Mao Zedong-Gedanken

Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hört auf seine Worte und handelt nach seinen Weisungen.

Lin Biao

(Mao) verehrt sich selbst, glaubt blind an sich selbst, betet sich an, er wird für jede Errungenschaft den Ruhm für sich beanspruchen, aber für seine Misserfolge andere verantwortlich machen.

Lin Biao

Mao Zedong war einer der größten Revolutionäre aller Zeiten, eine der größten politischen Gestalten Chinas aller Zeiten und einer der größten Massenmörder aller Zeiten. Er war eine überdimensionale Gestalt, in der sich Geschichte verdichtet, in ihrer Dramatik, in ihrem gewalttätigen Fortschritt, in ihrer Irrationalität, in ihrer Komplexität. Er hat eine tiefe Furche nicht allein durch das 20. Jahrhundert gezogen, sondern durch die Menschheitsgeschichte insgesamt. Er hat mit dem Maoismus etwas Transzendentes geschaffen. Wenn wir transzendente Dinge betrachten, und wenn wir die Menschheit und ihre Geschichte betrachten, müssen wir auch Mao Zedong betrachten.

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Mao hat ein gewichtiges Werk nicht nur in der Zerstörung hinterlassen, sondern auch im Aufbau. Als Mao 1976 starb, war in China die Produktion von Stahl gegenüber dem Revolutionsjahr 1949 von 1,3 Millionen auf 23 Millionen Tonnen, die von Kohle von 66 Millionen auf 444 Millionen Tonnen, die von chemischen Düngemitteln von 0,2 Millionen auf 28 Millionen Tonnen und die von Elektrizität von 7 auf 133 Milliarden Kilowattstunden gestiegen. Der Anteil der Industrie am materiellen Nettoprodukt betrug nunmehr 50 Prozent (gegenüber 23 Prozent im Jahr 1952), der der Landwirtschaft war von 58 Prozent auf 34 Prozent gesunken. China produzierte zu Maos Tod Lastwägen, Traktoren, Flugzeuge und Hochseeschiffe und war in den Rang einer Nuklearmacht aufgestiegen. Der Bildungsgrad und die Lebenserwartung innerhalb der Bevölkerung und die Qualität der medizinischen Versorgung haben sich stark verbessert. Trotz der wirtschaftlichen Fortschritte war ein Großteil der Bevölkerung zu Maos Tod nach wie vor arm und unterversorgt, da unter seiner Herrschaft vorwiegend die Produktionsgüterindustrie ausgebaut wurde. Damit wurde jedoch auch ein solides Fundament für die weitere wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Das alles ist die Bilanz eines Diktators, allerdings nicht unbedingt eines lausigen Diktators. Wenn man hartgesotten sein will, kann man zwar versuchen, Mao (direkt oder indirekt) für den Tod von bis zu 70 Millionen Menschen verantwortlich zu machen. Unter seiner Herrschaft kam es aber auch zur Bevölkerungsexplosion in China. Wenn man es also hartgesotten betrachtet, hat Mao unterm Strich also vielleicht mehr Leben geschaffen als Tod gebracht.

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Diese erheblichen Erfolge halten sich Kommunisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass zu dieser Zeit auch andere Länder, vor allen Dingen in Asien, eine solche erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht haben, ohne auf den Kommunismus zu setzen). Sie können es sich auch zugute halten. Angesichts der gewaltigen menschlichen Opfer sind sie vielleicht geneigt, die Sowjetunion und Rotchina, die sie damals so bewundert haben, heute, etwas achselzuckend, als „Entwicklungsdiktaturen“ zu kategorisieren (und zu den Akten zu legen). Einige ehemalige Revolutionäre wie Gerd Koenen gehen, etwas melancholischer, so weit, in der Sowjetunion und in Rotchina dann auch nur den Versuch zu sehen, die Bevölkerung und die Ressourcen zum Zweck der eigenen nationalen Machtentfaltung zu organisieren, also einen imperialistischen Versuch, der sich vom kapitalistischen Imperialismus auch nicht großartig unterschieden habe. Wie soll man das bewerten? Trotzdem Lenin, Stalin und Mao psychopathienahe Charaktere waren, waren sie an der Entwicklung ihres Landes und an der Errichtung einer besseren Gesellschaft ernsthaft interessiert und haben diesen Zielen ihre Energien und ihr Leben gewidmet. Dass es in der russischen und chinesischen politischen Kultur eher darum geht, das eigene Land groß und mächtig zu machen und weniger die Bevölkerung und deren individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, war eine Mentalität, der auch sie sich nicht entzogen haben, sich entziehen konnten oder wollten. Ebenso ging es ihnen darum, den Sozialismus aufzubauen und die Revolution zu sichern – wenn man also so will, um Ideale, um Konstruktivität und den Aufbau einer besseren Welt. Allerdings drängt sich die Frage auf, wie viel authentisches Verständnis und wie viel Tiefenschärfe ihre Verständnisse für all das hatten. Letztendlich war das (sozialistische) Weltbild von Stalin und Mao ein selbstgerechtes, paranoides Weltbild, das plump in Gut und Böse unterteilte und das von paranoiden Vernichtungs- oder zumindest Reinigungs- und Säuberungsphantasien durchzogen war. Das starke Interesse an der Entwicklung ihres Landes seit ihrer Jugend ist nichts, was bei hochbegabten, intellektuellen Jugendlichen wie Lenin, Stalin, Mao und diversen kommunistischen Führern in ihrer damaligen Zeit in ihren jeweiligen Ländern an sich ungewöhnlich oder heroisch gewesen wäre. Vielmehr entsprach es einem Geist, der in der Luft lag. Allerdings haben sie – unter lebensgefährlichen Umständen – der Revolution auch ihr Leben gewidmet. Ob diese Lebensentscheidung in erster Linie heroisch oder fanatisch war, ist schwer zu durchschauen. Inwieweit ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus ein authentischer Impuls für sie war, oder eher eine unbewusste Projektion ihrer persönlichen Komplexe in die Welt, und ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus nicht in erster Linie unbewusst der Expansion ihrer Egos und dessen pathologischer Bedürfnisse galten, ist auch nicht leicht auszusortieren. Kommunisten (und auch andere) entschuldigen die Gewaltexzesse unter ihrer Herrschaft gerne damit, dass Lenin, Stalin, Mao et al. bei der Entwicklung ihres Landes vor Problemen standen, für die es keine konziliante Lösung gegeben hätte. Allerdings haben sie diese Probleme und Konflikte auch absichtlich und lustvoll heraufbeschworen. Lenin, Stalin, Mao waren pathologische Persönlichkeiten, die sich allerdings in pathologischen Umständen bewegt haben. Sie haben sich einer Ideologie verpflichtet gefühlt, die ein erhebliches Potenzial hat, ins Pathologische abzugleiten (dem Marxismus). Wollen wir uns Mao also in all diesen Hinsichten versuchen, zu vergegenwärtigen.

Die bei ihrem Erscheinen spektakuläre, mittlerweile aber nicht mehr zentrale Mao-Biographie von Chang und Halliday widmet sich auf gut 1000 Seiten dem Versuch der Darstellung Maos als reinem Machtmenschen, der also an nichts als an Macht als Selbstzweck interessiert gewesen wäre. Etliches von dem, was an Material offeriert wird, ist (wenngleich auch so bekannt) auch beklemmend und kann schwer beiseite geschoben werden. Allen anderen Biographien zufolge erscheint Mao dann aber doch als deutlich komplexere, dialogorientierte, neugierige, an der Welt interessierte, bildungshungrige Persönlichkeit – und eben vor allem als eminent politische Persönlichkeit. Mao war kein reiner Wille zur Macht. Mao hat früh einen Personenkult um sich pflegen lassen und sich den Apparat seiner Partei hörig gemacht. Dass er in eine solche Position von Macht und Einfluss kommen konnte, hatte er aber seinem Charisma und seinem Intellekt zu verdanken. Genau gesagt, dem Umstand, dass er ein origineller, mehr noch: originärer Denker der Revolution war. Wenngleich es honorigere Marxisten in China gegeben hat und tatsächlich große marxistische Gelehrte (zu denen Mao meist in einem guten Verhältnis und in einem Verhältnis von großem wechselseitigen Respekt gestanden ist), war es die originäre Leistung von Mao, marxistisches Gedankengut mit den Erfordernissen, die sich aus den Verhältnissen in China an die Revolution ergaben, zu synthetisieren. Diese Synthese war dann eben der Maoismus, eine Ideologie, die für einige Jahrzehnte auf der Weltbühne virulent zu werden vermochte. Inwieweit Maos Streben nach der Revolution (und der Macht) primär aggressiv oder primär defensiv und reaktiv war, verliert sich im Dunkel. Ob – stellvertretend dafür – Mao tatsächlich in erster Linie unter einem tyrannischen Vater gelitten hat (bzw. ob der Vater tatsächlich so tyrannisch gewesen war, wie von Mao später beschrieben), oder ob Mao in erster Linie von sich aus ein ungehorsamer, aufmüpfiger, arroganter Sohn war, lässt sich anhand des biographischen Materials kaum entscheiden. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Auf jeden Fall aber lässt das Aufeinandertreffen von solchen Dispositionen bei der einen und der anderen Partei ein erhebliches Konfliktpotential zu. Und ein solches Konfliktpotenzial lag im Großgefüge des damaligen China.

Ein gefühlskalter Machtmensch ist Mao bei alldem gewesen. Und als solcher erwies er sich im Alter immer mehr, in dem er immer paranoider wurde. So wie Stalin ist Mao ursprünglich in die Rolle des Diktators geschlüpft, weil er glaubte, es müsse sein und ginge nicht anders, um konstruktive politische Ziele zu erreichen, um das bislang Erreichte abzusichern. Das ist – wie im Fall der Selbstkrönung Napoleons (oder Julius Cäsars) und seiner Ausrufung zum Kaiser – rational nicht von der Hand zu weisen. Wie im Fall von Napoleon oder Cäsar lag es allerdings auch in der Entwicklungsbahn all dieser imperialistischen Persönlichkeiten, wie Mao, Stalin und viele andere es waren. Vor allen Dingen war es eine Entwicklung und eine Entscheidung, die neue Konflikte und Probleme erst produzierte und die, aus einem mehr oder weniger rationalen Kalkül heraus entstanden, den Boden für irrationale und erratische Politiken bereitete. Maos Leibarzt, Dr. Li Zhisui, stellt auch in den Raum, dass Maos zunehmender Größenwahn und zunehmende Paranoia im Alter die Folge einer unbehandelten Geschlechtskrankheit gewesen sein könnten. Auch in Maos Sexualverhalten scheinen Sinnlichkeit und Machtmenschentum amalgamiert gewesen zu sein. Mao hatte großen sexuellen Appetit (angeblich gegenüber beiden Geschlechtern). Als er sich auf diesem Weg Trichomanas vaginalis zugezogen hatte, lies er die Krankheit nicht behandelt, da sie für ihn asymptomatisch verlief. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass er so aber die Krankheit an zahllose andere seiner SexualpartnerInnen weitergab. Trotzdem er aufgeklärter Marxist war, hing er dem Volksglauben an, wonach Geschlechtsverkehr mit jungen Frauen den Alterungsprozess verzögerten. Wenn man so will, kommt in all dem eine menschlich-allzumenschliche, aber auch eine eigenartige und unmenschliche, unberechenbare/unverantwortliche Persönlichkeit zum Vorschein.

