Jedes Ding hat zwei Aspekte: den gewöhnlichen Aspekt, den wir fast immer sehen und den jedermann sieht, und den geisterhaften und metaphysischen, den nur seltene Individuen sehen mögen in Momenten der Hellsichtigkeit und metaphysischer Abstraktion. Ein Kunstwerk muss etwas erzählen, was nicht in seiner äußeren Gestalt erscheint … Wir konstruieren durch Malerei eine neue metaphysische Psychologie der Dinge. Das absolute Bewusstsein des Raumes, den ein Gegenstand in einem Bild einnehmen muss, und des Raumes, der die Gegenstände untereinander trennt, stabilisiert eine neue Astronomie der durch das starre Gesetz der Schwerkraft an unseren Planeten gefesselten Dinge … Vor allem ist ein großes Feingefühl nötig. Sich alles auf der Welt als Rätsel vorstellen, nicht nur die großen Fragen, die man sich immer wieder gestellt hat – warum die Welt erschaffen wurde, warum wir geboren werden, leben und sterben -, denn vielleicht liegt in all dem, wie ich schon gesagt habe, kein Sinn. Aber das Rätsel mancher Dinge verstehen, die im Allgemeinen als belanglos betrachtet werden … In erster Linie ist es nötig, die Kunst von allem freizumachen, was sie bis jetzt an Bekanntem enthält, jedes Sujet, jede Idee, jeder Gedanke, jedes Symbol muss beiseitegeschoben werden … Den Mut haben, auf alles andere zu verzichten. So wird der Künstler der Zukunft sein; einer, der jeden Tag auf etwas verzichtet; dessen Persönlichkeit jeden Tag reiner und unschuldiger wird … So muss die Malerei der Zukunft sein. Dass mehrere Menschen auf dieser Welt so malen können, ist unmöglich.
Giorgio de Chirico
Giorgio de Chirico hat (im Alter von 23 Jahren) gemeint, große Anstrengungen seien nötig zu unternehmen, um Künstler zu werden, um zum Metaphysischen vorzudringen, denn: Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit, so Nietzsche (mit Bezug auf Schopenhauer und von dem blutjungen de Chirico zum Vorbild genommen). Metaphysik interessiert sich dafür, zu einem tieferen, „eigentlicheren“ Wesen der Dinge vorzudringen, ein tieferes, „eigentlicheres“ Wesen der Dinge freizulegen. Das will auch (zumindest) die neuzeitliche Kunst; mit zunehmender Intensivierung und Verbesserung des metaphysischen und wissenschaftlichen Wissens, des Selbstbewusstseins des neuzeitlichen Menschen und der Methoden, in die Materie einzudringen, wie diese Methoden dann selbst wieder zu hinterfragen (Epistemologie) wollte das mit dem höchsten Intensitätsgrad die moderne Kunst. Sie hat große Anstregungen unternommen, ja, war ein Rahmen um Anstrengungen metaphysischer Art, zu einem tieferen Kern und Wesen der Dinge vorzudringen und so einen höheren epistemologischen und moralischen Standpunkt für den Menschen zu schaffen, zu unternehmen. Alles andere, geringere Anstrengungen zu unternehmen als eben solche, schien banal und lächerlich. Heute ist das nicht mehr so. Seit in etwa den 1970er Jahren steht die bildende Kunst mehr oder weniger unter dem Spirit der Transavantgarde.
„Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht“. Das ist nicht Mystizismus von mir, sondern das ist unser heiligstes Lebensgefühl. Es ist einfach töricht, von solchen Menschen (wie Kandinsky) zu sagen, dass ihre Kunst „nur um einiger weniger krankhafter Mäzene willen, die so einen Kitzel bezahlen“, geschaffen wurde (…) Man begreift, dass es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, dass die Erneuerung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens. Die Mystik erwache in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst (…) Jene abstrakte reine Linie des Denkens, nach der ich immer gesucht habe und die ich auch immer im Geist durch die Dinge hindurch gezogen habe; es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem Leben zu verknoten – wenigstens nie mit dem menschlichen Leben, ( – darum kann ich keine Menschen malen).
