ist letztendlich der geschlossene Regelkreis des Selbst- und Weltbezuges. Die Objektivität und meine Subjektivität erlebe ich dann als „transzendent“ gegenüber ihren scheinbar vordergründigen und scheinbar hintergründigen Manifestationen. Sie werden, an sich, zu Möglichkeitsräumen, in denen man, über die Errichtung von Perspektiven, konkrete Wirklichkeiten betrachten oder imaginieren, und dann eben umso besser aussortieren kann. Dieses Schwert stoße ich, der geheimnisvolle Wanderer, in die Weltesche. Wer ist derjenige, der es herausziehen kann?
Nietzsche und sein Größenwahn. Alle Bücher, die er je
veröffentlicht, große Klassiker der Weltliteratur und essentiell in der
Philosophie! Im, mehr oder weniger, jährlichen Rhythmus rausgeschossen, jedes
davon vollgepackt mit Inhalt, und noch dazu mit Inhalt der erstaunlichsten Art,
getreu seinem Vorsatz, er wolle in einem Aphorismus so viel sagen wie andere in
einem ganzen Buch! Ein Vulkan, der ständig ausbricht! Kannst du das aushalten?
Kannst du das nachvollziehen? Schau dir doch mal die Aphorismen von Oscar Wilde
an, oder die von Goethe!, sagen der Roman und der Bernhard zu mir. Naja, aber Nietzsche
schlägt mit den seinigen alle. Ein Vulkan, der ständig Lava ganz weit rauf in
die Atmosphäre ausspeit, permanent! Er
strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht – mit
Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über
seine Ufer unfreiwillig ist. (Götzen-Dämmerung,
Streifzüge eines Unzeitgemäßen 44) Wie soll sich so einer nicht als so was
wie ein Übermensch vorkommen? Das ist ja ganz naheliegend! Dass er an Eigenlob
nicht gespart hat, mag man beargwöhnen, und es wäre von seiner Seite her keine
unmittelbare Notwendigkeit dafür bestanden – was aber will man jenem Eigenlob
jetzt inhaltlich entgegensetzen? Ich
selber kenne in keiner Litteratur Bücher, welche diesen Reichthum an seelischen
Erfahrungen hätten, und dies vom Größten bis zum Kleinsten und Raffiniertesten.
Daß dies außer mir im Grunde Niemand sieht und weiß, hängt an der Thatsache,
daß ich verurtheilt bin, in einer Zeit zu leben, wo das Rhinozeros blüht, und
noch dazu unter einem Volke, welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch
jede Vorschulung fehlt (einen Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen
hat!!). Wenn ich denke, daß solche M(enschen) wie R(ohde) sich im Grunde wie
Hornvieh gegen mich benommen haben: was
soll eigentlich – (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887, 5(79)) Warum ich so
gute Bücher schreibe… Wenn Ecce homo
als Autobiographie bezeichnet wird, die an Selbstverherrlichung ohne Beispiel
in der Literaturgeschichte ist; naja, ist diese Selbstverherrlichung denn nicht
berechtigt (nicht zuletzt auch wegen der glasklaren und hohen und sicheren
Gedankenführung innerhalb einer ansonsten rauschähnlichen und orgiastischen
Schreibe)? Wenn Nietzsche (kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch) seinem
Verleger zu dem „Privileg“ gratuliert, die Werke des „Ersten Menschen aller
Zeiten“ (erfolglos) im Programm zu haben, stimmt´s denn nicht? Eventuell mag
einem Goethe in den Sinn kommen, wenn man an einen möglichen Ersten Menschen
aller Zeiten denke, doch: „Es ist gewiß
hier seit Goethe noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht
so prinzipielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen.“ (an Gast
5.10.1879) (zitiert bei Jaspers S.47). Ein gutes Jahrzehnt später scheint
er sich dann seiner Sache noch sicherer zu sein: Daß ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser
ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu atmen wissen würde, daß Dante, gegen
Zarathustra gehalten, bloß ein Gläubiger ist und nicht einer, der die Wahrheit
erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal, daß die
Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines
Zarathustra zu lösen, das ist alles das wenigste und gibt keinen Begriff von
der Distanz, von der azurnen Einsamkeit, in der dies Werk lebt. (Ecce homo, Also sprach Zarathustra 6)
Ja, und freilich, der Scharfsinn von zwei
Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, daß der Verfasser von
„Menschliches, Allzumenschliches“ der Visionär der Zarathustra ist. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 4) Wenn
er sagt, er sei kein Mensch, er sei Dynamit: hat er eine entsprechende geistige
Sprengkraft denn nicht entfaltet? Ja, wenn er Goethe übersteigt, den
Universalmenschen, ist er dann überhaupt noch ein Mensch – oder so etwas wie
eine transzendente Figur? Er ist es schon, denn wo Goethes Gedanken alle Welt
betreffen, übersteigen sie bei Nietzsche alle Welt. Die Welt ist tief, und
tiefer als der Tag gedacht: aber die Geistseele von Nietzsche ist
eben/offensichtlich noch tiefer! Nietzsche (oder auch Schopenhauer) hat die
Welt (im Gegensatz zu dem darin erfolglos bleibenden Faust) so vollständig
geistig und seelisch durchdrungen, dass er sie unter sich gelassen hat – und so
in einem Reich der absoluten noumenalen Freiheit lebt. Das ist, sozusagen, der
Himmel; das ist, sozusagen, das Nirwana. Nietzsche mag größenwahnsinnige
Tendenzen gehabt haben, aber er war auch – und vor allem – erleuchtet.
Der Erleuchtete und der Welt-Überwinder hat einen riesigen Raum in sich und
daher auch eine riesige Sprache um diesen Raum für sich und andere auszudrücken
und zu durchmessen. Es man einen befremden (zumindest mich hat es das
ursprünglich getan), wenn Prinz Gotama sich ohne große Not als „ich bin der
höchste und heiligste Buddha“ Gehör verschaffen will: aber er ist eben der (höchste und heiligste)
Buddha. Er hat die Welt überwunden; er
ist höher und heiliger als die Welt. Er hat extreme Anstrengungen dafür
unternommen. Er darf sich als „der höchste und heiligste Buddha“ bezeichnen. Ich habe von allen Europäern, die leben und
gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire — es hängt von den
Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim „Wesen der Dinge“ –
ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indischen
wäre. (Nachlass Juli – August 1882,
4(2))
Allüberwindend bin ich
und allwissend;
Von allem, was da ist,
bin unbefleckt ich.
Allosgelöst, befreit
durch Durstvernichtung,
Erkenner bin ich selbst
– wem sollt ich folgen?
Mein Lehrer kann
niemand heißen;
Meinesgleichen nicht
findet man.
An Hoheit kommt mir
gleich niemand
Hienieden und im
Götterreich.
Denn ich bin in der
Welt heilig,
Ein Meister, über den
nichts geht;
Höchster Buddha allein,
weil` ich
In des Nirvana kühlem
Reich.
Friedrich Nietzsche ist
vielleicht der größte Philosoph, den die Welt je gesehen hat (…) Seine
Philosophie kommt nicht nur aus dem Kopf, sondern ist tief im Herzen
verwurzelt, und ein paar Wurzeln reichen sogar tief hinunter bis in den Kern
seines Seins. Das Unglück mit ihm ist nur, daß er im Westen geboren wurde – das sagt dazu Osho/Bhagwan(S.11). Bhagwan war eine Art
Zarathustra des zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bezeichnet ihn als einen
„Wittgenstein der Religion“, einen Meta-Reflektierer von Religion (oder aber
parallel zum Meta-Philosophen wäre er eine meta-religiöse, meta-heilige
Gestalt). Bhagwan spricht viel über Nietzsche, und er zeiht Nietzsche, reich an
Geist, aber arm an Leben gewesen zu sein – sein Unglück sei, dass er im Westen
geboren wurde. Einen aristokratischen Brahmanen sieht er nicht in ihm: Der Mensch ist so taub, so blind, daß es für
ihn praktisch unmöglich ist, Menschen zu verstehen, die von höheren
Bewußtseinsebenen herab reden. Er hört den Schall, aber der Sinn trägt nicht
bis zu ihm. Nietzsche ist in dieser Hinsicht einmalig. Er hätte ein
außergewöhnlicher, sehr übermenschlicher Philosoph bleiben können. Aber er
vergißt keinen Augenblick lang den gewöhnlichen Menschen. Das ist seine Größe.
Obwohl er nicht an die höchsten Gipfel gerührt hat und er die größten Mysterien
nicht erfahren hat, treibt ihn dennoch das Verlangen, alles Erfahrene mit
seinen Mitmenschen zu teilen. Sein Wunsch, mit anderen zu teilen, ist
ungeheuer. (ebenda, S.12) Nietzsche selber bekennt: Ich möchte der Welt ihren herzbrechenden Charakter nehmen (Nachlass
Juli – August 1882, 4(34)) Das ist das gute Prinzip! Wie aber nimmt man der
Welt ihren herzbrechenden Charakter? Indem man das Herz unendlich vergrößert,
oder aber den Geist, auf dass er die Welt überschreitet. Nietzsches Bewegung
und Zarathustras Bemühen war ja dahingehend … Und es gibt
Mondsüchtige,
sagt Bhagwan, die immer nur nach dem
Weitentferntem, dem Entlegenen suchen, und sie bewegen sich immer nur in der
Einbildung. Große Dichter, einbildungsstarke Menschen – ihr ganzes Ego ist ins
Werden verstrickt. Einer ist da, der Gott werden will – der Mystiker (…) Ein Buddha (aber) ist einer, der in die Erfahrungen des Lebens, ins Feuer des Lebens, in
die Hölle des Lebens eingetaucht ist und sei Ego zu seiner höchsten
Möglichkeit, zum äußersten Höchstmaß ausgereift hat. Und genau in dem Moment
fällt das Ego ab und verschwindet (…) Es gibt sieben Türen. Wenn das Ego vollkommen ist,
sind all diese sieben Türen durchschritten worden. Danach fällt das reife Ego
ganz von allein. Das Kind ist vor diesen sieben Egos, und der Buddha ist hinter
diesen sieben Egos. Es ist ein vollendeter Kreis – der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring von der
Erlösung von der ewigen Wiederkunft. Nietzsche versuchte den Buddha zu
übertreffen – und er versuchte Schopenhauer zu übertreffen – indem er die ewige
Wiederkehr freudig bejahen will, da sein Karma und sein Ego noch tief in die Welt
verstrickt waren: aber wie wir noch sehen werden, ist diese Idee nicht
nachhaltig. Der Mensch ist ein Werden.
Mit dem Entstehen des fünften Verstandes, des Buddhaverstandes, des Christusverstandes,
wird der Mensch zu einem Sein (…) Du
bist zum ersten Mal ein Sein, Werden gibt es nicht mehr. Der Mensch ist über
sich hinausgegangen, die Brücke gibt es nicht mehr … Alles ist vergangen, der
Alptraum ist zu Ende (…) Dann ist der
Mensch nicht mehr Mensch, da der Mensch nicht mehr Verstand ist. Dann ist der
Mensch Gott. Und nur das kann erfüllend sein, sonst nichts. Und gib dich nicht
zufrieden mit etwas Geringerem! Der Übermensch ist etwas Geringeres als ein
Gott. Nietzsche scheint ewig vom Werden gesprochen zu haben, weil ihm das Sein
nicht bekannt war? Weil er selber nicht ganz „war“, einen stabilen Zustand
nicht erreicht hat? – Was ist der Grund dafür, dass
Bodhidharma aus dem Westen kam?, lautet zufällig, ebenso verklausuliert wie
handgreiflich-einfach die Frage nach dem Wesen, der innersten Essenz des
Zen-Buddhismus, dem tiefsten Geheimnis der Welt. Zusammendenken von Ost und West
ist sicherlich gut. Sie scheinen sich, irgendwie, zu ergänzen. Für den Übermenschen,
der die Erde beherrschen will, ist dieses Zusammendenken auch ganz einfach eine
Notwendigkeit, und Nietzsche selbst hatte eine deutliche Hochachtung gegenüber
dem Buddhismus. Bhagwan, der aus dem Osten in den Westen kam, lehrt uns nicht
allein Weisheit des Ostens, sondern auch, von einer falschen Romantisierung des
Ostens Abstand zu nehmen: … Im Osten haben
die Menschen sehr, sehr fragmentarische Egos, und sie halten es für leicht,
sich hinzugeben … Ein Fingerschnippen, und sie sind bereit, sich hinzugeben –
aber ihre Hingabe geht nie sehr tief … Genau das Gegenteil ist im Westen der Fall.
Die Leute, die aus dem Westen kommen, haben sehr starke und entwickelte Egos …
Der bloße Gedanke an Hingabe wirkt abstoßend, erniedrigend auf sie. Aber das
Paradox ist, dass wenn sich ein westlicher Mensch, Mann oder Frau, hingibt, die
Hingabe wirklich tief geht… Versuchen wir also, das Beste daraus zu machen. Der Westen
hat das Individuum, die moderne Wissenschaft, der Osten das im Kollektiv
aufgehende Individuum und die „Weltseele“. Der Westen kennt eine Physik und eine Metaphysik. Der Osten
kennt eine „taoistische“ Prä-Metaphysik, die Konfrontation mit einer Tabula
Rasa, die gleichzeitig aus sich heraus produktiv ist, Potenzial ist, als dem
Seinsgrund, dessen Produktionen und Perzeptionen ständig wechseln können, und
er lehrt uns Flexibilität in der Anpassung an diese Erscheinungen. Der Westen
kennt die Erkenntnis, der Osten kennt die Erleuchtung. Erleuchtung bedeutet,
dass man sich frei durch den Erkenntnis-Raum bewegen kann, zu aller Erkenntnis
fähig ist. … Jenseits der vierten Stufe des universalen
Verstandes gibt es noch die fünfte Stufe, die letzte, wenn du sogar über den
universalen Verstand hinausgehst. Denn auch nur zu denken, dass es der
universale Verstand ist, ist denken. Gewisse Ideen vom Individuum und vom
Universum bleiben noch in dir zurück. Du bist dir noch bewusst, dass du bist
eins bist mit dem Ganzen, aber du bist und du bist eins mit dem Ganzen. Die
Einheit ist noch nicht total, sie ist nicht vollendet, sie ist nicht endgültig.
Wenn die Einheit wirklich endgültig ist, dann gibt es nicht Individuelles,
nichts Universales. Das ist der fünfte Verstand: Christusverstand. Ich möchte euch sagen, und lehre euch: Zu den
höchsten Genüssen, und zu den höchsten Notwendigkeiten – in Bezug darauf, der Welt
ihren herzbrechenden Charakter zu nehmen – gehört dieses Zusammendenken und
Zusammenerleben von Ost und West. Lasset uns zusammendenken Ost und West! Wer
das tut, der beherrscht die Vier Himmelsrichtungen! Er nimmt der Welt ihren
herzbrechenden Charakter. Nietzsche muss man dafür kennen. Zoroaster lebte
zwischen Osten und Westen. Bhagwan war, wie gesagt, eine Art Zarathustra des
zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bekennt, mit einem Bhagwan-Zitat macht man
sich lächerlich unter Fachphilosophen. Deshalb stehen sie ja da. Ich will der
akademischen Philosophie ihren herzbrechenden Charakter nehmen.
Auf dass der Lehre Rad
rolle,
Ziehe ich hin zur
Käsistadt.
In dieser blinden Welt
rühr` ich
Die Trommel der
Unsterblichkeit
Meinesgleichen die
Siegreichen
Aller Gefahr entronnen
sind.
Alles Böse besiegt hab´
ich:
Sieger drum heiß ich,
Upaka
Es dämmert jetzt
vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und
–Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist, dämmert es bei Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (14) (was ihn
allerdings nicht daran hindert, ein paar Paragraphen weiter zu diktieren: Die Welt von innen gesehen, die Welt auf
ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben
„Wille zur Macht“ und nichts außerdem (36), einerseits also die Früchte der
bravsten wissenschaftlichen Anstrengungen zu relativieren, dann aber seine
eigene – subjektive und höchst fragwürdige – Anschauung zu verabsolutieren). Nietzsches
Anti-Totalitarismus in Bezug auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, sein
intelligentes Hinterfragen und Relativieren im Hinblick auf die Möglichkeiten
und Grenzen unseres Erkenntnisvermögens – was er im ersten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches an
überraschenden und kreativen Einsichten diesbezüglich aus dem Hut zaubert
beispielsweise ist wieder einmal durchaus magisch-verblüffend – ist grundsympathisch
und prä-postmodern. Es schärft unseren Sinn für den Skeptizismus und den
Facettenreichtum des Lebens – es schärfe unseren Sinn für die mannigfaltigen
Gestalten von Wissenschaft und Wahrheit. Nur, was Nietzsche tut – einerseits
sämtliche Wissenschaft und Wahrheit infrage zu stellen, und dann andererseits
sehr subjektive und hanebüchene Einschätzungen als „Wahrheiten“ hinzustellen –
geht dann doch zu weit. Nietzsche ist ein authentischer Wahrheits-Sucher, der
dabei fortwährend auf Abwege gerät, was sich daran zeigt, dass er Wahrheit an
sich leugnet. Wahre Wahrheit ist ein fortwährendes Verfehlen von Wahrheit, nimmt Heidegger Bezug auf Nietzsche (Nietzsche Band 1, S.559). Das ist aber
so, weil die Suche von Wahrheit fraktal ist, und das Auffinden von Wahrheit
meistens Hinweise auf noch tiefere Wahrheiten gibt. Nietzsche sieht anstatt der
fraktalen Tiefenstruktur der Wahrheit und der Welt aber nur ein
(unverbindliches) „ästhetisches Phänomen“, über welches sich die Welt allein
rechtfertige. Der Gesamt-Charakter der Welt ist Chaos, daran delektiert sich
Nietzsche wiederholt. Der Gesamt-Charakter der Welt ist aber der Chaosmos,
das Zusammenspiel von Ordnung und Zufall. Ohne Stabilität der Naturgesetze und
Naturkonstanten zum Beispiel, ohne wiederkehrende Verhaltensmuster etc. gäbe es
nämlich gar keine Welt! Wer nur das Chaos in sich trägt, kann keinen tanzenden
Stern gebärden, denn weder Sterne noch Choreographien können chaotisch sein!
Ja, das versteht ja jeder, der will! Nietzsche aber will es offenbar nicht
gerne verstehen: Und der Grund dafür ist,
daß Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes
herausfühlte: jene geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von
Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten
Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und
auf das wir immer wieder zurückkommen werden. (Lou Salomé, S.91) Also die
Nietzscheanische Überbetonung des Dionysischen gegenüber dem Apollinischen. Das
Dionysische ist aber die Instabilität. Also eine Art chtonischer Urgrund oder
aber Geistes- und Seelentiefen, aus denen alles aufsteigt, ein Urgrund von
Kultur und Zivilisationsleistungen – die aber eben über das Apollinische als
solche in Form gebracht werden: oder aber eben ohne dieses nicht! Nietzsche
leugnet immer wieder das „Ding an sich“ und die Möglichkeiten der
Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Damit gerät er in die
Nähe der Chinesen, die in der blumigen, allegorischen, ambivalenten Sprache
ihrer Weisheit zwar dem ambivalenten Charakter der Lebenswelt gut Rechnung
tragen, aber auch kein Ding an sich kennen; und damit kein Ideal der Exaktheit,
der schlussfolgernden Logik und eben der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit,
mithilfe derer der europäische Wille zur Macht die Welt erobert hat, während
China Jahrhunderte geschlafen hat. Der Versuch der Scheidung von Erscheinung
und Ding an sich ist das Um und Auf der Wissenschaftlichkeit; indem Nietzsche
das unterlässt gerät seine „Philosophie der Zukunft“ wissenschaftlich wie dann
eben auch moralisch in eine der archaischen Vergangenheit, in eine Philosophie
des Dschungels. Die wahre Welt haben wir
abgeschafft: welche Welt bleibt noch übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber
nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Götzen-Dämmerung,
Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde) (Heidegger zufolge ist der
Nietzscheanische „Immoralist“ einer, der zwischen „wahrer“ und
„falscher“/scheinbarer Weltordnung keinen Unterschied macht – Nietzsche Band 1, S.566) Tatsächliche,
sehr robuste Qualitäten werden so aufgeweicht (was aber nichts macht, denn: Die Qualität ist eine perspektivische
Wahrheit für uns: kein „an sich“. (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887,
5(36))) Nietzsches gutgemeinter „Perspektivismus“ ist förderlich, wenn wir uns
ambivalente, facettenhafte und vielfältige – soziale oder politische –
Realitäten vergegenwärtigen wollen: diese bekommt man tatsächlich nicht über
einen bestimmten Standpunkt oder eine bestimmte Formel möglichst gut in den
Griff, sondern bestenfalls dann, wenn man sie aus möglichst vielen Perspektiven
und über möglichst viele Standpunkte betrachten kann. Er öffnet aber auch
unermessliche, betrachterabhängige Interpretationsspielräume und daher Möglichkeiten,
allerhand Blödsinn zu behaupten, wo Eindeutigkeit und Verlässlichkeit gefragt
ist. Die Welt ist uns vielmehr noch
einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen
können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (Die fröhliche Wissenschaft 374) Ich habe
einmal in einem Buch von Donald Trump geblättert, in dem der große
Geschäftsmann und Präsident Tipps zum Vermögenserwerb gibt. In seiner coolen
Art räumt er ein, dass die Leute in ihrer Vielheit natürlich auch viele
verschiedene Meinungen und Sichtweisen zu den Dingen hätten. Die meisten wären
allerdings das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben sind.
Gemäß Otto Weininger ist der Sinn des Lebens die gleichzeitige
Verwirklichung von Ethik und Logik (und dass er im Rahmen seiner einerseits
grandiosen, andererseits hasserfüllten und tendenziösen
Philosophie/Individualethik beides letztlich verfehlt hat, war offenbar (im
konkreten oder übertragenen Sinn) der Grund für sein frühes Hinscheiden). Ethik
und Logik bilden das Kreuz der Welt, die erzene, unzerstörbare
Verstrebung, die stärker und dauerhafter ist als aller Weltlauf. Nietzsches
Verweichlichung und letztlich Verabschiedung der Stabilität der Logik scheint
gleichsam mit seinem Abgesang auf die Verbindlichkeit der Ethik in einer Linie
zu stehen; seine Leugnung von wissenschaftlich bestimmbarer Wahrheit ist dann
eben auch eine Leugnung von moralischer Wahrheit. So wird bei ihm alles
„dionysisch“ und verliert die Konsistenz. An
sich von Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns; an sich kann natürlich
ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten, nichts „Unrechtes“ sein,
insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend,
vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden
kann ohne diesen Charakter. (Genealogie
der Moral, Zweite Abhandlung 11) Ein Zitat von vielen möglichen, in denen
Nietzsche eine amoralische Sicht auf die Welt beschreibt – genauer gesagt, sich
ihrer vergewissern will: denn dass Leben all das ist, aber eben auch, und vor
allem, nicht nur und mehr als das, erkennt abermals jeder, der
will. Indem Nietzsche nicht nur eine (diskutierbare) sittliche Weltordnung
(also, als etwas ontisch Verankertes) leugnet, sondern auch die Valenz von menschengemachter
Moral und Sittlichkeit, genauso wie eben die Valenz von Wissenschaftlichkeit
und Wahrheit, macht er es sich leicht und kann daraus ein ihm genehmes Art
Recht des Stärkeren ableiten und legitimieren. Nichts ist seltener unter den Philosophen als intellektuelle
Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben
sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse
Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen sich
beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese „Wahrheiten“ einig sind. Da
sind z. B. die moralischen Wahrheiten. (Nachlass Frühjahr 1888, 15(25)) –
So wird hier nun aber vielmehr der unkorrumpierbare Wahrheitssucher Nietzsche
zum Opportunisten und Subjektivisten. Lichtscheues Gesindel!, daran mag man die
erkennen, die das Licht der (ethischen und logischen) Wahrheit scheuen. Was
aber verbergen sie? Liegt es daran, daß
sie insgeheim selber Furcht davor haben, daß man einmal das Licht der Wahrheit
zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man
nicht genau wissen, wer sie sind? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzu
hellen Licht, an welches ihre dämmernden, leicht zu blendenden
Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so daß sie es hassen müssen? (Menschliches, Allzumenschliches 2,
Vermischte Meinungen und Sprüche 7) Da hat man den Philosophen mit dem
Hammer einerseits, seine gewalttätige und überströmende Philosophie, die auf so
beispiellos hohem Niveau dann ebenso beispiellos Mitleid, Religion, Demokratie,
Wahrheit und Ethik (also die Grundlagen für Zivilisation) verwirft. Und dann
andererseits den ebenso beinahe beispiellos milden, gütigen, zu jedermann
freundlichen und entgegenkommenden, mitleidenden Nietzsche, der schon als Kind
„von unnatürlicher Bravheit“ war. Hat er sich wohl wegen dieser Bravheit
gehasst, sie (fälschlicherweise) als Schwäche an sich wahrgenommen? Wollte er
das Licht der Wahrheit nicht auf sich fallen lassen, weil er im Innersten –
böse war? Mit seiner Ablehnung von eindeutigen und universalistischen
moralischen Unterscheidungen könnte sich Nietzsche auf jeden Fall ein weiteres
Mal mit den Chinesen zusammentun; ihrem relativistischen und situationalen
Moralverständnis, das sich in seinen Verpflichtungen (in erdrückender Weise)
auf die Familie und den eigenen Kreis beschränkt, weniger aber auf
Außenstehende und schon gar nicht auf Fremde; das ambivalent und opak ist, was dann
also ein opakes und intransparentes Reich erzeugt, das von gleichmacherischen
Kaisern und Kommunisten und ihrem Terror und ihrer Korruption zusammengehalten
wird, starren konfuzianischen Regeln und einer idiotischen Ritualistik, in dem
es keine Zivilgesellschaft gibt, keine Aufklärung und Herdenmenschentum
anstelle von Individualität. Irgendwie dem Gegenteil vom alten griechischen
Ideal. Das „Chinesentum“ lehnte Nietzsche (wenngleich aus anderen Gründen) ab
und behandelte es despektierlich. Mit zunehmenden Jahren fasziniert sich
Nietzsche immer mehr für das Böse und blickt mit einem faszinierten Wohlwollen
nicht nur auf Gewaltmenschen und Eroberer sondern auch auf „den Verbrecher“, einerseits,
weil er mit dessen vermeintlich authentischer Kraft und seinem transgressiven
Wesen sympathisiert, andererseits, weil „das Böse“ etwas ist, das Nietzsche
gerne in sich selbst freilegen möchte – oder aber konstruieren – im Rahmen
seiner Selbststeigerungsphilosophie, die nicht allein das Gute isst und
verdaut, sondern auch das Böse: um so also jenseits von Gut und Böse, in
scheinbarer Transzendenz zu sein. Hatte der gehemmte Nietzsche Lust auf Böses?
