Henrik Ibsen und die Schuldfrage

Leben ist: dunkler Gewalten

Spuk bekämpfen in sich,

Dichten ist: Gerichtstag halten

über sein eigenes Ich.

Henrik Ibsen

Sie sind krank, Baumeister. Ich glaube sogar, sehr krank, sagt Hilde Wangel zu Baumeister Solness, einem literarischen Alter Ego Henrik Ibsens. Zwar nicht im somatischen Sinn oder aber verrückt, denn am Verstand, da fehlt es bei ihnen wohl kaum … Mir scheint eher, dass Sie mit einem gebrechlichen Gewissen zur Welt gekommen sind … Ich meine, dass ihr Gewissen sehr zart und anfällig ist. So – überempfindlich. Dass es keinen Stoß verträgt. Nichts Schweres heben und tragen kann. An einer anderen Stelle gesteht der Baumeister seiner Frau Aline: Ich habe Schuld, unermessliche Schuld – dir gegenüber … Aber es steckt ja doch gar nichts dahinter. Ich habe dir niemals irgend etwas Böses angetan. Jedenfalls nicht wissentlich und willentlich. Und trotzdem – trotz alledem habe ich das Gefühl einer lastenden Schuld, die mich erdrückt.  – Ja dann – dann bist du ja doch krank, Halvard, entgegnet die darauf. Offenbar. Krank – oder so was Ähnliches, dann wieder der Baumeister.

Ein Gewissen ist unruhig oder fühlt sich belastet durch eine tatsächliche oder mögliche Schuld. In den Dramen von Henrik Ibsen wimmelt es von Schuld. Die ausformulierteste, dramatischste Figur bei Ibsen, die ein ganzes Stück trägt, Peer Gynt, findet ihr Selbst nicht; ihre Schuld besteht darin, dass sie gar nicht das Niveau eines tatsächlichen Subjekts erreicht und gar nicht im eigentlichen Reich des Menschlichen, im Ethischen, ankommt. Die Ibsenschen Figuren verstricken sich in Lebenslügen, oder aber folgen ihren (meistens lobenswerten) Lebensaufgaben mit einer Einseitigkeit und einer Borniertheit, auf dass es ihre guten Intentionen oder aber ihre eigene Subjektivität zunichte macht. Diejenigen, die die anderen aus ihrer schuldhaft verstrickten Subjektivität befreien wollen, sind irrationale Fanatiker, die schließlich erst recht die Katastrophe auslösen und noch mehr Schuld in die Welt reinbringen. Geschäfte machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Kunst machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Man hat ein schuldiges Patriarchat und noch schuldigere Frauen als dessen willigste Opfer. Hin und wieder schaffen es die Ibsenschen Charaktere, ihrer Schuld zu entrinnen, insgesamt aber ist die Farbe dunkel. Die Freiheit, die Bewegungsmöglichkeiten, der Reichtum der Figuren stehen immer wieder ursächlich mit dunklen Machenschaften aus der Vergangenheit im Zusammenhang: mit Betrügereien, Unterschlagungen, Fälschungen, Raubbau, die den Figuren dann in der dramatischen Situation auf den Kopf fallen. Überall wo man bei Ibsen hinsieht, gibt es illegitime, gar inzestuöse Liebschaften und – erbsündenartige – degenerative Erkrankungen bei den armen Kindern, die daraus entsprungen sind. Eine abartige Menschheit und Gesellschaft hat man bei Ibsen letztendlich, eine große Gesellschaft des Perversen und des universalen Schuldzusammenhangs … die große Gesellschaft … was steckt im Grunde dahinter? Kein moralisches Fundament, auf dem man stehen kann. Mit einem Wort, diese große Gesellschaft von heutzutage ist ein übertünchtes Grab, so der Adjunkt Rörlund in Die Stützen der Gesellschaft. Ob die große Gesellschaft tatsächlich so ist, weiß ich nicht – aber es ist auf jeden Fall ein Schuldspruch über die große Gesellschaft.