Franz Marc
Die abstrakte reine Linie des Denkens führt über das bloße Leben, über den bloßen Menschen hinaus. Es ist schwierig, die abstrakte reine Linie des Denkens zu denken und sie sich zu vergegenwärtigen, da sie eben rein und abstrakt ist und nicht im lebensweltlichen Raum verläuft. Allerdings wurde diese abstrakte reine Linie des Denkens in der modernen Kunst sichtbar gemacht, aufgezeigt, über die Frakturen und Nuancen, die sie schafft, über die Tableaus und Plateaus, die sie errichtet, über das, mit was sie den Betrachter konfrontiert etc. Der Spirit der modernen Kunst und der Avantgarde war eben das Verfolgen der abstrakten reinen Linie des Denkens. Sinn und Intention dieses Denkens war natürlich immer, sich mit dem Leben zu verknoten. Dass das trotz aller Anstrengung nicht gelungen ist, zumindest nicht im gedachten Sinn, trug dazu bei, das Fundament der avantgardistischen Intention auszuhöhlen. Der Sinn von Kunst und der Sinn von der abstrakten reinen Linie des Denkens ist aber gar nicht, sich „mit dem Leben zu verknoten“; der Sinn von Denken und Kunst ist Vorstoßen zur Transzendenz. Die Anforderungen der Transzendenz stellen sich immer wieder neu. Transzendenz ist dabei aber etwas, was im Leben und im Menschen vorhanden ist – denn der Mensch ist ein transzendentes Wesen, wie man sagt. Transzendenz ist etwas ganz Lebensweltliches. Transzendenz und Immanenz des Menschen und des Lebens treffen sich und verknoten sich in einer Dimension, die nicht unmittelbar sichtbar ist. Die Vollendung in der Kunst ist es, dieses Zusammentreffen eben sicht- und verstehbar zu machen. Die Kunstwerke (unter anderem) sind sichtbare Zeugnisse und Emanationen aus dieser Dimension. Heute ist die Kunst als Fenster in diese Dimension weitgehend geschlossen.
Ohne die Dichter und Künstler würden die höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, rasch verfallen, die Ordnung, die in der Natur erscheint und die nur das Ergebnis der Kunst ist, würde verschwinden. Alles würde ins Chaos versinken … Die Dichter und Künstler determinieren im Wettstreit die Gestalt ihrer Epoche, und gelehrig richtet sich die Zukunft nach ihren Weisungen.
Guillaume Apollinaire
Auf ihrer höchsten Stufe versucht die Kunst, die Situation des Menschen im Universum und den „bewussten Zusammenhang des Menschen mit dem Weltganzen“ auszudrücken (ähnlich zur Metaphysik, die ihn auszusagen versucht). Die „Situation des Menschen im Universum“ wurde im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Technik radikal verändert. Mit dem tatsächlichen Vordringen des Menschen in das Universum, mit seiner Landung auf dem Mond, stürzt das erhabene Raumschiff der großen Kunst scheinbar beinahe zeitgleich auf die Erde und liegt dort zertrümmert, oder aber ist zumindest nunmehr ein bescheideneres und weniger futuristisches Habitat. Mit Heidegger gesprochen, ist die Funktion von Kunst (nach dem Verlust der dementsprechenden Verbindlichkeit, die Religion für sich beanspruchen kann) die Schaffung eines „Zeit-Raums“, also eines integralen Selbstverstädnisses von einem Raum in der Zeit. Dies wird nunmehr von der Technik erledigt, ungleich mächtiger und ungleich die Lebensqualität verbessernder. Aus der Kunst ist die Luft gleichsam folgerichtig so draußen, wie sie aus der Religion draußen ist, entgegen ihrer avantgardistischen Intention gibt sie eventuell noch einen matten Kommentar zum Zeitgeschehen ab und fokussiert sich nunmehr vorwiegend auf ihr eigenes Publikum und ihre eigenen Regelkreise. Allerdings: die höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, verflüchtigen sich damit tatsächlich. Nur weil die Technik die besten Ideen hat, heißt das nicht, dass sie auch die höchsten Ideen einschließt (wenngleich das natürlich nicht unmöglich ist). Die höchsten Ideen, die der Mensch haben kann, sind mit der seelischen Transzendenz des Menschen verbunden, verweisen auf den Übermenschen. Und Kunst sei das Medium, wo der Mensch über sich hinaus weise, Übermensch werde: das sei der Kunst Privileg (wenngleich die Gen- und Computertechnik in zwei, drei Generationen womöglich den „Übermenschen“ einfach achselzuckend tatsächlich hinstellen mag – wir sollten uns aber eben gegen diese Degradierung wehren).
Wenn man das Unsichtbare begreifen will, muss man so tief wie möglich ins Sichtbare eindringen. – Mein Ziel ist immer, das Unsichtbare sichtbar zu machen durch die Wirklichkeit. Es klingt vielleicht paradox, aber es ist tatsächlich die Wirklichkeit, die das Geheimnis unseres Daseins bildet … Meiner Meinung nach sind alle wesentlichen Dinge in der Kunst seit Ur in Chaldäa, seit Tel Halaf und Kreta immer aus dem tiefsten Empfinden für das Mysterium unseres Daseins entsprungen. – Das Ich ist das große verschleierte Mysterium des Daseins … Ich glaube an dieses Ich und seine ewige unveränderliche Form … Darum bin ich so versunken in das Problem des Individuums und versuche auf alle Weise, es zu erklären und darzustellen.