Mao war früh von dem expliziten Wunsch getrieben, ein außergewöhnlicher Mensch und ein großer Führer zu werden. Das ist eine unangenehme Konstante in Maos Leben und Wirken. Zumindest einmal führte das zu der deprimierenden Selbsterkenntnis, dass für eine Rolle aber nicht geeignet sei. 1921 enthüllte er in einem Brief an einen Genossen acht Mängel, die er bei sich feststellte und die ihn, seiner Meinung nach, daran hinderten, je ein tatsächlich außergewöhnlicher Mensch und großer Führer zu sein, und zwar: 1 zu emotional und stets im Griff von Gefühlen; 2 zu subjektiven Urteilen neigend; 3 etwas eitel; 4 zu arrogant; 5 selten selbstkritisch, zu schnell im negativen Urteilen über andere und nicht bereit, eigene Fehler einzugestehen; 6 gut in großen Reden, aber schwach in systematischer Analyse; 7 zu hohe Selbsteinschätzung und allzu leicht mit Eigenlob bei der Hand; 8 „willensschwach“ … Mao war ob dieser Selbsteinschätzung sehr deprimiert, sagte aber auch: Ich möchte mein wahres Ich nicht opfern, ich möchte mich nicht in eine Puppe verwandeln. Die Biographen Pantsov und Levine merken an: „Maos Selbstverachtung verging so rasch, wie sie gekommen war. Er sollte nie mehr an seinem Recht auf Macht zweifeln. Erstaunlich ist nur, dass der Brief überlebt hat.“

Mao Zedong war ein Exzentriker. Er hasste Disziplinierung und Kontrolle durch andere, er bewegte sich selbstbestimmt, teilweise ziellos und schlendernd durchs Leben. Er besuchte staatliche Feiern in einem geflickten Schlafanzug und zwang führende chinesische und ausländische Politiker zu Audienzen in den frühen Morgenstunden. Er war ein Schürzenjäger, aber putzte sich im Leben nie die Zähne (er zog es vor, sie mit grünem Tee auszuspülen). Sein Glaube an die geschichtliche Vorherbestimmtheit des Sozialismus und andere Aspekte seiner Ideologie und auch seiner Selbsteinschätzung kommen dem magischen Denken von Schizotypischen nahe. Er war, wie für Exzentriker typisch, intensiv, neugierig, vielseitig und belesen und wollte alles genau wissen. Mao entfaltete großes Charisma, indem er Menschen, inklusive anderen Staatsoberhäuptern, in einer informellen, zwanglosen Weise begegnete oder, wie beim Treffen mit Nixon und Kissinger in seiner „Gelehrtenklause“ (wie Nixon Maos privateste Räumlichkeiten empfand), darauf bestand, anstelle von herkömmlichen politischen Gipfelgesprächen locker zu „philosophieren“. Den finsteren Mobutu begrüßte er bei einem Staatsbesuch lachend: Sind Sie das wirklich? Angesichts all der Attentatsversuche, die ich auf Sie unternommen habe, kann ich das gar nicht glauben. Nur ein Exzentriker kann letztendlich einen Großen Sprung nach vorn und eine Kulturrevolution anzetteln, und dann wieder versuchen, „Hundert Blumen blühen“ zu lassen. Nur ein Exzentriker wird permanent versuchen, etwas zu tun, was deutlich aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fällt, so wie Mao das tat. Nur ein Exzentriker kann sagen: Die Atombombe ist ein Papiertiger. Für Exzentriker ist es typisch, dass sie aufmüpfig oder gar „revolutionär“ sind, zumindest aber in einer Welt leben, die von der herkömmlichen Lebenswelt der Menschen verschieden ist. Leider sind Exzentriker, trotz aller für sie typischen Offenheit und Neugierigkeit, oftmals auch sehr selbstbezogen, außerdem unrealistisch und weltfremd. Durch sein Exzentrikertum hat Mao seine charismatische Strahlkraft entfaltet, und Exzentriker (gefährliche und ungefährliche) hat er auch angezogen. Exzentriker glauben gerne, dass die „Normalen“ die eigentliche Gefahr seien. Aber vielleicht sind das eher Exzentriker, die die Macht erobern und ihre Exzentrizität dann als neue Normalität ausrufen, der die Normalen dann begeistert folgen. Für die Maoismus-Forscherin Julia Lovell scheint der Maoismus besonders als Ideologie für Verrückte geeignet, die mit der Gesellschaft in Konflikt treten wollen – oder aber sie beherrschen wollen.

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Mao war ein Gewaltherrscher. Aber Maos ganzes Leben war von Gewalt begleitet und die gesamte Geschichte von China ist von verheerender Gewalt durchzogen. Der Taiping-Aufstand, ein Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts, der 20 Millionen Tote forderte, ist vergleichsweise bekannt. Aufstände entfachten dabei in China immer wieder eine verheerende Wirkung. Während der An-Lushan-Rebellion im 8. Jahrhundert könnten bis zu 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Ähnlich katastrophal waren die Nian- und Miao-Aufstände des 19. Jahrhunderts sowie die muslimischen Erhebungen in Yunnan und im Nordwesten Chinas. Rekonstruktionen gehen in den betroffenen Provinzen von Todesraten von 40 bis 90 Prozent aus, wobei die Mehrzahl der Menschen weniger durch Waffengewalt als durch Krankheiten und Hungersnöte gestorben ist. Die Geschichte Chinas ist auch eine Geschichte von katastrophalen Hungersnöten, bei denen darüber hinaus die Obrigkeit untätig geblieben ist und keine Hilfe geleistet hat (wie effizient das logistisch zu dieser Zeit möglich gewesen wäre, ist eine andere Frage). In Maos Jugend kam es zu Aufständen der Armen und der Bauern, die sich zu mafiaähnlichen Banden zusammenschlossen. Ebenso brutal und marodierend, wie diese vorgingen, wurden sie von der Obrigkeit bekämpft. Diese Gewalt und Gegengewalt hinterließen bei Mao nach eigenem Bekunden einen unauslöschlichen Eindruck und prägten ihn ein Leben lang. Später gingen Obrigkeiten mit brutaler Gewalt gegen Gewerkschaften und gegen Streikende vor – oftmals, indem sie plötzlich die Seiten und die politischen Loyalitäten wechselten und sich als verschlagen und unberechenbar erwiesen. Das war dabei Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich die einzelnen Gruppen feindselig bis hasserfüllt gegenüberstanden, die sich gegenseitig fremd waren und die keinen Modus der Mediation zwischen diesen Gruppen gefunden hatte. So war die Obrigkeit selbst opportunistisch, selbstsüchtig und verächtlich gegenüber der Bevölkerung. Bevor Mao 1949 China geeinigt hat, haben sich Provinzgouverneure (d.h. die Obrigkeit) teilweise wie Warlords oder Mafia-Kriminelle aufgeführt und die eigene Bevölkerung terrorisiert und erpresst, sie haben geraubt und Menschen, zu deren Schutz sie eigentlich da waren, entführt und vergewaltigt. Dann kam noch die Gewalt des Auslands dazu, vor allem die sadistische Brutalität der japanischen Besatzer, unter der die chinesische Bevölkerung jahrelang zu leiden hatte (zu einer seiner beiden großen Lebensleistungen hat Mao es gerechnet, die japanischen Imperialisten vertrieben zu haben).

Dazu kommt, dass China im Lauf seiner Geschichte (und daher womöglich auch in seiner Zukunft) Phasen des Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat. Die autoritäre Obrigkeitsstaatlichkeit in China ist darin begründet, dass China tatsächlich instabil ist. Mein Facebook-Freund Stephen (ein Australier, also Bewohner eines Landes/Kontinents, den die Chinesen seit geraumer Zeit als Rohstofflieferanten-Kolonie unter ihre Fittiche zu bringen versuchen) hat es einmal so formuliert: Die Geschichte von China ist eine Geschichte von 5000 Jahren Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung: das nennen sie dann Zivilisation. Nach 1912 und nach der sklerotischen Herrschaft der Kaiserinwitwe Cixi war China erneut in einen Zustand der streitenden Staaten zerfallen, die oftmals von Warlord-ähnlichen Gouverneuren regiert wurden. Eine bedeutende Leistung von Mao war es, China 1949 geeint zu haben. Deswegen werden die Chinesen den Großen Steuermann nie vergessen.

Es sollte unterstrichen werden, dass die Gewalt, die Mao in seinem Leben, als Chinese, erlebt hat, vor allem in der gewissen Alltäglichkeit, in der sie aufgetreten ist und von allen Seiten gekommen ist, etwas war, von dem wir uns keine Vorstellungen machen können. Die Gewaltherrschaft Maos war nichts, was in einen friedlichen Zustand hineingebrochen wäre. Als aufgeklärter junger Mensch hat Mao ursprünglich geglaubt, mit der Obrigkeit in einen Dialog treten zu können, doch er musste erleben, dass das nicht möglich war. So gelangte er (seinerseits offenbar ziemlich schnell und unbekümmert) zu der Auffassung, dass Gewalt ein notwendiges, ein normales Mittel zur politischen Willensdurchsetzung sei. Mao selbst hat viele seiner Freunde und Genossen und vor allen Dingen Angehörige seiner eigenen Familie wie seine Brüder, seine zweite Ehefrau und auch Kinder durch brutale Gewalt verloren (sonderlich betroffen gemacht haben ihn solche Verluste allerdings auch im engsten persönlichen Bereich nicht).

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Es kommt in den damaligen Verhältnissen in China noch eine andere Form von Gewalt hinzu. Es herrschte in China die strukturelle Gewalt der Armut, der Obrigkeitsstaatlichkeit, einer repressiven Kultur, eines repressiven Patriarchats und der Stigmatisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden (wie der Hakka oder der Muslime). Vor allem gab es die Gewalt der Rückständigkeit, des eisernen Beharrens auf überkommenen Traditionen, und die Unfähigkeit von ganz China, sich zu modernisieren. Vieles von den damaligen Zuständen musste einem Beobachter – in umso schmerzlicherem Kontrast zum Bild von China, das eigentlich groß, ruhmreich und ehrwürdig ist – als menschenfeindliche Idiotie erscheinen. Und als solche erschien sie auch Mao.

Mao war ursprünglich kein Kommunist und Marxist gewesen, und dem Bolschewismus stand er skeptisch gegenüber. Er hatte auch als junger Mann keine Sympathien für die Leiden der arbeitenden Klasse. Was ihn interessierte, war die nationale Wiedergeburt Chinas, und er war ursprünglich ein Liberaler und ein Anarchist. Seine persönliche Freiheit und Selbstkultivierung interessierten ihn (in einigermaßen egozentrischer Weise), und so nahm er naturgemäß an, dass seine persönlichen Wertvorstellungen auch für die Gesellschaft insgesamt ein Modell sein könnten. Er musste jedoch feststellen, dass ein solches Gedankengut von den breiteren Massen kaum verstanden wurde und kam so zu dem Schluss, dass nur eine Art Bolschewismus das Land modernisieren könnte und die Sowjetunion als Vorbild für China zu dienen hätte.

Mao, Pol Pot oder Abimael Guzman (oder Karl Marx) waren ehrlich schockiert von der Korruptheit, dem Aberglauben und der Lethargie in der Bevölkerung und wollten dem Volk helfen, sich in seinem eigenen Interesse aus seiner Unmündigkeit zu befreien, wobei sich in diese erhebenden Gefühle allerdings auch schnell Verachtung und Hochnäsigkeit gegenüber dem Volk hineingemischt hat. 1919 schrieb Mao entnervt: Die wahre Gefahr (für China) liegt in der vollkommenen Leere und Fäulnis der geistigen Welt des ganzen chinesischen Volkes. Von den 400 Millionen Einwohnern Chinas sind 390 Millionen dem Aberglauben verfallen. Sie glauben an Geister und Gespenster, an Wahrsagerei, an das Schicksal, an den Despotismus. Es gibt absolut keine Anerkennung des Individuums, des Ich, der Wahrheit. Und zwar weil das wissenschaftliche Denken sich nicht entwickelt hat … Die Volksmassen haben nicht die geringste Ahnung von Demokratie und nicht die geringste Vorstellung davon, was Demokratie ist…

Mao wollte Politik machen – ursprünglich mit friedlichen Mitteln –, er musste aber feststellen, dass es in der Gesellschaft gar keine Grundlage gab, um Politik zu machen. Die chinesische Gesellschaft war keine politische Gesellschaft, und der Vorstellungshorizont der Menschen war so eingeengt, dass sie in allen öffentlichen Angelegenheiten nur an sich selbst und ihren eigenen Vorteil dachten, obendrein abergläubisch und in irrationalen Traditionen verhaftet dachten und handelten. So gesehen ist es vielleicht besser, wenn man China nicht regieren muss. Aber Mao wollte genau das allerdings. Das war also eine Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat. Allerdings hat er sie auch einigermaßen ausgelöffelt. Mao hat China auf jeden Fall modernisiert und er ist als großer Modernisierer in die Geschichte eingegangen.