Oder aber ein verborgenes Böses in sich auszuleben? Die Aggressionen gegen das,
was er als seine Schwäche wahrnahm? Hierauf gibt es eine ganz klare und
einfache Antwort, und die ganz klare und einfache Antwort hierauf lautet: —
(unleserlich)
Der Grund dieses
Versagens könnte sein, daß Nietzsches Kommunikationswille letzthin ohne
Bindungen an das Selbstsein des Anderen, daher kein eigentlicher
Kommunikationswille wäre. Nietzsche ist ungemein liebenswürdig, er arrangiert,
ist hilfsbereit und von ungewöhnlich aktiver Hilfe, aber er scheint immer nur
sich und den Andern nur als Gefäß des Seinigen zu lieben: ihm fehlt die wirkliche
Hingabe an einen Menschen (…) Er will das Höchste und beurteilt in diesem Maße
richtig; aber er läßt jeden anderen in seiner Verstrickung oder Verengung (…)
Litt er an der Einsamkeit im Grunde noch mehr, weil er nicht liebte, als weil
er nicht geliebt wurde? (Jaspers S. 86) Trotz seiner, und vor allem in seiner expansiven Kraft,
seines weltumsegelnden Geistes, seines schon früh vorhandenen Dranges, sich ein
„Universalwissen“ anzueignen, seines psychologischen Genies (also, wie man
meinen würde, seines tiefen Interesses am Menschen) und seiner guten Manieren
kann man sich Nietzsche in der eigentlichen Konsequenz – vielleicht, eventuell,
hypothetisch – als ziemlich ich-bezogen vorstellen. Sein Sein ist kein
eigentliches Mit-Sein. Trotz seiner übergroßen ästhetischen und emotionalen Empfänglichkeit,
Zarathustras gutem Rat, sich das Leben erträglicher zu machen, indem man sich
mit „kleinen, guten Dingen“ umgibt, dem schimmernden Reichtum, der in seiner
Philosophie und Dichtung liegt, seiner Mitleidigkeit usw., hat man bei
Nietzsche wenig Hinweise auf ein lebendiges, emotionales oder empathisches
Verhältnis zu dem, was ihn umgibt. Dass er sich mit kleinen, guten Dingen
umgeben hat, war eher nicht der Fall. Kinder oder Tiere, von denen sich die
Seele des Genies normalerweise wie magnetisch angezogen fühlt, haben ihm nicht
viel bedeutet. Er hatte ein (wahrscheinlich weniger „unterdrücktes“ als ein)
eher flüchtiges Interesse an Frauen (oder, wie manche, die verkappte
Homosexualität als Nietzsches eigentliches „Problem“ vermuten: an Männern).
Seine Poesie – gemeinhin des Dichterherzens Oden an so Dinge wie Wald, Wiesen
und Mond – hat vorwiegend sich selbst (oder Zarathustra) zum Gegenstand. Als
Philosoph der Vitalist Nummer 1, war er kein Lebemann, kein Hedonist, als
Jünger von Dionysos hatte er es nicht mit Wein (Wozu, wozu dir – Wein? richtet Nietzsche die Frage eines Wassertrinkers An Hafis – egal, ob Allahs trunkene
Poeten – Hafis, Rumi, Omar Chayyam el al – Asketen waren oder durchaus auch
weltlich dann und wann mal bei aller meditativer Versenkung sich einen über den
Durst getrunken und über die Stränge geschlagen haben: Der Wein und der Rausch bei
den (zumeist mehrdeutig dichtenden) Sufi-Dichtern steht für die große Liebe und
die Vereinigung mit dem Göttlichen; also für etwas tatsächlich Empfundenes,
während die Dionysos-Metaphorik bei Nietzsche dann doch vorwiegend
intellektuell bleibt). Trotz aller möglicher Stärke und Entschlossenheit bleibt
ein ich-bezogenes Sein, das das Mit-Sein nicht genuin kennt, schwach und
verletzlich: vor allem, wenn sich im Leben Enttäuschungen einstellen. Von
Anfang an fühlt sich Nietzsche bedroht, mit den zunehmenden Enttäuschungen
immer mehr. Das hat einerseits sehr gute Gründe, denn solche Geister wie er
leben gefährlich. Andererseits hat man neben seiner zunehmenden intellektuellen
Aggressivität insgesamt ein ständiges Kreisen um „Stärke“ und „Schwäche“ – das
letztendlich seine gesamte spätere Philosophie ausmacht – ohne dass man jeweils
wirklich weiß oder ganz konkret nachvollziehen kann, was er mit seinem amor fati, seinem Willen zur Macht,
seinem Übermenschen und umgekehrt in seiner obsessiven Fixiertheit auf
Tendenzen und Phänomene der „décadence“
eigentlich meint, oder warum das für ihn so wichtig ist. Neurotiker nun fühlen
sich ständig (und ohne rational gänzlich einsichtigen Grund) schwach, und haben
umgekehrt ein Bedürfnis nach geradezu maßloser Stärke (mithilfe derer sich die
innere („dionysische“) Instabilität überwunden werden soll). Wenn man für etwas
(bei einem Menschen) keine rationale Erklärung findet, soll man aber
letztendlich etwas Irrationales als des Pudels Kern vermuten. Wir Heutigen wissen jedoch den Grund nicht,
warum das Innerste der Metaphysik Nietzsches von ihm selbst nicht an die
Oberfläche gebracht werden konnte, sondern im Nachlaß verborgen liegt; noch
verborgen liegt, obwohl dieser Nachlaß in der Hauptsache, wenngleich in einer
sehr mißdeutbaren Gestalt, zugänglich geworden ist, wundert sich Heidegger
über Nietzsche(Nietzsche 2, S. 35) Das ist deswegen so, weil das Innerste der
Metaphysik Nietzsches die Neurose ist, und das Innerste der Neurose eine leere
Ichbezogenheit ist. – Daher muss das Ich zerstört werden, um im Sein aufgehen
zu können, und damit das „Ego“ zum „Selbst“ werden kann,
sage bekanntlich ich immer. Auf der gesunden Seite seiner Philosophie und
seiner Persönlichkeit hat Nietzsche das getan, auf der kranken nicht. Daher die
interne Opposition. Wenn hingegen ich versuche, in mein Innerstes zu
blicken, was stellt sich da dar? Eine friedliche Wiese/Weide, links ein Baum,
leicht dunst/nebelverhangen, was sich aber sogleich lichten wird, in früher
Morgendämmerung. Kein Hindernis steht im Weg, nichts was einen bekämpft, noch
was einer bekämpfen müsste; eine große friedliche Ebene in früher
Morgendämmerung, eine Ebene der Begegnung, der Ebene des Konx Om Pax. Der
triumphalistische Mittag, wie bei Nietzsche, kommt mir weniger in den Sinn
(allerdings auch deswegen, weil ich ihn von meinem privilegierten Blickwinkel
aus natürlich bereits im Sichtfeld habe). Bei mir ist es ewiger früher Morgen,
angehender großer Aufbruch in der Lichtung des Seins. Das kommt bei den Weibern
sicherlich nicht so gut an. Aber wenn die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht sein soll, wie soll das
entsprechende Innerste ihrer Metaphysik anders sein, als eben so?? Praktisch
primordial bin ich, älteste Weisheit, das Ur-Eine, beziehungsweise das erste
Licht, dass das Ur-Eine der Nacht von sich selbst scheidet und dadurch erzeugt.
Ich glaube, das macht mir nicht mal Nietzsche nach. Es ist wahrhaft göttlich.
Nietzsches „osmotisches Mitleidenkönnen und -müssen“
(Safranski, S.167), was ihn als Person betrifft, und seine beispiellose
Philosophie gegen das Mitleid. Als
Versuch, über Schopenhauer und Wagner hinauszukommen und etwas Neues und
Spektakuläres zu sagen, so kann man das hinsichtlich der intellektuellen
Ambition vielleicht verstehen. Immer wieder macht er freilich deutlich, dass
sein osmotisches Mitleidenkönnen und –müssen, eine Belastung für ihn ist. Man verliert Kraft wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und
vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem
Leben bringt. (Der Antichrist 7) Selber nannte er es
seine „Ketten-Krankheit“: Emotionale
Bindung, die ihn auf seinem Weg behinderte, der zu werden, der er war. (Prideaux,
S.287f.) Bei so einem großen und tiefen Denker, der die ganze Welt reflektiert
(und der dann dabei ein wenig (aber eben nur ein wenig) unter der Fuchtel von
Mutter und Schwester steht), könnte man schon nachvollziehen, dass umfassendes
Mitleiden anstrengend sein muss (Vermöchte
jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche
unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. (Abhandlung über Der Werth des
Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1))) Allerdings nur eher kurz. Genauso
kenne ich den Konflikt, einerseits Positionen zu beziehen, die man als
„aristokratisch“ bezeichnen könnte, und solche auch als solche zu verteidigen,
während man im Herzen Sozialist und Kommunist ist und am liebsten die ganze
Welt umarmen möchte. Allerdings macht sich dieser Konflikt auch nur punktuell
bemerkbar, und nicht systematisch. Viel eher, als dass es einen belastet, ist
das Mitleid und die Empathie ja gerade das, wodurch man sich zur höchsten
Selbststeigerung siegreich vollendet und endgültig stabilisiert: im Mit-Sein –
also, wenn man so will, in dem, was der „abgetane“ Schopenhauer propagiert hat,
während sich Nietzsche in seiner Selbststeigerung verrannt und verzettelt hat,
ohne beim Übermenschen (also: dem absolut mit-seienden Menschen) jemals
anzugelangen. Durch das Mitleiden und die Empathie wird man zum offenen Raum
und erweitert seine Grenzen ins Unendliche (so dass sich die Grenzen also,
gemeinsam mit allen inneren Konflikten, aufheben). Nietzsche war aber, vor
allem, im Herzen kein Sozialist oder Kommunist. Das „Himmelreich“ ist ein Zustand des Herzens – nicht etwas, das „über
der Erde“ oder „nach dem Tode“ kommt (…) Das „Reich Gottes“ ist nichts, das man
erwartet … es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist
nirgends da…. (Der Antichrist 34)
Damit ist der innere Reichtum des Religionsgründers gemeint. Das hat Nietzsche
von Anfang bis Ende, bis zum Antichrist
(erstaunlich) gut verstanden, und vor allem im Antichrist sehr gut beschrieben. Das „Reich Gottes“ ist da, wo
permanent gute Beziehungen herrschen und hergestellt werden können. Wie geht
das? Über den Intellekt, die Sinnesorgane, die ästhetische Rezeption, den Humor…
insgesamt und vollständig geht das aber nur über die Empathie. Das hat
Nietzsche eventuell nicht ganz so gut verstanden. Von Anfang bis Ende war
Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist. Nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch hat Nietzsche sozialem und demokratischem Reformismus
bekanntlich entgegengearbeitet. Das eine war sein schon früh irgendwie vorhandener
Überlegenheitsdünkel, der sich hinter der Maske der Freundlichkeit verbarg bzw.
der mit einer durchaus authentischen Freundlichkeit unbehindert einherging, und
den man bei einem überlegenen Menschen wie Nietzsche ja verzeihlich finden mag.
Das andere war aber etwas, das man vielleicht am besten als eine neurotische
Angst und eine Paranoia vor den unteren Schichten bezeichnen könnte, das
jegliches Mitleid bei ihm mit diesen verunmöglicht hat und sich in seiner
späteren Periode zu einem verfolgenden Hass gesteigert hat, zu
Vernichtungsphantasien oder einer Faszination für das Kastenwesen. Denn alles andere, was noch lebt, ruft nein.
Das Monumentale soll nicht entstehen – das ist die Gegenlosung. Die dumpfe
Gewöhnung, das Kleine und Niedrige, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere
Erdenluft um alles Große qualmend, wirft sich hemmend, täuschend, dämpfend,
erstickend in den Weg, den der Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat. Dieser
Weg aber führt durch menschliche Gehirne! Durch die Gehirne geängstigter und
kurzlebender Tiere, die immer wieder zu denselben Nöten auftauchen und mit Mühe
eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Denn sie wollen zunächst nur
eines: leben um jeden Preis, schreibt er in seiner Zweiten Unzeitgemäßen
(2), und anderorts. Dass man den Pöbel zurückweisen und in Schranken halten
sollte, darüber kann man sich schon einig sein. So feindselig, wie Nietzsche
immer wieder tut, sind „die Kleinen“ gegenüber allem Großen dann flächendeckend
aber auch wieder nicht. Zur selben Zeit, während der Basler Professur, votiert
Nietzsche gegen eine Arbeitszeitverkürzung von 12 auf 11 Stunden, für das
Erlauben von Kinderarbeit ab einem Alter von 12 Jahren, sowie gegen die
Zulassung von Arbeiterbildungsvereinen (Safranski, S.148). Die sinnlose und
erbitterte, irrationale Feindseligkeit liegt hier wohl also auf Seiten von
Nietzsche. War es eine neurotische Furcht vor irgendwelchen eigenen
Minderwertigkeits- oder Insuffizienzgefühlen? Oder ein Neid auf das
vermeintlich „einfachere“ Leben der Massen? Hatte Nietzsche eine paranoid
gestörte Persönlichkeit? Ja, man kann
überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder
erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen
seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl
von Personen wie von Theorien, sagt Lou Salomé (S. 239). Aber was steckt
dann eigentlich tief? So dass es mit besonderem Hasse verfolgt wird? Alles
Tiefe ist klar, wie Nietzsche öfter bekräftigt. Tief und grundlegend erscheint
so bei Nietzsche der psychologische Widerspruch an sich. Um über das Mitleid so zu phantasieren, wie Schopenhauer, muß man es an
sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel des Menschen liegen, da werden
seine Ideale phantastisch. (Nachlass Frühjahr 1880, 3(30)) Naja,
Schopenhauer hat sich aber immer, und so auch über seine Mitleidsethik, ganz
klar ausgedrückt und ebenso glasklar hergeleitet und geschlussfolgert. Man
versteht ihn, wenngleich es eventuell Schwierigkeiten macht, sich in seine Gefühlswelten
hineinzuversetzen. Bei Nietzsches negativem Mitleidsideal versteht man den Kern
nicht wirklich, man mag es drehen und wenden, wie man will. In seinen Polemiken
gegen das Mitleid delektiert sich Nietzsche dann natürlich auch (wieder einmal) daran, dass
die Motivation für das Mitleid gemeinhin Egoismus sei und der
Selbstbespiegelung der Tugendhaften diene. Vielleicht war es ja nicht der
griesgrämige, aufbrausende Schopenhauer, der das Mitleid aus authentischer
innerer Erfahrung nicht gekannt hat, sondern der osmotische Mitleidenkönner
Zarathustra.
Alle politischen und
wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten
Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des
Geistes ist im Grunde schlimmer als ein Nothstand (Morgenröthe
179), also spricht der letzte
unpolitische Deutsche. Ja, mit zunehmender Selbststeigerung erhebt man sich
in kosmische Dimensionen, der (obendrein meistens ziemlich dämliche und eitle
tages-) politische Krimskrams gerät einem aus dem Fokus. Gut aber dennoch, wenn
man sich in ihn nichtsdestotrotz hineinzoomen kann. Ordnung zu schaffen,
richtige Unterscheidungen zu treffen, Zukunft zu gestalten: das ist ja der Sinn
und die Aufgabe des Geistes. Zwar ist das bei Intellektuellen (bzw. Menschen
allgemein) keine Seltenheit, aber die Unfähigkeit, das Soziale und das
Politische angemessen zu reflektieren, oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen,
ist bei Nietzsche schon auffällig. Angesichts seiner zahllosen und nur von ihm so
produzierbaren Einfälle und Ideen, die er (mehr oder weniger) dazu
hervorsprudeln lassen kann, mag er die auch interessanter und unterhaltsamer
finden als trockene soziologische Analyse zu betreiben und seine einmaligen
Ressourcen darauf zu verwenden. Wieder aber scheint man einen Ausdruck, eine
Erscheinungsform eines Mangels an Mit-seinkönnen bei Nietzsche vor sich haben,
der ihn einerseits (und jeweils im konstruktiven wie im destruktiven Sinn)
unpolitisch, dann wieder überpolitisch (und über-politisch) macht. Zunehmend
steigert sich Zarathustra in (gewalttätige) Regierungs-Phantasien hinein (die
einfach nicht bloß metaphorisch gemeint sind). Man fragt sich, warum.
Von der Rangordnung der
Werthe-Schaffenden (in Bezug aus das Werthe-Setzen)
Die Künstler
Die Philosophen
Die Gesetzgeber
Die Religionsstifter
Die höchsten Menschen als Erd-Regierer und Zukunft-Schöpfer. (zuletzt
sich zerbrechend) (Nachlass
Sommer – Herbst 1884, 26(258))
Jetzt muss aber, wer die Erde regieren will, sich z. B. auch
mit den Arabern und ihren unlösbaren Problemen im Nahen Osten gezwungenermaßen
herumschlagen. Schau, wie er so langsam von der Erdoberfläche, in den Treibsand
der Wüste herabgezogen wird und dort verschwindet, verzweifelt, gravitätisch;
die Robe des Erd-Regierers verfängt sich im mächtigen Zahnrad, im langsamen
aber sicheren Wüten der donnernd-stillen Walze, unmerklich, aber mit eiserner
Konsequenz wird er ins Verderben gezogen; also
begann Zarathustras Untergang etc. pp. Es ist vielleicht kein großer
Vorteil, die Erde zu regieren. Da chille ich doch lieber ab und ziehe mir einen
Ofen an kontemplativer Betrachtung rein, anstatt die Erde regieren zu wollen.
Der Geist ist aktiv, und er ist aber auch (vorsichtig und) träge. Wenn der Geist
chillt und sich einen ganz großen Ofen an kontemplativer Betrachtung reinzieht,
auf was mag er dann kommen, was mag Zarathustra dann sprechen?:
Künstler (Schaffender),
Heiliger (Liebender) und Philosoph (Erkennender) in Einer Person zu werden: –
mein praktisches Ziel! (Nachlass Herbst 1883, 16(11))
Zur Überwindung der bisherigen Ideale
(Philosoph, Künstler, Heiliger) that eine Entstehungs-Geschichte noth.
An die Stelle des
Heiligen-Liebenden stelle ich den, der alle Phasen der Cultur liebevoll-gerecht
nachempfindet: den historischen Menschen der höchsten Pietät.
An die Stelle des
Genies setze ich den Menschen, der über sich selber den Menschen hinausschafft
(neuer Begriff der Kunst (gegen die Kunst der Kunstwerke)
An die Stelle des Philosophen
setze ich den freien Geist, der dem Gelehrten, Forscher, Kritiker überlegen ist
und über vielen Idealen noch leben bleibt: der ohne Jesuit zu werden, trotzdem
die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergründet: der Erlöser von der Moral.
(Nachlass Herbst
1883, 16(14))
Soll also bedeuten: Auf dem höchsten Level der Ausgereiftheit und der kontemplativen Betrachtung überschreitet der Geist alle Beschränkungen und Verständnisse, die in der Welt bisher vorhanden sind, und er erkennt, dass er damit wirkungsmächtig weltumgreifend Verständnisse erweitert und Beschränkungen zurückdrängt. Er regiert nicht allein im Reich der Gedanken, durch das er mühelos navigiert, sondern er greift – in all seinem ursprünglich un- und überpolitischen Charakter – tatsächlich regierend in die Welt ein. Er macht etwas unglaublich Profundes. Wenn Deleuze sagt: Philosophie ist keine Macht. Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche Meinung und Fernsehen sind Mächte, nicht aber die Philosophie, daher führe die Philosophie höchstens einen Krieg ohne Schlacht gegen die Mächte, eine Guerilla etc., dann, weil er, anders als Nietzsche, Platon oder Hegel, den/seinen Geist als allmächtig und erd-regierend, als weltumspannend oder –überschreitend offenbar nicht gekannt hat. Der große Geist aber ist allmächtig und leitet die große Transformation ein, die Philosophie als die Zusammenführung allen Geistes, auch wenn sie sich in Sein und Zeit mühevoll prozessiert, ist mächtiger als alle Welt. Bei Nietzsche kommen dann sein Dionysos-Kult und sein Wille zur Macht noch dazu. Diese ganze Denkweise nannte ich bei mir selber die Philosophie des Dionysos: eine Betrachtung, welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt und in der „Moral“ nur ein Mittel, um dem herrschenden Willen eine solche Kraft und Geschmeidigkeit zu geben, dergestalt sich der Menschheit aufzudrücken. (Nachlass April – Juli 1885, 34(176)) Er will, von seinem Wesen her, gestalten, regieren, herrschen, eingreifen, umformen. Aufgrund seines gespaltenen Wesens kommt es zu gespaltenen Ambitionen hinsichtlich der Politik. Politik muss sich mit dem Ungeist auseinandersetzen, und das will Nietzsche natürlich nicht. Gleichzeitig steht Politik aber auch mit dem Geist in Zusammenhang (und eben der Geist, wie erwähnt, aufgrund seines unterscheidenden, konstruktiven, analytischen und synthetischen, zukunftstiftenden Charakters und seiner inhärenten Sinnhaftigkeit, im Zusammenhang mit der Politik und dem Appell, der von der Politik an ihn ausgeht). Politik ist ein Mittler und Verhandler zwischen Ungeist und Geist, also von Partikularinteressen, die auf ein sinnvolles und harmonisches Ganzes hin abgestimmt werden sollen. Da Nietzsche schon früh ein einziges echtes Ziel der Menschheit und der Zivilisation anerkennen will: Nährboden für das Heranwachsen des sinn- und bedeutungsstiftenden (und darin, da für ihn die Welt ja nur als ästhetisches Phänomen „gerechtfertigt“ ist, vorwiegend künstlerisch-ästhetischen) Genies zu bilden; und da das Genie aristokratisch ist und von den plebejischen Massen bedroht bis gehasst wird, sympathisiert er mit aristokratischen Regierungsformen und hat eine, einerseits berechtigte, andererseits in ihrem eigentlichen Kern starrsinnig-irrationale (und auch aus dem Zeitkontext nicht verstehbare) Furcht vor allem Demokratischen und Sozialistischen. Ein einziges Mal in seinem Leben hat sich Nietzsche freiwillig unter „das Volk“ gemischt (und sich spontan an einen Tisch mit kegelspielenden und pokulierenden Soldaten gesetzt). Dass das Genie in aller Regel gleichzeitig aristokratisch und volkstümlich ist, ist Nietzsche entgangen. Laut Schiller ist das Genie sogar eben das privilegierte Wesen, das die verschiedenen und diversen Sphären der Lebenswelt und das Aristokratische und das Volkstümliche authentisch miteinander verbinden kann, und so eine über-politische kulturelle Klammer, ein Selbstverständnis für einen Kulturraum schaffen kann (so meinte er im Hinblick auf Goethe, wohl aber auch (und eher) auf sich selber). Im Gegensatz zu den wohlbeheimateten Goethe und Schiller ist Nietzsche das nicht gelungen, er bleibt aristokratischer Wanderer und sich in sadistische Phantasien gegenüber dem Volkstümlichen verzehrender Schatten. Politik ist, wie Hannah Arendt sagt, Management von menschlicher und gesellschaftlicher Diversität, und der Verschiedenheit unter Menschen. Die hat Nietzsche einerseits fasziniert, andererseits neurotisch abgestoßen. Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht: und meine größte Freude ist, dem individuellen Mustern zu begegnen, welche mir nicht gleichen. Hol der Teufel alle Nachahmer und Anhänger und Lobredner und Anstauner und Hingebenden! (Nachlass Herbst 1880, 6(50)) Nietzsche adressiert sich vorwiegend an das Individuum. Und sein facettierter und kreativer Geist mag Diversität. Nietzsche adressiert das Individuum in seiner Selbstheit, in seinem Werde, der du bist, in seiner Selbstkultur, in seinem (weltlichen) Seelenheil. Das ganz Individuelle und Persönliche sind Bereiche, die von der Politik nicht erfassbar sind, und wo Politik auch draußen zu bleiben hat (Nietzsches Ablehnung der inhärent totalitären Vergemeinschaftungsutopien der (radikaleren) Sozialisten (und wohl auch der ihm noch nicht bekannten Nationalsozialisten) hat da schon Berechtigung). Bei extremer Individualität kommt es leicht zu Paradoxien, die mitunter schwer auszuhalten sind (Der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler. (Nachlass Herbst 1880, 6(60))). Dass er in der Anarchie zu leben hatte und nicht als wohlsituierter Brahmane, hat Nietzsche, in freilich seinem ganz ursprünglichen Aristokratismus, immer aggressiver gemacht. Von der Diversität der anderen bzw. des Gesellschaftlichen wollte er (wie freilich schon seit jeher) nichts mehr wissen, sondern sie möglichst gleich ganz wegsperren oder sie zu verformbaren Ton für seine dionysische Selbststeigerung plattwälzen. Das höchste Verhältniß bleibt das des Schaffenden zu seinem Material: das ist die letzte Form des Übermuths und der Übermacht. (Nachlass Herbst 1883, 16(32)) Also sprach Zarathustra zwar nicht vom Faschismus oder gar Nationalsozialismus, aber mit zunehmender Bewunderung vom (dem altgriechischen Ideal ziemlich entgegengesetzten) indischen Kastenwesen. Und von Politik hatte er von Anfang bis Ende einfach nicht wirklich eine Ahnung. – Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer? Problem. (Nachlass Herbst 1883, 16(86)) Safranski gelingt es endlich, die Widersprüchlichkeit auf den Punkt zu bringen: Das Problem lässt sich so formulieren: Nietzsche ist nicht imstande, die Ideen der Selbststeigerung und der Solidarität miteinander zu verbinden oder sie doch wenigstens nebeneinander bestehen zu lassen. (S.308f.) Das ist deswegen so, weil Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist war. Und er von höchst konstruktiven Impulsen in der lebendigen und bildenden Anrede des Individuums getrieben war, aber von höchst destruktiven gegenüber den „Massen“. Aber das war eben sein Problem (und nicht die von seiner Philosophie an sich). Die meisten politischen Karrieren enden im Versagen. Die von Nietzsche auch.