Max Beckmann
„Die meisten Leute sind andere Leute“, sagte Oscar Wilde, und meinte damit: die meisten Leute werden durch Gehalte ihrer Umwelt definiert. Wenngleich die meisten Leute sehr eitel sind, haben die wenigsten davon ein eigentliches „Selbst“ und ein Bewusstsein für das eigene Selbst und ihre Individualität, sprach also Zarathustra/Nietzsche. Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, dem Individuum, das aus der traditionell-feudalistischen oder modern-vermassten Gesellschaft heraustreten will – mit all den schönen utopistischen Hoffnungen, welche Potenziale damit freigesetzt werden mögen –, der Kampf darum, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen und „Kunst und Leben zu verbinden“ war, sagen wir, zwischen 1850 und 1950 (oder 1875 und 1975) in der Kunst prominent. Heute ist jeder Künstler. Deswegen ist er aber noch kein Individuum und kein Selbst. Paradoxerweise haben es die Künstler und hat es die Kunst auch aufgegeben, ein starkes Selbst zu entwickeln und zu transportieren. Eine postmodern-selbstironische Subjektivität, die sich zurücknimmt, hat zwar was Sympathisches und kann ein gutes Korrektiv sein, aber eben auch, und vor allem, etwas Defätistisches und kann ein gutes Faulbett sein. Wer ist versunken in das Problem des Individuums als dem großen verschleierten Mysterium des Daseins und versucht auf alle Weise, es zu lüften? Kunst soll doch sein, wo der Mensch auf den Übermenschen trifft!
Hervorragende Kunstwerke zu machen ist für gewöhnlich eine beschwerliche Arbeit. Doch im Modernismus wurde nicht nur das Herstellen, sondern vor allem das Betrachten von Kunst noch anstrengender, musste man sich die Befriedigung und die Freude, die die beste neue Kunst vermitteln kann, mühsam erringen. In den letzten mehr als einhundertfünfunddreißig Jahren waren die beste neue Malerei und die beste neue Skulptur (und die beste neue Dichtung) zu ihrer Zeit für den Kunstliebhaber eine Herausforderung und eine Prüfung, wie sie es früher nicht gewesen waren. Doch gibt es den Drang sich auszuruhen, wie es ihn immer gegeben hat. Er ist eine permanente Bedrohung der Qualitätsmaßstäbe. Dass dieser Drang auszuruhen sich in immer anderer Weise ausdrückt, bezeugt nur seine Dauerhaftigkeit. Das Gerede von der „Postmoderne“ ist eine weitere Ausducksform dieses Dranges. Und es ist vor allem eine Art, sich dafür zu rechtfertigen, dass man weniger anspruchsvolle Kunst bevorzugt, ohne deswegen reaktionär oder zurückgeblieben genannt zu werden (was die schlimmste Befürchtung der neumodischen Philister der Avantgarde ist).
Clement Greenberg, Modern und Postmodern, 1980
Dass der Mensch auf den Übermenschen trifft, erfordert große metaphysische Anstrengungen. Leute wie de Chirico wollten sich dieser Anstrengung bewusst unterziehen, wer aber will das sonst? Was man in den o.g. Zitaten hat, sind tief denkende und empfindende Menschen (Beckmann, Apollinaire, Marc), und viele andere, darunter eventuell noch tiefere, wurden gar nicht genannt. Dieses tiefe Denken und Empfinden ist allerdings unter den Künstler(innen) der Moderne ganz allgemein und verbreitet. Ebenso, wie es heute offenbar weit verbreitet fehlt. Es waren wunderliche und seltsame Leute, die sich in einer luftigen Sprache ausdrückten und luftigen Idealen nachjagten – der Sprache der Intelligenz und der Kreativität (und der Spiritualität) halt allerdings. Der Künstler galt als Sonderling. Heute hat man ein solches Bild vom Künstler als antibürgerlichem Sonderling nicht mehr. Es hat sich verflüchtigt. Große Proklamationen und Manifeste und theoretische Schriften finden sich auch nicht mehr so ganz. Wenn man angesagte Künstler sprechen hört, hat man eine Idee, warum ihre Kunst immer wieder so dumm ist. Sie ist eben, dahingehend, „Selbstausdruck“. Angeblich steigt in jeder Generation der durchschnittliche Intelligenzquotient („Flynn-Effekt“), unabhängig davon würde man einen gewissen Grundstock von sehr intelligenten und kreativen Individuen zu jeder Zeit vermuten. Aus irgendeinem gespenstischen Grund scheint das in der Kunst der Gegenwart nicht der Fall zu sein, nicht in Erscheinung zu treten. Und dieser gespenstische Grund scheint mir, vielmehr, auch der zu sein, wo der Hund wirklich begraben liegt (und nicht in sozialen und historischen Entwicklungen). Große, interessante, aufregende Zeiten kommen zumeist in Raum und Zeit geclustert vor. Neben objektiven sozialen und historischen Bedingungen ist das Zusammentreffen von Individuen Ausschlag gebend. Eine „Goethezeit“ gibt es (im Gegensatz zu einer „Shakespearezeit“), weil Geothe der eminenteste unter allerhand eminenten Geistern seiner Zeit und in seiner Umgebung gewesen ist. Man hat sich an die marxistische Vorstellung gewöhnt, dass entsprechende Zeiten entsprechende Individuen produzieren, das „Sein das Bewusstsein bestimmt“ u.Ä., und in der Tat fällt es auch schwer, das anders zu denken – allerdings, weil das Gegenteil ja eben auch schwer festzustellen ist. Zeiten, die reif wären, aber nicht zur Reife gelangen, weil die epochenmachenden Individuen fehlen. Vielleicht ist aber sogar das der regelmäßigere Fall. Sagen wir, dass eine Zeit zur Reife kommt: im Hinblick darauf gibt es verstärkende und abschwächende Tendenzen, und der jeweilige Mix ist durchaus zufälliger, als man vielleicht glaubt. Heute kommen dann eben scheinbar zu viele abschwächende Tendenzen zusammen, die ihre gespenstische Sogkraft nach unten ausüben. Das kann schon mal sein. Das ist so aufgrund des Chaosmos, des kosmischen Zusammenspiels von Zufall und Ordnung. Die Idee vom Chaosmos ist ja eben das Zentrum meiner Philosophie und Metaphysik; soweit ich feststellen kann, ist sie sogar grundlegender als alle Metaphysik und Philosophie: denn der Chaosmos ist die Welt an sich.