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George Kennan, wichtiger amerikanischer Diplomat und eine Art geistiger Vater des Kalten Krieges, meinte 1948, dass die Gesellschaften Asiens von der amerikanischen zu verschieden seien, als dass sie von den Amerikanern in adäquater Weise begriffen werden könnten, und als dass die Amerikaner eine nützliche Rolle in ihrer Entwicklung spielen könnten. Daher sollte die US-Politik das auch unterlassen. Er schrieb in Memo PPS23: For these reasons, we must observe great restraint in our attitude toward the Far Eastern areas. The peoples of Asia and of the Pacific area are going to go ahead, whatever we do, with the development of their political forms and mutual interrelationships in their own way. This process cannot be a liberal or peaceful one. The greatest of the Asiatic peoples—the Chinese and the Indians—have not yet even made a beginning at the solution of the basic demographic problem involved in the relationship between their food supply and their birth rate. Until they find some solution to this problem, further hunger, distress, and violence are inevitable. All of the Asiatic peoples are faced with the necessity for evolving new forms of life to conform to the impact of modern technology. This process of adaptation will also be long and violent. It is not only possible, but probable, that in the course of this process many peoples will fall, for varying periods, under the influence of Moscow, whose ideology has a greater lure for such peoples, and probably greater reality, than anything we could oppose to it. All this, too, is probably unavoidable; and we could not hope to combat it without the diversion of a far greater portion of our national effort than our people would ever willingly concede to such a purpose.

Vor langer Zeit habe ich einmal eine Gegenüberstellung von Mao und Indiens Nehru gelesen. Nehru wird im Allgemeinen als der viel sympathischere, humanere Politiker wahrgenommen. Doch vielleicht war der Gestaltungswahn Maos und seine Manie, sein Land zu modernisieren, trotz all der Katastrophen, die er mit sich brachte – und der irrationalen Katastrophe, der er für sich genommen war – segensreicher für sein Land, als die vergleichsweise Lethargie, die man in vielen anderen Entwicklungsländern hatte/bis heute hat. Diese Lethargie tut nichts gegen die strukturelle Gewalt und die Armut, die in einem Land herrscht. Sie ist daher ebenso für großflächiges Elend und strukturelle Gewalt verantwortlich, nur dass sie in ihren diesbezüglichen Resultaten stiller und normalisiert daherkommt. Vielleicht war so Nehru mit seiner Politik für größeres und dauerhafteres Leid verantwortlich als Mao mit der seinen. 1962 kam es zu einem Grenzkrieg zwischen Indien und China; wenn man so will, zu einer direkten Konfrontation zwischen Mao und Nehru. Angeblich hasste Mao China. In den späten 1960er Jahren kam es auch zur Formierung von maoistischen Rebellen in Indien, den Naxaliten, die bis heute in einem low intensity conflict mit dem indischen Staat verwickelt sind. Ende der 2000er Jahre war er zuletzt wieder virulenter geworden.

Gerne werden seit einiger Zeit zwischendurch Überlegungen angestellt, ob Indien China als Supermacht überholen, sogar ausbooten könnte. Dagegen ins Feld geführt werden zum Beispiel der schlechte Zustand der indischen Infrastruktur und auch die mangelnde Investition ins indische Humankapital, die schlechte Koordiniertheit der indischen Politik und die Korruption, die zwar in beiden Ländern vorhanden ist, trotz der in China die Dinge aber doch effizienter erledigt werden als in Indien. China hat solche Probleme und Rückständigkeiten zumindest nicht im selben Maße. Wie man sagt, sei China im Planen und Vorausschauen besser als Indien; die indische Art, Probleme in Angriff zu nehmen, sei ziemlich inkrementalistisch und verlasse sich erheblich auf Flickschusterei, die also dazu führe, dass die eigentliche Lösung von Problemen immer wieder verschleppt werde, und die Gewalt als strukturelle Gewalt normalisiert bleibe. Angeblich sterben tausende Menschen in Indien bei Unfällen mit den völlig überfüllten Pendlerzügen. Der Lärm, der in den Nachtzügen herrsche. In Indien herrsche kein Verständnis dafür, dass die persönliche Sphäre nicht in die öffentliche hineinreiche. Inder spielten im Nachtzug ihr Radio so laut, wie es ihnen gefällt, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitreisenden. Daher sei die öffentliche Sphäre in Indien in konkreter wie in abstrakter Hinsicht eine Kakophonie. In dieser Kakophonie komme die Dysfunktionalität Indiens (also der mangelnde zwischenmenschliche Zusammenhalt) zum Ausdruck, hat mal einer gemeint, der es wissen muss, und dem ich nicht unbedingt widersprechen will.

Ich begrüße die Möglichkeit, über diese Betrachtung fremder Länder und Kulturen ein bisschen eurochauvinistisch sein zu können. Der amerikanische/Eurochauvinismus ist unter den (Halb)Gebildeten heutzutage sehr schlecht angeschrieben, wenn nicht als geradezu satanisch verpönt. Daher freue ich mich über eine solche Abwechslung, die durch die Betrachtung nicht-europäischer Kulturen und Mentalitäten möglich wird. Bei der Gelegenheit können wir zum Beispiel hindische Nationalisten (und linke woke Aktivisten, die mit solchen Nationalisten eine seltsame Allianz eingehen) ärgern. Die Figur des Apu bei den Simpsons wurde vor einigen Jahren als „problematisch“ eingestuft; obwohl der eigentlich eine der sympathischsten, rationalsten und persönlich reifsten (außerdem frauenfreundlichsten) Charaktere von Springfield ist. Wenngleich natürlich ein wenig klischeehaft. Ich finde bei der Gelegenheit, man könnte über Apu einen indischen Einwanderer zeigen, der näher an der Realität ist. Also zum Beispiel einen hindischen Nationalisten und Modi-Fan. Keinen großen Freund der Demokratie. Einen Rassisten gegenüber Europäern (und diversen anderen), von denen er sich in seinem indisch kulturellen Überlegenheitsdünkel gekränkt fühlt. Einem Anhänger des Kastensystems, voller Verachtung für die ungewaschenen Armen und Unberührbaren. Der seine Frau zumindest schlägt; schließlich hat man eine so genannte Rape Culture in erster Linie in Indien. Anstelle von seinem freundlichen Ganesha könnte er mit seinen heiligen Kühen kommen, die überall hindürfen und die überall alles vollscheißen. Verkehrsregeln dürften für ihn nicht existieren. So wie John McCain einmal erwischt wurde, wie er (zur Melodie von Barbara Ann von den Beach Boys) Bomb bomb bomb, bomb Iran intonierte, könnte der realistische Apu Bomb bomb bomb, bomb Pakistan singen. Etc.

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Die Mao-Bibel kann man als etwas Unerträgliches und Trockenes ansehen. Aber auch als etwas sehr Erfrischendes, und sogar, neben dem Trost der Philosophie von Boethius, den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, den Büchern vom glücklichen Leben von Seneca, dem Zarathustra von Nietzsche, den Fragmenten von Epikur und Epiktet, dem Handorakel von Balthasar Gracian, dem Buch von der Nachfolge Christi von Thomas Kempen, den Predigten von Meister Eckhart, den Gesprächen von Konfuzius, oder dem Tao te king oder dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken von mir, in die Reihe der großen Weisheitsbücher der Weltgeschichte stellen. Sie schildert eine Gesellschaft, einen Umgang der Menschen untereinander, ein Verhalten von Vorgesetzten zu ihren Untergebenen, von Militärführern zu Soldaten, und von revolutionären Soldaten und Führern gegenüber dem einfachen Volk, wie sie letztendlich sein sollten. Sie schildert eine ideale Welt. Dem kann man sich nicht leicht entziehen. Vor allen Dingen nicht aufgrund der ebenso einfachen und klaren, beinahe bildhaften Sprache von Mao Zedong (und seiner Redakteure), ihrem emotionalen Appell und ihrer großen Suggestivität. Eine onkelhafte Weisheit des mittleren Alters scheint von Mao auszugehen, die gleichzeitig milde und unaufdringlich ist und ebenso bestimmt und den Weg vorgebend. Diese ganz große Angelegenheit von der Schaffung der idealen Welt und dem revolutionären Umstürzen der jetzigen, altersschwachen Welt, erscheint als eine Art Märchen, als eine eben biblische Angelegenheit, die allerdings erst vor uns liegt, jedoch noch zu Lebzeiten stattfindet. Allein die kommunistische Ideologie und Gesellschaftsordnung sind voller Jugendfrische und Lebenskraft, sie gleichen einer allmächtigen Naturgewalt, die mit unwiderstehlicher Kraft über das ganze Erdenrund hinwegfegt. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Es ist die Geschichte einer ganz großen Zeit und von ganz großen Taten. Der Edelsinn und die edle Tatkraft derer, die sich an der Revolution beteiligen, machen, so wie sie in der Mao-Bibel beschrieben werden, einen für ein paar Momente durchaus ergriffen dreinschauen. Oder mögen die Beteiligung an der Revolution als Lebensaufgabe erscheinen lassen. Vor allen Dingen, da ganz einfach davon ausgegangen wird, dass der Sieg der eigenen Sache vom Sozialismus quasi gesetzlich verbürgt sei, so wie es viele Marxisten bis heute aus irgendwelchen Gründen annehmen. Das sozialistische System wird letzten Endes an die Stelle des kapitalistischen Systems treten; das ist ein vom Willen des Menschen unabhängiges Gesetz. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Solcherart sind die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Die Schriften von Mao in ihren Langfassungen erscheinen als deutlich durchwachsenere Angelegenheit und von deutlich geringerer intellektueller Spannkraft. So etwas wie eine philosophische Bedeutung erlangten allerdings die Schriften von keinem marxistisch inspiriertem Revolutionsführer, mit der Ausnahme Lenins. Die grundlegenden Eigenheiten der maoistischen Interpretation des Marxismus-Leninismus – dass die chinesische Revolution sich nicht auf die Arbeiter sondern auf die Bauern stützen müsse, dass der revolutionäre Kampf nicht von den urbanen Zentren sondern vom Land aus initiiert werden müsse, u. dergl. – waren dabei aber tatsächliche geistige Kinder und originäre Leistungen von Mao. Auf so etwas konnten selbst chinesische Marxisten kaum kommen, da es zu sehr vom orthodoxen Marxismus abweicht. Mao war sehr wohl ein innovativer Denker und ein erfrischender Intellekt. Auf seine Weise war der Vorsitzende Mao Zedong dann auch tatsächlich „der größte lebende Marxist-Leninist seiner Zeit“. Später waren es immerhin Kim Il-sung und Abimael Guzman, die einen solchen Titel für sich in Anspruch nahmen.

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1949 kam Mao in China an die Macht. Der anhaltende Bürgerkrieg in China war damit beendet. Gleichsam aufgrund der dynamischen Natur der Weltrevolution wurde China aber gleich in einen anderen Bürgerkrieg hineingezogen: den in Korea. Der Koreakrieg wurde hauptsächlich von Stalin angezettelt. Stalin sah eine große Konfrontation zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager als unvermeidlich an und er wollte mit dem Koreakrieg die Amerikaner ablenken und ihre Kräfte binden. Mao war an einer solchen Eskalation nicht sonderlich interessiert; Stalin hingegen umso mehr, auch China in den Konflikt reinzuziehen und es, wenn möglich, zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und China kommen zu lassen. Für Stalin selber war der Koreakrieg ein risikoarmer Stellvertreterkrieg. China wurde tatsächlich durch die Gravitation der Ereignisse in den Krieg hineingezogen und opferte seine eigenen Leute in großer Zahl um den nordkoreanischen Brüdern zu helfen. Stalin war daran interessiert, dass der Krieg möglichst lange dauern und möglichst blutig sein würde. Bereits 1951 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg zu beenden, aufgrund der Erschöpfung bei allen involvierten Parteien. Stalin drängte jedoch auf dessen Fortsetzung. Dass der Krieg möglichst brutal geführt werde, helfe den chinesischen und koreanischen Genossen auch, „Kampferfahrung“ zu sammeln, so eine weitere seiner Begründungen. Tatsächlich wurde der Koreakrieg dann 1953 beendet, nach Stalins Tod – allerdings nur mit einem Waffenstillstand. Dies hilft dem nordkoreanischen Regime bis heute, das Land in eine Festung umzuwandeln, eine Art permanenten Notstand bzw. eine Art Militärdiktatur auszurufen und der Bevölkerung gegenüber so zu tun, als sei man nach wie vor „im Krieg“ gegen die „Imperialisten“.