Ich
will das Leben nicht wieder. Wie habe ichs ertragen? Schaffend. Was macht mich
den Anblick aushalten? Der Blick des Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich
habe versucht, es selber zu bejahen – ach! (Nachlass Mitte 1880er Jahre, aus dem
Gedächtnis zitiert) Sokrates, der große Menschenprüfer und der weiseste aller
Zeiten war also Pessimist, erheitert sich Nietzsche (und zwar will er das
angesichts von Sokrates` grandiosen letzten Worten: Oh meine Jünger!Ich bin dem
Heilande Asklepios noch einen Hahn schuldig! (also begleicht für mich bitte
diese Rechnung) identifiziert haben wissen (Götzen-Dämmerung,
Das Problem des Sokrates 1)) Über das
Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurteilt: es taugt nichts …
Immer und überall hat man ihrem Munde denselben Klang gehört – einen Klang voll
Zweifel, voll Schwermut, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das
Leben. (ebenda) Naja, (auch wenn der Weise vom Typus her gemeinhin
Melancholiker ist) so flächendeckend und generalisierend würde mir das gar nicht
auffallen – aber dann war Nietzsche Pessimist? Nietzsche, der große Vitalist,
Jünger des Dionysos, Verkünder der Lehre von der ewigen Wiederkunft und Prophet
des Übermenschen – ein Lebensmüder nur, der eine Maske aufsetzt? Problem: Man
hat (wie Nietzsche) von Anfang an keine sanguinische (sondern
pessimistisch-tragische) Weltsicht. Noch erheblicheres Problem: Die Welt ist,
nüchtern betrachtet, tatsächlich kein Ort, der eine sanguinische Weltsicht so
einfach bestätigen würde. Bei Nietzsche dann aber auch: schäumender, heiterster
Übermut, große Gestaltungskraft und ihr inhärenter großer Optimismus, eine
ausgelassene (zumindest intellektuelle) Geselligkeit, eine kreativ-rauschhafte
Sicht auf die Welt und den Weltprozess gleichermaßen. Man will nicht tragisch
sein, sondern komödiantisch (bis, klarerweise, in die ganz unmittelbarste
Emotionalität hinein, um furchtbare, eigentlich tödliche Depression
abzuwehren). Problem dann also insgesamt: Wie macht man eine tragische,
gottverlassene Welt fröhlich?
Mein neuer Weg zum „Ja“
Meine neue Fassung des
Pessimismus als freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten
des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich
wurden. „Wie viel „Wahrheit“ erträgt und wagt ein Geist?“ Frage seiner Stärke.
Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens
zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und
Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre.
Die bisher verneinten
Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig begreifen, sondern als
wünschenswerth; ….. (Nachlass
Herbst 1887, 10(3)(138))
Soll
also heißen: Indem man den tragischen Charakter des Daseins ins Fröhliche
verklärt; oder aber zumindest ins Künstlerische, wie man es als Grundthema
bereits in der Geburt der Tragödie
hatte. Indem man den tragischen Charakter des Daseins bejaht: Aufgabe des
Übermenschen (oder des Überschurken, des Cesare Borgia, der sich aus diesem
Chaos gebiert). Der schöpferische Geist, und vor allem das Genie, will nur eins
nicht: defätistisch sein. Und schon gar nicht will einer wie Nietzsche
defätistisch sein. Nietzsche haut mit seinem Stock auf den Tisch: Es muss doch
etwas geben! Er verteidigt, seiner Natur gemäß, die Substanz gegenüber der
Nichtigkeit, die Kultur gegenüber der Gleichgültigkeit der bloßen Natur. Nietzsche
kämpft wie immer, seinen harten Kampf um die Substanz, und gegen die
Nichtigkeit. Leben – das heisst:
fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst:
grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und
nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende,
Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses
gesagt: „Du sollst nicht töten!“ (Die
fröhliche Wissenschaft 26) Goethes Stirb
und werde und Nietzsches Werde, der
du bist. Das sind beides so brauchbare Prinzipien! Nietzsche mit seiner
Neigung, innere Konflikte in die Außenwelt zu projizieren, bereitet hier aber
wieder seine eugenischen und Vernichtungsphantasien vor, die mit der
fortwährenden Steigerung seines vitalistischen Pathos in den späteren Jahren
dann einhergehen. Dabei hatte alles so gut begonnen, und stand im Zeichen von
so großer Unschuld (die dann im Verlauf des Werdens verloren gegangen ist). Zwei
der rührendsten Stellen in Nietzsches gesamten Werk sind: Ich habe beschlossen, mir Tristram Shandys Leben und Meinungen selbst
zu kaufen und Don Quixote zum Geburtstag zu wünschen. Ich hoffe in sechs Wochen
das nötige Geld, die zwanzig Silbergroschen zu besitzen. – (8. August 1859)
Und sein Vorsatz zum neuen Jahre, mit
dem er das Vierte Buch (Sanctus Januarius)
der fröhlichen Wissenschaft
einleitet: … Heute erlaubt sich Jedermann
seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen,
was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr
zuerst über das Herz lief … Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den
Dingen als das Schöne sehen: – so werde
ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: da sei von
nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will
nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine
einzige Verneinung Und, Alles in Allem und Grossen: ich will
irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (Die
fröhliche Wissenschaft 276) Neujahrsvorsätze haben es so an sich, dass sie
immer wieder kaum eingehalten werden können. Verkünder einer Lehre zu werden, die nur in dem Maße erträglich ist,
als die Liebe zum Leben überwiegt, die nur da erhebend zu wirken vermag, wo der
Gedanke des Menschen sich bis zur Vergötterung des Lebens aufschwingt, das
mußte in Wahrheit einen furchtbaren Widerspruch zu seinem innersten Empfinden
bilden, – einen Widerspruch, der ihn endlich zermalmt hat. (Lou Salomé S.
255) (Freilich war es nicht dieser Widerspruch, der Nietzsche zermalmt hat,
sondern organisch bedingter Wahnsinn und Tod. Aber wahrscheinlich hätte er
diesen Widerspruch immer weiter prozessiert. Seinem widersprüchlichen Wesen
gemäß. Und vor allem deswegen, weil dieser Widerspruch ja nur auf den
tatsächlichen doppelgesichtigen Charakter der Welt Bezug nimmt.) Wie
lebensspendend Nietzsches Vitalismus ist! Längere Zeit habe ich während meiner
Jugend an nicht unerheblichen Depressionen gelitten. Dann, nach Jahren, die
Situation: Freundin weg, Zivildienst (wegen ihr) in Steyr gemacht, Dienstmoped
endgültig kaputt, bin in strömendem Regen durch die Senke wieder mühevoll die
Anhöhe raufgegangen (ein völlig unsportlicher Mensch wie ich!), zu einem
Patienten, wie an einem Nullpunkt der Existenz… da aber sagte alles in mir
plötzlich: Amor fati! Amor fati, und möge dieser Augenblick ewig wiederkommen!
Die Depressionen waren weg (auf viele Jahre) – und das alles dank Zarathustra!
Das habe ich Nietzsche zu verdanken! Wie lebensspendend Zarathustras Vitalismus
ist, und wie ewig charismatisch dadurch Nietzsche! Deswegen lesen ihn alle,
wegen dieses Charisma! Ich frage mich, ob ich je ein solches Charisma werde
entfalten können. Ob ich mit meiner vergrübelten, emotional unergründlichen Art
je bei den Weibern ankommen werde. Allerdings ist das Nietzsche ja auch nie.
Der mittelgroße Mann konnte in der Menge leicht übersehen werden, so Lou. Wir
sehen eben nicht gut aus. So wie die verwegen-süßen E-Boys. Ich interessiere
mich für die ganz nachwachsende, nach-millenniale Generation. Und da gibt es
die E-Boys. Die E-Boys machen nichts als dunkle Kleidung und nervige, modische
Scheitelfrisuren zu tragen. Ansonsten, von irgendeinem Inhalt her, geht es bei
ihnen um nichts. Sie machen das, um die Soft Girls zu beeindrucken, die sich
durch ein süßes, niedliches Erscheinungsbild definieren. Ansonsten geht es auch
bei den Soft Girls um nichts. Ja, Aussehen ist eben das Wichtigste, das haben
sie ganz erkannt. Ansonsten geht es in der Welt um fast nichts, nicht einmal um
das Dionysisch-tragische. Der letzte
Mensch lebt am längsten. Das Zeitalter des letzten Menschen bereitet allerdings,
spricht Zarathustra, das Zeitalter des Übermenschen vor.
Dionysos
Versuch einer
göttlichen Art, zu philosophieren
Von
Friedrich Nietzsche
(Nachlass April – Juli 1885, 34(182))
Mit dem Wort
„dionysisch“ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über
Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens,… ein
verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens;… die große pantheistische
Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten
Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur
Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der
Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens … Mit dem Wort apollinisch ist
ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen
Individuum, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich,
unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz. (Nachlass Frühjahr 1888, 14(14)) Das
Dionysische ist ein doppelbödiges Prinzip. Einerseits orgiastische
Produktivität und Formenwerfen aus dem Daseinsgrund heraus, andererseits eine
zerstörerische Instabilität, die alle Formen wieder vernichtet. Das Dionysische
meint die intensive Erfahrbarkeit von Selbst und Welt, Auflösung der
Beschränkungen und Ich-Grenzen, die Erfahrbarkeit dessen, dass die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht
ist – es ist etwas Lustvolles, und alle Lust
will Ewigkeit (allerdings will sie das, zumindest in meinem Fall ja gar
nicht: unwillkürlich will man bei aller Ausgelassenheit wieder einmal zur Ruhe
kommen. Das ist so aufgrund des wandernden Geistes. Den lustvollen Augenblick
braucht man nicht zum Verweilen einladen, noch dessen ewige Wiederkehr einfordern: Man braucht nur die Fähigkeit,
allerhand Augenblicke und so genannte Kleinigkeiten als höchst amüsant und
lustvoll zu empfinden: dann lebt man von sich aus in einer wohligen Sphäre.
Wenn man dieses Feeling, dieses Feeling
zum Feeling, die Fähigkeit zum Herstellen von guten Bezügen hat: das ist
das Himmelreich; es liegt im eigenen Herzen. – Bei Nietzsche hingegen besteht
das Leben aus seltenen einzelnen Momenten
von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns
bestenfalls die Schattenbilder jener Momente umschweben (Menschliches, Allzumenschliches
1 586) und das Schicksal der
Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet … nicht aber auf
glückliche Zeiten (ebenda 471). Natürlich will man aber nicht bloß ein paar
glückliche Augenblicke, sondern es ist da die Hoffnung auf glückliche Zeiten
(wenn nicht gar der Wille zur Macht,
der halt auch alles Gute und Vorzügliche für sich einfordert: also spricht
Zarathustra vom großen Glück, dionysisch zu empfinden… Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des triumphierenden Ja zum
Leben über Tod und Wandel hinaus (…) Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: ich
kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der
Dionysien. (Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke 4)). Und
gleichzeitig ist das Dionysische ein Abgrund, den man unmöglich willkommen
heißen kann, ein Chaos. Außer eventuell eben im Rausch, der beschwingt und
übermütig und lustig macht (oder außer eventuell, man ist schmerzverliebt und
sadomasochistisch). Auf Rausch folgt Kater. Vielleicht ist das Dionysische,
wenn man so will, ein Nullsummenspiel, und der Versuch, sich darüber zu
erheben, es gar zu bejahen, hauptsächlich (und auch von ihren inneren
Möglichkeiten her) eine nutzlose Trotzreaktion. Dionysos ist ein primitiver,
archaischer Gott, ein Ungeheuer. Wer mit
Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn
du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. So
wurde Nietzsche immer mehr zum dionysischen Abgrund, als Ausdruck, scheinbar
abermals, eines Abgrundes innerhalb seiner selbst. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der
übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man
weiss, das Wort „dionysisch“), aber es kann auch der Hass des Missrathenen,
Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil
ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt –
man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an.
(Die fröhliche Wissenschaft 370) Kurios
und kuriöser: Beides scheint auch in einer Person zusammenkommen zu können!
Noch kuriöser: Vielleicht ist hinter den besonders großen, weit ausholenden
Gesten und der besonders orgiastischen Rhetorik der Kultur- und
Geschichtsumgestaltung von Grund auf in Philosophie und Kultur (und anderswo)
die übergroße, positive Gestaltungskraft ein Elternteil, das übergroße,
negative Ressentiment und der (nur ungenügend oder scheinbar differenzierende)
Wille zur Zerstörung der andere (vgl. dazu also auch Rousseau oder Marx oder
Wagner? (nicht aber Schopenhauer?))? Nietzsche spricht vom „romantischen
Pessimismus“, den man bei Schopenhauer und Wagner habe, als einer Art
Verklärung des inhärent tragischen Charakters des Seins. Er aber will halt
mehr, er aber will auch was sagen, und so spricht er halt, fröhlich und
gleichsam in aller Unschuld kindlich-triumphierend – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als
mein proprium und ipssisimum (ebenda) – vom „dionysischen Pessimismus“, als
einer Artisten-Metaphysik. Eine
unglaublich kraftvolle vitalistische Geste, wieder einmal, die Nietzsche
unsterblich macht. Allerdings auch auf eine Begrenzung verweist, die
möglicherweise weniger in der Welt, sondern im Nietzsche-Subjekt selbst liegt –
von Anfang bis Ende. Und der Grund dafür
ist (scheint!), daß Nietzsche im
Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene
geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und
Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten Gefühlslebens, in welchem
alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder
zurückkommen werden, umLou Salomé
(S. 91) nochmals zu bemühen, mit der er auch das berühmte Foto vom Weib mit der
Peitsche, das hinter Nietzsche steht, aufnehmen hat lassen. Es hat also auch
was irgendwie Sadomasochistisches an sich. Sadomasochismus kann ein reines,
vitalistisches, orgiastisches Spiel sein, eine Steigerung der gewöhnlichen
Sexualität, aber auch, und wohl meistens, was Gezwungenes haben. Das
Zusammenspiel von Apollinischem und Dionysischem, als gleichsam (aber eben: gleichsam)
Urprinzipen, sehe ich übrigens auch. Wobei das Apollinische einfach das
Analytische (in allen möglichen Hinsichten) ist, das Dionysische das
Synthetische. Ich habe mir dazu noch mehr notiert, aber es scheint eben
verlorengegangen. Aber es wird schon wiederkommen.
Das Dasein ist laut Nietzsche Wille zur Macht, ewige
Wiederkehr des Gleichen; und das Subjekt, dass auf diese Prinzipen
reflektiert, der Übermensch, ist der
„Sinn der Erde“. – Philosoph sein ist nicht leicht. Es wird von einem verlangt,
Antworten zu geben auf Fragen, die keiner richtig beantworten kann. Sich was
auszudenken, wie was sein könnte, wo die exakten Wissenschaften im Dunklen tappen.
Das mag bisweilen komisch sein, hinsichtlich der Intention wie auch der
Ergebnisse, allerdings schreiend komisch ist es auch wieder nicht. Den großen
Künstler und Philosophen, den großen Menschen, zeichnet es (wie auch Nietzsches
Bekannter Jacob Burckhardt sagt) aus, dass er innerhalb des Weltganzen aufgeht,
mit dem Weltganzen in einem bewussten Zusammenhang steht, und das Weltganze
ausdeutet. Auch Heidegger meint: Nietzsches
Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der Philosophie: „Was ist das
Seiende?“ (…) Dagegen soll der
Hinweis darauf, daß Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendländischen
Philosophie steht, nur deutlich machen, daß Nietzsche wußte, was Philosophie
ist. Dieses Wissen ist selten. Nur die großen Denker besitzen es. Die größten
besitzen es am reinsten in der Gestalt einer ständigen Frage. Die Grundfrage
als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als
solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet, auch Nietzsche bleibt
in der Leitfrage. (Nietzsche1 S.2) Es ist tatsächlich keine kleine
Frage, was das Seiende ist. Diese Frage stellt sich eventuell jeder (zumindest
ein paar Sekunden lang während des Lebens) und irgendeine Antwort darauf hat
jeder (die ein paar Sekunden lang ist). Aber tatsächlich offenbar nur ganz
wenige denken permanent darüber nach bzw. auf einem derart hohen Niveau der
Abstraktion. All seine Kunst sei nur ein Versuch gewesen, eine Antwort zu geben
auf die Frage: Was ist das Dasein?, hat Samuel Beckett einmal gesagt (und sogleich
hinzugefügt, als denkender Mensch eben, dass er trotz all seiner Leistungen das
Gefühl habe, stets nur an der Oberfläche gekratzt zu haben). Ich glaube nicht,
dass es noch sehr viel mehr Schriftsteller pro Jahrhundert gibt, deren
grundlegende Frage und Motivation auf einem solchen Abstraktionsniveau
angesiedelt ist (und darum scheint das eine die Literatur von Beckett, Kafka
oder Pessoa zu sein, das andere eben dann die andere Literatur des zwanzigsten
Jahrhunderts). Die Welt ist also laut Nietzsche Wille zur Macht und ewige
Wiederkehr des Gleichen. Und, mehr noch, nur diejenigen hätten ihn wirklich
verstanden, die seinen tiefsten Gedanken,
der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verstanden hätten. Beides, sowohl
das mit dem Willen zur Macht und auch der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ist
sowohl verständlich als auch unverständlich, und mag somit leicht den Sog von
ahnungsvollen Tiefen erzeugen (die dann aber eventuelle eine Täuschung sind).
Der Wille zur Macht referiert auf etwas, das unter Menschen und Lebewesen im
Allgemeinen einigermaßen vorhanden ist. Wie weit kann man das aber
substantialisieren, letztendlich sogar als eigentliches, ausschließliches
Weltprinzip? Mit dem Fortschreiten seines Philosophierens und also auch der
erstaunlichen analytischen Auflösung von allen möglichen starr vorhandenen
Konzepten in Philosophie, Wissenschaft, Moral und Alltag wird Nietzsche
gleichzeitig immer starrsinniger in seiner Behauptung, alles in der Welt, das
Ding an sich, sei Wille zur Macht – und
nichts außerdem (so als wie wenn es sich dabei eben um das Ding an sich in
der Psychologie von Nietzche gehandelt hätte…). Die „naturwissenschaftliche“
Basis des kosmischen Konzeptes von der ewigen Wiederkehr des Gleichen
hinwiederum ist: Ein endliches Quantum an Kraft und Materie wird, in
gegenseitigem Aufeinandereinwirken (also über den Willen zur Macht) ständig
neue Formen werfend, durch einen unendlichen Zeitenlauf gejagt. Was also
bedeuten würde: dass also alle konkreten Formen und Transformationen immer wiederkehren
müssen. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in der zeitgenössischen
Kosmologie (der Theorie der Multiversen oder aber Penrose´s „Zyklen der Zeit“).
Das ist das eine: dass eine solche Möglichkeit der Weltinterpretation besteht.
Das andere aber ist: wieso man sich gerade für eine solche entscheidet. Die
ewige Wiederkehr des Gleichen erscheint als ein großes Paradigma einer
allgegenwärtigen Präsenz des Daseins.
Es spielt sich nicht, jeweils vorgeblich eigentlich oder uneigentlich in einer
Vorder- oder Hinterwelt ab, sondern in einer, der unmittelbar gegebenen Welt.
Es ist dynamisch und die Dinge, die passieren, die Dinge, die mit einem
passieren, sind aufdringlich. Man könnte sagen: diese Ewigkeits-Metaphysik
lässt uns den Augenblick umso intensiver erleben. Dann aber eben auch: das
Elend und die Elenden, die immer wiederkehren, ohne je eine Aussicht auf
Besserung. Jeder tatsächlich intelligente Mensch kennt das, und es ist eine
erschreckende Vorstellung: macht es deswegen aber nicht notwendigerweise zu
einer Philosophie, gar zu einer Basis für Philosophie. Die ewige Wiederkehr des
Gleichen ist nichts, was man will. Außerdem schafft hier Nietzsche einen
Widerspruch zu sich selbst. Der Nihilismus als psychologischer Zustand
tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine
Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat (…) Eine Art Einheit, irgend eine Form des
„Monismus“: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs-
und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus
der Gottheit (…) aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! (Nachlass,
November 1887 – März 1888, 11(99)) Gleichzeitig setzt aber eben Nietzsche mit
seiner Metaphysik dann wieder lautstark ein solches Allgemeines, und unterwirft
die konkreten Erscheinungen dann darunter – um wieder erneut befreien zu
können, indem er den Übermenschen postuliert.
Nietzsche befreit zunächst das Werden, verkündet die Unschuld des
Werdens, ruft eine befreite, gottlose Welt aus, eine überschäumend-dionysische.
Er befreit also von der sphärischen Ganzheit, der Organisierung und einengenden
Systematisierung der Welt. Dann aber, gleichsam, macht er wieder einen Schritt
zurück, indem er die Welt systematisiert und konzeptionalisiert als Wille zur
Macht und ewiger Wiederkehr der Gleichen! Natürlich eben, der große Philosoph,
der mit dem Weltganzen im bewussten Zusammenhange steht, muss diesen
Zusammenhang ja aussagen. Die Sucht nach einem Zusammenhang, und sei es auch
ein nihilistisch-negativer, ist dem Menschen (als dem Tier, das abstrakte
Zusammenhänge herzustellen vermag) wesenseigen. Er muss sich etwas ausdenken. Im
Wesentlichen hat er sich mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen
zur Macht eine Systematisierung des Dionysischen ausgedacht – das Dionysische
kehrt hier also wieder. Das „Dionysische“ hat es an sich, dass es nicht
fortschrittlich ist, sondern, in seiner überschäumend-tragischen Bewegung,
statisch und stationär.