Ich will Ihnen etwas entdecken, und sie werden es in ihrem Leben vielleicht bestätigt finden: alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung.
Goethe zu Eckermann
Kunst ist, beliebt man zu sagen, Selbstausdruck. In der obersten Etage ihrer Pyramide ist sie aber Ausdruck von etwas Objektivem und Universalem, von einer Subjektivität bestenfalls, die objektive und universale Wahrheiten auszudrücken anstrebt. Dieses Wissen war den modernen Künstlern, wie man an den Zitaten hier sieht, zu eigen, es ist aber eher verloren gegangen und in den Hintergrund gerückt. Die Postmoderne lieferte das intellektuelle Rüstzeug dazu, die Pluralisierung der Gesellschaft und der Aufstand der „Minderheiten“ und „Partikularitäten“ und ihr Drang, sich selbst autonom zu definieren (oftmals eben auch irgendwie künstlich gegen das „Universale“ gerichtet) bildete die realweltliche Basis dazu. Kunst, die von Angehörigen von „Minderheiten“ oder Frauen kommt, als Versuch des Selbstausdrucks wie der Erweiterung gesamtgesellschaftlicher Verständnisse, wird nunmehr gerne gesehen – und das ist auch würdig und das ist auch recht. Allerdings haben Selbstausdrücke oder Emanzipationsprozesse nicht notwendigerweise was gesamtgesellschaftlich Verbindendes, sie können genauso gut Ausdrücke eines saturierten (bzw. nach Satuierung strebenden) Egoismus sein und der Ausdruck eines Zerfalls von Gesellschaft und eines Zerfalls von Geist und eines Zerfalls von Streben. Die Abstrakten Expressionisten haben danach gestrebt, Universalität, Metaphysik und Transzendenz auszudrücken, und haben (angeblich) auch gemeint, die Subjektivität, die das am Besten könne, sei der (junge) weiße Mann. „Feminine“ oder ethnoplurale Einflüsse wollten sie außen vor lassen, da sie der reinen geistigen und universalen Schau entgegenarbeiteten. Da mag man heute platzen vor Empörung. Es kann aber schon sein, dass das stimmt. Es geht um die Durchdringung und es geht um die Durchsichtigkeit gegenüber dem Geistigen. Die Postmoderne heiligt das „Minoritär“-Werden, das Frau-Werden, das Neger-Werden, das Tier-Werden. Ja, das alles ist sicherlich hilfreich, um sich zu verbessern und seinen Aktionsradius zu erweitern. Aber vielleicht tut auch das WeißeralterMann-Werden ganz gut. Es formuliert die Möglichkeit einer Position bzw. verweist auf eine theoretische Position, die es sich eventuell lohnt, einzunehmen. Man muss daür auch kein weißer alter Mann sein, eine Kannibalin aus Papua-Neuguinea kann das ja genauso tun. „Objektive“ Gerichtetheit in der Kunst ist auch aus der Mode gekommen, weil in deren universalistischem Anspruch ein Totalitarismus und Narzissmus des Westens (bzw. westlicher „Männlichkeit“) vermutet werden kann. Was aber, wenn der westliche Universalismus nicht totalitär ist, sondern Ausdruck von genuinem Interesse an der Welt und am Anderen, von Offenheit, Extrovertiertheit, fortschrittlichem Geist, Empathie und Spiritualität, der dann eben deswegen weltumspannende Imperien errichtet, weil er dem kleinkrämerischen, introvertierten (und sexistischen) Chauvinismus in anderen Kulturräumen überlegen ist? Die westliche Kultur ist die intellektuell, wirtschaftlich und sozial ausdifferenzierteste. Daher ist sie schon ganz gut. Die Kunst der Gegenwart trägt auch dazu bei, sie weiter auszudifferenzieren, aber ich finde, sie sollte sich auch wieder mehr auf ihre ernthaft-avantgardistischen Wurzeln besinnen. Falls man gegen den Westen ist: Die Chinesen sind eh schon fast da. Viel Spaß mit denen. Kunst spielt in China im Übrigen (aktuell noch) kaum eine Rolle und wird von den Chinesen kaum wahrgenommen; Ai Weiwei ist bei uns viel bekannter als bei denen etc. Selbst ein alter Linkdradikaler wie Badiou rümpft die Nase über die Dominanz von „ethnischen“ und „sexuellen Partikularitäten“ als Leitmotiv in der Gegenwartskunst („Diese Produkte beruhen auf einer Ichbezogenheit, die so verspielt wie nur möglich ist“) und plädiert stattdessen für eine Neuaufrichtung der Kunst in universalem Anspruch („Die Kunst kann kein Ausdruck der Partikularität sein, ganz gleich, ob sie ethnisch oder ichbezogen ist. Sie ist die unpersönliche Produktion einer Wahrheit, die sich an alle richtet“).