360.000 chinesische Soldaten wurden nach offiziellen Angaben im Koreakrieg getötet oder verwundet. Kim Il-sung war jedoch nur bedingt dankbar. Er blieb eher der Sowjetunion als China hörig, nicht zuletzt um sich dessen natürlicher Dominanz zu entziehen. Auch wenn er Elemente des Maoismus übernahm, setzte er mit seiner Juche-Ideologie auf nationale Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit. Auch wenn das eine gewisse rationale Grundlage hat (nicht allzu sehr unter die Fittiche fremder Großmächte zu gelangen), scheint abermals die Pathologie eines Führers als wesentliches Motiv hinter einem politischen Gesamtprogramm. Kim Il-sung sollte bald schon seinen eigenen Personenkult im Land (und auch auf der internationalen Bühne) in einem Maße aufblähen, das auch den Personenkult um Mao in den Schatten stellte. Er bzw. sein Propagandaapparat begann ihn, mit noch geschmackloseren Superlativen („genialer Führer“, „Rote Sonne der unterdrückten Völker in aller Welt“) zu belegen. In den 1970er Jahren begann er auch direkt mit Mao auf der internationalen Bühne als Führer der Weltrevolution zu konkurrieren oder generierte sich zumindest als „Führer aller asiatischen Menschen“. Gleich den Mao-Zedong-Gedanken gab er Kim Il-sung-Gedanken heraus. „Ihr habt Kim Il-sung gefördert. Wie einen kleinen Baum habt ihr ihn gepflanzt. Die Amerikaner haben ihn ausgerissen. Wir haben ihm am selben Ort wieder eingepflanzt. Jetzt ist er extrem aufgeblasen“, bemerkte Mao gegenüber Anastas Mikojan, einem alten sowjetischen Bekannten aus der Stalinzeit. Glaubt man der westlichen Berichterstattung, scheint die Kim-Dynastie, mit dem „Geliebten Führer“ an der Spitze, allem Kommunismus zum Trotz, das Land Nordkorea als eine Art Privatbesitz zu betrachten, und ihren Besitzanspruch über die „Genialität“ des „Ewigen Führers“ Kim Il-sung und seiner Rolle in der Befreiung Nordkoreas zu rechtfertigen. Heute herrscht ein Nordkorea ein bizarres paranoides und größenwahnsinniges Regime, das im Hinblick auf die Menschenrechtssituation weltweit annähernd den letzten Platz belegt. Das ist allgemein bekannt. Es wird dabei nur noch von dem Regime in Eritrea unterboten. Das ist praktisch nur großen Spezialisten bekannt, da im Gegensatz zu Nordkorea nie über dieses Regime berichtet wird.

Die Kommunisten nehmen gerne für sich in Anspruch, friedliebend zu sein und dass sie die beiden Weltkriege verhindert hätten. Stalin wäre aber offensichtlich so weit gegangen, über den Koreakrieg einen Dritten Weltkrieg zu provozieren, den er sowieso als „unvermeidlich“ ansah, und den er lieber gleich, in einem Augenblick der relativen Stärke führen wollte, als später. 1950 hatte sich die Sowjetunion von den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges relativ schnell wieder erholt, sie war in den Rang einer Atommacht aufgestiegen und hatte halb Europa unter ihr Herrschaftsgebiet gebracht. China war rot geworden. Es bestand die Möglichkeit, den Kommunismus in Asien zu verbreiten. In dem sinistren, agonalen Weltbild von Stalin tauchen solche Kalkulationen auch naheliegenderweise auf. Abgesehen von den persönlichen Pathologien Stalins offerieren der Marxismus-Leninismus und der Maoismus Möglichkeiten auf solche Sichtweisen aber auch ganz allgemein. Maos launenhafte Bemerkungen über die Atombombe als Papiertiger und dass China einen Atomkrieg nicht zu fürchten brauche, da seine Bevölkerung zu zahlreich sei um dabei restlos ausgelöscht zu werden, waren Provokationen eines Exzentrikers. Aber so ferne scheint ihm all das dann doch nicht gelegen zu sein. Ende der 1950er Jahre brach er allerhand Streitigkeiten vom Zaun, um die internationale Lage und die „friedliche Koexistenz“ zu destabilisieren. Vor allem wollte er einen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion heraufbeschwören und schließlich auch einen direkten Konflikt mit den USA, als er im Jahr 1958 Jinmen bombardieren ließ, einer von Nationalisten kontrollierten Inselgruppe zwischen dem Festland und Taiwan. Wenngleich er kein Interesse hatte, diese Inseln tatsächlich zurückzuerobern, manövrierte er sein Land in eine potenziell so gefährliche Situation, wie es später die Kubakrise für die Sowjetunion war. Das Ziel war, die Amerikaner unter Druck zu setzen und sich als „Revolutionsführer“ zu gerieren – vor allem aber wohl, um Druck im eigenen Land aufbauen zu können und China in eine Festung umwandeln zu können, die sich umso rascher industrialisieren müsse um „wehrhaft“ zu bleiben (was dann im Großen Sprung nach vorn versucht wurde). Das Risiko, das Mao mit dieser Verschärfung der internationalen Lage heraufbeschworen hatte – ein weltweiter Atomkrieg – war hoch. Und Mao schien einer solchen Konfrontation auch tatsächlich nicht abgeneigt. Seinem Leibarzt gestand er, dass er es auf eine umfassende Konfrontation abgesehen hatte, ohne Rücksicht auf die menschlichen Konsequenzen: „Vielleicht lassen sich die USA dazu bewegen, eine Atombombe auf Fujian abzuwerfen. Vielleicht werden dadurch zehn oder zwanzig Millionen Menschen getötet“. Auf Chruschtschow blickte Mao nicht zuletzt auch wegen dessen Entspannungspolitik mit den USA herab (auch wenn er eine solche dann später gemeinsam mit Nixon einleitete).

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Nach dem Tod Stalins verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China, bis sie schließlich von einer irrationalen Feindseligkeit bestimmt waren. Eine solche Dynamik liegt konkurrierenden Großmächten wohl in einem erheblichen Grad inne. Trotzdem war diese Degeneration hauptsächlich ein Werk Mao Zedongs.

Mao Zedong hatte große Ehrfurcht vor Joseph Stalin. Ohne die wirtschaftliche und militärische Hilfe, die die chinesischen kommunistischen Rebellen während der Jahrzehnte des Bürgerkriegs von der Sowjetunion erhalten haben, wären sie wohl untergegangen. Insofern verdankten die chinesischen Kommunisten den sowjetischen vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel. Seit Beginn ging diese Hilfe aber damit einher, die chinesischen Kommunisten unter die Fittiche Moskaus zu bringen und sie zu einem (oftmals schamlos als solchen ausgenutzten) Instrument der sowjetischen Außenpolitik zu machen. Stalin benahm sich schließlich, auch nachdem Mao zum Herrscher von China aufgestiegen war, sagenhaft arrogant, wenn nicht niederträchtig gegenüber ihm. Das rationale Kalkül, einen potenziell gefährlichen Konkurrenten klein zu halten, hat dabei ebenso eine Rolle gespielt, wie die irrationale Seltsamkeit von Stalins Charakter. Auch in ganz praktischer Hinsicht gab Stalin Mao in seinen hochfliegenden Industrialisierungsplänen fortwährend Dämpfer. Er wollte, dass sich China bescheidenere Ziele setzte als Mao es vorhatte. Das war wahrscheinlich auch gut gemeint, denn aufgrund der eigenen Erfahrungen wussten die Sowjets, was für hohe menschliche Kosten ein solcher Kurs fordern würde, und dass eine überhitzte wirtschaftliche und industrielle Entwicklung die Gefüge im Land insgesamt auseinanderbringen würde (was sich spätestens beim Großen Sprung nach vorn für China entsetzlich bewahrheiten sollte).

Nach Stalins Tod bemühte sich die sowjetische Führung hingegen, Mao mit allen nur erdenklichen Mitteln entgegenzukommen. Sie hatte Angst, dass sich Maos China, bei einer Fortsetzung der bilateralen Beziehungen im Stile Stalins, beleidigt aus dem sowjetischen Orbit bewegen könnte. Das passierte dann tatsächlich – allerdings gerade deswegen. In Chruschtschows übertriebener Jovialität begann Mao eine Schwäche zu wittern – etwas, das er bei Politikern verachtete. Die Geheimrede von Chruschtschow 1956, in der er mit dem Stalinismus brach und sich von ihm loszusagen suchte – womit er indirekt auch eine Richtung für alle anderen kommunistischen Regierungen vorgab – stieß Mao abermals sauer auf (unter anderem, da es ja auch seinen eigenen Herrschaftsstil unterminierte). Der Stalinismus war vor allem aber kein Modell für die Sowjetunion der 1950er und 1960 Jahre mehr, für eine einigermaßen fortgeschrittene, aufgeklärte, urbanisierte Gesellschaft, die zunehmend dynamischer wurde. Und in der die Bevölkerung an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben wollte, die unter Stalin erfolgt ist, die aber der Produktionsgüterindustrie gegolten hat. Die sowjetische Bevölkerung wollte, nach Jahrzehnten der Entbehrung, endlich auch konsumieren. Die sowjetische Führung musste daher auch die Konsumgüterindustrie ausbauen (was ihr, bis zuletzt, nur in unzureichendem Maße gelungen ist – da das Insignium und die Zuliefererindustrie für die Staatsmacht eben die Produktionsgüterindustrie war: das hat mit zum Untergang der Sowjetunion beigetragen). Vor allem waren die Ineffizienzen der Planwirtschaft nur allzu deutlich. Daher versuchte die Sowjetführung die Wirtschaft und auch die Gesellschaft zu liberalisieren.

Mao war in eigentümlicher Weise nicht in der Lage, dergleichen nachzuvollziehen (wie es allerdings auch etliche andere Kommunisten in aller Welt nicht waren). Er sah im sowjetischen Kurs eine „bourgeoise Restauration“, die es im Sinn der echten Revolution immer und überall zu bekämpfen galt. Es ist bemerkenswert, wie schematisch Mao dachte und wie wenig Tiefenschärfe seine Wahrnehmung hatte, wenngleich solche Anti-Leistungen Marxisten und ideologisch denkende Menschen freilich immer wieder mit Leichtigkeit aufzubringen imstande sind. Auch Lenin hält 1920 fest (in Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus): Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. Etwas darauf musste Lenin all das Gewicht seiner Autorität in die Waagschale werfen, um seine bolschewistischen Genossen von der Notwendigkeit der Neuen Ökonomischen Politik zu überzeugen. Die schließlich dann auch wieder abgeschafft wurde. Indem der Marxismus sich gegen das Bürgerliche und gegen das Kapitalistische insgesamt wendet, ist es naheliegend, passiert es beinahe gezwungenermaßen, dass er das auf allen Ebenen tut (auch wenn heutige Marxisten das, im Großen und Ganzen, natürlich nicht mehr tun würden). Ohne die Vergesellschaftung der Landwirtschaft kann es keinen vollständigen, gefestigten Sozialismus geben. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Bei Mao wurde diese Haltung nur auffälliger und welthistorisch wirksam. Auffällig und welthistorisch wirksam wurde auch das Zerwürfnis zwischen den sozialistischen Supermächten China und der Sowjetunion. Es sorgte für erhebliche Irritationen innerhalb des kommunistischen Lagers. Mao steigerte sich immer mehr in eine Verachtung gegenüber der „revisionistischen“ Sowjetunion hinein, es kam zu einem Grenzkrieg, einer bisweilen gefährlichen Zuspitzung der Hostilitäten, zum Leidwesen der Bevölkerung auch zu einem Ausbleiben von sowjetischen Hilfslieferungen an China, als China sie am nötigsten gebraucht hätte. Während Mao in den Sowjetführern gleichsam Antikommunisten sah, sahen die Sowjetführer in Mao einen unverantwortlichen Abenteurer.