Welt-rad, das rollende,
Streift Ziel auf Ziel:
Noth – nennt´s der
Grollende,
Der Narr nennt´s –
Spiel…
Was Nietzsche dann eben will, ist aus der Empfindung der Not eine Empfindung des heiteren Spiels zu machen. Wer das tatsächlich schafft, sei (obwohl Nietzsche hier eben vom Narren spricht) der Übermensch, der das Leben und das Dasein umfassend bejaht – der Sinn der Erde. Und Lou addiert, nur der Umstand, daß der Weltverlauf kein unendlicher, sondern ein sich in seiner Begrenzung stetig wiederholender ist, macht es möglich, ein Ueberwesen zu construieren, in dem der ganze Weltverlauf ruht und sich abschließt. (S.265) – Nirgendwo aber hat Nietzsche dann eben den Übermenschen wirklich deutlich gemacht. Zarathustra bleibt dessen Prophet, Nietzsche hat ihn nicht wirklich erreicht. Im Gegensatz zu seiner stationären Metaphysik spricht Nietzsche, im Hinblick auf den Übermenschen, (fast) immer nur als etwas urtümlich Verbundenes mit der Zukunft. Und jetzt will ich selbst einmal etwas sagen: Nietzsches hier so konzipierter und empfundener Übermensch geht mir nicht weit genug. Er triumphiert über die Welt und den Lauf der Welt, indem er ihn durchreflektiert, durchlebt und verinnerlicht, er tut also das, was der Mensch macht: er schafft auf der Basis von Natur eine Kultur. Aber, wenn ich mir das so ansehe, bleibt er dabei im kosmischen Strudel gefangen. Wieviel besser ist es wohl, einfach außerhalb davon zu sein! Jenseits von Gut und Böse bin ich zwar nicht, aber, wie ich fühle, bin ich jenseits von Leben und Tod. Es ist, zugegebenermaßen, komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Aber mein Geist und mein Empfindungsvermögen sind mittlerweile so umfassend und weitläufig, dass lebens/gesellschafts/geschichtsphysikalische Begrenzungen für mich nicht mehr wirklich erfahrbar sind. Somit bin ich ein echtes metaphysisches Wesen! Es ist komisch, ein metaphysisches Wesen zu sein. Es ist komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Da hat man den Strudel mit den Galaxien, das Universum, das sich durch die Zeit wälzt. Außerhalb davon aber, links oben, eine (eventuell sichelförmig gebogene) helle Aura, die in sich selbst hineinschmunzelt. Über die Materie erhebt sich, einigermaßen, der Geist: Also machen wir das so, treiben wir die Hydraulik ins Extrem – und treiben, pressen den Geist aus dem materiellen Universum heraus. Was wir dann haben, ist jenseits vom Übermenschen: Man stelle sich einfach vor, außerhalb des Universums, außerhalb seines Verlaufs, eine Entität, eine Art Aura, die selbstzufrieden in sich hineinschmunzelt (wenngleich nicht dauernd). Das ist das Jenseits vom Übermenschen. So stelle ich mir das vor, und möchte diese Vorstellung gern präsentieren. Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat (und ganz Vorstellungsvermögen geworden ist, Anm.), diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts. Also sprach Schopenhauer am Ende seines großen Werkes. Und überhaupt ist die Welt weder Wille zur Macht noch ewige Wiederkehr des Gleichen. Und der Übermensch wird natürlich auch sogleich über sich hinaus wollen – vor allem, indem Nietzsche ihn in eine Art sadomasochistisches Weltgefängnis sperrt, aus dem er sich dann ja auch gar nicht wirklich befreien kann. Grundsätzlich: kein Mensch, der bei Trost ist, wird die ewige Wiederkehr des Gleichen wollen, nicht einmal ein Narr. An anderen Stellen charakterisiert Nietzsche den kleinen Menschen, indem dieser sinnlos und egoistisch weiterleben wolle. Selber kommt er dem mit seinem amor fati dann aber auch wieder nahe. Und so fällt Nietzsche Steigerungs-Metaphysik auf der Basis vom Willen zur Macht wieder in sich zusammen (wenngleich sie natürlich unwillkürlich wieder aufstehen mag). Wille und Macht sind unendlich in ihrem Streben, aber endlich und zeitlich in ihrer Reichweite, ein selbstgemachtes Gefängnis. Der Geist ist unendlich und befreit. Er will nichts, er kann alles.
sii ,ya lo vi , y tambien lei ,la nota ,y siempre fui y soy una persona feliz pero ,las cosas que veo a mi alrededor lejos o cerca me duelen y yo estoy orgullosa de mi misma porque he logrado sobreponerme a muchas cosas malas ,ahora mismo ,pense ,hace unos dias que iba a morir ,ja¡¡¡pero no ,ya me siento mejor y quiero hacer muchas cosas aun
Es ist vielleicht das
wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der
Grund, weshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet deshalb auf die
Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder
Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser
höchste Intellect entstehen? (Nachlass Winter 1876 – 1877, 20(12)) OH JA, darauf wartet
die Menschheit! Auf die Erzeugung des
Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann. (Nachlass
Frühling – Sommer 1875, 5(180)) Soweit ich erkennen kann, wartet die Menschheit
nicht so intensiv auf den höchsten Intellekt oder auf das Genie. Nietzsche
wiederum rächt sich bekanntermaßen so, dass er die Menschheit gerade einmal zu
einem Bodensatz degradiert, der für die Erzeugung des Genies und des höchsten
Intellektes da ist, wenn nicht da zu sein hat. Trotzdem sie egoistisch sind und
sich furchtbar wichtig nehmen, haben die einen und anderen Menschen wenig
Selbst, und daher auch wenig Sinn für den Wert; und dass, weil sie weder sich
noch den anderen kennen. Der Glaube an
den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das
Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach
entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten
Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren
Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des
Lebens glauben (…) Also ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen
Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon,
daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an
Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann
und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn,
daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. Vermöchte
jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche
unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele
(…) Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer
Sphären, von denen die eine auf die andre hinweist. (Abhandlung über Der
Werth des Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1), fast wörtlich
übernommen auch in Menschliches,
Allzumenschliches 1 34) Wer ist aber
desselben fähig (angesichts eines Gesamtbewusstseins über die Menschheit
nicht zusammenzubrechen, Anm)? Gewiß nur
ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. (Menschliches, Allzumenschliches 1 34) Und niemand lügt so viel wie dich Dichter,
also spricht dann Zarathustra. Aber:
Das Leben selber ist
ein Gegensatz zur „Wahrheit“ und zur „Güte“ – ego
Das Leben-Bejahen – das
selber heißt die Lüge bejahen. – Also kann man nur mit einer absolut
unmoralischen Denkweise leben. Aus dieser heraus erträgt man dann auch wieder die Moral und
die Absicht auf Verschönerung. – Aber die Unschuld der Lüge ist dahin! (Nachlass Frühjahr 1884, 25(101))
Dabei liegt Sinn und Glück im Leben doch darin, dass man gute Taten tut und eine ethische Existenz führt! Damit baut man die unsichtbaren Verbindungen auf, die die Erde umrunden und unter sich lassen, die gute, erzerne Stabilität. Aber aus irgendeinem Grund will Zarathustra über die Moral hinweg, weil sie ihm lästig ist, hinderlich erscheint (und tut sich dann halt schwer, einen Wert und Sinn des Lebens zu erkennen). Vielleicht weniger subjektiv aber interpretiert: Der Sinn des Lebens eines Lebewesens ist zu überleben und sich fortzupflanzen, und das möglichst auf einem höheren Niveau. Der Sinn von Gesellschaften ist sich zu reproduzieren, wenn möglich auf einem fortwährend höheren Niveau der Qualität des Lebens. Der Sinn des Lebens ist ein gutes, angenehmes Leben führen zu können. Der Sinn des Lebens ist, eben, ein Ja-Sagen: dass man ja zu sich selber sagen kann und zu den anderen (und Nietzsche hatte, in seiner emphatischen Betonung des Ja-Sagens seine Probleme damit). Das Leben kann äußerlich und/oder innerlich angenehm oder unangenehm sein. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie glücklich man sich fühlt, kann immer wieder erstaunlich subjektiv sein, und wenig abhängig von den äußeren Umständen. Der Wert oder der Unwert, den das Leben für einen haben kann, hängt davon ab, ob man gesund ist oder ob man krank geworden ist. Es gibt Lebensumstände, die einen durchaus krank machen. Wenn das Leben eine zu große Qual, eine zu große Krankheit für einen geworden ist, besteht vielleicht kein Grund, sich dieser Qual weiter auszusetzen. Ansonsten, sei guter Dinge. Goethe, der zumindest bei den weniger Eingeweihten als der höchste Intellekt gilt, meint, egal, wie hoch man steigt: die Welt und das Leben werden immer eine gute und eine schlechte Seite haben (sowie außerdem: Die Welt ist eine Glocke, die einen Riss hat: sie klappert, aber klingt nicht). Ja, das scheint mir bei allem Steigen so zu sein und zu bleiben (oder eben, beim Steigen oder Fallen jeweils neue Lösungen wie auch Probleme aufzuwerfen (dass man zu gescheit ist, dass man zu blöd ist oder dass man zu mittelmäßig ist)). Diese (letztendlich) Dialektik würde man gerne überwinden. Das ist das Streben nach Transzendenz. Heil dem, der Transzendenz erreicht! Transzendenz reflektiert aber auf Immanenz, also darauf, dass es einen Verweiszusammenhang gibt, der außerhalb der Transzendenz, unterhalb ihrer liegt, und ganz real ist, als umso realer erlebt werden mag, je transzendenter man ist. Nietzsches illustrer Kollege Jacob Burckhardt, drückt es (in seinen Weltgeschichtliche Betrachtungen) so aus: Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen; es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstreitenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge „geistig zu überwinden“ und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben. Manche werden posthum geboren… Aber wir wollen ja jetzt lachen, und für den Rest des Lebens. Nun, jeder ist seines Glückes Schmied, und die Philosophie hingegen kann, wie so oft, auch hier nur eher allgemeingültige Regeln angeben, ohne den Einzelnen gleichermaßen allgemein zu erreichen. Weißt du noch, was ich dir über den Begriff der Philosophie mitgeteilt habe?, fragt es in der Möwe bei der beschränkt-weltklugen Fernán Caballero – Ja, Senor, antwortete Maria: sie ist die Lehre vom glücklichen Leben. Allein hierüber gibt es keine gültigen Regeln. Jedermann versteht das Glück nach seiner Weise. Don Modesto glaubt es darin zu finden, dass man sein Fort, welches eine eben solche Ruine wie er selber ist, mit Kanonen besetzt. Bruder Gabriel erkennt das Glück darin, dass sein Kloster wiederhergestellt wird und wiederum seinen Prior und seine Glocken erhält. Maria ist glücklich, wenn sie nicht abreisen, mein Vater, wenn er eine Krähe fängt, und Momo, wenn er alles mögliche Böse tun kann. (Bei der Gelegenheit frage ich mich gerade, wie weit Nietzsche mit seiner Peitsche bei der naiv-allwissenden Caballero wohl gekommen wäre. Sie hätte sie ihm wohl kurzerhand weggenommen.) Nietzsches Glück (Mein Glück! Mein Glück!) über seine wohligen Visionen ist sehr groß, er kennt die halkyonischen Tage und Zustände und sein Genueser Schiff treibt friedlich dahin. Ein vollkommen glatter, herrlicher, friedlicher See. Aber dann packt es ihn immer wieder. Grimmig-pathetisch spricht er vom eigentlichen Glück, das – nicht im Augenblick sondern – in der Zukunft liegt: Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – In Intime Beleuchtung von Ivan Passer gibt es eine Szene, wo die fröhliche Stepa (die die unbeschwerte, lebenslustige und auch respektlose Jugend gegenüber dem sklerotischen Alter verkörpert) aufgrund von einem kleinen Unfall bei Tisch, der ein wenig das Zeremoniell stört, in ein langes Gelächter ausbricht und fröhlich lachend, unfähig aufzuhören, durch das Haus wandert. Intime Beleuchtung habe ich vor Jahren gesehen, aber das ist mir hängen geblieben, daran erinnere ich mich gerne, an die einfach aus sich heraus lachende Stepa. Ich glaube also, wenn Nietzsche daherkommen würde mit Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – würde die Stepa denselben Lachanfall bekommen (der im Übrigen nicht bösartig gemeint ist – und wie könnte man Zarathustra besser recht geben?). Das habe ich unweigerlich bei mir gedacht, als ich im Zarathustra das mit den lachenden Löwen gelesen habe. Darüber muss ich schon immer wieder mal in mich hineinschmunzeln.
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig
überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das
Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
Die Kunst als die Erlösung
des Erkennenden, – (Nachlass Mai-Juni 1888, 17(3))
Nietzsche ist ein mystisches, gleichsam archaisches
Doppelwesen auch in der Hinsicht, dass er in höchsten Maße Philosoph ist
(Erkennender und Erklärender: „apollinisch“) als auch Künstler (Schaffender und
„Verklärender“: „dionysisch“), ja, beinahe ein Künstler, der sich über das
Medium der (Poesie und) Philosophie ausdrückt, oder aber wieder ein Philosoph,
der sich künstlerisch ausdrückt und eine zutiefst „künstlerische“ Metaphysik
formuliert. Eigenwillig will Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie die griechische Tragödie als einen Versuch der
Vergegenwärtigung und Verklärung der tragischen Welt begreifen (und daraus eine
„harmonische“ Gesellschaftsform ableiten, in der einzelne höhere,
brahmanengleiche Menschen eben jene höchsten Anschauungsformen schaffen, in und
durch Leiden am Leben, und der Rest der (zur Herstellung wie auch zur
angemessenen Rezeption dieser Anschauungsformen mehr oder weniger unfähigen)
Gesellschaft, inklusive vor allem der Sklaven, arbeitet, und leidet: Damit habe
man einen solidarischen Leidenszusammenhang in Gesellschaft, Kultur und
Dasein). Mehr noch, ist die Kunst für Nietzsche eine Versöhnung mit dem
„Ur-Einen“ der Welt und eine Aufhebung des principium individuationis. Kunst
wird in die Nähe zu Traum und Rausch gestellt, bzw. zu einer Art hochintelligenten
Rausch, der vereinigt mit der Welt, und kalkuliertem Traum, der spontane
Eindrücke plötzlich heraushebt, durch Assoziation ein alternatives Ganzes
schafft, in dem sich die Realität spiegelt und deren „Wahrheit“ zum Ausdruck
kommt, und unvermittelt intuitive Einsichten und Erkenntnisse mitzuteilen
scheint. Nietzsche hatte ein ausgeprägtes Assoziationsvermögen (ein Vermögen,
spontan Assoziationen zu Eindrücken zu bilden), und er dachte und sah
anschaulich (laut Schopenhauer das Charakteristikum des Genies). Bei einer
Gelegenheit erzählte er einem Gesprächspartner, er habe schon immer das Gefühl
gehabt, auf einer Mission zu sein, und dass er vor seinem inneren Auge „sehr
lebendige“ Bilder sehe, die sich ständig wandeln (und die, je nach
Gesundheitszustand, entweder erhebende oder erschreckende Qualitäten annähmen).
(Prideaux S.319) Ja, so ist der Geist des tiefsinnigsten Künstler und
Philosophen, des Rimbaud´schen Sehers:
Alles ist bei ihm darauf ausgerichtet, in den „Urgrund“ zu sehen und,
hoffnungsvoll, zum Ur-Einen (der umfassenden Versöhnung) vorzustoßen. Diese
Kunst, und diese Philosophie, ist, in jeder Hinsicht, transgressiv und
transzendent. Sie macht es auch, dass Individuen wie Nietzsche oder Rimbaud, in
diesem Drang zum Ur-Einen und zum Absoluten vorzudringen, einerseits
angestrengt in eine praktisch nicht auffindbare Ur-Vergangenheit blicken und
andererseits in ein undifferenziertes, Formen auflösendes gleißendes Licht
fernster Zukunft, weniger aber in der Gegenwart leben, gerade aber eben in
ihrer „Unzeitgemäßheit“ avantgardistisch sind und die Gegenwart
überwinden. Apollo steht vor mir als der verklärende Genius des principii
individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen
ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der
Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem
innersten Kern der Dinge offenliegt. (Die
Geburt der Tragödie 16) Was aber ist das Ur-Eine oder sind die Mütter des
Seins? Die Sehnsucht nach der Frau oder nach der Mutter, mögen Feministinnen
jetzt triumphierend aufheulen. Aber man sollte das vielleicht allgemeiner
betrachten. Die Sehnsucht, das Urtümliche und Eigentliche zu entdecken ist eine
Sehnsucht des Geistes; die Sehnsucht, in diesem Urtümlich-Eigentlichen in
Geborgenheit aufzugehen, ist eine Sehnsucht der Seele. Dichtung, Kunst,
Schöpfung, Philosophie in ihrer tiefsten Form, und also der, wie man sie bei
Nietzsche hat, die Vergegenwärtigung der totalen Realität, ist mit einer
ständigen Vergegenwärtigung von Vordergrund und Hintergrund begleitet: die sich
allerdings gegenseitig bedingen, oder gegenseitig aufeinander verweisen.
Konkrete, apollinische Formen werden erzeugt (oder, wie es scheint, vom Urgrund
abgespalten) und werden eben konkret; so mächtig sie auch sind, und je
konkreter man versucht sie festzustellen (was sie dann eben wieder zweifelhaft
macht), desto mehr fallen sie scheinbar wieder in den Urgrund zurück, der
undifferenziert, aber allmächtig erscheint: die apollinischen Formen aber eben
als bloße Abspaltungen vom Urgrund, als relative Qualitäten gegenüber einem
scheinbar Absoluten. Das ist es, was das Denken und was das
Assoziationsvermögen macht. Das Ur-Eine und die Mutter des Seins ist nun also
der Geist und das Assoziationsvermögen an sich (und die sich abspaltenden
apollinischen Formen eben die Bilder und Gedanken, die er erzeugt). Es ist dann
also etwas, wie der Geist konkret funktioniert, und keine allzu angestrengte
und künstliche Metapher. Dionysos ist Nietzsches Assoziationsvermögen. Die Metapher ist für den echten Dichter
nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm
wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt …Wir reden über Poesie so abstrakt, weil wir alle schlechte Dichter zu
sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach: man habe nur die
Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von
Geisterscharen umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühlte nur den Trieb, sich
selber zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist
man Dramatiker. (ebenda 8) Bekanntlich hat sich Nietzsche dann immer mehr
mit Dionysos (und vielleicht zunehmend weniger mit dem doch eher besonneneren
Zarathustra) verglichen. Es stellt sich, bei genauerer Betrachtung, die Frage,
wieso Nietzsche so ausschließlich auf die Kunst rekurriert, hinsichtlich seiner
Weltrettungspläne. Die Welt ist ja mehr als die Kunst. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht,
und sollte sich auch noch anders denn als ästhetisches Phänomen rechtfertigen
lassen. Die Wissenschaft hat die Welt im zwanzigsten Jahrhundert auf ein ganz
anderes Level gehoben als alle Kunst. Die Unterhaltungskunst hat nicht weniger
erstaunliche und gehaltvolle Phänomene produziert als die hohe Kunst im Lauf
der Zeit. Usw. Nietzsche beharrt aber starrsinnig auf der entscheidenden Rolle
der Kunst. Neben all seiner eher persönlich zu nehmenden Kunst-Metaphysik (Der tragische Künstler ist kein
Pessimist – er sagt gerade Ja zu
allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch… (Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie 4)) stellt Nietzsche Gravierendes
und Entscheidendes über den Status der Kunst fest, und macht sich berechtigte
Sorgen über den drohenden Verlust dieses Status. Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit, rekurriert er
auf Schopenhauer. Aufgabe der Kunst ist (ähnlich der Metaphysik), den Status
des Menschen in der Welt auszusagen bzw. (im Gegensatz zur Metaphysik) auszudrücken und ein geheimes, verborgenes
„Wesen“ der Dinge und der Individuen an die Oberfläche zu bringen. Kunst
befragt den Status des Seienden (Ontologie), die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten
(Epistemologie) und nach ihrem eigenen, weltverbessernden Sinn (Deontologie). Sie
tut darin dasselbe wie die Metaphysik. Sie unternimmt große und solitäre
Anstrengungen, um auf etwas drauf zu kommen. Denn der eigentliche Künstler will
auf etwas draufkommen, Tiefenschichten freilegen, um dann einen neuen
hochzeitlichen Ring der Ringe, den Ring der Sinnhaftigkeit zu schmieden. Der
echte Künstler (und Philosoph) fragt (wie Nietzsche) nach dem Status des
Menschen im Weltganzen, im Universum. Man soll das nicht kleinreden als
(antiquierten) Geniekult (oder aber die Feministinnen aufheulen lassen von
wegen: Da! Machtphantasien des alten weißen Mannes!); denn ohne solche
Anstrengungen geht Entscheidendes verloren, versinkt alles in Dekadenz und
Anarchie. Ohne die Dichter und Künstler
würden die höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, rasch
verfallen, die Ordnung, die in der Natur erscheint und die nur das Ergebnis der
Kunst ist, würde verschwinden. Alles würde ins Chaos versinken … Die Dichter
und Künstler determinieren im Wettstreit die Gestalt ihrer Epoche, und gelehrig
richtet sich die Zukunft nach ihren Weisungen. (Guillaume Apollinaire)
Tatsächlich scheinen derartige Anstrengungen in der Kunst der letzten
Jahrzehnte nicht mehr sonderlich verbreitet (im Gegensatz aber eben zum
beginnenden Massenzeitalter, das auch das Zeitalter der avantgardistischen
modernen Kunst war, und damit ein Höhepunkt in der Kunstgeschichte). Sie
erscheint nicht mehr sinnstiftend, umfassend und avantgardistisch antizipierend,
sondern bestenfalls als ein schlaffer Kommentar zu dem, was in der Wirklichkeit
bereits passiert ist. Sie wirkt passiv und defensiv. Wieso das so ist, ist ein
Rätsel, das mich über alle Maßen beschäftigt. Nietzsche würde es als décadence-Phänomen bezeichnen, oder als
Rechnung, die man für Demokratie und Vermassung eben präsentiert bekommt. Als
Ausdruck des Zeitalters des letzten
Menschen. Man ist immer wieder geneigt, erstaunt zu sein, wie genau
Nietzsche so vieles vorhergesehen zu haben scheint. Aber wie gesagt: das
Gesellschaftliche zu denken, oder es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, war
Nietzsches Sache nicht. Moderne ist kein Dekadenzphänomen, sondern, wie Max
Weber es festmacht: die Ausdifferenzierung der Lebenssphären. Mit der
Ausdifferenzierung der Lebenssphären relativiert sich auch ihre jeweilige
Bedeutung, bzw. reflektieren die Lebenssphären verstärkt aufeinander. Es
scheint nach dem Ende des Massenzeitalters (das zuletzt noch umfassend in der
Pop Art reflektiert wurde oder von den Beuysschen Ausbruchsversuchen, eine
Gesellschaft von Künstlern zu schaffen) schwierig geworden zu sein, umfassende
künstlerische Klammern und Symbole zu schaffen (nicht zu reden von der
Ausreizung der Ausdrucksmittel, die in den verschiedenen Kunstgattungen schon
vor langer Zeit und für lange Zeit stattgefunden hat). Dann gibt es die
postmoderne Ironie und Relativierung usw. Große kathartische Zusammenkünfte und
Vereinigungen hat man weniger über Bayreuther Festspiele als über Popkonzerte,
ganz zu schweigen von Fußballspielen. Und allgemein gibt es den Wandel der
Zeit, dem auch die Gegenwart einst unterliegen wird. Es gibt Epochen des
kulturellen Aufschwungs und solche des Verfalls (auf längere historische Sicht
gesehen also eine Angleichung an den Mittelwert). Aber dennoch: Wo sind sie,
die lachenden Löwen der heutigen Kunst? Warum finden da nicht mehr
Anstrengungen statt? Ich glaube, die Stepa würde da auch nachdenklich bleiben. Ich
denke, die Welt wartet hier abermals auf die Erscheinung des höchsten Intellectes, der das gesamte
Weltganze im und über das heutige Zeitalter begreift und ihm einen Sinn zu
geben vermag. Oh ja, das tut sie abermals ganz bestimmt! Also spricht
Zarathustra vom Übermenschen, der auf das Zeitalter vom letzten Menschen folgt.