Ibsen gilt als Dramatiker mit großem gesellschaftlichen Sinn. Aber warum zeigt er dann so viele mögliche gesellschaftliche Situationen nicht? Warum funktionieren die Gesellschaften bei Ibsen niemals auch so, als dass sich alle mit einer übertriebenen Freundlichkeit versuchen, gegenseitig zu schwächen, weil sie so viel Angst voreinander haben und so viel Angst, dass eine Art archaische Gewaltorgie ausbrechen könnte, wenn sie sich durch ihre Höflichkeitsrituale nicht gegenseitig fast vollständig pazifizieren und einlullen? Warum begegnen sich die Menschen nicht entweder übertrieben freundlich oder aber misstrauisch und mürrisch, in einer Mischung aus Angst und Arroganz, bis sie herausgefunden haben, ob der andere nicht etwa überlegen ist, sondern eh nur unterlegen oder zumindest pari? Warum gibt es nicht, in Anlehnung an Rene Girard, mehr mimetische Konflikte in den Dramen von Henrik Ibsen (als nur in Hedda Gabler), also Konflikte, die entstehen, weil der eine was will, nur weil es der andere will oder hat? Denk dir eine eingeschworene Gesellschaft von Idealisten, die dann auseinanderbricht, als sie merken, dass sie diese Ideale jeweils aus ganz unterschiedlichen, und oftmals gar nicht idealen Gründen verfolgen. Warum zeigt Ibsen nicht eine Gesellschaft von enthusiasmierten Kunstfreunden und Kunstwissenschaftlern, die plötzlich ganz still und verschlossen wird und deren Abwehrmechanismen Amok laufen, wenn ein Künstler höchsten Ranges tatsächlich auftritt? Warum zeigt er nicht eine Gesellschaft von vollmundig „sapiosexuellen“ Frauen, deren „Sapiosexualität“ ganz plötzlich implodiert, deren hübsche Gesichter ganz plötzlich vereisen und aus ihren Augen blitzt der blanke Hass etc., wenn ein tatsächlich intelligenter Mann daherkommt? All das tut Ibsen nicht. Alles schuldig machen, alle in schuldhafte Verstrickungen verwickeln, unlösbare Knoten der Schuld knüpfen, Netze von Schuldzusammenhängen weben, in denen sie sich verlieren wie Insekten im Netz der Spinne – das ist es, was ich will, das ist der Sinn meiner Existenz, ja das ist ganz klar, deshalb bin ich ja hier – grummelt er im fahlen Licht in der Ecke, senkt sein beeindruckendes, einschüchterndes Löwenhaupt und macht sich an die Arbeit.