Das Festhalten vieler Kommunisten am Stalinismus hat auch damit zu tun, dass der Stalinismus als etwas von Kompliziertheiten Gereinigtes erscheint, etwas – dem Faschismus Ähnliches – ästhetisch Einwandfreies, Unkontaminiertes. Er kommt der schematischen Wahrnehmung entgegen. Er beruht auf eindeutigen Freund-Feind-Unterscheidungen, indem er selbst in einem hohen Maß auf Feindseligkeit, Paranoia und Frontstellung beziehen beruht. Indem er selber der Feind ist. Der Kommunismus/Marxismus hat einerseits eminent konstruktive Elemente, andererseits erhebliche, die sich über Feindseligkeit konstituieren. Wie das eine und das andere dann gewichtet ist, hängt vom individuellen Kommunisten ab. Bei Mao gab es ein starkes Bedürfnis nach Konstruktivität. Aber vielleicht war das, was noch stärker in ihm waltete, die Feindseligkeit. 

Allerdings war die Entscheidung für eine Übernahme stalinistischer Politik eine pragmatisch angezeigte. Bei all ihrer abstoßenden Brutalität hatte die Industrialisierung nach stalinistischem Vorbild eine entscheidende Attraktivität: sie funktionierte als Industrialisierung und Modernisierung. Sie war als solche ein Erfolgsmodell, das Ländern, die vor ähnlichen Problemen standen wie Russland, als Vorbild und Leitfaden zu dienen vermochte: also eben auch China. Das Schwarzbuch des Kommunismus wird teilweise als übertrieben antikommunistisch kritisiert. Aber auch dessen Herausgeber Stéphane Courtois ruminiert in der Einleitung, dass Stalin wohl als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen werde. Er habe aus einem unbedeutenden Agrarland, der Sowjetunion, eine Industrie- und Atommacht gemacht. Das halten sich Kommunisten und Stalinisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass solche Erfolgsgeschichten im 20. Jahrhundert eigentlich Legion waren und auch immer wieder von konservativen, kapitalistisch orientierten, antikommunistischen Politikern angeführt wurden). Mao war aber kein konservativer und kapitalistisch orientierter Politiker, er wollte nicht nur die Wirtschaft seines Landes entwickeln, sondern auch den Sozialismus.

Die beiden katastrophalsten, unheimlichsten Entscheidungen, die Mao dabei zu verantworten hatte, waren der Große Sprung nach vorn und die Kulturrevolution.

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Ein besonders radikales „Lebensraum im Osten“-Kolonialisierungsprojekt der Nazis hatte den Tod von 30 Millionen Menschen in Osteuropa im Laufe von mehreren Jahrzehnten einkalkuliert. Beim Großen Sprung nach vorn Ende der 1950er Jahre in China könnten bis zu 45 Millionen Menschen gestorben sein.

Der Große Sprung nach vorn sollte ein gigantisches wirtschaftliches Entwicklungsprojekt sein, ein Industrialisierungsprojekt in einem nach wie vor hauptsächlich agrarwirtschaftlich dominierten Land. Zu diesem Zweck wurden massiv Ressourcen umgeleitet: um die Industrialisierung zu befördern wurde die Landwirtschaft vernachlässigt. Von Enthusiasmus getrieben, bzw. von den Kadern angeordnet, haben Bauerndörfer Hochöfen errichtet, in der Annahme, man könne damit Stahl in hoher Qualität herstellen (Mao hat sich allen Ernstes gewundert, warum die amerikanischen Kapitalisten riesige und kostspielige Stahlwerke konstruieren würden, wo die chinesischen revolutionären Bauern doch zeigen würden, dass es viel einfacher ginge – er würde bald erfahren, worin der Unterschied liege). All das hat dazu geführt, dass massiv Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen wurden – für Industrialisierungsprojekte, die wenig Nutzen brachten. Konfrontiert mit einer mageren Wirtschaftsleistung – und vor allem geringen landwirtschaftlichen Ertrag – haben die lokalen Kader geschönte Zahlen an die nächsthöhere Instanz weitergegeben, die die Zahlen wiederum geschönt haben – bis schließlich ein völlig verzerrtes Bild entstanden ist, das die sich anbahnende Gefahr einer katastrophalen Unterversorgung verschleiert hat. Ausgerechnet zu dieser Zeit kam es in China zu den schwersten Wetterextremen seit Menschengedenken: einer verheerenden Dürre, begleitet von sintflutartigen Regenfällen und Taifunen, die für Überschwemmungen und Zerstörungen sorgten. Als die Katastrophe bereits offenbar war, hat die chinesische Führung sie wiederum versucht vor dem Ausland zu verbergen, und trotz des allenthalbenen Hungers im eigenen Land Getreide exportiert. Genaue Zahlen sind unbekannt, aber man geht davon aus, dass der Große Sprung nach vorn 45 Millionen Todesopfer mit sich brachte.

Der Große Sprung nach vorn erscheint als eine katastrophale Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. Für einen Narzissten wie Mao ist so was immer wieder charakteristisch. In seinem Enthusiasmus und seiner ehrlichen Begeisterung war er aber nicht allein, ein solcher Enthusiasmus und eine revolutionäre Begeisterung herrschte im ganzen Land, in weiten Teilen der Bevölkerung. Leider entsteht Enthusiasmus immer wieder, wenn als Grundlage Dilettantismus und Inkompetenz herrscht. Weder Mao noch die meisten anderen in der chinesischen Führung hatten Ahnung von Wirtschaft. Dazu kommt noch das Potenzial zu enthusiastischer Selbstüberschätzung und Fehleinschätzung der Realität, das im Marxismus und in der revolutionären Mentalität selbst liegt. Und nicht zuletzt eine krasse Rücksichtslosigkeit gegenüber menschlichen Opfern.

Nach der Machtübernahme hatte Mao die Möglichkeit, China nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Der Sozialismus und der Kommunismus sind an und für sich utopische Projekte; vor allem für ein damals sehr rückschrittliches Land wie China stellte sich die Frage wie der Sozialismus in der Gegenwart verwirklicht werden könnte. Es gab in der KPCh liberalere Kräfte als Mao und es gab in den 1950er Jahren Phasen einer „Neuen Demokratie“. Mao stand all dem im Wesentlichen ablehnend gegenüber. Er entschied meistens zugunsten der sozialistischeren Optionen. Es wurde (mit terroristischen Mitteln) eine Agrarreform durchgeführt und eine Enteignung der Großbauern, bevor man sich den städtischen Besitzenden zuwandte. Privates Unternehmertum bestand bis 1953. Als die Wirtschaft hinreichend stabilisiert war, wurde der Erste Fünfjahresplan beschlossen, der eine Umstellung auf Planwirtschaft beinhaltete. Das Handwerk wurde in Kooperativen organisiert, die Industrie wurde verstaatlicht. Vor allem in den ersten Jahren stand die chinesische Führung vor dem Problem, die Wirtschaft zu organisieren und die Grundversorgung zu sichern. Notgedrungenermaßen musste eine solche Organisation zentralisiert, bürokratisch und von oben herab erfolgen – entgegen aller Romantik von der sozialistischen „Selbstorganisation“ der Massen und ihrer Betriebe. Ein solcher autoritärer Top-Down Sozialismus, wo Betriebsführer und Kader die Macht über wirtschaftliche Betriebe hatten, wurde jedoch beibehalten. Die Arbeiterselbstorganisation wurde abgewürgt und durch eine Einheitsgewerkschaft ersetzt, die eher die Interessen des Staates vertrat als die der Werktätigen. Damit – über die Betriebsführer, die Kader, die Funktionäre – entstand an und für sich eine neue Ausbeuterklasse in China (noch dazu eine sehr korrupte). Die Revolution schuf eine neue Ausbeuterklasse und eine neue Klassenherrschaft. Das führte vielerorts zu Protesten. Vielleicht hat Mao das gedämmert, dass die Resultate seiner Politik den eigentlichen ideologischen Intentionen dieser Politik zuwiderliefen und sie konterkarierten. Vielleicht war das ein Grund, warum Mao die Kulturrevolution anzettelte.

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Die wahren Helden sind die Massen, wir selbst aber sind oft naiv bis zur Lächerlichkeit; wer das nicht begriffen hat, wird nicht einmal die minimalen Kenntnisse erwerben können. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Den Volksmassen wohnt eine unbegrenzte Schöpferkraft inne. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Das verheerende Scheitern des Großen Sprungs nach vorn führte zu einem Machtverlust Mao Zedongs. Der spätere Reformer Deng Xiaoping und Liu Shaoqi übernahmen das Ruder und versuchten, wirtschaftsliberale Reformen einzuleiten. Lange war Mao aber nicht weg. Mitte der 1960er Jahre war seine Macht wieder zementiert (die Interpretation, dass die Kulturrevolution als Machtkampf gegen Gegner in der Partei intendiert war, scheint daher nicht unmittelbar stichhaltig). Trotzdem leitete Mao Ende der 1960er Jahre die Kulturrevolution ein.

Die proklamierte Idee der Kulturrevolution war, die revolutionäre Energie der Volksmassen freizusetzen. In der Reichskristallnacht der Nazis schien es deutlich zivilisierter zuzugehen, wie in der Kulturrevolution, in der großflächig unglaubliche Fälle von Mordlust und Sadismus sich ereigneten, die vorwiegend junge (jugendliche) Chines:innen an Personen auslebten, die sie störten. Schüler zwangen ihre Lehrer, Nägel und Exkremente zu essen, folterten sie zu Tode, vereinzelt kam es zu Fällen von Kannibalismus (bei denen Kulturrevolutionäre stolz darauf waren, „Klassenfeinde“ verspeist zu haben). Mao war ob dieser Ausbrüche der revolutionären „Energien“ – und auch der revolutionären Gewalt – begeistert. Man könne keinen Vorwurf machen, „wenn gute Menschen schlechte Menschen töten“. Wie so viele Kommunisten und Revolutionäre in ihrer mangelnden intellektuellen und moralischen Tiefenschärfe, sah er im Tumult, im Chaos, in der Freisetzung der „revolutionären Energien“ etwas Positives, etwas, das Verkrustungen aufbreche.

Etliche Kommunisten und Revolutionäre stieß Mao mit seiner Kulturrevolution aber auch vor den Kopf, vor allem in der Sowjetunion. Auch dem einstmals loyalen Ho Chi Minh waren seit einiger Zeit Zweifel an Maos Unfehlbarkeit aufgekommen. „Ist hier irgendjemand im Saal, der China besser versteht als ich?“, fragte Ho Chi Minh bei einer Parteiversammlung in die Runde – worauf keiner antwortete. „Und nicht einmal ich kann begreifen, was diese „Kulturrevolution“ wirklich ist.“ Dabei wurde es ja überdeutlich erklärt. Maos Gefolgsmann Lin Biao brachte es zum Beispiel auf den Punkt: Das Ziel der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist die Ausrottung der bürgerlichen Ideologie, die Entfaltung der proletarischen Ideologie, die Umformung des Innersten des Menschen, die Revolutionierung ihres Denkens, die Ausrottung der Wurzeln des Revisionismus und die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems. So einfach und offensichtlich war das ja. Die große chinesische Kulturrevolution ist eines jener abgründigen Ereignisse in der Geschichte, dessen Unergründlichkeit und Abgründigkeit vorwiegend in seiner mangelnden Tiefe lag.

Seiner Frau, einer Hauptinitiatorin der Kulturrevolution, erklärte Mao in einem Brief die Kulturrevolution als „Übungsmanöver“, das „alle 7 bis 8 Jahre“ abgehalten werden müsse, um restaurativen, bourgeoisen Tendenzen in der chinesischen Gesellschaft und in der eigenen Partei entgegenzuwirken. Mit zunehmendem Alter wurde Mao zunehmend paranoider im Hinblick darauf, dass überall die Gefahr der „Restauration“ lauere. Es ist eigenartig, wie kategorisch, genauer gesagt schematisch Mao in seiner Ablehnung der „Restauration“ und des „Bourgeoisen“ war, wenngleich diese schematische Haltung für den Marxismus typisch ist. Trotzdem war und ist eine derartige Starrsinnigkeit keine Haltung von allen Kommunisten, sondern eine gewisse Idiosynkrasie Maos gewesen (die er freilich nach wie vor mit etlichen Kommunisten teilt). Aber Maos gesamtes Denken und Empfinden baute – neben seinen konstruktiven Elementen – eben stark auf einer elementaren Feindseligkeit auf. Und auf einem starken Konkurrenzkampf der Eitelkeit. Vielleicht konnte Maos Eitelkeit es nicht ertragen, dass der liberale Kurs seiner Genossen um Deng Xiaoping die bessere Idee war. Die Revolution war Maos Erbe, und er wollte sein Erbe bewahren. Der revolutionäre Impuls bei Mao hatte immer irrationale Elemente gehabt, und es gibt keine Garantie, dass Menschen statt altersweise und -milde immer noch irrationaler werden.