Der Zauber, der Nietzsche
auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners macht, erklärt sich namentlich daraus, daß
Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur
verwirklichen wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als
Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im Grunde nichts
anderes hinzu, als die Steigerung dieses Ideals ins Mystische, ins
unergründlich Bedeutungsvolle…. (Lou Salomé S.88) Nietzsches große ursprüngliche
Anhänglichkeit an Wagner erklärt sich daraus, dass Wagner so groß ist. Und
Nietzsche so empfänglich ist für alles Schöne, Große und Gute. Ein naiver
Schwärmer, der ein Idol braucht, ist er natürlich nicht, und so gerät er
zunehmend in Konflikt mit Wagner, nicht zuletzt aufgrund von dessen
menschlicher Kleinheit, die dem so lauteren Nietzsche immer klarer vor Augen
tritt. Bereits Mitte der 1870er Jahre notiert er beispielsweise bei sich: Wagner
als Schriftsteller giebt nicht sein Bild treu wieder: Er componiert nicht: das
Gesammte kommt nicht zur Anschauung: im Einzelnen schweift er ab, ist dunkel,
und nicht harmlos und überlegen. Er hat keine heitere Anmassung. Es ist ihm
alle Anmuth, Zierlichkeit versagt, auch dialektische Schärfe. (Nachlass
Anfang 1874 – Frühjahr 1874, 32(30)) Die
„falsche Allmacht“ entwickelt etwas „Tyrannisches“ in Wagner (…) Der Tyrann
lässt keine andere Individualität gelten als die seinige und die seiner
Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten
lässt: oder die Juden. (ebenda 32(32)) Seine
Begabung als Schauspieler zeigt sich darin, dass er es nie im persönlichen
Leben ist. Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft zu überzeugen. (ebenda
32(41)) Die vierte Unzeitgemäße Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, ist dennoch vordergründig noch eine
große Lobpreisung Wagners, wenngleich sie einige Ambivalenzen enthält (in Ecce homo gesteht Nietzsche dann, dass
die dritte und vierte Unzeitgemäße, die dem Werden und Bestehen, dem Lebensweg
des kulturellen Heros und Genius gelten, schon damals eher Selbstbetrachtungen
und –reflexionen waren, denn solche über Schopenhauer und Wagner). Dennoch ist
es, wenn man den Nachlass liest, bemerkenswert, wie tief das Misstrauen
Nietzsches gegenüber Wagner schon lange vor seiner luziden Streitschrift Der Fall Wagner gewesen ist, und wie
differenziert und originär die Beobachtung von dessen Stärken und Schwächen
(ebenso bemerkenswert, wie dass er in den früheren 1880er Jahren in den
unveröffentlichten Aufzeichnungen selbst gegen „das Genie“ polemisiert und es
auseinandernimmt, es teilweise sogar für nichtig erklärt, möglicherweise auch
im Zusammenhang mit seiner immer vollständigeren Loslösung und dem
Hintersichlassen von Wagner und Schopenhauer). Der Fall Wagner ist vielleicht eine der erstaunlichsten Schriften
von Nietzsche. Was er da, einerseits nach langer, qualvoller innerer
Auseinandersetzung, andererseits kurzerhand hinknallt: man kann einem so
kosmischen Dokument kaum irgendetwas Irdisches entgegensetzen. Klare und
nüchterne Analyse und höchster kulturgeistiger Ernst treffen sich mit Übermut,
Ausgelassenheit und Polemik, teilweise auch blödsinniger Polemik (vgl. z.B.
Abschnitt 3). Zarathustra zoomt sich gleichermaßen tief in die Subjektivität
von Wagner hinein und dann in eine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik
wieder heraus. Gleichzeitig streng und heiter ist er gerecht, genauso wie an
anderen Stellen, wie ein davonlaufendes Kind, das etwas angestellt hat, unfair
und ungerecht. Ist es heiliger Ernst und göttlicher Spaß – oder beides
zugleich? In ihrem bescheidenen Umfang von einigen Dutzend Seiten einerseits
gleichsam eine Gelegenheitsschrift wie auch ein profundes, gleichsam
endgültiges Dokument nicht nur zu Wagner, sondern zur deutschen Kultur, ja,
vielleicht sogar zur Kultur überhaupt, eine gleichermaßen fette wie schmale,
scheinbar abschließende Akte zum Fall
Wagner. Und: ist sie deswegen so, wie sie ist, weil Nietzsche nicht nur in
Wagner und dessen Probleme – lauter
Hysteriker-Probleme – hineinschaut, sondern auch in sich selbst? Wagner
wird verspottet, seine grandiose Idee vom „Gesamtkunstwerk“ beruhe in Wahrheit
auf seiner Unfähigkeit, tatsächlich etwas Ganzes zu machen und aus dem Ganzen (zu) schaffen (10), er wolle „mehr“ machen als nur Musik – so redet kein Musiker (ebenda). Wagner
mag darob gelassen bleiben: So gut ist geht, ist sein Gesamtkunstwerk gelungen.
Wenn er „mehr“ gewollt habe, „als nur Musik“: so liegt das eben im
transzendenten Wesen und Streben des kulturellen Heros – Zarathustra (oder
zumindest Nietzsche) wolle ja auch immer mehr. Als Musiker bzw. als Komponist
wurde er, der die Musik so liebte, von Wagner und anderen aber eher vernichtend
kritisiert (wenngleich Gustav Mahler – im Übrigen einer der wenigen frühen
Leser von Nietzsche – Nietzsche für einen unterschätzten Komponisten gehalten
hat). Die schwierige Persönlichkeit Wagners! Die ideologischen Differenzen rund
um den Parsifal (von Nietzsche dann,
als er ihn Jahre später zum ersten Mal gehört hatte, als das Beste, was er je komponiert hat empfunden). Eine Kunst, die
nicht überschäumend Ja! sagt zum Leben – und deswegen eine der „décadence“ ist
(?). Dionysos gegen den Gekreuzigten. Wagner hat Erfolg, Nietzsche nicht. Und
dann noch der Fall Cosima Wagner. Ah,
dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre
Frauen und schleppt sie in seine Höhle … Ah, dieser alten Minotaurus! Was er
uns schon gekostet hat! (Der Fall
Wagner, erste Nachschrift) René Girard hat eine imposante (wenngleich
totalitäre) Heuristik, wonach mimetische Konkurrenzkämpfe das eigentliche Ding
an sich des Zwischenmenschlichen und des Sozialen seien. In Die verkannte Stimme des Realen deutet
er Nietzsches verfolgende Wut auf Wagner als Konkurrenzkampf („Nietzsche contra
Wagner“) darum, wer der eigentliche definierende kulturelle Heros der Zeit sei
– und nicht zuletzt um dessen Trophäenfrau. Restlos überzeugend ist das nicht.
Im fieberhaft-luziden Ecce homo wird
Wagner aber siebzigmal erwähnt, auch eine Erwähnung von Cosima schlüpft dabei
durch. Bei seiner Einweisung in die Nervenheilanstalt Jena gab Nietzsche
bekannt: „Meine Frau Cosima Wagner hat mich hierher gebracht“. Kurz vor seinem
geistigen Zusammenbruch hat Nietzsche Briefe an Cosima aufgesetzt – an im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt
habe… Insgesamt aber: war Wagner ein
großer kultureller Heros. Nietzsche aber war eine praktisch singuläre Gestalt.
Der große kulturelle Heros hat eine Intelligenz, wie man sie vielleicht bei
einem Menschen unter hunderttausend(en) findet. Die praktisch singuläre Gestalt
aber hat ein intellektuelles Level wie vielleicht unter hundert Millionen
Menschen einer. Es ist also anzunehmen, dass der große kulturelle Heros von der
praktisch singulären Gestalt mittelfristig durchschaut werden wird (weswegen
die praktisch singuläre Gestalt auch kaum einer in seiner Nähe haben will).
Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?, so Nietzsche in seiner nachträglichen Vorrede zur Morgenröte (2). Nein, man versteht ihn bekanntlich, und aus gutem Grund, nicht wirklich. Nietzsches furiose Abrechnung mit der Moral, seine erstaunlichen Einsichten, seine Grenzüberschreitungen, sein Wille zum Bösen – all das ist grell und sensationell, noch nie dagewesen, eine enorme Überwindung und scheinbar übermenschliche Anstrengung: Nietzsche gewinnt dadurch abermals sein flackerndes Charisma. Es schärft den skeptischen Sinn, das psychologische Wissen, die persönlichen Möglichkeiten hinter die Erscheinungen zu blicken, und sich von moralischer Heuchelei nicht so leicht täuschen zu lassen. Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Nietzsche, der Überwinder der Moral, weiß dabei genauer als praktisch jeder andere, inklusive der großen Weisen und Heiligen der Geschichte, was Moral ist und eine tugendhafte Natur. Er weiß, was ist vornehm?Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln. (Nachlass Anfang 1880, 1(65)) Wenn es wirklich vorkommt, daß der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt … wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden – sogar etwas, das man hier klugerweise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll. (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 11) Seine Feinde, seine Unfälle, seine Untaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen-machender Kraft ist (ein gutes Beispiel aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit einem Ruck von sich, das sich bei anderen eingräbt (…) Dagegen stelle man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert – und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat den „bösen Feind“ konzipiert, „den Bösen“, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst!… (Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung 10) Vor allem schärft es den Sinn, was das Gute ist, wie Selbstkultivierung und individueller Ethos auszusehen hat. Nietzsche wusste, was vornehm war, denn er war sehr vornehm. Allerdings ist das Ethos bei Nietzsche immer eine individuelle Angelegenheit und eine der Selbstkultivierung, seine Ethik ist eine Individualethik und keine Sozialethik, die sich für den anderen tatsächlich interessieren würde. Ebenso bleibt Moral und Ethik bei Nietzsche in ihrer Intention ein psychologisches Phänomen und keines, das sich aus der Frage nach vernünftigem sozialem Ausgleich aufdrängen würde. Bei einer Wanderung durch die vielen feinen und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmäßig miteinander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verrieten, und ein Grundunterschied heraussprang: Es gibt Herren-Moral und Sklaven-Moral (Jenseits von Gut und Böse 260) In Nietzsches einerseits filigranen und filigransten Untersuchungen, andererseits willkürlichen Projektionen hat man immer wieder einen (für ihn) paradiesischen Urzustand, wo sich die starken, vollen, aristokratischen Naturen tummeln und sich gegenseitig feinfühligst in ihrer Selbstkultivierung helfen, in ihrer Herren-Moral unbeeindruckt von der Not der Nicht-Aristokraten. Dann hat man vor allem die unteren Schichten, die sich ebenfalls lustig und selbstgenügsam tummeln und ihren brutalen und/oder harmlosen Vergnügungen nachgehen, zufrieden mit sich und der Welt – bis dass der böse Geist des Ressentiment und des Neides auf die Aristokraten in sie fährt (in der Regel durch ein intelligentes, ressentimentgeladenes Mitglied ihrer Klasse oder einen Sympathisanten). Insofern sich Ressentiment und Neid in einem Kampf um Deutungshoheiten nicht als solche zu erkennen geben können und auch nicht nachhaltig-zersetzend wirken können, oder aber sich selbst verkennen, kleiden sich dieses Ressentiment und dieser Neid in den Mantel einer überlegenen, universalistischeren, allgemein gerechteren Moral (welche aber vorwiegend dazu diene, die starken, vollen Naturen zu schwächen und sie gar nicht erst mehr aufkommen zu lassen). Nietzsche hat Recht, das zu bedenken zu geben. Nietzsche hat auch Recht, dass zwischen Mensch und Ressentiment-Mensch deutlich unterschieden werden muss. Der Ressentiment-Mensch ist eine negative Qualität, an der ein humanistisches Menschenbild in letzter Konsequenz scheitert. Allerdings – und das wird in Nietzsches mannigfachen Aufspürungen ja deutlich – sind die Formen, die das Ressentiment produziert, zahllos (sowie auch die Motivationen und Grundlagen von Ressentiments und Neurosen nicht einheitlich), und die Kompensationsversuche für das Ressentiment (z.B. übertriebene Härte, übertriebene Erfolgssucht oder übertriebene Fürsorge) werden sich in gesellschaftlichen Teilbereichen gut einsetzen lassen. Nietzsche ist es nun aber nicht möglich, einzusehen, dass moralisches Aufbegehren sich weniger aus Ressentiment sondern primär aus tatsächlich vorhandenen Ungerechtigkeiten in der sozialen Welt speist. Und das ist deswegen so, weil er derjenige ist, in dem ein kompaktes Ressentiment, in seinem Fall gegen die unteren Schichten und gegen die „Schwachen“ (ergo also auch gegen das schwache Geschlecht) schaltet und waltet. Dass er keine echte Einsicht in dieses Ressentiment hat und es nicht versprachlichen kann, verschärft es noch, wohl durch ein Ressentiment auf sein/das Ressentiment. Wenn neurotische Menschen aus neurotischen Gründen (unbewusst) hassen, heißt das nicht, dass sie das auch wollen. Vielmehr mag ihnen dieser Hass zuwider sein. Sicher wird das auch bei Nietzsche so gewesen sein, der im konkreten Umgang mit Menschen alles andere als ein Hasser war, was dann neue Spiralen von (Selbst)Hass und schlechtem Gewissen und Versuchen der Immunisierung dagegen nach sich gezogen hat. Die treibende Kraft (beim Christentum) bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen (Nachlass, November 1887 – März 1888, 11(240)). Lou Salomé bezeichnete Nietzsche als ein religiöses Genie – was er auch war. Religion ist die höchste Repräsentation von Ethik und Moral – in ihrer Doppeltheit von positiven menschlichen Werten und negativer sozialer Kontrolle (die die herrschenden Klassen als auch die weniger selbstständigen Menschen einerseits lieben, andererseits auch lieber umgehen würden). Zarathustra hat Nietzsche zum Alter Ego gewählt mit der scheinbar eigenartigen Begründung: da Zarathustra der erste (gewesen) ist, der den religiösen Gegensatz und Kampf zwischen Gut und Böse in die Welt gebracht hat, sei er auch, anzunehmenderweise, der erste, der die Relativität dieser Grundlage und der darauf aufbauenden Werte durchschaue und diese hinter sich lasse und überwinde. Nietzsche hatte viel vom Wesen und der Intelligenz eines Religionsgründers. Zum wahren Genie eines Religionsgründers gehöre aber weniger die Einsicht in authentische Werte, sondern eine Einsicht, welche Werte in seiner eigenen Gesellschaft am besten vertretbar sind: So spiritualisierte Jesus (bzw. Paulus) das bescheidene, tugendhaft gedrückte Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz, Buddha die inoffensive Trägheit und Bedürfnislosigkeit der Asiaten (Die fröhliche Wissenschaft 353). Wie dem auch sei, eine soziale Dimension hat Nietzsches Individualethik und „Religion“ der Selbststeigerung nicht – daher ist sie auch keine, und ist auch nicht als solche gedacht. Das religiöse Genie von Nietzsche tobt sich also an der leidenschaftlichen Kritik an aller Religion aus. Ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Raths erholen können; welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(173)) Das ist eine zutiefst ethische Angelegenheit, und ich kenne dieses Anliegen sehr gut. Ein Band zwischen allen Menschen schaffen kann man nicht. Aber ich habe nach einem Band von idealistischen Menschen gesucht, die stellvertretend das Band der Menschheit und des Menschheitsideals zusammenhalten. Das würde mich beruhigen. Allerdings gibt es vielleicht auch dieses Band nicht; Zarathustra bleibt Einzelgänger – der aber fortwährend nach Gefährten Ausschau hält und sich darin nicht beirren lässt. Ich für meinen Teil stelle fortwährend spirituelle und empathische Verbindungen her und knüpfe virtuelle Bänder. Ahhhh…. diese virtuellen Bänder… ! Sie beherrschen und verknüpfen die Welt. Sie sind die eigentliche, ungeteilte Welt. Um Nietzsche herum aber ist es, aufgrund der Inkompatibilität seiner Philosophie mit der zeitgenössischen Welt, zunehmend einsam geworden. Immer mehr fasziniert sich der spätere Nietzsche für das Böse, unter anderem auch, weil er darin etwas Ganzes, Kraftvolles und Authentisches erkennen will (und weil es ihm, wie man merkt, fremd bleibt); immer mehr jedoch steigert er sich in Hass und Verachtung gegen „die Mittelmäßigkeit“ hinein (die allerdings tatsächlich der wahre Feind des Ideals ist und die sich dadurch auszeichnet, dass sie uneindeutig und durchwachsen ist). Zwischendurch notiert er dabei – entweder als Vorboten des nahenden Wahnsinns oder aus plötzlicher, punktueller Scham heraus – auf einmal: Der Hass gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem Recht auf „Philosophie“. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten (Nachlass Herbst 1887, 10(175)), bevor er mit seinen Vernichtungsphantasien gegen die Mittelmäßigen wieder fortfährt. Zuletzt vergleicht er seinen Übermenschen, als Typus höchster Wohlgerathenheit, mit Cesare Borgia (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 1), also einem interessanten Schurken, dessen Waghalsigkeit und moralisches Abenteurertum aber damit in Verbindung stehen, dass er ein innerlich verarmter und gelangweilter Psychopath war, dessen Karriere auch nur kurz dauerte. – Aufgrund seiner mangelnden psychologischen Selbstintegration und seiner damit in Verbindung stehenden Metaphysik vom chaotischen dionysischen Urgrund als dem tiefsten Weltprinzip glaubt Nietzsche eine Unverbindlichkeit der moralischen Weltordnung herleiten und begründen zu können. Aber Dionysos und das Chaos ist nicht die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt. Soll ich dir sagen, was die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist? — Die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist der Chaosmos und das Kreuz. Aus dem Urgrund heraus und mit dem Urgrund verschmilzt das Kreuz, die eherne Verstrebung, die Ordnung und Stabilität schafft und die vier Himmelsrichtungen und Dimensionen beherrscht. Aus dem Kreuz des Chaosmos ergibt sich DAS GESETZ; und aus dem GESETZ ergibt sich Ethik und Moral. Der Mensch ist Gattungswesen sowie Individuum. DAS GESETZ bedeutet, dass er diese beiden Naturen harmonisch in Einklang zu bringen hat. Daraus ergibt sich dann der Appell an die Ethik und die Moral. Ethik und Moral sind einigermaßen kulturrelativ, aber DAS GESETZ, also der Appell, Ethik und Moral zu schaffen, ist älter als wir alle. DAS GESETZ, also die Grundlage von Ethik und Moral, ist ideell und auch real in der Welt vorhanden, und kann daher weder in der einen noch in der anderen Hinsicht, zwar manipuliert und umgangen, aber nicht zerstört werden. DAS GESETZ steht über uns allen (und der Übermensch verinnerlicht DAS GESETZ). Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 6) Der Übermensch aber wird die christliche Moral gleichzeitig über sich und unter sich fühlen. Er wird die Religion ansehen wie einen um ihn kreisenden interessanten Planeten, DAS GESETZ aber als etwas, das sich aus dem Universum ergibt. Weil Nietzsche das nicht angemessen verstanden hat, wurde Nietzsche auch nicht angemessen verstanden.
Nietzsche gilt als einer der größten Psychologen. Für Sigmund
Freud war Nietzsche einer der wahrhaft großen Männer aller Zeiten, er habe eine
tiefergehende Einsicht in sich selbst gehabt als jeder Mensch, der gelebt habe
und, wahrscheinlich, auch jeder, der noch leben werde. (Wobei Otto Weininger,
zumindest von seinem Potenzial her, wohl noch über Nietzsche gestanden wäre.
Was aus ihm geworden wäre, kann man aber nicht sagen, da er sich vor lauter
Einsicht in sich selbst und seine „Verbrechernatur“ ja früh erschossen hat.)
Was kann man über Nietzsche nicht alles über die verborgenen Seiten der
menschlichen Natur und der Raffinessen psychologischer Verstellungen und
Verwicklungen lernen! Gleichzeitig bemerkt Jaspers, dass Nietzsche die
Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, die tiefe Einsicht in sich selbst, aber
dann wieder nicht zu weit treibt: Der
Mensch vermag gewöhnlich nicht mehr von sich als seine Außenwerke wahrzunehmen.
„Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar“…. „Jeder ist
sich selbst der Fernste“ … „Täglich erstaune ich: ich kenne mich selber nicht“
… „Ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht … Es muß eine Art
Widerwille in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben“ …. „Es scheint
mir, daß man sich die Tore der Erkenntnis zumacht, sobald man sich für seinen
persönlichen Fall interessiert“ (zitiert in Jaspers S.378f.) Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns
etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anriet: „Erkenne dich selbst!“
Hieß es vielleicht: „Höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!“ – Und
Sokrates? – Und der „wissenschaftliche Mensch“? (Jenseits von Gut und Böse 80) Selbstkenner!
Selbsthenker!… (Zwischen Raubvögeln)
Einerseits betonen Jaspers und Nietzsche diesbezüglich, dass Selbstreflexion
und Selbstbeobachtung einerseits mit produktivem Reflektieren und Beobachten
einhergehen muss, andererseits, ins Extrem oder Selbstzweckhafte getrieben,
konkrete Bestimmung und Erkenntnis verunmögliche, da man in der totalen
(Selbst)Reflexion mit endlosen Möglichkeiten konfrontiert sei, wie was sein
könne oder nicht. Totale Selbstreflexion verfehle also Selbstbestimmung. Wieso
das so sein soll, erscheint nicht klar – vorausgesetzt, man verfügt über ein
Selbst mit einem realen Kern, zu dem man also ohne weiteres vordringen kann,
den man feststellen und bestimmen kann. Das muss aber nicht so sein. Nietzsches
Sich selbst aus dem Spiel nehmen, seinen persönlichen Fall hintansetzen, um zu
vollkommenerer objektiver Erkenntnis zu kommen, war ein authentisches Streben
von ihm. Gleichzeitig bleibt seine ganze Philosophie, im positiven wie im
negativen Sinn, sehr subjektiv. Immer wieder spricht Nietzsche auch von der Maske
(hinter der sich tief verwundete Seelen
verbergen): Alles, was tief ist, liebt
die Maske (Jenseits von Gut und Böse
40) (dann aber wieder, im (irgendwie) Gegensatz dazu: Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief
scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. (Die fröhliche Wissenschaft 173)). Vor allem erfreut sich Nietzsche
an seiner Eigenschaft als psychologischer Spürhund – und wir freuen uns darüber
mit ihm. Winkel-Ausleuchter! Seelen-Prüfer! Innerer Richter! Kann man vor
Zarathustra bestehen? Was wüsste man vom Menschen, wenn man es nicht von
Nietzsche wüsste? Was für riesige Tore zum Unbewussten hat er doch aufgestoßen
– im Vergleich zu Freud, der die Perspektive auf das Unbewusste in pedantischer,
schulmeisterlicher (und recht subjektiver) Weise wieder auf ein paar
Grundmechanismen verengen will (und erst recht gilt das von seinen Schülern)! Er
hat weiters große Tore aufgestoßen für ein Verständnis, dass hinter der
Formulierung von objektivem Wissen oftmals subjektive psychologische
Intentionen stecken – ein allerdings offenbar zu weites Tor, denn hinter der
Produktion und Selektion von objektivem Wissen rein subjektive psychologische
Motivationen aufspüren zu wollen, wird bei ihm zu einem zunehmend totalitären
und verabsolutierenden Vorgehen, an den sich abermals zu zeigen scheint, dass
Nietzsche in seinem Über-Perspektivismus eine Einsicht in die Objektivität der
Außenwelt (wie auch der Innenwelt) ziemlich weit hinten anstellt. Was außerdem auffällt
und bekannt ist, ist seine Lust, mit dem Hammer über die besseren Elemente der
menschlichen Psychologie zu philosophieren. Dass es authentische Liebe,
authentisches Mitleid, authentischen Altruismus gibt, leugnet er zwar nicht,
meistens sieht er darin aber nur Masken für den Egoismus. Angesichts des
Reichtums seiner Einsichten und der übernatürlichen intellektuellen
Penetration, die aus ihnen spricht, wird man geradezu desorientiert darüber,
wie viel man auch in seinen besseren Regungen wohl nichts anderes sei als ein
Egoist. Aber eben angesichts dieser Sophisticatedness von Nietzsches Analysen
fragt man sich gleichermaßen, wieso Nietzsche immer nur maskierten Egoismus
vermuten will hinter Dingen, hinter denen normalerweise keiner ist. Offenbar,
weil er in seiner eigenen Introspektion immer wieder darauf stößt. Larochefoucauld und jene andere
französischen Meister der Seelenprüfung … gleichen scharf zielenden Schützen –
aber ins Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber
endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft,
sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn
der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen
scheint. (Menschliches Allzumenschliches
1 36) La Rochefoucauld und Nietzsche (und auch Freud) waren Meister des
psychologischen Verdachts. Was bei der Lektüre von La Rochefoucauld aber
auffällt, ist dass er mit seinen raffinierten Maximen zwar interessante und
raffinierte Verdächtigungen formuliert, eigentlich aber nie ins Schwarze (der
Wahrheit) trifft, wenngleich er wohl irgendwie die Zielscheibe trifft. Bei
Nietzsche (und Freud) bekommt die Lektüre einen ähnlichen Beigeschmack. Vor
allem einer dermaßen imposanten Erscheinung wie Nietzsche wagt man kaum so
einfach zu widersprechen. Er scheint höchste Weisheit erlangt zu haben, so
hohe, dass die Unschärfe und Vagheit vieler seiner Bestimmungen und seiner so
kantigen psychologischen Verdächtigungen dem Umstand geschuldet scheint:
Zarathustra ist einfach zu gescheit und überreich für die spezifische Erfassung
der Welt! Er denkt über alle Welt hinaus, weil er an Geist und Seele so groß
ist! Weiters fragt man sich bei Nietzsche, La Rochefoucauld et al immer, ob aus
ihren Sentenzen Einsichten oder Einfälle sprechen, also Erkenntnisse oder aber
Manipulationen von Erkenntnissen (offensichtlich, in genialer Weise, beides).
Nietzsche ist bei weitem nicht eine so deprimierende Lektüre wie La
Rochfoucauld (oder Freud). Nietzsche ist heiterer, sanfterer, vor allem in
seiner freundschaftlichen persönlichen Ansprache und seinem Willen, einem bei
der Selbstfindung zu helfen sympathischer. Aber mit seiner Systematik des
Verdachts rückt er zuletzt vielleicht weniger die Menschheit in ein schiefes
Licht, als sich selbst. Selbstermächtiger! Selbstverdächtiger!