Ihr Frauen, ihr seid die Stützen der Gesellschaft, erkennt Konsul Bernick am Ende des gleichnamigen Stücks – auf das dann das „feministischste“ Drama Ibsens folgen sollte: Nora – Ein Puppenheim. Aber die „feministischen“ Heldinnen bei Ibsen bleiben ein ziemliches Ärgernis. Nora im Puppenheim lässt sich von ihrem Gatten über Jahre hinweg als singende Lerche, als lockerer Zeisig, als Leckermäulchen, als seltsames kleines Ding, als Du kleiner Leichtsinn oder als Du schwaches, hilfloses Wesen titulieren (was angesichts ihrer Persönlichkeit auch durchaus angemessen ist), kauft ein wie eine Blöde, kennt sich nirgendwo aus und übernimmt für nichts Verantwortung. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren unsympathischen Mann, um sich selbst zu finden, sondern kurzerhand auch ihre Kinder (was symbolisch gesehen eine gewisse Konsequenz und Folgerichtigkeit in der Abrechnung mit dem Patriarchat hat, seinerseits aber auch etwas Unheilvolles symbolisiert oder ankündigt). Hedda Gabler ist hinter ihrer eindrucksvollen Oberfläche noch stärker von Männern abhängig und lebt von deren Energie wie ein Vampir, sie kann bösartig, gefährlich und zerstörerisch werden und ist überhaupt kein Charakter, dem man im Leben begegnen will. Ellida, die Frau vom Meer, ist langweilig; im gleichnamigen Stück symbolisiert sich aber auch, dass „Freiheit“ ein verzwicktes, verwickeltes Ding ist: Sie funktioniert an und für sich nur, wenn man sie sich selber nimmt, aber auch, wenn sie einem von anderen gegeben wird (ansonsten hat sie etwas Solipsistisches und Anarchisches). Das Verlangen nach dem Grenzenlosen, Endlosen, nach dem Unerreichbaren, das treibt deinen Geist zuletzt noch ganz ins nächtige Dunkel hinein, warnt überhaupt der Doktor Wangel die Frau vom Meer. In diese leere, anarchische Freiheit, ins Meer, läuft Ellida dann aber nicht, weil ihr die Freiheit gegeben wird, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen: Denn nun komme ich zu dir in Freiheit – freiwillig – und in eigener Verantwortung, beschließt sich Die Frau vom Meer als eines der wenigen Stücke Ibsens heiter und beschwingt.

Als Feminist verstand sich Ibsen aber sowieso nicht. Die „Menschenschilderung“ hat er als seine Aufgabe betrachtet. So gilt Ibsen auch als Schilderer und Analytiker des Durchschnittsmenschen: und in der Hinsicht verdanken wir ihm wertvollste Einsichten. Der Durchschnittsmensch aber, wie er in der Wirklichkeit erscheint, hat zahlreiche liebenswerte Eigenschaften; er mag in der Lage sein, beträchtliche Energien zu mobilisieren; er mag zielstrebig, arbeitssam und konsequent sein; immer wieder einmal wartet er mit klugen Einsichten und so trefflichen sprachlichen Formulierungen auf, so dass selbst uns Dramatikern die Spucke wegbleibt. Peer Gynt und Ekdal Vater und Sohn hingegen sind unternormal. Das einzige Genie hinwiederum, das bei Ibsen auftritt, Ejlert Lövborg in Hedda Gabler, ist verwahrlost und lebensuntüchtig und stirbt; der genialische Mensch, Ulrich Brendel in Rosmersholm, fällt, nur weil er die Schwelle zum Genialen doch nicht überschreiten kann, einfach ins Nichts. Die stattlichen, annähernd majestätischen Kunstmenschen, Baumeister Solness oder Professor Rubek, sind innerlich fragil, die majestätischen Geschäftsmenschen und Bankiers sowieso. Die einzige Figur, die die Menschheit und die Gesellschaft tatsächlich durchschaut, der Arzt Relling in der Wildente, ist wesentlich zynisch und beharrt darauf, dass die Gesellschaft nur durch Lügen zusammengehalten werde. (Was nicht heißt, dass nicht auch, in anderen Stücken, Lona Hessel oder der Volksfeind Doktor Stockmann auftreten, die in der Wahrheit und am Festhalten an der Wahrheit die eigentliche kohäsive Kraft erkennen wollen.)