Für drei gute Dinge in der Kunst haben „Massen“ niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum –: um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden.
Friedrich Nietzsche
Friedrich Nietzsche war ein Philosoph mit einer hohen Affinität zur Kunst, ein Künstler-Philosoph. De Chirico, Pollock, Modigliani – mehr oder weniger alle bedeutenden Größen der modernen Kunst – waren Künstler mit einem großen Interesse an der Philosophie. Für Philosophie interessiert sich, angeblich, jeder. Denn der Mensch ist ein philosophisches Wesen. Ebenso interessiert sich, angeblich, jeder für Kunst. Denn der Mensch ist ein künstlerisches Wesen. Beides, Kunst und Philosophie, ist was für die Massen. Allerdings wird man aus den Massen niemals schlau. Schau, die Massen, wie sie sich drängeln und den Eingang zum Museum verstopfen, um sich dann in einer völlig überlaufenen Ausstellung alter Meister wiederzufinden! Ich habe mich dazu schon mal geäußert, nachdem ich eine nächtliche Vision hatte, wie es bei Monet oder Cézanne doch Tränen der Rührung verursachen müsste, wenn sie sähen, wie sich hundert(e) Jahre nach ihrem Tod die guten Leute in die Ausstellungen drängeln, nur um ihre Kritzeleien zu begutachten! Gleichzeitig sind die Massen immer wieder in der Lage, sich für einen aktuellen, aber unbekannten Cézanne so gut wie überhaupt nicht zu interessieren und ihn genauso gut verrecken zu lassen (was dann natürlich dessen Charmisma und Symbolgehalt merklich steigert). Man will den Dingen gerne auf den Grund gehen, man will wissen: was ist das Wesen, das innerste Wesen der Massen? Es erscheint völlig undefinierbar. Allerdings wird mir eben gewahr, dass ich das innerste Wesen der Massen ja gerade damit eben punktgenau definiert habe! – Mit dem W. sitze ich zusammen; da kommt die P. vorbei. Die P. studiert Philosophie. Der W. ist sowieso immer nervös, weil ihm die große Kunst heute fehlt; das bereitet ihm (wie mir) Unbehagen. „Und wo ist eigentlich bei diesen Leuten die Begeisterung für das was sie machen? Wenn die Philosophie studieren, warum wird da keine Begeisterung für die Philosophie bei denen sichtbar? Sondern immer nur diese lahme Gleichgültigkeit? Wenn sie Philosophie studieren, warum ist dann bei denen keine Begeisterung für die Philosophie spürbar?“, platzt es da plötzlich aus dem W. heraus. Ja, das frage ich mich auch immer wieder, und seit Jahrzehnten. Menschen und Massen sind äußerst begeisterungsfähig, und dann auch wieder das genaue Gegenteil davon. Das Unbekannte und Überlegene begeistert sie nicht, da da in ihnen nichts zum Arbeiten anfangen kann. Das verkraftet die (offensive oder defensive) Eitelkeit des Publikums nicht. Die avantgardistische Intention konfrontiert die Gegenwart und die Menschen der Gegenwart mit einer Antithese, in der Hoffnung auf Herstellung einer Synthese. Diese Synthese mag lange ausbleiben. Das muss die (offensive oder defensive) Eitelkeit des Avantgardisten dann ihrerseits verkraften. Da der heutige Kunstbetrieb auf möglichst rasche und breite Streuung seiner Güter unter die Massen bedacht ist, verkraftet er eventuell den Geist der Avantgarde und der meditativen Versenkung umso weniger.
Kunst ist zumeist mechanisch dumme Wiederholung, eine Ansammlung von Vorurteilen, welche hemmt, voraussetzungslos zu reagieren, vielmehr ästhetisch mechanisiert und abschwächt.