Der Kommunismus will eine „klassenlose Gesellschaft“ errichten. Die Kulturrevolution zielte aber vielmehr darauf ab, neue Klassenverhältnisse zu zementieren, genauer gesagt, kastenähnliche Verhältnisse. Angehörige der feudalen oder bourgeoisen Klasse – und deren Kinder – wurden als politisch unzuverlässig abgestempelt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die neue Kader- und Funktionärsschicht, und vor allem ihre Kinder, sahen hingegen in der Kulturrevolution die Möglichkeit, sich als politisch zuverlässige, gewünschte Klasse zu positionieren. Ihr Enthusiasmus und ihr revolutionärer Elan scheinen nicht zuletzt aus diesem ganz eigennützigen Motiv erklärbar.

Der Widerspruch des Maoismus, dass er sich einerseits an der „revolutionären Energie der Volksmassen“ erfreut, am Chaos und an der Instabilität, anderseits aber für strikt geordnete, repressive Verhältnisse sorgen will, trat auch mit der Kulturrevolution zutage. Anderen Mächten im Staat wurden die marodierenden Roten Brigaden zunehmend unangenehm, vor allem dem Militär. Mao musste schließlich die Roten Brigaden zurückpfeifen. In den kommenden Jahren setzte Repression und Terror gegen sie ein. Dabei ging der staatliche Terror weit über das hinaus, was die Roten Brigaden angerichtet hatten. Bis zu zwei Millionen Opfer forderte die Kulturrevolution. Nicht allein durch direkte Gewalt oder staatliche Repression, sondern auch durch die erneute Desorganisation, die die Kulturrevolution im Land hervorgerufen hatte. Vor allem in Hunan kam es im Zusammenhang mit der Kulturrevolution und der durch sie bedingten Umleitung von Ressourcen zu Hungersnöten.

Die Kulturrevolution ist den Chinesen dabei nicht nur in schlechter Erinnerung. Neben der echten revolutionären Begeisterung und der Woge des Optimismus brachte sie starke Gemeinschaftserlebnisse mit sich. Die meisten der Roten Brigaden marodierten nicht, sondern nutzten die Gelegenheit, um durch China zu reisen (nichtsdestotrotz wurden sie trotzdem dafür bestraft und lernten ihnen unbekannte und unattraktive Regionen Chinas dann auch so kennen, indem sie für Jahre dorthin deportiert wurden). Arbeiter protestierten im Rahmen der Kulturrevolution für bessere Bedingungen. Mao wollte mit der Kulturrevolution einen neuen, anti-bourgeoisen Menschen erschaffen. Kissinger zufolge fragen sich heute, in einem vom Kapitalismus durchdrungenen China, nicht so wenige Chinesen, ob Mao mit Bestrebungen nicht doch vielleicht irgendwo Recht hatte.

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Mao und Stalin wurden von ihrer loyalen Umgebung aufgrund von ihrer Intelligenz geschätzt, wenn nicht als eine Art Superintelligenz-Mysterium verehrt, und so wurde ihnen blind gefolgt. Tatsächlich waren sie im landläufigen Sinn ja auch recht intelligent. Ich schätze Mao und Stalin hatten einen IQ von um die 150. Was allerdings heißt das? Obwohl intellektuelle Höchstbegabung sehr selten ist, ist sie gleichzeitig ein weites Feld und breites Spektrum. Sie reicht von einem IQ von 145 bis zu vielleicht 200. Marilyn vos Savant, die als intelligenteste Frau der Welt gilt (IQ 186), meint dass unter den historischen Persönlichkeiten unter den Höchstbegabten, bei denen der IQ entweder bekannt war oder geschätzt werden kann, am unteren Ende der Skala politische Revolutionäre angesiedelt sind. Politische Revolutionäre sind also tatsächlich „volksnah“, indem sie nicht von erlauchtester Gescheitheit sind. Die Verheerungen, die politische Revolutionäre anrichten, stehen also sicher damit im Zusammenhang, dass es sich bei ihnen um die vergleichsweise unintelligentesten Höchstbegabten handelt, deren Einsichten in die gesellschaftliche Totalität vergleichsweise mangelhaft sind, und die im Denken zu wenig vorsichtig sind, zudem zu sehr dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. (Ferguson hat einmal ruminiert, die intelligenteste Herrschergestalt der Geschichte könnte der Großmogul Akhbar der Große gewesen sein. Akhbar der Große hatte wohl einen Intelligenzquotienten um die 170. Seine Herrschaft war tatsächlich segensreich für Indien.)  Am oberen Ende der Skala, bei Intelligenzquotienten von 190, vermutet Marilyn vos Savant hingegen „Schriftsteller“. Das wären dann also Leute wie Karl Marx.

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Wie ich vor vielen Jahren einmal einen der Vier Großen Klassischen Romane der chinesischen Literatur – Die Räuber vom Liang-Schan-Moor – gelesen habe, habe ich mir gedacht: Wie ähnlich sich die Menschen doch über alle Zeiten und Kulturen hinweg letztendlich sind! Das sind sie zwar, aber sie sind auch über Zeiten und Kulturen hinweg einigermaßen voneinander verschieden. Chinesische Menschen haben, durch die Akkulturation bedingt, andere Hirnstrukturen als z.B. Menschen im Westen.

China ist (wie man sagt, durch den in größeren Sozialverbänden stattfindenden Reisanbau begünstigt) eine kollektivistische Kultur, die sich von der vergleichsweise individualistischen Kultur des Westens einigermaßen unterscheidet. So haben Chinesen einen weniger ausgeprägten Begriff vom Individuum: sie erleben sich zunächst als Angehörige einer Familie. Das hat erhebliche Auswirkungen. Der Individualismus ist weniger ausgeprägt. Während Chinesen aufgrund von bestimmten Kulturleistungen, die sie erbringen müssen, wie das Erlernen ihres komplizierten Schriftsystems, bei bestimmten kognitiven Leistungen besser abschneiden als Westler, haben chinesische Schüler die meiste Angst nicht vor Prüfungen in Mathematik oder Fremdsprachen, sondern im freien Aufsatz. Also im Formulieren einer eigenen Meinung.

Die eigene Familie ist auch die Zelle des moralischen Zusammenhalts – der außerhalb der Familie nicht unbedingt existiert. Fremden gegenüber fühlen sich Chinesen moralisch nicht verpflichtet – ebenso wenig Vertrauen haben sie also in Fremde, die sich umgekehrt also auch ihnen nicht verpflichtet fühlen. Das Fehlen von einem echten Gemeinsinn und von einer Zivilgesellschaft in China hat hierin eine ihrer Wurzeln. Die ständige Angst der chinesischen Herrschenden, dass die Gesellschaft zerfallen könnte, es zu Aufständen oder einer plötzlichen Illoyalität der Bevölkerung kommen oder dass irgendetwas Unvorhergesehenes (Individuelles) passieren könnte, und ihr Kontrollfetischismus mögen uns irrational und barbarisch erscheinen – aber so unberechtigt bzw. grundlos ist das nicht.

Überhaupt sind das chinesische Denken und das moralische Empfinden einerseits ganzheitlicher, holistischer und mit großem geschichtlichen Sinn, der sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit beruft (daher allerdings auch vergleichsweise inflexibel). Andererseits sind sie aber auch unschärfer. Eindeutige Trennungen zwischen Gut und Böse treten hinter die Facettierungen, in denen moralisch zu bewertende Handlungen wahrgenommen werden, zurück. Chinesen leben, so gesehen, in einer fortwährenden moralischen Grauzone. Der geschichtliche Sinn und das ganzheitliche Denken beeinträchtigen das fortschrittliche Denken. Das „ganzheitliche“ Denken tritt auch so in Erscheinung, dass Chinesen überall Politik (zugunsten Chinas) hineinbringen, auch in Bereiche, wo man Politik in anderen Kulturen nicht haben will. Etliche Konfuzius-Institute, mit denen die Chinesen kulturellen Austausch betreiben und ihre Kultur vermitteln wollen, wurden in Deutschland bereits wieder geschlossen, weil sie ihre kulturellen Aktivitäten dauernd mit politischen Aktivitäten verquicken.

Während bei uns (vielleicht ein wenig dekadent) Bürgerrechte im Fokus der Wahrnehmung stehen, sind es in China Bürgerpflichten. Das alles durchdringende „konfuzianische“ Pflichtgefühl der Chinesen kompensiert den Mangel an eindeutigen Rechten, Rechtsstaatlichkeit (und deren Durchsetzung) und Rechtsansprüchen. Der Mangel an Rechtstaatlichkeit und Rechtsansprüchen (und auch an abstraktem Rechtsdenken) führt dazu, dass sich Chinesen in der Durchsetzung ihrer Ansprüche und Interessen viel mehr auf persönliche Beziehungen verlassen. Das wiederum führt zu Patronage, Klientilismus, Ineffizienz und Korruption. Auf der anderen Seite führt es zu einer großen Verlässlichkeit in dieser austauschhaften Beziehungshaftigkeit. Das soziale Kapital des Chinesen ist „Guanxi“, seine (von anderen als solche wahrgenommene) Fähigkeit, Gefallen zu erwidern und zu erweisen (was bei uns unter anderem auch den „Vitamin B“ entspricht). Da Gunaxi die eigentliche soziale Währung in China sind, scheuen sich Chinesen, ihr Gunaxi zu verlieren. Damit einhergehend räumen sie auch ungern Fehler oder moralische Versäumnisse ein. Es gilt, das „Gesicht“ zu wahren. Angeblich ist Reue kein großartig internalisiertes Gefühl bei den Chinesen.

Während im persönlichen Verkehr das Guanxi gepflegt wird, sind Chinesen im anonymen öffentlichen Verkehr oftmals ohne Höflichkeit, Manieren, Etikette und Distanz. Die „konfuzianische“ Unterdrückung ihrer Gefühle nach außen scheint auch dazu zu führen, dass Wut- und Gewaltausbrüche von Chinesen in der Öffentlichkeit häufig vorkommen. Während das vergleichsweise harmlos bleiben kann oder, mitgefilmt und auf TikTok veröffentlicht, sogar komisch wirken kann, war es das während der Kulturrevolution oder anderer von Maos Kampagnen, die den „revolutionären Volksgeist“ aufrufen wollten, durchaus nicht.

Für diese wertvollen Einblicke bin ich dem Buch Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht von Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron dankbar. Außerdem muss ich, um, wie ich hoffe, viele andere Dinge besser zu verstehen, unbedingt mal Die seltsamsten Menschen der Welt: Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde von Joseph Henrich lesen. Darin geht es darum, dass die Menschen des Westens durch lange Akkulturation besondere Hirnstrukturen ausgeprägt haben, auf deren Grundlage sie dann wieder entsprechende Lebenswelten geschaffen haben, die dann wieder die Hirnstrukturen geprägt haben. Der westliche Mensch mit seinen speziellen kognitiven Fähigkeiten und Dispositionen sei also nicht der Mensch an sich.