Der Baumeister Solness ist der Kunstmensch als Willensmensch, geradezu als Gewaltmensch. Er lässt seine Zuarbeiter, Vater und Sohn Brovik, nicht aufkommen und fördert und lobt den talentierten Sohn nicht. Er hat Angst vor der jungen, aufstrebenden Künstlergeneration (Knut Hamsum). Na gut. Und sonst? Aber wir wissen nicht, was sonst ist. Vielleicht ist das alles, im harmlosen Sinn. Vielleicht ist es aber auch alles, im potenziell gefährlichen Sinn. Vielleicht ist der Baumeister Solness außerhalb seines Kunstwillens tatsächlich fast so gut wie nichts. Vielleicht ist der Baumeister ein reiner Wille zur Macht und daher etwas Sinistres. Oder aber, vielleicht ist er zu hauptsächlich das – deswegen verfügt er über Sensibilität genug, sich dafür zu schämen. Ich verdiene (Ehre) nicht; denn ich bin bis zum heutigen Tage kein uneigennütziger Mensch gewesen. Hatte ich auch nicht immer pekuniäre Vorteile im Auge, so bin ich jedenfalls doch jetzt überzeugt, dass größtenteils das brennende Verlangen nach Macht, Einfluss und Ansehen die Triebfeder meiner Handlungen war, gibt Konsul Bernick gegen Ende der Stützen der Gesellschaft zu. Auch der napoleonisch gestimmte, jedoch glücklose Bankier John Gabriel Borkman (einer fratzenhaften Selbstkarikatur Ibsens) sieht sich als Stütze (sogar eher als Fundament) der Gesellschaft, deren Wohlstand er auf ein höheres Niveau heben will. Geradezu ausschließlich und besessen rotiert er jedoch um seinen eigenen, aus seiner eigenen archaischen Urtümlichkeit kommenden Willen zur Selbstbehauptung.

Ich war damals kaum erwachsen, aber ich fühlte die Kraft Gottes in mir, und ich meinte, der Herr selbst habe mich gezeichnet und mich auserkoren, offenbarte Ibsen einmal über sich selbst. Ibsen war als Künstler ein Willens- und Machtmensch. Mehr noch, opferte er alles der Arbeit an seinem Lebenswerk, das, wie ich unerschütterlich glaube und weiß, Gott mir auferlegt hat. Ein solcher Glauben an sich selbst und an seine Sendung ist bei einem Genie nichts Ungewöhnliches (außerdem auch nichts, was sich das Genie von den Nichtgenies ausreden lassen sollte). Eine derartige „Unerschütterlichkeit“ ist dann aber vielleicht doch nicht so gut. Sie behindert das Genie in seiner wertvollsten Gabe, seiner Versatilität, und sie interferiert erheblich mit der typischen Gelassenheit des Genies. Vor allem hat Unerschütterlichkeit auch etwas Unmenschliches. Man sagt, über das Privatleben von Henrik Ibsen gibt es kaum was zu berichten. Er sei ganz in seinem Werk aufgegangen. Menschen hat er ziemlich gemieden. Vielleicht war er recht eingeschränkt in seiner Genussfähigkeit. Die Menschen um sich habe er sich und seinem Schaffensdrang untergeordnet. Am Ende schämt er sich, seiner Frau in seinem Willen zum Werk, wie er meint, das Leben versaut zu haben. Er glaubt zu erkennen, nie „gelebt“ zu haben (ein Drang zu „leben“ beherrscht etliche Figuren im Ibsenschen Kosmos). Ja, –  was sehen wir da eigentlich? (wenn wir Toten erwachen) fragt Professor Rubek im gleichnamigen Fanal. Wir sehen, dass wir niemals gelebt haben, antwortet seine verflossene, verstoßene Liebe Irene. Es gewährt mir eine gewisse Befriedigung, so bekannt zu sein in den Ländern ringsum, aber ein Glücksgefühl bringt es mir nicht. Und was ist es schließlich wert, das Ganze?, gesteht Ibsen (eventuell ein wenig launenhaft) über sich selbst in einem Brief. Schon Ella Rentheim prophezeit John Gabriel Borkman: Niemals wirst du als Sieger Einzug halten in dein kaltes, finsteres Reich. Klar – denn wie sollte man in ein kaltes, finsteres Reich denn überhaupt auch als Sieger Einzug halten? So ein bisschen was von einem kalten, finsteren Reich hat das ganze dramatische Werk Henrik Ibsens.