Du suchtest die
schwerste Last:
da fandest du dich –,
du wirfst dich nicht ab
von dir…
…
Selbstkenner!…
Selbsthenker!…
Das
höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen
Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht, zu
gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne
Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie gibt; die in sich ruht,
fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich. (Götzen-Dämmerung,
Streifzüge eines Unzeitgemäßen 11) Heidegger, der versucht, das ganze Sein
zu denken, hat an Vorlesungen und Essays Texte im Umfang von tausend Seiten
über Nietzsche verfasst: weil der ebenfalls versucht habe, das ganze Sein zu
denken. Nietzsche gehört zu den
wesentlichen Denkern. Mit dem Namen „Denker“ benennen wir jene Gezeichneten
unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer „über“ das
Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen
Gedanken. (Heidegger: Nietzsche 1 S.
427) Nun, das wäre mir nicht bekannt, und dass ich (oder andere) nur einen
einzigen Gedanken denken würden, kann ich, zumindest an mir, nicht entdecken.
Dass allerdings all diese Gedankenarbeit unter einem (einem siegreichen!)
Banner läuft, schon eher: das Seiende im Ganzen festzustellen und Lichtungen
des Seins herzustellen. Das Sein stellt sich, nüchtern betrachtet, als eine
eigenartige Mischung von großem Stil und großer Stillosigkeit (und vor allem:
hybrider Mittelmäßigkeit dazwischen) dar. Jene
Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die
tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und
Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle
Milchstrassen sind; sie führen bis in´s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein.
(Die fröhliche Wissenschaft 322) Ich
selbst kann mich – auch und vor allem für religiöse oder neuplatonische –
Vorstellungen und Realitäten von Ordnung, Harmonie, Gesetzmäßigkeit, Ausgleich,
Ideal und Sphärenmusik bekanntlich sehr begeistern. Ebenso für den Zufall, das
Idiosynkratische, die Abweichung von der Norm, das Aleatorische: Sie bringen
nicht nur Dynamik und Fortschritt, sondern auch Heiterkeit und Leichtigkeit in
das starr ideale Sein. Das eine ist, eventuell, der Geist, das andere,
eventuell, die Kreativität. Sowohl Ordnung als auch Zufall (als auch
Mittelmäßigkeit) haben gute und ungute (und mittelmäßige) Aspekte. Das ganze
Sein ist ein Gemisch aus allem: sein metaphysisches Bild ist der Chaosmos, in
dem sich Ordnung und Chaos ständig mischen (und offenbar auch sein ganz mathematisch-physikalisches:
insofern dynamische Systeme, wie eben unser Universum, sich tatsächlich als eine
Zweiheit aus Ordnung und Zufall beschreiben lassen – wie übrigens auch die Musik:
insofern treffen schopenhauer-nietzscheanische Vorstellungen von der Musik als
Urbild der Welt also tatsächlich zu. – Beweisen lässt sich das allerdings nicht
durch die Kontemplation, sondern durch die Mathematik). Um eine solche
Ontologie des Chaosmos möglichst gut zu begreifen, bedarf es also wohl einer
chaosmotischen, vielfältigen Epistemologie, also eines chaosmotischen
Erkenntnissubjektes, und eines chaosmotischen ethischen Subjektes (zur
Feststellung der Deontologie des Chaosmos). Der
weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane
für alle Arten Mensch hat: und zwischenrinnen seine großen Augenblicke
grandiose Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns. (Nachlass Sommer –
Herbst 1884, 26(119)) Daß der tiefste
Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie
(Brief an Ferdinand Avenarius 10. Dezember 1888) Das tatsächlich chaosmotische
Erkenntnissubjekt ist nun aber nicht widersprüchlich, und auch nicht unbedingt
frivol. Es löst die Widersprüche letztlich auf und stellt ein großes, weites
Feld her, in dem allerhand Dinge passieren/passieren können. Es stellt das
Einheits-Bewusstsein her. Und die natürliche Sprache des Einheits-Bewusstseins
ist der große Stil. Wahrhaft groß ist daher nur jenes, was
seinen schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich und niederhält, sondern ihn in
sich verwandelt hat, aber gleichzeitig ihn so verwandelt, daß er nicht
verschwindet, sondern zur Wesensentfaltung kommt (…) Das eigentliche Wesen der
Kunst ist im großen Stil vorgezeichnet. Dieser weist aber hinsichtlich seiner
eigenen Wesenseinheit in eine ursprünglich sich gestaltende Einheit des Aktiven
und Reaktiven, des Seins und des Werdens (…) Die dem großen Stil eigene Fügung
des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß
demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen
sein. Der Wille zur Macht ist aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will
Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit
zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben,
in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt
nennt. (Heidegger: Nietzsche 1
137f.) Der Chaosmos, der nach dem großen Stil verlangt, ist tragisch in seiner
Komik und komisch in seiner Tragik. Um diese schärfsten Gegensätze ineinander
zu verwandeln, so dass sie nicht verschwinden, sondern zur Wesensentfaltung
kommen, bedarf es eines komischen und eines tragischen Sinnes. Für Kierkegaard
sind die höchsten Sinne Ironie und Humor. Jaspers (s.345) glaubt festzustellen,
dass bei Nietzsche Ironie und Humor weitgehend fehlen (was als Ironie bei
Nietzsche zum Vorschein kommen mag, ist eher ein nonkonformistischer
intellektueller Möglichkeitssinn, sein Humor blitzt hauptsächlich als grimmiger
Humor auf) (außerdem würden bei Nietzsche fehlen: Liebe, Angst und Gewissen).
Die Sehnsucht nach den lachenden Löwen war
bei Nietzsche freilich prominent. Ueber
sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu
lachen – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die
Begabtesten viel zu wenig Genie! (Die
fröhliche Wissenschaft 1) Doch! Ich! HAhahahaha! Ach, der gute Yorick! (In
Yorick-Sterne sah Nietzsche übrigens den freiesten Geist, der je gelebt habe –
obwohl er darin freilich auch etwas Unentschlossenes, in seiner Zweideutigkeit
Gefangenes verkörpert habe (Menschliches
Allzumenschliches 2 113) – Ach, armer Yorick! Wer soll das Reich
jenseits der zehnten Stufe jemals erobern, und über das Dasein triumphieren?)
„Der Übermensch“ ist
der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen
Stil des Schaffens. (Heidegger:
Nietzsche 1 S. 224) Der Sehr Tiefe
Denker durchdringt denkend das Sein – in seiner Tiefsten Form alles Sein. Der
große Schöpfer greift in das Sein ein, schafft im Sein, schafft Sein. Der große
Überwinder überwindet das Sein. Das Sein
selbst überwinden wollen hieße, das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben. (Heidegger:
Nietzsche 2 S.330) Der, der das Wesen
des Menschen aus der Angel hebt, ist also der Übermensch. Der Übermensch
akkumuliert Welt und Mensch. Er bläht sich auf, ins Gigantische, der
übermenschliche Ballon, und nabelt sich schließlich, selbststabilisiert, ab. Mit meinen Tränen gehe in deine
Vereinsamung, mein Bruder (ich hätte übrigens gesagt, und sage da übrigens meistens:
Schwester!)! Ich liebe den, der über sich
hinaus schaffen will und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra 1, Vom Wege des Schaffenden) Der Übermensch
reflektiert alle menschlichen Probleme, die Totalität aller menschlichen
Probleme, und ist daher „der Sinn der Erde“. Das meiste Menschliche wird ihm
vertraut sein, und das meiste Menschliche wird ihm fremd sein. Und daß du unter Menschen immer wild und
fremd sein wirst: – wild und fremd auch noch, wenn sie dich lieben (Also sprach Zarathustra III, Die Heimkehr).
Nietzsche verortet den Übermenschen einerseits in der Zukunft (und in seiner
eigenen Hoffnung auf die/seine Zukunft), andererseits findet man
Übermenschliches und Übermenschen zu allen Zeiten. Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren; oder
Stärkeren; oder Höherem dar, in dem Sinne, in dem es heute geglaubt wird (…) in
einem anderen Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den
verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus,
in denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältniß
zur Gesammt-Menschheit eine Art „Übermensch“ ist. Solche Glücksfälle des großen
Gelingens waren immer möglich und werden viell<eicht> immer möglich sein…
(Nachlass November 1887 – März 1888, 11(413)) Man kann vielleicht sagen:
Ideale zeichnen sich dadurch aus, dass man nach ihnen streben soll, es
allerdings gleichzeitig außerhalb des Menschenmöglichen liegt, sie tatsächlich
zu erreichen. Allerdings werden authentische kleinere und größere Ideale ja
auch von irgendjemand erreicht, aufgestellt, vertieft, verkörpert – sonst gebe
es ja keine authentische Vorstellungen von Idealen. Wer also Ideale erreicht,
kann man vielleicht sagen, hat also übermenschliche Qualitäten. Wer umfassende
Ideale, die die ganze Welt betreffen, erreicht, wie zum Beispiel der Buddha,
ist Übermensch. Selten ist der Übermensch, wer
aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von
Pflanze und Gespenst (Also sprach
Zarathustra I 3). Die großen
Philosophen sind selten gerathen. Was sind denn diese Kant, Hegel,
Schopenhauer, Spinoza! Wie arm, wie einseitig! Da versteht man, wie ein
Künstler sich einbilden kann, mehr als sie zu bedeuten … Goethe steht gut da. (Nachlass
Sommer – Herbst 1884, 16(3)) Der große Stil des Übermenschen liegt darin, dass
er in der noumenalen Sphäre völlig autonom und ohne Beispiel agiert und sein
Stil der Geist selbst ist (Goethe steht da nicht so gut da, man könnte unter
den Schriftstellern und Dichtern aber vielleicht an Rimbaud, Büchner,
Lautréamont oder Emily Dickinson denken). Auratischer, sphärischer Übermensch!
Goethe wurde von einem Engländer „panoramic ability“ zugesprochen (wofür er allerschönstens zu danken habe). Büchner
(Lenz) oder Rimbaud aber sehen alles
gleichzeitig. Das, was sie sehen, und was sie in ihrem Stil beschreiben, ist
der Chaosmos. Ihr Stil ist der große Stil.
Sie beherrschen alle individuellen Stile und amalgamieren das Gestammel der Welt zu einem Monolog Gottes (F. Hebbel). Das Ich erst in der Heerde. Gegensatz dazu:
im Übermenschen ist das Du vieler Ichs von Jahrtausenden zu Eins geworden.
(also die Individuen sind jetzt zu Eins geworden (Nachlass Juli – August
1882, 4(188)) Weniger Du-zentriert und mehr Ich-zentriert formuliert: Allein die vollendete Subjektivität verwehrt
ein Außerhalb ihrer selbst. Nichts hat den Anspruch auf das Sein, was nicht im
Machtkreis der vollendeten Subjektivität steht. (Heidegger: Nietzsche 2 S.272) Diese Subjektivität
„vollendet“ sich aber, indem sie profund Innerhalb wie Außerhalb ist, ein
offener Raum, der das ganze Sein umfasst, der sich in das ganze Sein, und in
sein Geheimnisvolles, offen erstreckt. Ihr Machtkreis ist ein Empathiekreis.
Der Übermensch ist nur im technischen Sinne Einzelgänger. Wenn man ihn als das
Resultat einer reinen Selbststeigerung und Selbstermächtigung begreifen will,
verfehlt man ihn, denn reine Selbststeigerung läuft naturgemäß letztendlich ins
Leere. Denn das eine ist das Ich, das andere ist das/der Andere, und beides
zusammen ergibt die Welt. Der Übermensch ist der absolut mit-seiende Mensch. Er ist nicht nur der höhere
Mensch, der den Menschen unter sich lässt, sondern auch die höhere Welt, die
die Welt unter sich lässt. – Nietzsche war der Philosoph des Übermenschen,
gleichzeitig spricht er aber eigentlich nur im Zarathustra vom Übermenschen
(eine ansonsten so zentrale Gestalt ist er in seinem Gesamtwerk eigentlich gar
nicht). Und Zarathustra ist nicht der Übermensch, sondern der Prophet des
Übermenschen. Der Übermensch selber bleibt bei Nietzsche einerseits ein
kraftvolles, andererseits ein vages, widersprüchliches und ahnungsvolles, aber
nicht wohlformuliertes Konzept. Und Nietzsche wäre freilich auch nicht
Nietzsche gewesen, wenn er nicht auch den „Übermenschen“ wieder infrage
gestellt und „überwunden“ hätte: … alle
diese Götter und Übermenschen. Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde…
(zitiert in Jaspers S.169). Wie Lou Salomé es formuliert hat, war das Ziel von
Nietzsche die Steigerung aller Lebenskräfte – und daher auch die Steigerung des
Bösen als Werkzeug dafür, als Lebensmöglichkeit (S.232). Diese absolute
Steigerung der Lebenskräfte ist dann der Übermensch, der jenseits von Gut und
Böse ist. Jenseits von Gut und Böse bedeutet allerdings auch:
amoralisch-indifferent. Ursprünglich wäre der Übermensch bei Nietzsche eine Art
Über-Künstler, Über-Genie, Über-Heiliger gewesen: also etwas Gutes. Jenseits
von Gut und Böse bedeutet aber auch die Möglichkeit, dass eines in das andere
rutscht. Wenn es mit dem einen nicht klappt, probiere man es halt einfach mit
dem anderen. Das Wort „Übermensch“ zur
Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit … ist fast überall mit voller
Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der
Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als
„idealistischer“ Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger“, halb „Genie“
… Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als
nach einem Parsifal umsehen, der traute seinen Ohren nicht. (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe
1) Zarathustra ist an Nietzsche vorbeigegangen. Sein Übermensch ist unter all
die gescheiterten höheren Menschen aus dem vierten Teil von Also sprach Zarathustra gerutscht, auf
die Stufe eines attraktiven, dann aber auch wieder nur mäßig interessanten
Bösewichts. Darin scheint freilich weniger zum Vorschein zu kommen, dass der
eigentliche Kern von Nietzsche böse war, sondern eher, dass Nietzsche vom Bösen
einfach keine Ahnung hatte.
Karl Japsers glaubt erste Vorboten des Wahnsinns bei Nietzsche
bereits um 1880 herum ausfindig machen zu können (Jaspers S.98). Seine Visionen
würden ab da in Art und Intensität auch über das Maß hinausgehen, das bei
Künstlern gemeinhin vorhanden ist, und sie würden neben etwas Eigenem auch
etwas irgendwie Beklemmendes und Fremdes enthalten. Cosima Wagner wollte
Anzeichen des Wahnsinns bereits in ihrer sehr flüchtigen Lektüre von Menschliches, Allzumenschliches
ausmachen (dem Werk halt freilich auch, mit dem Nietzsche seinen Bruch mit
Wagner und dem Wagnerianismus implizit deutlich gemacht hat). Die zunehmend
intensivere und radikalere Sprache und die Ideen, ihre Entfesseltheit und
Enthemmtheit, das Prophetentum im Vortrag, zumindest ab dem Zarathustra, scheinen auch allgemein
grelle Schatten, die der spätere Wahnsinn bereits vorauszuwerfen scheint, nicht
zu reden von den allerletzten Schriften. Jedoch wirken, wenn man sie dann
wieder liest und genauer kennt, aber weder Der
Antichrist noch Ecce homo als so
irrational und entrückt. In all der Fieberhaftigkeit und Rauschhaftigkeit des
Vortrages hat man eine große Klarheit und geradezu simple Konsequenz der
Gedankenführung, die eben die Resultate zeitigt, die in der längeren Denkbahn
von Nietzsche ja bereits vorgezeichnet waren. Von den Wahnsinnsbriefen, die
Nietzsche kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch verschickt, sind sie auf
jeden Fall grundsätzlich verschieden, so dass man von einem graduellen Absinken
in den Wahnsinn bei Nietzsche nicht gut sprechen kann. Dieses war ein plötzlich
eintretendes Phänomen (auf organischer Grundlage). Nietzsches Entwicklung in
Inhalt und Stil kann man genauso gut als die selbstentfesselnde und
–ermächtigende Entwicklung des absoluten Genies sehen, das von seiner eigenen,
„dionysischen“ Intensität einerseits fortgerissen wird, diese gleichzeitig aber
auch kontrolliert lenkt und kanalisiert, zu dem Zwecke, fortwährend neue
inhaltliche, „apollinische“ Formen zu werfen bzw. Gedanken zu produzieren, oder
eben „Werte zu schaffen“ und (sich in seiner permanenten Selbsttransformation)
„umzuwerten“. Im Lauf dieser Entwicklung, sagen wir eben ab 1880, treten
aufgrund des intensiven und bildhaften Denkens im Nietzsche-Gehirn
Veränderungen auf, die eine solche (bildhafte) Intensität des Denkens immer
mehr begünstigen und befördern. Werde,
der du bist – solche Veränderungen im Gehirn sind aber an sich nicht
krankhaft, sondern Resultat dessen, was man tut, und was man tun will. Im Antichrist, in Ecce homo und in den Dionysos-Dithyramben (die teilweise allerdings
schon vorher, Mitte der 1880er Jahre verfasst wurden), kommt dann eben die
absolute Genialität, die Gottwerdung (bzw. Dionysoswerdung) Nietzsches, die
absolute Transzendenz zum Ausdruck. Eine problematische und labile Emotionalität
und Affektivität allerdings – und wie bei den altgriechischen Göttern ja –
auch. Das große Ringen ist Zeichen des großen Dichters und Denkers, die große,
friedliche Ausgeglichenheit, wo alle Gegensätze befriedet sind und man sich der
Alltagswelt enthoben (oder „entrückt“) fühlt, auch. – Einen völlig
ausgeglichenen, milden, mit sich und der Welt befriedeten Nietzsche hat man
übrigens in der vielleicht am wenigsten bekannten von seinen zu Lebzeiten
veröffentlichten Schriften, dem zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches, sowie auch in den
Nachlassschriften der früheren 1880er Jahre; zumindest, bis Zarathustra an ihm
vorbeiging. Einen wohlig sich räkelnden, halkyonischen Nietzsche, der sich,
zufrieden lächelnd, mit geschlossenen Augen auf hohem Plateau ausstreckt, dem,
das er wacker erklommen hat. Selige Öde
auf wonniger Höh` (Wagner, Siegfried,
Dritter Aufzug, Dritte Szene). Einen sich an sich selbst und an der Welt und an
seiner eigenen Milde, der Milde des weltimmanenten Überwinders, erfreuenden
Nietzsche, der ausgeglichen in sich selbst und in seiner eigenen Weisheit ruht
( – und dessen Schriften, wenn er so geblieben wäre, wohl heute so häufig
gelesen werden würden wie die von Philosophen und Weisheitslehrern wie Proklos
oder Malebranche: gut also, dass er es nicht dabei bewenden hat lassen). Aber
da die Welt dann doch tiefer ist, und
tiefer als der Tag gedacht, trieb es Nietzsche naturgemäß weiter. Die Welt
lädt einen, wenn man sich das recht überlegt und man es recht empfindet, nicht
zum Bleiben und zum Genießen und sich Ausstrecken ein. Nietzsche musste welttranszendenter Überwinder werden,
auch, wenn er seine Fähigkeiten und sein eigenes, höchst eigenes Telos nicht
vernachlässigen wollte. Der Überwinder ist vielleicht, insgesamt, keine so harmonische
Gestalt, wie man sich das eventuell vorstellen mag, da er permanent mit dem
Überwinden beschäftigt ist, mit der Aufrechterhaltung seiner Heiligkeit. Auf
der anderen Seite stellt ihn diese Stabilisierung in sich selbst und in seiner
eigenen Transzendenz wohl auch nicht vor allzu große Schwierigkeiten. Bei
Nietzsche hingegen hat man dann aber ein ständiges Pendeln zwischen Extremen,
die sich gegenseitig immer mehr aufschaukeln – ohne dass die Extrempositionen
an sich eigentlich wirklich verständlich wären. Nietzsches Denken kreist
ständig um „Stärke“ und „Schwäche“, Unter- und Überordnung, aufsteigende und
absteigende Kräfte, formuliert einen obsessiven Vitalismus, als
Kontrastprogramm zu einer Angstbesessenheit vor einer negativen,
lebensverneinenden und angeblich allseitig wirksamen „décadence“: Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent
bin, bin ich auch dessen Gegensatz (Ecce
home, Warum ich weise bin 2). Gleichzeitig zu seiner Proklamierung der
Stärke fühlt er sich andauernd durch irgendwas geschwächt. Sein
leidenschaftliches Pathos der kettensprengenden Selbstermächtigung macht einen
wundern, warum für ihn eigentlich so viel Ketten da sind, und warum von ihm
überall Ketten wahrgenommen werden, bzw. warum er hochgradig multidimensionale
und polyvalente Dinge wie Mitleid, Demokratie, Religion usw. geradezu
ausschließlich negativ bzw. als Ketten gelten lassen will (und eben als Ketten für ihn abgeschafft wissen will, ohne
sich groß zu fragen, ob sie nicht positiv für andere sind). Das ist auch aus
dem bloßen Konservatismus seines Zeitalters nicht wirklich einsichtig. Sein
ewiges Werde, der du bist macht
vermuten, dass er nie das ist, was er sein will. Oder dass er nie das sein
will, was er eben ist. Lou Salomé fühlte sich irritiert von Nietzsches Bestrebungen,
sich eine Aura des Gefährlichen und Verruchten überzustülpen, obwohl er solche
Qualitäten ja gar nicht besaß (so wie der den religiösen Wahnsinn tangierende
Kierkegaard immer wieder mit seiner lasterhaften, ausschweifenden Jugend
geprotzt hat, ohne dass Hinweise darauf vorliegen, dass es eine solche gegeben
hätte). Ja, man kann überall da, wo
Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit
Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie
oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von
Theorien. (Lou Salomé S.239) Dass Nietzsche gegen das Mitleid, das
Christentum, das Asketentum, gegen die Bildungseinrichtungen, gegen Frauen,
Schopenhauer und Richard Wagner polemisiert, weil er sie, inklusive seiner
latenten und beizeiten heftigen Kränklichkeit (gegen die er dann das Pathos der
großen Gesundheit setzt), in seinem
Leben als vereinnahmende oder negative Mächte erfahren hat, oder aber weil er
sie in seinem selbstreferenziellen Unabhängigkeitsstreben „überwinden“ will,
überrascht nicht ganz, wohl aber die Vehemenz, mit der er gegen diese doch (mit
Ausnahme seiner schlechten Gesundheit) eher harmloseren Mächte vorgeht. Nietzsche
ist, ganz offensichtlich, neurotisch. Woher diese Neurose gekommen sein soll,
ist weniger offensichtlich. Traumatische Einschnitte fehlen in Nietzsches
Leben. Es enthält nichts, und nichts an kleineren und größeren
Unannehmlichkeiten, womit ein normaler Mensch nicht einigermaßen fertig werden
kann – win some, lose some, it´s all the
same to me (that´s the way I like it,
baby, I don´t wanna live forever (… and don´t forget the Joker!))