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Wir müssen aber bescheiden sein, und zwar nicht nur heute, auch nach 45 Jahren, für alle Zukunft. In den internationalen Beziehungen müssen die Chinesen den Großmacht-Chauvinismus entschlossen, gründlich, restlos und vollständig beseitigen. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Seit einigen Jahren zeigt man sich besorgt darüber, dass China weite (wenn nicht praktisch alle) Teile der Welt neokolonialisieren will. Aber dieser Prozess hat schon unter Mao begonnen. Im Rennen um Afrika zum Beispiel war schon Mao bedacht darauf, gehörig mitzumischen. Allerdings sind die Chinesen damals schon wie heute auf spezifische Widrigkeiten gestoßen. In Sambia (wie auch anderswo) wollten die Chinesen z. B. in geheimer Sache Rebellen ausbilden bzw. maoistische Rebellen heranzüchten. Aber anstatt die Chinesen mit einem Gastmahl zu empfangen, haben die Sambianer die Chinesen selbst fortwährend um Essen, Trinken und Zigaretten angeschnorrt. Die Afrikaner achteten während des Kurses nicht auf ihre Ausrüstung, zeigten wenig Durchhaltevermögen, „sie wurden gerne gelobt, hatten aber für Kritik wenig übrig“, und wollten nach drei Monaten nach Hause. So waren Maos Unternehmungen in Afrika für China hauptsächlich ein teurer Spaß. Die afrikanischen Regierungen waren geschickt darin, ihre Sponsoren auszuquetschen und die Rivalitäten zwischen den Supermächten auszunutzen. Die Chinesen haben ihrerseits Tonnen von Getreide nach Afrika geliefert, Kredite bereitgestellt, Agrar- und vor allem medizinische Hilfe geleistet. Diese Hilfsleistungen waren echt, im Sinne von ernst gemeint, vor allem sind sie aber unter einem politischen Vorzeichen (der eigenen Interessensvertretung) gestanden. Das galt nicht zuletzt für die politische Unterstützung und die Militärhilfen für genehme Regierungen (wie die von Kwame Nkrumah, Julius Nyerere oder Robert Mugabe) oder Rebellentruppen. Viele Afrikaner waren vom Maoismus und seiner antiimperialistischen Strahlkraft begeistert. Auch zur Ausrüstung der Black Panther in den USA gehörten neben schwarzen Lederjacken, Sonnenbrillen und Barrettmützen eine Mao-Bibel. Die chinesischen politischen Entwicklungshelfer wurden in Afrika auch als weniger arrogant wahrgenommen als die sowjetischen. Sie erschienen „brüderlicher“. Etliche Afrikaner, die China zur politischen Schulung besucht haben, zeigten sich jedoch nach einer Weile abgestoßen vom Rigorismus und Autoritarismus, von der Armut und der Öde des sozialen Lebens, die dort herrschten. Und nicht zuletzt vom chinesischen Suprematismus und Rassismus.

Niemals dürfen wir die hochmütige Haltung von Großmacht-Chauvinisten annehmen und wegen des Sieges unserer Revolution und einiger Erfolge bei unserem Aufbau überheblich werden. Jedes Land, ob groß oder klein, hat seine Vorzüge und Mängel. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

(Vor gut zehn Jahren habe ich wo gelesen, wie die alten Kader in China Angst haben vor ihrer eigenen Parteijugend. Sie selber haben China als armes Land erlebt, dass mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat – während die Jugend nur den beispiellosen Boom und Aufstieg kenne. Und deswegen extrem selbstbewusst bis größenwahnsinnig sei. In der nahen Zukunft wird diese Kaderjugend an die Macht kommen. Davor haben die heutigen hohen Kader eine Heidenangst.)

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Zu den letzten politischen Taten Maos zählte, dass er die Roten Khmer in Kambodscha unterstützt und sie in ihrem besonders radikalen Kurs bestärkt hat, in dem er offenbar die tatsächliche Verwirklichung seiner kulturrevolutionären Ambitionen gesehen hat. Nachdem die Roten Khmer in Kambodscha die Macht übernommen hatten, trafen Pol Pot und Ieng Sary (ein ranghoher Roter Khmer) Mao im Juni 1975 in China. Wenig ist über das Gespräch bekannt, unter anderem, da die Akten von beiden Seiten unter Verschluss gehalten werden und Pol Pot später seine Dolmetscher hinrichten hat lassen (einer der beiden dabei anwesenden Dolmetscher hatte Glück und konnte entkommen und berichten). Soweit man weiß, hat sich Mao bei den Roten Khmer damals darüber beklagt, dass „böse Kräfte“ den Kommunismus und die Kulturrevolution in China blockieren würden. Auf die Verwirklichung seines politischen Ideals hoffe er nun in Kambodscha. Pol Pot bekräftigte seinerseits, wie viel er Mao ideologisch zu verdanken habe.

Pol Pot war ein mittelmäßiger Intellektueller (ein Lehrer), der im persönlichen Umgang durch Liebenswürdigkeit und Charme auffiel. Er kam als Student in Frankreich mit revolutionärem Gedankengut in Berührung und schloss sich in Kambodscha den Kommunisten an (dass er nach Frankreich konnte und eine gute Ausbildung genoss, hatte er Verbindungen seiner Familie zur kambodschanischen Königsfamilie zu verdanken). Durch den Kampf im Untergrund wurden Pol Pot und die Roten Khmer fortwährend radikalisiert. Noam Chomsky weist auf die Bombardierung Kambodschas durch die Amerikaner im Vietnamkrieg hin, um eine weitere ideologische Radikalisierung der Roten Khmer und die alptraumhaften, auf Traumatisierungen beruhenden späteren Entwicklungen im Land erklärlich zu machen.

Auf jeden Fall traten die Roten Khmer gleich nach ihrer Machtübernahme 1975 an, das radikalste kommunistische Regime zu errichten, das die Welt je gesehen hat. Die Hauptstadt wurde innerhalb weniger Tage evakuiert (wobei um die 20.000 Menschen starben), die Bewohner aufs Land getrieben und zu Agrararbeitern umfunktioniert. Intellektuelle oder auch nur Personen, die die Insignien der Intellektualität trugen (z.B. Brillen) wurden getötet. Das unbegreifliche Ziel war es, (entgegen der fortschrittlichen Stoßrichtung und des Industrialisierungsoptimismus des Marxismus) eine agrarkommunistische Gesellschaft zu verwirklichen, in der zudem die alte kambodschanische Kultur wiederauferstehen würde. Im Schwarzbuch des Kommunismus wird versucht, das so zu erklären, dass der weltweite revolutionäre Elan Mitte der 1970er Jahre seinen Zenit hinter sich hatte und – in der Wahrnehmung radikaler Kommunisten – sämtliche kommunistischen Länder mit der Zeit einer Verkrustung oder Entwicklungen der Restauration anheimgefallen sind. Der Kommunismus der Roten Khmer sollte daher eine besonders radikale Flucht nach vorn sein. Das liegt nicht völlig außerhalb einer revolutionären Logik, zumal einer solchen, die sich bereits radikalisiert hat (und dann noch dazu von außen – in dem Fall eben von Mao – materiell und ideell unterstützt wurde).

Abgesehen von solchen Rationalisierungen (die solche Phänomene, wie man den Eindruck nicht loswird, nur ungenügend erfassen) kommt in der Person von Pol Pot offenbar der Charakter der Roten Khmer insgesamt zum Vorschein: intellektuelle Inkompetenz gepaart mit haarsträubender Paranoia und Größenwahn (noch dazu eventuell ein Charme und ein Schmeichlertum, das letztendlich auch sich selbst erliegt und sich auf sich selbst anwendet). Pol Pots Mitstreiter hielten ihm nachher zugute, ein „Patriot“ gewesen zu sein, der den bösartigen Einfluss Vietnams draußen halten wollte (zwischen Kambodscha und Vietnam besteht eine historische Feindschaft). Tatsächlich war Pol Pot ein (vietnamfeindlicher) Nationalist und eine Art Suprematist, was die eigene alte kambodschanische Hochkultur angegangen ist. Auch der – dem naheliegende – Rassist scheint in Pol Pot schließlich Bahn gebrochen zu haben. Das Regime der Roten Khmer war so rassistisch, dass einige Forscher in ihm sogar primär ein rassistisches (und nur irgendwie unter ferner liefen ein kommunistisches) Regime sehen wollen. Ziel war es, Kambodscha gegenüber der Außenwelt völlig zu isolieren, mit Ausnahme der Beziehung zu China, und eine glorreiche „neue Gesellschaft“ zu schaffen. Ein grenzenloser Hochmut und eine grenzenlose Selbstüberschätzung scheint darin zum Ausdruck zu kommen – und eine grenzenlose Paranoia, die den Terror, den Autoritarismus und den Sadismus, als Ausdruck ihres eigenen Gefühlslebens, nicht allein funktional einsetzt, sondern außerdem auch liebt und genießt (auch wenn sie letzteres wahrscheinlich verleugnet). Als aufgrund der Zerstörungen, die die Roten Khmer an der Gesellschaft und ihrer Infrastruktur anrichteten, die Wirtschaftsleistung des Landes schnell massiv sank und Versorgungskrisen auftraten (und er sich deshalb wohl auch naheliegenderweise in seiner Stellung bedroht sah), machte Pol Pot an allen Seiten Sabotage dafür verantwortlich und begann mit Säuberungsaktionen und Massenexekutionen innerhalb der eigenen Partei. Ganz anders als Mao, und praktisch alle anderen Politiker, war Pol Pot so verschlossen, dass er in der Bevölkerung lange anonym blieb, gleichzeitig aber – umso selbsterhöhender – als „Angkor“ („Organisation“) oder „Bruder Nummer 1“ auf sich referieren ließ. Erst kurz vor dem Ende seiner Herrschaft trat er aus dem Schatten und identifizierte sich in der Öffentlichkeit als eigentlicher politischer Führer – zur Überraschung selbst seines eigenen Bruders, der davon gar keine Kenntnis gehabt hatte. Das Ende der Herrschaft der Roten Khmer kam dann tatsächlich mit dem Einmarsch des Erzfeindes Vietnam in Kambodscha 1979. Bis zu einem Viertel der kambodschanischen Bevölkerung sind dem Regime der Roten Khmer zum Opfer gefallen, der Großteil davon durch die Entbehrungen aufgrund der Versorgungskrisen. Aus irgendwelchen Gründen, die zu beleuchten wären, blieb die Massenbasis der Roten Khmer in Kambodscha aber fortwährend keine kleine. Pol Pot starb 1998, nachdem er mit engen Mitstreitern im schwer zugänglichen Grenzland zwischen Kambodscha und Thailand gelebt und nach wie vor Schulungen für junge Rote Khmer abgehalten hatte. Bis zuletzt blieben alle beeindruckt von seiner Freundlichkeit und seiner inspirierenden Art.

Finanziert wurde er dabei von China, das ihn als Druckmittel gegen Vietnam aufrechterhielt (wie es auch die USA getan hatten). Und außerdem wohl wenig Interesse hatte an einer Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer-Herrschaft, an der es selbst seinen Anteil hatte. Kurz vor seinem Tod 1976, als einen seiner letzten politischen Akte, sandte Mao Zedong ein Glückwunschtelegramm an die kambodschanische Führung: Das chinesische Volk ist überaus erfreut darüber, die gewaltigen und tiefgreifenden Veränderungen zu sehen, die sich in Kambodscha abspielen. Wir sind zuversichtlich, dass unter der korrekten Führung der revolutionären Organisation Kambodschas das kambodschanische Volk noch größere Siege erringen wird. Kämpfen und Siege erringen, alles tiefgreifend und gewaltig verändern – Konstanten in Maos Denken und Empfinden, die im Alter (und eingedenk des eigenen relativen Scheiterns aufgrund der unrealistischen Ansprüche, die damit verknüpft sind, sich aber nicht eingestanden werden) bei ihm immer starrsinniger in Erscheinung getreten sind. Wie es aber auch heißt, wird der Mensch im Alter immer mehr und ist der Altersstarrsinn nur ein Ausdruck davon, dass er immer mehr zu dem wird, was er immer schon war.

Mao scheint im Alter melancholisch gewesen zu sein, dass die Revolution und sein „eigentliches“ politisches Ideal sich nirgendwo verwirklicht haben. Überall seien sie, sofern überhaupt in Angriff genommen, stecken geblieben. Er scheint es aber dann in Kambodscha unter den Roten Khmer erblickt zu haben. Wenn nach Maos Tod nicht Deng Xiaoping sondern die Viererbande die Macht in China übernommen hätte, wäre dort dann vielleicht – vielleicht sogar wahrscheinlich – dasselbe passiert wie unter den Roten Khmer in Kambodscha.