Es ist keine revolutionäre Erkenntnis, dass die „Menschheits“- und „Gesellschaftsdramen“ von Henrik Ibsen in einem erheblichen Maße nach außen gewandte innere Dramen ihres Schöpfers sind. Dass die Figuren, die auftreten, Ibsensche Selbstprojektionen sind oder aber erhebliche Ich-Anteile von ihm verkörpern und illustrieren. All seine Dichtung beruhe darauf, was er selbst – zwar nicht notwendigerweise erlebt, aber doch – durchlebt habe, offenbart Ibsen. Daher kommt, wie man meint, auch der große psychologische Sinn bei Ibsen – weil diese („vermeintlich“) gesellschaftlichen Dramen innerliche psychologische Dramen bzw. Auseinandersetzungen und Vivisektionen sind. Literarisches Genie besteht darin, dass jemand seine Gedanken und psychologischen Zustände dermaßen objektivieren und auf eine solche Ebene der Analyse, der Abstraktion, der Konkretion und der Integration erheben kann, dass er damit so sinnvolle Aussagen über Mensch und Gesellschaft machen kann, dass es scheint, dass er das „Wesen“ von Mensch und Gesellschaft insgesamt durchschaut hätte. Einen solchen Fall hat man natürlich auch bei Ibsen. Es gibt dann aber größere und kleinere Genies. Den Reichtum und die Mannigfaltigkeit (und das Komödiantische) des Figuren- und Ideenkosmos von Shakespeare oder Dostojewski hat der Ibsensche dann nicht. Ich habe Ibsen früher für gigantisch gehalten, jetzt aber arbeite ich mich an der Laune ab, dass ich in seinen Dramen nicht einmal wirkliche Dramen sehen kann. Dramen sind etwas Dynamisches. Bei Ibsen hat man aber etwas beinahe Statisches, seine Dramen erscheinen wie ein bleierner Mantel, die er um seine Figuren und um die Welt legt – indem er alle in Schuld verwickelt. Bei Dante laufen Sünder in der Hölle in bleiernen Mänteln herum und sind mit ihnen beschwert. (Ibsen selbst ist in schweren Mänteln herumgegangen, als hätte er sich hinter ihnen verbergen wollen, genauso wie hinter seinem rauschenden Bart und Haar.) Groce macht es als große künstlerische Feinsinnigkeit bei Ibsen aus, dass man in seinen Dramen nie so genau weiß, wer eigentlich schuld ist. Man kann sich in seine Figuren meistens hineinversetzen und ihre Handlungen und ihre Motive verstehen. Umgekehrt führt diese nicht eindeutige Lokalisierbarkeit von Schuld aber auch irgendwie dazu, dass die Schuld so breit wie möglich gestreut wird und dass alle so ein wenig Schuld sind. Vielleicht hat die ständige Beschwörung der Schuldhaftigkeit bei Ibsen eine Wurzel auch in einer narzisstischen Selbstaufblähung. Auch dann aber irritiert die Omnipräsenz der schuldhaften Verstrickungen in seinem Universum; weist aber auch auf die schuldhafte Wurzel (der narzisstischen Selbstbezogenheit und sadomasochistischen Lust an der schuldbeladenen Selbstbespiegelung) ihrer selbst hin. Insofern die Ibsenschen Dramen so gesehen nicht ganz Dramen sind, ist die Ibsensche Tragik, aus der sein Weltbild scheinbar besteht, vielleicht nicht ganz Tragik. Tragik ist: Eine Figur, die auch gewinnen könnte, verliert. Bei Ibsen sind die Figuren aber kaum darauf angelegt, gewinnen zu können. Man hat bei Ibsen kein tragisches Universum, sondern ein sadistisches Universum. Es ist ein aggressives Universum, gegenüber seinen Bewohnern. Man hat bei Ibsen etwas Degradierendes gegenüber dem Menschen – was so wohl kaum in seiner Absicht gelegen ist. Johannes Rosmer auf jeden Fall zerbricht in Rosmersholm an seiner unerfüllbaren Lebensaufgabe, daran, dass er, wie er meint, doch nicht über die Fähigkeit verfügt, die Menschen zu adeln, er den Glauben daran verliert, dass es möglich ist, die Herzen zu läutern und zu veredeln, und bringt sich um (was schon wieder als unnötige Aggressivität irritiert).