Carl Einstein
Eine gewisse Dummheit und Ineffektivität, vor allem mechanische Repetitivität ist der Kunst inhärent. Dass sich irgendwo was auf den absoluten Höhen des magischen Zusammenklangs trifft, ist selten. „Die großen magischen Momente im Studio sind rar“, so der Gitarrenmagier Slash. „Kunst besteht vorwiegend aus dummen Ideen“, geht Willem de Kooning sogar so weit zu sagen: „man betrachte nur den Kubismus: ein Ding von verschiedenen Blickwinkeln aus gleichzeitig darzustellen – was für eine dumme Idee“. Ja und, vor allem aber: nein. Es ist ein zutiefst metaphysisches Verfahren der Entbergung von verborgenen Seinsqualitäten und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Es zeigt auf, dass die Welt tief ist, und tiefer als der Tag gedacht. Es war ein Abbild des fortschrittlichen modernen Zeitgeistes vor einem Jahrhundert und, aufgrund seines Tiefsinns, etwas, das ewig Bestand haben wird. Es geht in die verborgenen Tiefen. Es drückt ernsthaften Forschergeist aus, Bedürfnis nach Exploration. Und hier sprechen wir über den Kubismus (!). Carl Einstein war ein strenger Richter über die Kunst seiner Gegenwart, und das war, als die moderne Kunst in ihrer Hochblüte gestanden ist. Er äußert sich sehr kritisch über Kokoschka, über Modigliani et al. Gerade komme ich von einer Gegenwartskunstausstellung, und frage mich, was ich mit meinem Ansatz – Kunst solle das „Metaphysische“ zum Ausdruck bringen – eigentlich überhaupt will, und in welcher Welt ich eigentlich lebe? Was man da immer wieder sehen kann, ist so dumm, hässlich und uninspiriert, dass es nicht nur den Gedanken an die Kunst als Metaphysik unterläuft, sondern eigentlich auch den an die Kunst an sich! Man kann dazu, als Philosoph, gar nichts sagen. Genauso, wie man als Philosoph zu Fußball kaum was sagen kann oder zur Tagespolitik; einfach, weil das von der Philosophie völlig verschiedene Seinsbezirke sind. Genau genommen hat man den Eindruck, die Gegewartskunst ist nicht allein ein recht verschiedener Seinsbezirk zur ernsthaften Philosophie, sondern auch zur Kunst. Kunst entspricht dann ihrem eigenen Wesen nicht mehr. Wir leben einfach in einer sehr interessanten Zeit! Besinne ich mich darauf, dass wir – in Bezug auf die Kunst – doch in einer hundertmal interessanteren Zeit leben als vor drei, vier Generationen noch! Wie leben in einem Zeitalter der Absenkung, die planare, vielleicht sogar die planetarische Fläche tritt umso mehr hervor, die Urfläche und damit auch der reine, der Urhorizont der metaphysischen Projektion! Dort und da ragt etwas empor, aber eher wenig, die Fläche und der Horizont an sich treten immer mehr in Erscheinung, herausfordernd! Streng genommen finde ich es sehr gut, in einem Zeitalter wie in diesem zu leben.
The art audience is the worst audience in the world. It´s overly educated, it´s conservative, it´s out to criticize, not to understand, and it never has any fun. Why should I spend my time playing to that audience? … I´ll play with the street audience. That audience is much more human, and their opinion is from the heart. They don´t have any reason to play games.
David Hammons
Kunst bereichert das Leben. Sie ermöglicht sogar das Leben, zumindest das der Kunstkritiker. Für die Kunstkritiker ist es lebensnotwendig, zumindest irgendwo ein wenig intelligenter zu sein als der Künstler und seine Kunst. Wie soll er sie sonst kompetent kritisieren? Der große Künstler kommt daher, mit seiner ebenso neuartigen wie tiefsinnigen Kunst, und der Kunstkritiker mag nicht wissen, wie er sich da am Besten draufsetzen soll. Also lässt er es bleiben; und als Revanche dafür, dass er andere ins Dunkel stößt, wird der Künstler im Dunkel gelassen, dem Dunkel seines Tiefsinns. So weit, so klar. Es gibt wohl durchaus Kunstkritiker, die noch weit eingebildeter sind als jeder Künstler, und alles, was Dunkel erzeugt als Affront auffassen gegen ihr Ego, aber in den allerallermeisten Fällen ist es wohl legitime Selbstverteidigung, wenn sie das Eigentliche in der Kunst gar nicht erst aufkommen lassen, weil es ihnen unheimlich ist. Kunst ist nicht zuletzt eine Komfortzone, vor allem für den Sehr Tiefen Denker, dem kaum jemand folgen kann, die Komfortzone der absoluten, abgrundhaften Tiefe, aus der helles Licht heraufstrahlt. Der Kunstbetrieb ist auch eine Komfortzone und auch die Kunstkritik ist eine Komfortzone, Komfortzonen der Zirkulation von Geld, von Meinungen, von Beweihräucherungen, von gegenseitig unterstützenden Beweihräucherungen und von Selbstbeweihräucherungen. Menschen werden nicht gerne aus ihren Komfortzonen gerissen. Der Sehr Tiefe Künstler reißt Kunstbetrieb und Kunstkritik leicht aus deren Komfortzone, hinein in seine eigene Komfortzone der bodenlosen Tiefe und metaphysischen Spekulation. Das ist nicht jedermanns Sache. Der Kunstbetrieb und die Kunstkritik würden den Sehr Tiefen Künstler ja auch gerne in ihre eigene Komfortzone der Zirkulation reißen, und da ist der nicht zuhause. Problem der unterschiedlichen Komfortzonen. Wo sind die Sehr Tiefen Künstler und Denker, die in den abgründigen Tiefen ihre Komfortzonen errichten?