(Motörhead, Ace Of Spades). Umso mehr
erscheint das dann bei einem so außergewöhnlichen Menschen wie Nietzsche
befremdlich, dem, in seiner nahezu unendlichen Weisheit, eine gelungene
psychologische Selbstintegration doch umso möglicher sein sollte. Andererseits
kann ein unterschwelliger Größenwahn und Überlegenheitsdünkel einer solchen
psychologischen Selbstintegration aber wohl hinderlich sein, indem man mit den
unvermeidlichen Niederlagen in den diversen Bereichen des Lebens vielleicht
weniger gut umgehen kann. Nietzsche geht aber, scheinbar, gegen eher harmlose
Mächte vor, weil er seine eigene Harmlosigkeit hasst. Und diese hasst er
vielleicht umso mehr, weil er alles, was seinen größenwahnsinnigen Phantasien
von absoluter Machtvollkommenheit entgegenarbeitet, hasst. Betrachte die
paranoide Persönlichkeit! Die paranoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich
durch übergroße, anhaltende Verletzlichkeit gegenüber Niederlagen im Leben aus,
Neid gegenüber anderen und dann also einer misstrauischen Vermutung, andere
wollten einem Böses, Größenwahn und Selbstreferenzialität und dann also der
Vermutung, großangelegte Verschwörungen seien gegen einen im Gange. Die Betreffenden
mögen den Eindruck haben, auf einer Mission zu sein, um als Propheten die
Menschheit zu erwecken, und sind dabei in ihrer Bestrebung, ein neues, besseres
Miteinander zu schaffen, oftmals von unguten „Reinlichkeits“-Phantasien und
solchen der gesellschaftlichen „Säuberung“ von „unreinen“ Elementen durchzogen
(vgl. Hitler). Sie sind streitlustig bis –süchtig und bedienen sich dann einer
radikalen, dehumanisierenden Sprache. Ihr Gefühlsleben und ihre Fähigkeiten zum
menschlichen Miteinander sind eingeschränkt bzw. überwiegen die destruktiven
Gefühle deutlich gegenüber den konstruktiven. Ihr (Gefühls)Leben ist ziemlich
friedlos und freudlos. Ihre Ego-Pathologie scheint die zu sein, dass sie sich
dem anderen gegenüber unbedingt als dominant erleben wollen und keine Frustrationstoleranz
für andere Erfahrungen haben. Bei Nietzsche hat man all diese Elemente (wie im
Übrigen auch bei Schopenhauer und bei Wagner). Man hat allerdings, vor allem
bei Nietzsche, ganze gegenteilige und hochheilige Eigenschaften ebenfalls, und
zwar offensichtlich als was ganz Authentisches und Ursprüngliches (nicht allein
im Rahmen einer Kompensationsleistung bloß Verstärktes). Gerade in seinen
späteren Versuchen, dem Bösen mit wohlwollender Faszination zu begegnen, wirkt
Nietzsche geradezu albern, so, als wie wenn das Böse ihm eben wesensfremd
bleibt. Trotzdem hat er reaktionäre, inhumane politische Entscheidungen
mitgetragen und hätte vor einer Einführung eines kastenähnlichen Systems wohl
nicht zurückgeschreckt. Während ein ausgezeichnetes Angriffsziel und Hassobjekt
für Paranoide immer wieder die Juden sind, ist Nietzsche einer der wenigen
ausgesprochenen (im Rahmen der Genealogie seiner Moral allerdings auch
paradoxen) Philosemiten seiner Zeit. Während er in der konkreten Begegnung
freundlich und aufmunternd bleibt, ist er auf abstraktem Niveau und bei
abstrakten Entscheidungen ziemlich negativ – genau gesagt, verwundert dann
seine Unfähigkeit, Qualitäten und Entitäten, die ihm nicht gefallen, anders als
als abstrakt zu begreifen bzw. sie hinter Abstraktionen (von irgendetwas
Negativem) verschwinden zu lassen. Ende der 1880er Jahre vertraut er seinen
Freunden Köselitz und Overbeck an, er fürchte, in seinen Urteilen zu
unerbittlich zu werden und selbst von der Hölle des Ressentiments erfasst zu
werden; seine chronische Verwundbarkeit bräche übermäßige Härte in ihm hervor
(Prideaux S.385). Inwieweit Nietzsche und Schopenhauer tatsächlich in dem Sinn
gestört waren oder aber nur in die Nähe dessen kamen, also einen so genannten
paranoiden Persönlichkeitsstil hatten, bleibt offen (Wagner könnte diese
Qualitäten eher auf dem Level einer Persönlichkeitsstörung gehabt haben, bei
Otto Weininger, gleichzeitig einem der höchsten Menschen aller Zeiten (der sich
von Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ sehr abgestoßen gefühlt hat und der
Nietzsche als einen „bloß originellen“ Philosophen der untersten Qualitätsstufe
angesehen hat), ist die Paranoia offenbar in den Wahnsinn gegangen, bzw. in
eine Klarsicht in den ihr immanenten eigenen negativen Charakter, die ihn in
den Selbstmord getrieben hat). Irgendwie scheint es aber so zu sein, dass der
innerste Kern der Widersprüche von Nietzsche keine dialektische und
synthetisierbare Widersprüchlichkeit gewesen ist, sondern der Kern war eine
Widersprüchlichkeit an sich (und die Erscheinung dann eben eine umso radikalere
Aufteilung der Welt in Gut und Böse).
Jetzt –
zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt,
ein Fragezeichen,
ein müdes Rätsel –
ein Rätsel für Raubvögel!…
– sie werden dich schon „lösen“,
sie hungern schon nach
deiner „Lösung“,
sie flattern um dich,
ihr Rätsel,
um dich, Gehenkter!…
O Zarathustra!…
Selbstkenner!…
Selbsthenker!…
Die Probleme, vor
welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich
mich beinahe jedes Jahr zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen,
denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit beiseite
legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das
was dann jedesmal geschah, war in komischer und unheimlicher Weise das
Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte. (Briefe, zitiert bei Jaspers S.77) HA, ja das kenne ich
– und ich kenne es natürlich auch, die unmittelbare Einsicht, dass man
ja keinen Anspruch hat darauf, kein Recht darauf, geliebt oder gehört zu
werden; schon gar nicht, dass andere, in all ihren momentanen Verstrickungen,
alles beiseite legen müssten für einen. Ich kenne es aber auch, dass in der
Realität schon komische und unheimliche Gegenteile passieren von dem, wie es in
einer idealen Welt eigentlich sein sollte. Nietzsches brutale Polemik gegen den
Bildungsphilister in der ersten
Unzeitgemäßen steht eine durchaus brutale Realität des Bildungsphilisters eben
gegenüber. Es ist deprimierend und gehört tatsächlich zu den unheimlichsten
möglichen Dingen, wenn sich die Träger des Bildungsgedankens gegenüber der
lebendigen Produktion von Bildungsgut als indifferent oder ablehnend erweisen
(nur um einen dann posthum begeistert auf die Welt zu bringen); egal, wie man
sich das dann zu erklären oder zu entschuldigen versucht. Es ist deprimierend
und unheimlich, wenn sich die vorgeblichen Freunde des Geistes in der Realität
dann eher als indifferente Fremde oder gar als dessen Feinde erweisen. Es lebe
der Bildungsphilister! Er hasst die kulturellen Erneuerer immer wieder, wenn er
sie als außerhalb seines Gesichtskreises erlebt, um sie dann zu lieben, wenn er
sie unter die Erde gebracht hat und sich einverleibt hat. Er liebt, vorwiegend,
sich selbst. Nietzsches erste Unzeitgemäße über den Bildungsphilister hat z. B. Gottfried Keller, zu dem Nietzsche
damals Kontakt gesucht hat, in ihrer Polemik abgestoßen, aber angesichts der
selbstzufriedenen Bildungsdummheit von David Strauß erscheint Nietzsche
vornehmlich in rächendem Zorn über den Verrat an der Authentizität des
Bildungsgedankens. Bildung soll Transzendenz und Selbst-Überwindung
ermöglichen; während sie bei so manchen aber das Gegenteil: Immanenz und
falsche Selbstkultivierung durch Kultivierung der eigenen Eitelkeit befördert,
dadurch auch Geistlosigkeit, Lieblosigkeit und Sterilität befördert. Das ist
dann der Bildungsphilister. Der Bildungsphilister ist dann Freund und Feind
zugleich. Man muss sich an ihm abmühen, und es kostet viel Kraft, und es ist
diese Mühe ganz sinnlos und sie hilft einem nicht weiter, weil der
Bildungsphilister kein dialektischer Gegner ist, sondern einfach nur wie ein
Stein im Weg liegt. Es lebe der Bildungsphilister! Dass Nietzsche und co. von den Zeitgenossen
nicht verstanden werden (während sie von der Nachwelt dann ohne weiteres
verstanden werden), liegt vielleicht weniger an ihrer Schwerverständlichkeit,
als daran, dass man sie gar nicht verstehen will. Wenn es ein menschliches
„Ding an sich“ gäbe, ist das wohl die Eitelkeit, steht in Menschliches Allzumenschliches (2, Vermischte Meinungen und Sprüche 46) (oder aber auch bei
LaRochefoucauldt oder dem überaus erfolgreichen Lebenshilferatgeber von Dale
Carnegie). Amanshauser
meint, während Typen wie Goethe oder Thomas Mann vom Bildungsbürger gern zu
Lebzeiten gelitten werden, würden Individuen wie Nietzsche, Baudelaire oder
Edgar Alan Poe zu Lebzeiten immer nur von demselben in die Gosse getreten
werden (da sie sich in ersteren – und das auch noch in schmeichelnd
vergrößerter Form – selbst spiegeln können, in zweiteren aber eher nicht). Nietzsche
ist ein wilder und radikaler Denker. Er ist das so sehr, dass er quasi das
Denken an sich ist. Man würde meinen, denkende Zeitgenossen würden sich von
einem solchen angezogen fühlen wie von einem Magneten. Dann aber scheint die
magnetische Wirkung von Nietzsche und co. eine genau umgekehrte: eine
abstoßende. Abenteuer des Denkens unternehmen, Denken als wildes Unternehmen zu
begreifen, ist, wie man feststellt, kein Mehrheitsprogramm. Dass Denken Leiden bedeutet, und Leidenschaft
erfordert, steht im Gegensatz dazu, dass die Mehrheit hauptsächlich dem
harmonisiert vorgetragenen Vortrag von Gedanken gegenüber zutraulich ist. Dass
das Zentrum des Denkens woanders liegt, als sie es vermuten, nicht innerhalb
ihres eigenen Kreises, mag für die denkenden
Zeitgenossen, oder zumindest für ihre Egos, eine Erfahrung sein, die sie
lieber vermeiden wollen – aus offensiven Gründen, oder aber auch aus ganz
legitim erscheinenden defensiven Gründen. Ich
muß weg über hundert Stufen, und niemand möchte Stufe sein. Das muss ich
zwar auch (weg über hundert Stufen), aber ich möchte niemand als Stufe
behandelt sehen wissen. Das ist in der Tat ein erheblicher Konflikt, der mir
gar nicht gefällt. Von der verbreiteten Eitelkeit und Eigennützigkeit des
akademischen Betriebes, und nicht zuletzt des Philosophiebetriebes, mit der
auch etablierte Philosophen konfrontiert sind und behindert werden (und
eventuell dann auch dasselbe machen) kann man auch lesen in der
Heidegger-Biographie von Safranski (S.262) und in der Hegel-Biographie von
Vieweg (S.205). Philosophen mögen sich gerne für die Könige halten; dass die
Meta-Philosophie eine der Philosophie übergeordnete Instanz ist, sehen sie dann
womöglich nicht so gerne. Hütet euch auch vor den Gelehrten!
Die hassen euch,
spricht also Zarathustra aber überhaupt zu seinen Jüngern. (Vom höheren Menschen 9) Leider hat Schopenhauer durch nichts
zahlreiche Gelehrte mehr beleidigt als dadurch, daß er ihnen nicht ähnlich
sieht, vermutet Nietzsche bereits in Schopenhauer
als Erzieher (7), wo er auch (in Abschnitt 6) andere zahlreiche Vermutungen
anstellt, warum Gelehrte oftmals nicht das sind, was sie zu sein scheinen (also
objektive Menschen der Wissenschaft). Er (der Gelehrte)
ist zutraulich, doch nur wie einer, der sich gehen, aber nicht strömen läßt;
und gerade von dem Menschen des großen Stroms steht er umso kälter und
verschlossener da – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in
dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und
Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der
Mittelmäßigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmäßigkeit, welcher
an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden
gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber – abzuspannen sucht, heißt
es dann in Jenseits von Gut und Böse (206).
Thomas Bernhard kommt einem mit seinen Polemiken und seinen Requien für die
Hollensteiners in den Sinn; ich will mir das aber sogleich jetzt vertreiben und
lieber die Schönheit besingen und an das Gute glauben. OH, meine Schwestern,
ich erhebe mein ideelles Glas mit euch auf die Unschuld des Werdens und der
Jugend, auf die Reinheit eurer Leiber, auf die göttliche Kindlichkeit meiner
Liliana —- da lese ich dann aber in der Neuen Zürcher Zeitung eben gerade: Eine Integration der Disziplinen wird es dadurch in den
Sozialwissenschaften jedoch kaum geben; denn anders als in den
Naturwissenschaften, wo sich die Disziplinen auf eine gemeinsame Sprache
einigen konnten (genetischer Code, Periodensystem usw.), gehen die Bestrebungen
in den Sozialwissenschaften in Richtung sprachlicher Abgrenzung. Dabei
entwickeln sich die Disziplinen immer mehr zu selbstreferenziellen Systemen.
Sie basieren auf einem Selektionsverfahren, das interdisziplinäre Forschende
mit Praxisbezug frühzeitig aussortiert. Was zählt, sind weltanschauliche
Kompatibilität, eine identitätsstiftende Fachsprache und die Meriten in der
eigenen Zunft… Generell
wirft der Trend Richtung Nabelschau in den Sozialwissenschaften ein schiefes
Licht auf das moderne angelsächsische Modell. Paul Romer, amerikanischer
Ökonomienobelpreisträger und selbst Kritiker des Modells, argumentiert, dass
der akademische Wettbewerb innerhalb der jeweiligen Disziplin häufig auf Kosten
der gesellschaftlichen Relevanz und der geistigen Erneuerungsfähigkeit gehe. Er
macht dafür auch mächtige akademische Seilschaften verantwortlich, die bloss
noch an der Fortsetzung der wissenschaftlichen Routineverfahren («normal
science») interessiert seien und abweichende Meinungen bestraften. In der
Covid-19-Krise sieht er eine Chance, die institutionellen Spielregeln an
sozialwissenschaftlichen Fakultäten so anzupassen, dass sich interdisziplinäre
Forschung mit Praxisrelevanz wieder lohnt. (Zu viel Nabelschau in den
Sozialwissenschaften? Eine kritische Debatte ist überfällig von Philipp
Aerni, NZZ 22.9.2020) Institutionen und Meta-Philosophen sind Welten, die
vielleicht mehr voneinander trennt als verbindet. An Overbeck schreibt
Nietzsche im Sommer 1886: In dieser
Universitätsluft entarten die Besten: Ich spüre fortwährend als Hintergrund und
letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie R.(ohde?) eine verfluchte allgemeine Wurschtigkeit
und den vollkommenen Mangel an Glauben zu ihrer Sache. Dafür, daß einer (wie
ich) dio noctuque incubando von frühester Jugend an zwischen Problemen lebt und
da allein seine Not und sein Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl! R.
Wagner, wie gesagt, hatte es: und deshalb war mir Tribschen eine solche
Erholung, während ich jetzt keinen Ort und keine Menschen mehr habe, die zu
meiner Erholung taugten. Rohde und Nietzsche waren Freunde aus
Studientagen. In den späteren 1870er Jahren ist die Freundschaft zunehmend loser
geworden, bevor es 1887 zum endgültigen Bruch gekommen ist. Entnervt über seine
Lektüre von Jenseits von Gut und Böse
wendet sich auch Rohde zu derselben Zeit brieflich an Overbeck und klagt
seinerseits über Nietzsche: Das eigentlich Philosophische ist
so dürftig und fast kindisch, wie das Politische albern und weltunkundig …
alles bleibt willkürlicher Einfall … Ich bin nicht mehr imstande, diese ewigen
Metamorphosen ernst zu nehmen … Ausdruck eines geistreichen, aber zu dem, was
er eigentlich möchte, eben doch unfähigen ingenium … Nietzsche ist und bleibt
zuletzt ein Kritiker … Wir anderen genügen uns selbst auch nicht, aber wir
verlangen auch keine absonderliche Verehrung für unsere Mangelhaftigkeit … Zur
Abkühlung lese ich Ludwig Richters Selbstbiographie (Brief von Rohde an
Overbeck 1886, zitiert in Jaspers S.63f.) Rohde hat es, im Gegensatz zu
Nietzsche, geschafft, sich im akademischen Betrieb zu etablieren und sich zu
verheiraten. Geistige Anregungen hat er aber vorwiegend von außen empfangen –
was auch der Grund für seine ursprüngliche Hinzugezogenheit zu Nietzsche war,
und wohl auch der Grund für sein latentes Gefühl des sich nicht selbst
Genügens. Aus heutiger Sicht mag ein grobes Verkennen von Nietzsche auffallen.
Allerdings ist es für Zeitgenossen wohl praktisch unmöglich, jemanden wie
Nietzsche zu verstehen. Zu viele alteingesessene Vorstellungen müssten
transformiert werden, innere Bilder, bis hin zu verkörperlichten
Reiz-Reaktionsmechanismen und Abwehrmechanismen. Dass das umso Gescheitere,
darin gleichzeitig umso klarere und Universellere, gleichzeitig aus der
zeitbezogenen und konkreteren Perspektive rückt, dass die Avantgarde sich von
ihrem Zeitalter entfremdet, ist eine ganz natürliche Wechselbeziehung. Theoretisch
besteht eine solche Möglichkeit vielleicht, dass einer wie Nietzsche verstanden
wird, praktisch kommt sie wohl kaum vor. Gleichzeitig hat Rohde das Nietzsche-Problem
aber auch erkannt (was wiederum aus heutiger Sicht vielleicht die größere und originellere
Leistung darstellt): Es lebe also die Universitätsluft und die guten
Einsichten, die man in ihr bekommt! Wer aber war Ludwig Richter? Das muss ich
jetzt nachsehen. Eventuell ein Bildungsphilister, der eine Autobiographie
geschrieben hat, weil er sich für so wichtig gehalten hat. So wie sich die
erste Unzeitgemäße von Nietzsche ja an der (wichtigtuerischen) Autobiographie
von David Strauß entzündet hat.
Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte, um in ihm eine Fülle innern Lebens – Gedanken-Erlebens, auszulösen. Er selbst hat einmal gesagt: „Es gibt zwei Arten des Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes, welches sich gern befruchten lässt und gebiert.“ (Jenseits von Gut und Böse 248) Zweifellos gehörte er der letzteren Art an. In Nietzsches geistiger Natur lag – ins Große gesteigert – etwas Weibliches; aber er ist darin in einem solchen Maß Genie, daß es fast gleichgültig erscheint, woher er die erste Anregung empfängt (…) Seine Ueberlegenheit bestand darin, daß er jedem Samenkorn, welches in sein Inneres fiel, entgegenbrachte, was er selbst als das Kennzeichen des echten Genies anführt: „den neuen, treibenden Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft.“ (Der Wanderer und sein Schatten 118.) (Lou Salomé S.70) Kreative Menschen sind in ihre Genderidentität immer wieder hybrid. Kreative Männer sind gemeinhin mitfühlender und intuitiver als ihre Brüder, kreative Frauen aggressiver und autonomer als ihre Schwestern. Und Nietzsche war in einem solche Maße Genie, dass eine große Weiblichkeit bei ihm geradezu zu erwarten ist. Seine Sanftmütigkeit, seine Umsicht und sein Mitleidenkönnen im Umgang mit anderen sind an ihm bekannt genug. Seine Basler Wohnung (die er gemeinsam mit Elisabeth bewohnt hat) war eingerichtet mit großen, weichen Fauteuils mit Blumenmuster-Überzügen, Vasen voller Blumen auf zerbrechlichen Tischchen, verschwommenen Aquarellen auf hellen Wänden, durch die Vorhänge drang rosiges Licht in das Zimmer. Sie vermittelte Besuchern den Eindruck, „bei einer lieben Freundin“ zu sein und nicht bei einem Basler Professor (Prideaux S.172). Entgegen zu seinen Idealen und Idolen von maßloser Härte und Stärke und Durchsetzungsfähigkeit war Nietzsche weiblich-harmlos. Darin mag ein Konfliktpotenzial gelegen haben, das sich dann eben auch in seiner späteren Misogynie entladen hat; um die betreffende Stelle bei Lou Salomé jetzt, glaube ich, zum dritten Mal zu zitieren: Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (Lou Salomé S.239) Insgesamt ist Nietzsches Philosophie nicht sonderlich weiblich (aber überhaupt auch nicht sonderlich menschlich – sondern eben übermenschlich). Wahnsinnig in Frauen vernarrt und ihnen tollkühn verliebt hinterher und ihren ästhetischen und charakterlichen Reizen zugetan war Nietzsche in seinem Leben nicht – in seinem lauwarmen Bedürfnis, Liebe zu nehmen und zu geben übrigens ähnlich den meisten Menschen. Er schätzte kluge und intelligente, selbstbewusste und unabhängige Frauen, dass er sich Frauen gegenüber jemals rüpelhaft oder herablassend verhalten hätte, ist unbekannt (von der Ausnahmesituation des Zerwürfnisses mit Lou abgesehen, wo er allerdings in seiner prompten Aggressivität in Intensität und Ausdruck – übelriechende Äffin mit falschen Brüsten – nicht zuletzt von seiner eifersüchtigen Schwester angestachelt wurde). In seinem Feldzug gegen alles „Schwache“ war das „schwache Geschlecht“ eventuell eine besondere Provokation für ihn, vor allem, wenn diese Schwäche von Frauen, als umgekehrter Ausdruck ihres Willens zur Macht, ja auch durchaus gewollt war. Immer wieder hat Nietzsche erlebt, dass die Ideale der Weiblichkeit, so wie alle anderen Ideale, in der Wirklichkeit selten auf etwas treffen, was ihnen entspricht. Nietzsche hat den Vater früh verloren und ist in einem Haushalt mit fünf Frauen, darunter zwei neurotischen Tanten aufgewachsen. Die Mutter ist im Großen und Ganzen gütig, aber in ihrer Gütigkeit beschränkt, kein Wesen, das seine Gütigkeit und seine Qualitäten insgesamt reflektieren und hinterfragen oder ändern kann; auf die Karriere ihres Sohnes will sie einerseits fördernd wirken und nur das Beste für ihn, andererseits ist er darin auch Objekt ihres verhaltenen narzisstischen Eigendünkels. Weniger Individuum als Verkörperung eines Typus, mag Nietzsche an sie gedacht haben, wenn er bei sich überlegte: Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Mit seiner Schwester Elisabeth hatte Nietzsche in seiner Kindheit und Jugend ein vertrauliches (manche munkeln auch: inzestuöses) Verhältnis. Elisabeths Tragödie war, dass sie einerseits zu intelligent und eigenständig für ihre soziale Umgebung war, dann aber auch nicht intelligent und eigenständig genug, um sich über diese Umgebung zu erheben. So wurde sie zu einem passiven Ressentiment-Menschen, der schließlich weder tragisch noch komisch war. Nietzsches mögliche Ehe mit Lou Salomé wollte sie vereiteln, selbst hat sie dann (wohl auch, weil sie lange unverheiratet geblieben war) einen chaotischen Antisemiten geheiratet, der gemeinsam mit seinem ebenso narzisstischen wie undurchdachten Unternehmen in Paraguay untergegangen ist – und Elisabeth beinahe mitgerissen hätte. Ihre antisemitischen Tendenzen hat sie nicht abgelegt, in Hitler zuletzt den leibhaftigen Übermenschen erblickt und ihm Nietzsches Spazierstock geschenkt. Den kranken Bruder hat sie gut gepflegt, allerdings auch Acht darauf gegeben, andere und wichtigere Personen aus Nietzsches Umkreis (wie Peter Gast) von der Deutungshoheit über sein Werk und seinen Nachlass auszuschließen. Früh hat sie von Mutter und Schule vermittelt bekommen, Intelligenz und Eigenständigkeit seien nichts für Mädchen, da die Rolle der Frau sich darauf beschränke, dem Gatten eine behagliche Gemahlin zu sein. Der Einzige, der immer wieder Anstrengungen unternommen hat, sie zu bilden und sie aus dieser Lethargie zu reißen, war eben ihr Bruder Friedrich, der damit zu seinem Leidwesen aber immer erfolglos geblieben ist. Trotz ihrer lebhaften Intelligenz hat sie sich früh in diese Passivität gefügt, und sich intellektuellen Anstrengungen stets verweigert, um sich in die Weiblichkeit in all ihrer mysteriösen Banalität und mädchenhaften Taktlosigkeit zurückzuziehen und oft zu betonen, dass sie „nur eine Dilettantin“ sei (Prideaux S.171) und so aller Verantwortlichkeit für ihr eigenes Tun auszuweichen: mit den „Waffen einer Frau“ also umso grobschlächtiger ihren exuberanten Willen zur Macht auszuleben. Cosima Wagner, im Grunde die einzige Frau, die ich (Nietzsche, Anm.) verehrt habe, hat sich nach dem Tod von Richard an die Brust von Houston Steward Chamberlain geworfen und Hitler in die bessere Gesellschaft eingeführt. Du gehst zum Weib? Vergiss die Peitsche nicht! Es ist schade, dass zwischen Nietzsche und Lou nichts geworden ist, aber dass bei allen Gemeinsamkeiten das Trennende zwischen Personen überwiegen kann, gehört zu den Tragiken des Lebens. Er betrachtete Lou schließlich – vielleicht aus Zorn darüber, dass sie nicht zu seiner Jüngerin geworden ist, vielleicht aber auch zu Recht – als Parasitin, für die das intellektuelle Streben kein authentisches, waghalsiges, gefährliches Unternehmen sei, für das man was riskiert, wie es das für Nietzsche war und wie er es selbst heroisch praktizierte, sondern eine Genüsslichkeit, die man konsumiert wie ein Bonbon, mit denen man sich dann füttern lässt bevorzugt von intellektuell authentisch strebenden und ringenden Männern, ohne sie dafür dann großartig zu renumerieren. Vor dem Zerwürfnis mit Lou (und gleichzeitig auch seiner Mutter und seiner Schwester) war bei Nietzsche keine großartige Frauenfeindlichkeit zum Vorschein gekommen – wenngleich in der Schwebe bleibt, ob z.B. seine Ausführungen zu Weib und Kind in Menschliches, Allzumenschliches eher vom Geist der Achtung oder der Verachtung getrieben sind – oder eben einfach nur, wie der Untertitel schon sagt, vom freien Geist (in etwa zur selben Zeit notiert er sich: Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einer und derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und der Verspottung sich befindet. (Nachlass Sommer 1876, 17(16))). Nach der Affäre mit Lou will er zum Weib nur mehr mit der Peitsche gehen, im Zarathustra und in Jenseits von Gut und Böse finden sich dann die bekannten frauenfeindlichen (allerdings insgesamt der Menschheit gegenüber eben nicht freundlichen) Äußerungen. Sie verschwinden dann großteils wieder. Zu den Frauen, die Nietzsche später im Leben, über seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug kennengelernt hat, gehörten Rosa von Schirnhofer und Meta von Salis-Marschlins, beide Feministinnen. Die Beziehungen blieben bei einer freundlichen Bekanntschaft, Lebenswege, die sich gekreuzt haben, insgesamt aber anderwertig verlaufen sind. Seinen boshaften „Weibs-Wahrheiten“ in Jenseits von Gut und Böse (231-239) stellt er voran, dass und wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind. Er will sie also nicht als etwas Allgemeingültiges betrachtet wissen. Und sie sind kein eigentliches Element seiner Philosophie.