Angesichts einer derartigen sadistischen (Auto-) Aggressivität verwundert es dann nicht, dass Ibsen dann ordentliche Gewissensbisse verspürt haben muss. Oder vielleicht noch mehr: Erinnere ich mich da an den einen Nachtschwärmer neulich um 2 Uhr früh in der Fledermaus, der mit allen Leuten aggressiv ins Gespräch kommen wollte. Er hasse sich selbst, hat er mir ganz unvermittelt und distanzlos erklärt: Klar, wenn man so aggressiv ist wie ich, muss man sich ja selbst hassen, ned wahr?

Wenn einer Gewissensbisse hat, sieht er überall Schuld – und will (zur eigenen Entlastung) überall Schuld sehen. Q.E.D.

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Einer der wichtigsten Texte in der Menschheitsgeschichte ist der Text von Otto Weininger über Henrik Ibsen. In dem geht es vor allem um das Menschheitsproblem, das der Peer Gynt aufwirft. Der Peer Gynt gilt als der „nordische Faust“, oder auch als „bizarre Satire“ auf den Faust (mein Rompf hinwiederum ist eine bizarre Satire auf den Peer Gynt). Zunächst einmal fungiert er als bizarre Satire auf die lethargische Rückständigkeit und Verträumtheit Norwegens zur damaligen Zeit. Darüber hinaus und vor allem sind aber sowohl Peer Gynt als auch Faust Figuren, anhand derer sich „Menschheitsprobleme“ illustrieren; beziehungsweise sind sie Figuren, in denen sich die Menschheit individualisiert. Sie sind beide auf der Suche nach einem „Selbst“, und sie sind beide auf der Suche danach (so wie die Ibsenschen Charaktere generell), das Leben zu beherrschen. Peer Gynt tut das auf triviale Weise: er will Reichtümer anhäufen, Macht, Annehmlichkeiten, er will Kaiser werden. Das Stück schildert praktisch sein ganzes Leben, in dem er zwar älter wird, aber nicht reifer. Peer Gynt strebt nach Ich-Genuss, der sich noch dazu vorwiegend in der Befriedigung seiner Eitelkeit vollzieht. Diese Egozentrik führt dazu, dass er im Wesentlichen durch äußere Gegenstände sich definieren lässt, und gar kein „Ich“ ausprägt, symbolisiert durch das Schälen einer Zwiebel, bei der man immer nur zu neuen Schalen, aber niemals zu einem Kern vorstößt.

Faust ist da gescheiter und reflektierter; er ist kein „Durchschnittsmensch“. Er ist mehr als nur ein Ego, er hat (in etwa) so etwas wie ein Selbst. Er strebt manisch nach Wissen, Bildung, Erfahrung; durch Wissen, Bildung, Erfahrung will man idealerweise Gegenstände in sich selbst ausprägen, eine Welt in sich werden, die dann auch in sich ruht. Aber Faust schafft das nicht ganz; da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor u. dergl. Irgendwie kann er keine prägenden Erfahrungen machen (wird also, in den Sinn, ebenfalls „älter, aber nicht reifer“), und bekanntlich auch nichts genießen. Er überschreibt, wie man weiß, dem Teufel seine Seele, sollte der ihm einen Augenblick verschaffen, von dem er wünschte, er würde verweilen. So gesehen hat der Faust gleichsam ein „leeres“ Selbst, das gewisse Funktionalitäten eines Selbst hat, aber nicht die Integriertheit (und das Integre) eines Selbst. Sowohl Peer Gynt als auch Faust sind einigermaßen (nicht vollständig, da sie ein bestimmtes Gewissen ja haben) amoralisch, egozentrisch und nihilistisch. Sie sind keine in sich integrierten Menschen, sie haben nicht wirklich ein Selbst.