… die bedauerliche Tatsache, dass jeder der anerkannten Künstler nur etwa ein Dutzend verstehender Anhänger besitzt, … aus jahrzehntelanger Erfahrung hat Cézanne resigniert geäußert, jede Kunst sei nur für wenige da. Erst als Bildungsvorrat erweitert sie die Peripherie ihres Kreises und schafft die Täuschung, als wären der Erkennenden viele. Alles dies gehört in in das Gebiet der Auswirkung der Kunst, nicht in den inneren Bezirk des Geschehens…
Will Grohmann 1926
Was haben die Texte, die Welten von, sagen wir, Samuel Beckett oder Emily Dickinson mit der Welt des Bachmannpreiswettbewerbs zu tun? Was haben sie überhaupt mit der allgemeinen Welt des Literaturnobelpreises zu tun? Es handelt sich um Welten, die – trotz aller scheinbaren Gemeinsamkeit und Affinität – eigentlich nicht viel miteinander zu tun haben. Allerdings werfen sie ein Netz über die empirische Welt und vermögen so Beliebiges, ja, die ganze Mannigfaltigkeit der Welt einzufangen. Sie sind, eben, der Abgrund der Metaphysik, in dem die Einzelgänger hausen, und das ist der innere Bezirk dieses Geschehens, des Geschehens der Kunst. Wenn die Betriebe sehen, etwas ist deutlich intelligenter als sie – und hat dann aber wenig Ähnlichkeit mit ihnen, werden sie immer wieder krawutisch. Das ist ein altes Stück. Der heutige Kunst/Literatur/Kulturbetrieb hat, vermeintlich, einen Saumagen. Aber der Abgrund der Metaphysik, aus dem die Einzelgänger kommen, ist ein noch größerer Schlund, und daher leicht auch für Saumägen zunächst unverdaulich. Die avantgardistische Intention hat ihre Grundlage in einer dialektischen Opposition innerhalb einer von Grundsatzkonflikten durchzogenen Gesellschaft. Heute tut sich die Gesellschaftskritik schwer, da es in einer demokratischen Wohlstandsgesellschaft keinen Grundsatzkonflikt mehr gibt und daher auch nichts mit weit ausholender Geste zu kritisieren. Das ist der Saumagen der Demokratie, der damit die avantgardistische Intention einigermaßen ihrer Grundlage beraubt. Wie Badiou bemerkt, vergewissert sich die Demokratie stolz ihrer selbst, indem sie kommuniziert und Informationen zirkulieren lässt: „Die westliche Demokratie ist in der Tat Zirkulation und Kommunikation“. Eine Antithese errichtet man dazu allerdings durch meditatives Schweigen und, als dessen Ergebnis, Kunst die nicht zirkuliert und kommuniziert: „Ja, das einzige Problem besteht darin, herauszubekommen, ob sich der künstlerische Imperativ vom westlichen Imperativ lösen kann, welcher der der Zirkulation und Kommunikation ist … Die wahre Kunst ist daher das, was die Zirkulation unterbricht und nichts kommuniziert. Immobil und unkommunizierbar, das ist die Kunst, die wir brauchen und die sich als einzige an alle wendet, da sie nicht irgendeinem vorgegebenen Netz entsprechend zirkuliert und mit niemandem im Besonderen kommuniziert“. Ich sage ja auch immer, das westliche Denken und Kommunizieren soll mit dem östlichen Nicht-Denken und Nicht-Kommunizieren zusammengebracht werden. Ich glaube, so kann das heute gehen, so ergibt sich eine neue Einheit, eine neue Totalität, ein neues, flexibles Universales – eine neue Matrix. Der innerste Bezirk dieses Geschehens ist Bodhidharma, der schweigend vor einer weißen Wand sitzt.
I´ve always wondered what it would look like reading other people´s minds. Then I got a Facebook account, and now i´m over it.
Mem auf Facebook
Great mind dicuss ideas. Average minds discuss events. Small mind discuss people, heißt es auch. Tatsächlich: Intelligenz- und Auffassungslevels kann man über Unterschiede im Abstraktionsgrad des Denkens feststellen. Allerdings schreitet die Realität oft mit solch schönen Kategorisierungen nicht einher. Von den Angehörigen der besser gebildeten Schichten kann ich in den sozialen Medien überhaupt nicht groß feststellen, dass sie großartig was diskutieren würden. Das anzunehmenderweise intellektuellere und kunstaffinere Publikum ist allerdings in der Lage, sich tage-, wenn nicht sogar wochenlang das Maul zu zerreissen über Battles Glavinic vs Sargnagel, über Songtexte und Wortmeldungen von Andreas Gabalier, vor allen Dingen aber darüber, wie antisemitisch Lisa Eckhart wohl ist. Da gehen dann die Wogen der Leidenschaft hoch. Angesichts dessen ist es vielleicht viel weniger verwunderlich, warum die Gegenwartskunst so dumm ist, sondern wie tatsächlich intelligente Sachen überhaupt jemals so was wie eine breitere Wirkung haben entfalten können. Lisa Eckhart tritt im Übrigen auch für ein elitäres Kunstverständnis ein, und sie weist auch die Emanzen in die Schranken, die dauernd jammern und fordern, alles sollte immer verweiblichter werden. Aber ich traue ihr nicht ganz über den Weg.