Dort draußen, jenseits der Galaxien, im Raum wo die
urtümlichen Bewegungen stattfinden, schmeißt die Kelle, ächzend und gewaltig,
die Materie durch die Form. Das Gedicht muss werden! Noch liegt es am Boden.
Schlaff und kraftlos, es kann nicht für sich selbst stehen. Noch dazu ist die
Welt stärker als das Gedicht. Die Kelle wirft Materie durch die Form, in
fortwährenden Versuchen rotiert sie gegenläufig zur Form, die sich langsam
aufrichtet. Etwas Materie fällt durch die Form, vieles davon prallt an ihren
Begrenzungen ab. Die Materie des Ausdrucks wird durch die sprachliche Form
geworfen, fortwährend, ächzend mahlt diese Mühle. Das Gedicht richtet sich
langsam auf, erigiert sich, wächst über die Erde hinaus. Materie und Form
füllen sich gegenseitig langsam aus, umschließen sich. Schließlich fällt nichts
mehr daneben, die äußere Rotation ist beendet, der Erde enthoben stehen sie da,
augenlose Augen, stumm sprechende erstarrte Feuerzeichen, in sich
abgeschlossene und sich in sich selbst enthaltende Entitäten: die
Dionysos-Dithyramben. Das letzte von Nietzsche herausgegebene (wenngleich
teilweise schon vorher verfasste) Werk, und die letzten aller Gedichte. Die
Dionysos-Dithyramben sind stehende Zeichen des Absoluten. Sie sind unbesiegbar,
da sie reines Licht sind. Die Doppeltheit von Energie als Masse multipliziert
mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Sie können beliebige Formen und
beliebige Ausdrücke annehmen, denn beides ist eins geworden und kann, in dieser
Selbstidentität, in unendlichen Formen unendlich wiederkehren. Die
Dionysos-Dithyramben sind das Endprodukt und die endgültige Form des transzendenten
Geistes selbst. Form und Inhalt sind wechselseitig identisch, Apoll und
Dionysos spiegeln sich ineinander, amalgamieren sich und heben sich jeweils in
eine höhere Einheit auf – der Einheit nicht allein von Form und Inhalt sondern
auch von Ergebnis und Intention. Die Dionysos-Dithyramben sind keine bloß
radikale Konsequenz des Denkens und seiner möglichen Winkelzüge, wie Finnegan´s Wake oder die
Diabelli-Variationen, und sie stehen ein wenig höher und straffer auch als die
– stets ein wenig in sich selbst verbogen bleibende – späte und späteste Lyrik
Hölderlins. Sie sind das Jenseits im Diesseits. Nietzsche hat andere geistige
Zustände erreicht als selbst Rumi oder Hafis. – Freilich haben die
Dionysos-Dithyramben auch etwas statisches und starres, stationäres. Dieser
stationäre Zustand einer sich selbst reflektierenden und genießenden, sich
selbst durchspielenden Dynamik und Intensität ist wohl der göttliche Endzustand
von allem, was möglich ist, von allen Entitäten und Erscheinungen, die möglich
sind. Noch aber leben wir, und unser Geist wandert dann schon wieder weiter, zu
irgendetwas Banalerem, in seiner Geworfenheit in die Welt. Was hätte Nietzsche
gemacht, wenn er noch länger am Leben geblieben wäre? Ständig irgendwas Neues,
die endlose Bewegung und Transformation fortgesetzt? Oder wären seine
Transformationen die ewige Wiederkehr des Gleichen gewesen? Hätte er, der
Kriegerische, als altersweiser Starintellektueller vor dem Eintritt in den
Ersten Weltkrieg gewarnt, ja, wäre seine Autorität vielleicht so groß gewesen,
dass er, der Erd-Regierer, ihn verhindert hätte? Nicht zu schweigen von ihm als
Warner vor Faschismus und Nationalsozialismus und Antisemitismus? Hätte er in
der Weimarer Republik eine fröhliche Freisetzung von dionysischen kreativen
Energien erblickt, sowie dass die Demokratie ja gar nicht so schlecht ist, oder
wäre er, im Hinblick auf das kleinere Übel, eben umso mehr in den Faschismus
geflüchtet? Oder wäre er, in diesem nunmehr hochpolitischen Zeitalter umso
unpolitischer geblieben? Wäre er, wie in dem fiktiven Und Nietzsche weinte, auf Freud getroffen und von seinen Neurosen
geheilt worden? Was hätte er von der Avantgardekunst gehalten und allgemein von
den kreativen Explosionen in Wissenschaft und Kunst und Kultur im eingehenden
zwanzigsten Jahrhundert? Die Bereicherung der Welt durch Nietzsche ist kaum
ermessbar, der mögliche Verlust, den sie durch seinen lebensunzeitgemäßen Tod
erlitten hat, ist vielleicht aber noch schwerwiegender. Aber ist dann sein Werk
Torso ohne logisches Finale geblieben, ein nach dem vierten Akt von Zarathustra
unterbrochenes Drama? Oder hat Zarathustras Adler es geschafft, letztlich zu
landen? Vielleicht hat Nietzsche ab 1887 deswegen eine besonders exzessive
Produktivität an den Tag gelegt, weil er geahnt hat, dass ihm nicht mehr viel
Zeit bleiben möge. Denn trotz des ständig offenen Charakters seines Werkes und seines
Philosophierens haben die letzten Schriften dann scheinbar auch was
Abschließendes. Plötzlich schließt er die Akte zum Fall Wagner und zum/seinem „Musikanten-Problem“, er stürzt Götzen und philosophiert über die
Philosophie mit dem Hammer, und bleibt dankbar gegenüber den Alten. Im
Anschluss bereits an den Zarathustra
hätte er mit Der Wille zur Macht ein
großes systematisch-darstellendes Werk über seine Philosophie verfassen wollen,
nicht zuletzt mit dem Fortschreiten seines Denkens verlief diese Intention dann
aber im Sande. Stattdessen plante er zuletzt als großangelegtes, systematisches
Werk in diesem Sinne das mehrbändige Die
Umwertung der Werte, von dem Der
Antichrist als der erste Teil gedacht gewesen war. Und Ecce homo als darauf vorbereitenden autobiographischen Abriss, mit
dem er sich selbst, einerseits pompös, andererseits bescheiden und wenig
voluminös (vgl. die ausladenden und geschwätzigen Autobiographien von anderen),
dem breiteren Publikum vorstellen wollte. Zuletzt hat er dann aber auch den
Plan zur Umwertung der Werte
verworfen, und stattdessen Der Antichrist
und Ecce homo als zusammengehörige
Werke, als Dyade betrachtet. Seine endgültige, abrechnende Überwindung seiner
Herkunft als Pastorensohn aus bigottem Hause (gleichsam stellvertretend für das
Erden-Gefängnis an sich, in das jeder geworfen wird und von dem er „gemacht“
wird), und der abschließende Rückblick auf sein Leben als Dokument einer
Selbsterschaffung, einer Gottwerdung, einer Einswerdung mit dem „Schicksal“? Dann
die abschließende Herausgabe der Dionysos-Dithyramben: ewige leuchtende
Feuerzeichen der Intensität in der Höhe, wo Apoll und Dionysos schließlich
ineinander verschmelzen, eine statuarisch gewordene Dynamik, augenlose riesige
Augen, die, indem sie in sich selbst blicken, in die Welt blicken, durch Brand
unzerstörbare Formen des verzehrenden Brennens, ein mächtiger, zuletzt sogar
der absolut triumphierende Schild gegen das Nichts… in ihrer transzendenten
Selbstidentität an und für sich nicht bloß das angestrengte Ja-Sagen des
Übermenschen, sondern der transzendente Sieg über die ewige Wiederkehr des Gleichen,
indem sie keinem äußeren Wandel mehr unterworfen sind, sondern nur mehr
fortwährender innerer Wandel sind… Also sprach Zarathustra dann zum letzten Mal
—
Höchstes Gestirn des
Seins!
Ewiger Bildwerke Tafel!
Du kommst zu mir? –
Was keiner erschaut
hat,
deine stumme Schönheit
–
wie? Sie flieht vor
meinen Blicken nicht? –
Schild der
Notwendigkeit!
Ewiger Bildwerke Tafel!
– aber du weißt es ja:
was alle hassen,
was allein ich liebe:
– daß du ewig bist!
daß du notwendig bist!
–
meine Liebe entzündet
sich ewig nur an der
Notwendigkeit.
Schild der
Notwendigkeit!
Höchstes Gestirn des
Seins!
– das kein Wunsch erreicht,
– das kein Nein befleckt,
ewiges Ja des Seins,
ewig bin ich dein Ja:
denn ich liebe dich,
oh Ewigkeit! —
Tönnies über Nietzsche, ob seine Wahrheitsliebe, Ruhmgier
oder Zerstörungslust größer sei. – Keines davon, sondern eine Verwechslung,
dämonischer Art, von sich selbst mit dem bevor er beständig kniet. Dies ist es,
was immer, auch in den zerstörendsten Wahrheitstendenzen, Höhen um ihn aufbaut,
und auch, was den unheimlichsten Abgrund in seiner Natur aufreißt. Dies Gemisch
von Wahrheitsdrang und Ruhmgier, Begeisterung und Eitelkeit, richtet sich als
Zerstörungswut gegen alles, was außerhalb dieses dämonischen Kreises steht.
Gewiß ist Nietzsche einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten
Menschen, die gelebt haben. Unerwartet, aus dem Dunkel wirkend, so daß man fast
fühlt, es müsse selbst aus dem verborgenen Dunkel der Irrenzelle sein Geist
noch einmal mit seinem Werk herausspähen, sei es auch in einer gigantischen
Fratze. (Vorwort zu
Lou Salomé S. 20, Tagebucheintrag zu einem Brief an Ferdinand Tönnies)
Nietzsche ist einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten Menschen, die
je gelebt haben. Dass solche Menschen erst
posthum geboren werden mögen, liegt in der Natur der Sache. Ihre
Einsamkeit ist die des Langstreckenläufers. Gescheitert ist Nietzsche nicht
(notwendigerweise) im Leben, sondern an seiner Krankheit, als einer heterogenen
Macht, die ihn zu früh aus dem Leben gerissen hat. Was wäre aus ihm geworden,
wenn er länger gelebt hätte? Hätten sich die Nebel in ihm und zwischen ihm und
der Welt gelichtet, oder wäre er immer mehr und immer tiefer im Nebel verschwunden,
wo kaum ein Mensch ihm mehr nach kann, so wie der spätere Einstein,
Wittgenstein oder Gödel? Wäre er Wanderer geblieben – und dessen irritierender
Schatten? Als Wanderer sind wir ihm dankbar für die steilen Wege, die er
erklommen hatte, und die er dennoch umso fester und sicherer unter sich fühlte.
Wir sind ihm dafür dankbar, dass er uns unsere eigenen Schatten, und die
Schatten unserer Kultur aufzeigt, und uns hilft, sie auszuleuchten. Wir sind
ihm dankbar, für den Reichtum, für die Schätze, die er aus dem Schatten des
Unbekannten holt, mehr noch aber dafür, dass die Welt, und die Welt in uns,
diese Reichtümer enthalten, diese Reichtümer sind. Wenn er uns was
lehrt, dann, dass die Welt tief ist, und tiefer als der Tag gedacht. Wie
Hölderlin verlangt er nach einer intensiveren Erfahrung der Wirklichkeit;
Kultur ist für ihn eine Anstrengung gegen die Gleichgültigkeit der
Wirklichkeit; er will der Gleichgültigkeit der Wirklichkeit etwas
entgegensetzen. Dass er darin aristokratisch ist, ist würdig und recht, denn: Für
drei gute Dinge in der Kunst haben „Massen“ niemals Sinn gehabt, für
Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum –: um
nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden. (zitiert in
Heidegger: Nietzsche 1 S.124) Hölderlin hat er, wie Kleist, deutlich
früher als seine Umgebung verstanden und geliebt; er liebt die ungewöhnlichen
Menschen, die Grenzgänger, und setzt ihnen Orientierungshilfen, wie sie sich
über sich selbst orientieren können (Dritte Unzeitgemäße Betrachtung)
und wie sie sich gegen die Gesellschaft orientieren können (Erste
Unzeitgemäße Betrachtung) – beziehungsweise ist sein ganzes Werk gerade
eben dem gewidmet. Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will
und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden)
Die Kultur ist nicht nur das, was den Menschen über die Natur erhebt, sondern
was den Menschen über den Menschen erhebt. Aufgrund seines extrem hohen
Niveaus, weil er im Dachgeschoß des Denkens haust, ruft er aus eisigen, klaren
Höhen herab, und lehrt uns den Übermenschen. Denn dass der Mensch was
ist, was überwunden werden soll, darauf kann man sich wohl schon
einigen. Jeder Mensch ist dabei in eine Lebenskämpfe geworfen, sie zu
überwinden oder zu befrieden ist das Telos des Menschen, von jedem von uns: und
jedem spricht er Mut zu und erteilt Ratschläge über Ratschläge, er spricht zu
uns allen, und er spricht ganz konkret zum Einzelnen, der naturgemäß auch der
erste ist, vielleicht sogar der einzige, der sich um sich selbst bekümmert …
was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Menschheit. – Man muß der Menschheit
überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele – durch Verachtung (Der
Antichrist, Vorwort). Es ist, wie Jaspers sagt, der Kampf von Substanz
gegen Nichtigkeit, den er führt (Jaspers S.446), er exerziert ein
„schaffendes Denken“ (ebenda S.278); bei all der Verneinung bleibt eine
kraftvolle, bejahende Stimmung (ebenda S.253). Es bleibt das Denken, das
Hinterfragen, das Schaffen und Aufstellen und Umwerfen, wenn es sich als falsch
erweist, an sich. Es bleibt, es ist, was Nietzsche tut, die Philosophie
an sich. Der Zweck von Philosophie ist es, laut Jaspers (und wie man es auch
von der Kunst einfordern kann), Transzendenz anzustreben, Lebensmöglichkeiten
hinter den vorhandenen Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Nietzsche hat sich
daran gehalten, und wer das tut, begibt sich wahrscheinlich auf eine
gefahrenvolle Reise und entfremdet sich, einerseits indem er in der Zukunft
sucht und gleichzeitig im vornehmlich ewig schon Vorhandenen, ins Unzeitgemäße.
Und Nietzsche hat den Bogen dabei sehr weit gespannt: Das Seiende soll in
das Offene des Seins selbst und das Sein soll in das Offene seines Wesens
gebracht werden. Die Offenheit von Seiendem nennen wir die Unverborgenheit:
Wahrheit. (Heidegger: Nietzsche 1 S.64) Nietzsche war für Heidegger
einer der größten Denker, weil er das Seiende und seinen Charakter ins
Offene bringen wollte, um Wahrheiten über das Seiende auszusagen, die von einer
herkömmlichen Intelligenz nicht ergriffen werden können, sondern die eine
totale Intelligenz erfordern. Derjenige ist dann Metaphysiker. Metaphysik
ist die Wahrheit über das Seiende als solches im Ganzen. (Heidegger: Nietzsche
2 S.171) Nietzsche übertrifft Heidegger, der immer wieder als der größte
Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen wird, indem er auch noch die
Philosophie und Metaphysik selbst in sein Umwälzungs- und Umwertungswerk
miteinbezieht, über sie mit dem Hammer philosophiert. Er, der Meta-Philosoph.
Der Meta-Philosoph steht jenseits der Philosophie und jenseits der empirischen
Welt. Wenn man ihn nicht versteht, wieso soll es seine Schuld sein? Die Welt
ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, und der Meta-Philosoph lehrt
uns gerade das. Die empirische Welt ist zutiefst gespalten, in einen
komischen und in einen tragischen Pol (dazwischen klafft gähnend die
Mittelmäßigkeit). Der Meta-Philosoph will die Gespaltenheit der Welt unter sich
lassen. Wieso soll er nicht formulieren einen „Pessimismus der Stärke“ (Versuch
einer Selbstkritik 1 zu Die Geburt der Tragödie)? Wenn er sich
dieser neurotischen Gespaltenheit der Welt aussetzt und hingibt, ohne Teile von
sich und der Welt zu verlieren, wieso soll das dann nicht ergeben eine „Neurose
der Gesundheit“ (ebenda 4)? Was ist an Nietzsche überhaupt schlimm? Was ist
negativ? Wie eitel und ruhmgierig Nietzsche tatsächlich war, oder wie weit er,
in seiner Begeisterung, vor was „kniet“ (wo er doch, im vornehmlichen Gegensatz
zu den meisten Schöngeistern, die schönen Dinge tatsächlich und ganz
authentisch, und so wie es ihnen gebührt, liebt), nicht einmal das ist
überhaupt klar. In dem, was er sich zu Bewusstsein hat bringen können von sich
selbst, war er das offensichtlich nicht – in dem, was ihm davon verborgen
geblieben war, hat er sich aber offenbar umso lauter durch seine Sprache, seine
Philosophie und seinen Pathos artikuliert. Fast jeder liebt heute Nietzsche, so
wie ihn früher fast keiner geliebt hat. Nietzsche wurde harmonisiert. Aufgrund
seiner äußerst imposanten Erscheinung und seines tiefen Nachdenkens über so
viele Dinge mag man – zumindest als intelligenter und sympathetischer Mensch –
geneigt sind, bei Nietzsche Einsichten zu vermuten, die so tief und gründlich
sind, dass man als gewöhnlicher Sterblicher nicht in der Lage sein kann, sie
angemessen zu verstehen, oder aber dass man auf seinem eigenen Denk- und
Lebensweg noch nicht tief oder hoch genug gestiegen, um das tun zu können. Was
aber, wenn viele von Nietzsches Positionen sich am besten so erklären lassen,
dass sie nicht besonders durchdacht sind, sie deswegen von ihm nicht angemessen
erklärt und verdeutlicht werden, weil sie dumm, genauer gesagt: neurotisch sind
und daher in ihrem Kern für Nietzsche selbst gar nicht zugänglich? Tatsächlich
klafft in Nietzsche ein tiefer Abgrund, bei aller kraftvollen Pathetik gibt es
Rechnungen, die nicht aufgehen – und die das Dasein so gar nicht
notwendigerweise stellt. Er stellt es sich wohl immer so vor, dass er über den
Abgrund wandelt, weil er ihn in sich selbst spürt. Das Eis ist nahe, die
Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Licht liegen! wie frei
man atmet! wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher
verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge –
das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein (…) Wieviel Wahrheit
erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? (…) Jede Errungenschaft, jeder
Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich,
aus der Sauberkeit gegen sich… (Ecce homo, Vorwort 3) (Ha, wenn der
wüsste, wie ich in Wirklichkeit aussehe, verschissen, verkotzt und
Spermakrusten überall, ich glaube dann wäre er ruiniert!) Ich aber lehre euch:
Wahrheiten und Widersprüche auszuhalten ist gar nicht schwer, wenn man kein
nennenswertes „Ego“ hat. Ich brauche mich dann nicht pathetisch zu nehmen. Wer
aber traut sich, gegen Zarathustra in den Ring zu steigen? Wer kann so gut
dichten und denken, wer hat so viele Erfahrungen, und so viele leidvolle
Erfahrungen verarbeitet, dass er sagen könnte: In Zarathustras Höhlen und Höhen
finde ich mich zurecht?! „Wer mit 40 Jahren nicht Misanthrop ist, der hat
die Menschen nie geliebt“, pflegte Chamfort zu sagen. (Nachlass Herbst
1881, 15(71)) Wer traut sich, über Zarathustras Misanthropie so einfach zu
richten? Hat er mit seinen 80 Jahren immer noch nicht erlebt, was Nietzsche mit
40 erlebt hat? Oder hat er die Menschen, wie es ganz wahrscheinlich ist, nie
wirklich geliebt? Ich bin jetzt in etwa so alt wie Nietzsche bei seinem
geistigen Zusammenbruch. Zwischen meinem Leben und dem seinen gibt es
Ähnlichkeiten. Während die seitherigen Philosophen und Nietzsche-Deuter ihm
hinsichtlich Geist und Seelenumfang unterlegen waren, bin ich ihm an Geist nicht
unterlegen und an Seelenumfang wohl eher überlegen: ich habe keine Angst vor
den Armen und nicht vor Dissonanz in der Musik, meine Bücher werden gar nicht
erst verlegt, zum Bildungsphilister bin ich vielleicht ein noch größerer
Antitypus etc. Ich weiß, im Gegensatz zu Nietzsche, was der Übermensch ist und
warte nicht, wie Zarathustra, ewig auf ihn. Dass ich aber, in meiner
kleinmütigen Bescheidenheit, überhaupt jemals auf den Übermenschen gekommen
wäre, so wie Nietzsche, glaube ich nicht. Auf wie viel wäre ich überhaupt
gekommen ohne Nietzsche, wie viel verdanke ich dem Alten? Nietzsche war für
mich, seitdem ich angefangen habe, mich mit Philosophie zu beschäftigen, der
wichtigste Philosoph, an und für sich die wichtigste, prägendste Einzelgestalt
für mich überhaupt. Denn er lehrt einem das Philosophieren, und nicht nur das
Philosophieren: das Leben. Er lehrt einem, Innenräume und Außenräume zu
durchmessen, genau gesagt, den Innenraum und den Außenraum. Er
ist der Raum selbst. Heil dem, der der Raum selbst ist! Wenn ich was lehre,
dann aber den Raum selbst. Mein Raum ist kein dionysischer Abgrund, und kein
Chaos, dort wo er am tiefsten ist. An der tiefsten Stelle des Raumes hat man
den Chaosmos und das Kreuz, aus dem DAS GESETZ entspringt. Der Machtkreis der
vollendeten Subjektivität ist ein Empathiekreis, wo Subjektivität und
Objektivität ineinander übergehen. Die Steigerungsdynamik der Ich-Werdung bei
Nietzsche muss mit der absenkenden Dynamik der Welt-Werdung bei Schopenhauer
einhergehen. Das ist der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring, der jenseits
der ewigen Wiederkunft ist.
Nietzsche hat einmal
das paradoxe Wort ausgesprochen: „Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit
gutem Gewissen“ (Fröhliche Wissenschaft, 200). Eine solche überlegene
Schadenfreude, die des eigenen Schadens froh zu werden, ja, ihn sich selbst
zuzufügen imstande ist, geht als ein heroischer Selbstwiderspruch und ein
heroisches Lachen durch Nietzsches gesamtes Leben und Leiden. In der gewaltigen
Seelenkraft aber, durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen
vermochte, lag, psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung,
sich als mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn
und Werth seiner Werke.
Denn auch uns tönt ein
erschütternder Doppelklang aus seinem Lachen entgegen: das Gelächter des
Irrenden – und das Lächeln des Überwinders. (Lou Salomé S.296)
Es missfällt mir ein wenig, meine Hommage an Friedrich
Nietzsche ausgerechnet mit den Schlussworten seiner Erzfeindin zu beenden –
auch wenn er sich vielleicht wieder mit ihr versöhnt hätte, oder jetzt, im
Kontinuum, vielleicht versöhnt mit ihr lebt. Wir antworten uns aber,
glücklicherweise, immer wieder über Echos und Ähnlichkeiten, Referenzen und
Assoziationen. In diesem Sinn mag es vielleicht dazu herausschallen
Da, plötzlich,
Freundin! Wurde eins zu zwei –
– Und Zarathustra ging an mir vorbei…
15. September – 15. Oktober 2020
*
In seinen zu Lebzeiten publizierten Werken hat Nietzsche die
Absätze und Aphorismen dankenswerterweise nummeriert, so dass man, unabhängig
von der jeweiligen Ausgabe, darüber aus ihnen zitieren kann.
Den Verweisen aus dem Nachlass liegt die von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari editierte Kritische Studienausgabe, erschienen bei de
Gruyter, zugrunde.
Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken,
Frankfurt/Main, Insel 1994
Martin Heidegger: Nietzsche 1. Band/Gesamtausgabe Band 6.1,
Frankfurt/Main 1996
Martin Heidegger: Nietzsche 2. Band/Gesamtausgabe Band 6.2,
Frankfurt/Main 1997
Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines
Philosophierens. Berlin, Walter de Gruyter & Co 19520
Osho (Bhagwan): Zarathustra – Ein Gott der tanzen kann,
Zürich, Osho International Foundation 1994
Sue Prideaux: Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche,
Stuttgart, Klett-Cotta 2020
Rüdiger Safranski: Nietzsche: Biographie seines Denkens, Frankfurt/Main, Fischer 2002