Henrik Ibsen strebte nach Wahrheit und nach Aufrichtigkeit. Die Emanzipation von der Lebenslüge und das Übernehmen von moralischer Verantwortung durch das Individuum war sein Lebensthema und das durchgehende Thema seiner Literatur. Damit ein Individuum echte moralische Verantwortung übernehmen kann und in sich ausprägen kann, muss es sich dafür entscheiden. Wahrhafte Selbstentfaltung und das Übernehmen von moralischer Verantwortung des Individuums kann nur in Freiheit und auf der Basis von freien Entscheidungen stattfinden; eine authentische Entscheidung ist nur in Freiheit und selbstgewählt möglich (ansonsten ist sie ja mehr oder weniger aufgezwungen und ein Gegenstand, der mehr oder weniger von außen kommt). Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft; mit dieser Proklamation der Lona Hessel beschließt sich das gleichnamige Stück.

Auch Otto Weininger strebte nach Wahrheit und nach Freiheit und nach der Kultivierung eines moralisch kompetenten Ich: eines Selbst. Er war vom Peer Gynt begeistert. Ich wiederum bin von Otto Weininger begeistert: weil der, so weit ich sehen kann, es tatsächlich geschafft hat, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Die gleichzeitige Verwirklichung von Logik und Ethik ist der Imperativ, der Otto Weininger an das Subjekt aufstellt. Tatsächlich wird über die Verwirklichung von Logik als auch Ethik das Subjekt konsistent in sich und gegenüber sich selbst, sowohl als Individuum wie als Wesen einer Gesellschaft; es bringt seine Doppelnatur als Individual- wie als Kollektivwesen in Einklang und verwirklicht so sein Selbst. Ich finde das einfach wirklich sehr gut, obwohl ich mich mittlerweile nicht mehr davon übermannen lasse. Im Gegensatz dazu hat der Idealismus von Otto Weininger offensichtlich aggressive Züge. Vielleicht war er sogar wesenshaft Aggressivität. So gesehen hat Otto Weininger eventuell deswegen so gut mit Henrik Ibsen resoniert (er hat sogar extra Norwegisch gelernt, um Ibsen im Original zu lesen), weil sie sich in dieser Aggressivität (oder irgendetwas dergleichen, sagen wir halt zumindest: in dieser Angestrengtheit) ihres Idealismus ja offenbar getroffen haben. Noch ausgeprägter – in einer grotesken Weise ausgeprägt – war bei Otto Weininger die Besessenheit von Schuldgefühlen, die er da hin und dort hin reinprojiziert hat. Auch wenn man sich an diese Schuldkomplexe und ihre Projektionen mit rationalen Erklärungen annähern kann, versagen sie schließlich im Fall Weininger. Er – einer der absolut intelligentesten und einsichtigsten, intellektuell vielversprechendsten Menschen aller Zeiten und im persönlichen Umgang hochgradig harmlos – hat sich bekanntlich mit 23 Jahren erschossen: weil er sich für einen „Verbrecher“ gehalten hat.

(Im Übrigen warnt Otto Weininger in seinem Ibsen-Aufsatz auch davor, zu glauben, man könne die „Symbole“ eines Dichters eindeutig erklären und sie eindeutig psychologisch, soziologisch usw. rückverfolgen. Aber das wollen wir hier ja gar nicht tun. Wie immer, sind auch diese Reflexionen über Ibsen nur ein angeregtes Experiment.)

Ich sehe, ich habe scheinbar sehr viel Glück: dass meine Emotionalität gut funktioniert und dass ich eine transparente Persönlichkeit habe. So etliche andere haben es offenbar nicht so leicht, selbst wenn sie Genies sein sollten. Aber mein Werk ist im Wesentlichen ein einziges Gebet für sie.