22.-29.10.2020
P.S. 31.10.2020: Gestern war ich mit dem Bertl auf einem Motörhead-Tribute Konzert (von The Röad Crew). Populäre Musik ist ja auch längst nicht mehr das, was sie einmal war, so scheint es ebenfalls. Das so was wie Motörhead so nicht mehr möglich sein könnte heute, scheint einsichtig, da die Zeit mittlerweile fortgeschritten ist. Allerdings, sich außerhalb und gegen die Gesellschaft zu stellen, sollte doch zu allen Zeiten möglich sein. Und vor allen Dingen: gute Musik und Kunst zu machen. Das ist ja, sozusagen, was rein Handwerkliches, und unabhängig von Klima und Zeitgeist. Der Bertl hat aber gemeint: Ach was, das unterschätzt du einfach! Die guten Dinge passieren ganz einfach aus einer Zeit heraus, und aus einem Zeitgeist heraus. Heavy Metal ist heute nicht mehr aufregend, nicht mehr gefährlich. Wie soll man da noch gute Songs schreiben? Ja, wenn ich mir das so überlege, hat er da wohl Recht, und viel mehr vom Mysterium gelöst mit diesen zwei, drei Sätzen als ich mit diesem ganzen Text (und all den anderen). Mir fällt das nicht so auf. Ich bin durch die Gesellschaft so gut wie nicht beeinflussbar. Aber vielleicht fast alle anderen sind das schon irgendwie. Ich finde ja selbst eine Hausmauer hochinteressant und als Provokation zum tiefen Nachdenken, und zwar ganz unabhängig von Zeitgeist. Die anderen aber vielleicht nicht so sehr. Bodhidharma fand ja auch eine weiße Wand hochinteressant und als Provokation zum tiefen Nachdenken. Und zwar ununterbrochen, über neun Jahre hinweg.
Was ich meine, und auf was ich hinaus will: Wir leben eventuell in einem nach-metaphysischen Zeitalter, oder in einem, wo die Metaphysik pausiert (eventuell sich erholt, nach all den Anstrengungen). Eine authentische Kunst, die das Zeitalter mit sich selbst konfrontiert, kann daher vielleicht auch nur nach-metaphysisch und unangestrengt sein, ohne lächerlich zu sein. Die Kunst distanziert sich von sich selbst, so sehr, dass die Kunstwerke zu – wie der Merowinger sagt – „kunstähnlichen Gegenständen“ werden, zu einer auffälligen, aber weitgehend sinnlosen Idiosynkrasie, die im White Cube irgendwie herumsteht. Wenn ich mir die Diskussionen so ansehe: ja, da werden schon Sinngehalte und Differenzierungen herumgeschoben und Komplexitäten abgewogen. Aber all diese Sinngehalte sind nicht sonderlich stark oder profund. Ein komplexer und differenzierender Zeitgeist, der allerdings nicht sonderlich profund ist. Ich weiß nicht, warum die ganzen Kunstkritiker und Philosophen und Intellektuellen nicht darauf kommen, in ihren Befragungen darüber, warum die Kunst nicht mehr ist, was sie mal war. Ich mache hier ja nur einen Vorschlag, wie sich das aus meiner Sicht darstellt. Aber ich glaube, die Crux von all dem liegt eben darin, dass die Kunst keine metaphysische Kontemplation mehr ist. Sie ist keine reine Bestrebung mehr nach Konfrontation mit dem Geist, dem reinen Geist. Dass die Kunstkritiker und Intellektuellen nicht darauf kommen wird ein Zeichen sein, dass sich entlang der abstrakten reinen Linie des Denkens kaum einer bewegt, oder sich bewegen kann. Es wird Zeit, dass einer daherkommt und das tut.
P.S. 2. September 2022:
Diese Überlegungen, die nur zu begründet sind, führen uns zwagsweise zu der Schlussfolgerung, dass man immer vom Schlechten zum noch Schlechteren gelangt … Die gegenwärtige Entwicklung wird kein Ende haben, bis eines Tages ein neuer Haydn, Mozart oder irgendein anderer Meister von gleicher Qualität wieder erscheint. Seine Aufgabe wird es sein, die Melodie wieder zur Einfachheit zurückzuführen, die Ordnung, Folgerichtigkeit und Symmetrie des Ganzen wiederherzustellen und die Verzierungen auf den Platz zu verweisen, der ihnen zukommt. So wird sich dann die natürliche Musik wieder regeneriert finden und ein neues Goldenes Zeitalter für diese so köstliche und ungewisse Kunst wieder entstehen. Doch die Natur geizt mit Genies, und es fehlen ihr die Jahrhunderte, um einen Raffael, Palladio, Pergolesi, Haydn oder Canova entstehen zu lassen. Gehaben Sie sich wohl!
Giuseppe Carpani, Zeitgenosse Joseph Haydns, in seiner Haydn-Biographie