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Bereits in den letzten Lebensjahren Mao Zedongs bereite Abimael Guzman minutiös und geduldig den Angriff seines Leuchtenden Pfads auf den peruanischen Staat vor, der schließlich 1980 erfolgte – just in dem Jahr, als Peru nach 12 Jahren einer (linksgerichteten) Militärdiktatur wieder zu einer Demokratie wurde (weswegen die neue Regierung und Verwaltung aber heillos desorganisiert war – ein Umstand, den der Leuchtende Pfad ausnutzte). Guzman war selbst in den 1960er Jahren in China gewesen und hatte dort Mao zu verehren gelernt. In den 1960er Jahren war das linke Revoluzzertum in Peru, damals dem zweitärmsten Land Lateinamerikas, in der Luft gelegen, und Guzmans Sendero Luminoso war eine sozialrevolutionäre/maoistische Gruppierung unter vielen anderen. Spätestens ab den 1980er Jahren – und auch schon zuvor – schien Peru aber durchaus kein Territorium für eine maoistisch inspirierte Revolution abzugeben: es war eine Demokratie, es war von keiner fremden imperialistischen Macht beherrscht, die Verstädterung und das Bildungsniveau waren relativ hoch und vergleichsweise viele Peruaner gehörten der Mittelschicht an. Gleichzeitig waren aber viele Regionen des Landes unterentwickelt, die Verhältnisse waren (auch ideologisch und kulturell) halbfeudal und die Indigenen waren politisch nicht repräsentiert. Die Bedingungen für eine Revolution lagen also einerseits in der Luft, andererseits, und vor allem, aber auch nicht. Und keine andere der zahllosen linken Gruppen im Land ist von ihrer Rhetorik tatsächlich zur Aktion übergegangen. Der Sendero Luminoso hingegen zettelte praktisch einen langjährigen Bürgerkrieg mit verheerenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen an und stand zuletzt davor, Lima zu erobern, bevor er 1992 mit der Verhaftung von Abimael Guzman wie ein Papiertiger in sich zusammenfiel.

Abimael Guzman war ein Universitätsprofessor für Philosophie an der Universität in Ayacucho gewesen. In einer abgelegenen, benachteiligten, vor allem aber von der staatlichen Obrigkeit kaum berührten Gegend gelegen, wurde diese Universität zu einer Brutstätte für Revolutionäre (auch insofern die Absolventen der Universität sich schwer taten, Jobs zu finden, nachdem sie in ihre Ausbildung so viel investiert hatten). An Guzman habe sich früh eine hohe Intelligenz und ein gewaltiger Bildungshunger bemerkbar gemacht – allerdings auch eine beklemmende Verrücktheit: Ideen, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, verfolgte er mit einem religiösen Eifer und unter dem Gefühl einer höheren Berufung. Inspiriert durch die Lektüre von Marx, Lenin und vor allem Mao, und dem Geist der Zeit entsprechend, wurde er zum Revoluzzer, der die Indigenen und die Bauern befreien und das Land in einen paradiesischen Zustand überführen wollte. Oder aber, der vielleicht hauptsächlich „alles in die Luft sprengen wollte“ (wobei, wie Guzman es formulierte, der Maoismus lehrte, wie man alles in die Luft sprengen könnte und diesbezüglich konkrete Ziele sowie eine Mission dafür vorgab) und sich am Gefühl übermenschlicher Macht berauschen wollte. Ebenso seltsam und scheinbar widersprüchlich, wie er politisch verwurzelt war, war der Sendero Luminoso als politische Organisation. Als solche glich er eher einer Sekte, mit Abimael Guzman als Sektenführer. Während der Maoismus und Mao selbst, trotz allem Maokult und der Betonung der Genialität Maos, primär „die Volksmassen“ als eigentliche kreative und formende politische Kraft identifizieren, ist in der Ideologie des Leuchtenden Pfades die Person des Abimael Guzman das einzige politische Subjekt, der einzige Wille und die einzige Intelligenz, der sich jedermann zu unterwerfen habe. Der Individualismus aller anderen wird ausgelöscht. Der Sendero Luminoso eroberte bzw. „befreite“ von seiner ländlichen Basis her Bauerndörfer, indem er sie terrorisierte. Da es keine massive Ungleichheit gab, was den Landbesitz betraf und keine eigentlichen „Klassenstrukturen“, die sich als solche marxistisch oder maoistisch interpretieren ließen, nutzte der Sendero Luminoso vorhandene Zwistigkeiten in den Dörfern, um sie zu einem Klassenkampf hochzustilisieren und so dort Fuß zu fassen und ein Terrorregime zu installieren. Aufgrund der methodischen Planung durch Guzman, der Brutalität der Bewegung und dem Mangel an Alternativen, die er zurücklies, gelang es dem Leuchtenden Pfad in den jahrelangen Kämpfen tatsächlich, bis zur Hauptstadt vorzurücken und sie zu bedrohen.

Vor allen Dingen möglich gemacht wurde das jedoch durch das nicht allein stümperhafte, sondern ebenso unheimlich brutale, gewollt sadistisch anmutende Handeln des Staates und seiner Exekutivgewalt. In dem Bestreben, Rebellennester auszuräuchern, mordeten, terrorisierten und vergewaltigten Polizei und Militär in den ländlichen Regionen über Jahre hinweg, als hätten die Ereignisse ihrerseits bei ihnen eine latente Neigung zum rassistisch und sexistisch motivierten sadistischen Gewaltrausch freigelegt (wohl nicht zuletzt aufgrund der starken misogynen Traditionen im Land waren ihrerseits viele – und die brutalsten – Kämpferinnen des Leuchtenden Pfad und auch viele im innersten Zirkel rund um Guzman Frauen). Gedeckt wurde das auch durch eine eigenartige Indifferenz und Verständnislosigkeit der Regierungen und der städtischen Bevölkerung bzw. der Mittelschicht, die sich so verhielten, als würde sich der Konflikt gar nicht im eigenen Land abspielen. Angeblich wurden bis zu 30.000 Tote in den ländlichen Regionen von den städtischen Zentren gar nicht bemerkt bzw. registriert. Das half dem Leuchtenden Pfad und führte ihm neue Anhänger zu, die er seinerseits blutrünstig für seine Ziele opferte. Anfang der 1990er Jahre begannen Teile der Exekutive endlich, dem Problem nicht mit roher Gewalt sondern mit Polizeiarbeit zu begegnen. Nach einiger Detektivarbeit konnten sie Guzman 1992 in einem Haus in Lima aufspüren und verhaften. Rasch nach seiner Verhaftung rief Guzman den Leuchtenden Pfad dazu auf, die Waffen niederzulegen und erklärte, nachdem das Spiel  selber verloren war, den revolutionären Kampf, dem er Jahrzehnte seines Lebens und so viele Menschenleben geopfert hatte, kurzerhand für beendet. Der Sendero Luminoso brach wie ein Papiertiger in sich zusammen. Trotz der eigentümlichen Unsentimentalität, mit der Guzman den Sendero Luminoso dazu aufrief, den Kampf einzustellen, hielt er im Hochsicherheitsgefängnis weiterhin schwungvolle revolutionäre Reden. Er starb dort 2021, bis zuletzt bewundert und umrundet von seinen Frauen und weiblichen Mitstreiterinnen.

Einige Beobachter meinen, die Verbrechen des Sendero Luminoso hätten die aller anderer revolutionärer Bewegungen übertroffen und dass Peru ein ähnliches Schicksal wie Kambodscha geblüht hätte, hätte der Sendero Luminoso dort tatsächlich die Macht erobert. Auch wenn sich Guzman abfällig über Pol Pot äußerte, war der Leuchtende Pfad in einer gewissen Hinsicht tatsächlich noch radikaler als die Roten Khmer, indem er alle anderen, auch linke Gruppierungen und NGOs, die innerhalb der peruanischen Bevölkerung helfen wollten, ausnahmslos angriff und nichts tolerierte neben sich selbst – was man als weiteres Indiz dafür sehen könnte, dass der Sendero Luminoso gar keine eigentliche politische Gruppierung war. Wenn auch die meisten Revolutionäre von revolutionärer Gewalt sprachen und sie zu rechtfertigten suchten, sprach niemand außer Guzman von einer „Cuota“, einem notwendigen erheblichen Blutzoll, und einem Zoll von Menschenleben, die der Revolution gleich einem Todesgott unabdingbar und gleichsam mechanisch geopfert zu werden hätten. Wie es scheint, hatte Guzman offenbar Gefallen daran, Menschenleben in großer Zahl für ein Programm opfern zu können, was so ausdrücklich bei kaum einem anderen Ungeheuer der Geschichte deklariert wird. Der Sendero Luminoso hatte Züge einer endzeitlichen Bewegung, noch dazu kombiniert mit denen eines Todeskults. Im Sendero Luminoso scheinen sich eine Sekte, eine politische/sozialrevolutionäre Bewegung, eine Rebellenarmee und ein millenaristischer, chiliastischer Todeskult zu einem einzigen Ganzen vereinigt zu haben. Auch wenn sie nur als Fußnote in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eingegangen sind, waren der Sendero Luminoso und Abimael Guzman die vielleicht unheimlichste Erscheinung des Jahrhunderts.

Ebenso unheimlich legte der Leuchtende Pfad aber auch eine beklemmende Dysfunktionalität und Brutalität innerhalb einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft frei. Der peruanische Präsident zur Zeit der Verhaftung Abimael Guzmans, Alberto Fujimori, war ein korrupter Despot, der wegen zahlreicher Verstöße gegen die Menschenrechte zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und der allein Stoff für eine eigene Betrachtung sein könnte. Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern (wie z.B. Guatemala) besteht Peru aus keiner Gesellschaft, sondern aus mehreren, die sich mit feindseliger Indifferenz gegenüberstehen, die schnell gefährlich und ausnehmend gewalttätig werden kann. Wiederum hat die Welt (und haben selbst wir in Argentinien) um den Jahreswechsel 2022/23 wenig davon mitbekommen: aber die tödliche Gewalttätigkeit, mit der die (irgendwie im Rahmen eines Kuhhandels) ausgetauschte peruanische Regierung und ihre Exekutive auf (friedliche, aber vorwiegend indigene) Demonstranten losgingen, haben verblüfft. Ebenso, wie die neue Präsidentin, die eigentlich eine (opportunistische) Linke war, schnell eher als extreme und gewaltbereite Rechte aufgefallen ist. Verblüffen tut beim Studium der Geschichte auch, wie leicht und unkritisch sich allerhand Peruaner(innen) für den Leuchtenden Pfad begeistert und sich ihm angeschlossen haben, und wie viele, eigentlich sehr gebildete und scheinbar selbstständig im Leben stehende Menschen sich Abimael Guzman sklavisch und selbstzerstörerisch unterzuordnen bereit war. Guzman galt im persönlichen Umgang als inspirierend, (aufgrund seiner apodiktischen Haltung) überzeugend und mitreißend. Seine Schriften und Pamphlete sind von einer (eigentlich schwer zu ertragenden) plastischen und dramatischen Sprache. Wie meine argentinische Familie meint, lieben die Peruaner das Drama und das Überreagieren.

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Als Mao 1976 starb, waren die Energien des Maoismus im Wesentlichen verbraucht, die letzten Jahre unter Mao, nach der Kulturrevolution, waren in China eine „bleierne Zeit“. Die Phase der antikolonialen Befreiungskämpfe auf der Weltbühne hatte sich in den 1970er Jahren im Großen und Ganzen abgeschlossen, die Abenteurerstimmung der 1960er Jahre in diversen Winkeln der Welt war einem nüchternen Pragmatismus gewichen, der Marxismus war ab den 1980er Jahren kein glaubwürdiges Framework mehr, mit dem Wirtschaft, Geschichte und Gesellschaft erklärbar schienen. Auch wenn die Viererbande, die Maos Politik fortsetzen oder gar verschärfen wollte, nicht ungefährlich war, waren weitere Kulturrevolutionen nichts, an denen eine Mehrheit innerhalb der chinesischen Bevölkerung und der chinesischen kommunistischen Partei interessiert waren. Mit Deng Xiaoping kam jene Politik ans Ruder, die Mao so entschlossen bekämpft hatte und deren Gefahr er überall witterte: die der „bourgeoisen Restauration“, bzw. der wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Liberalisierung. Auch wenn letztere weit weniger forciert wurde, ist China heute gesellschaftlich deutlich liberaler als zu Maos Zeiten (oder in seiner gesamten Vergangenheit). Da es seiner Vergangenheit und seiner grundsätzlichen sozialen Organisation letztendlich nicht wird entkommen können, ist eher nicht zu erwarten, dass China mittelfristig ein tatsächlich liberales Land werden könnte. In erheblichen Aspekten wird sich die chinesische Kultur, Politik und Mentalität antithetisch zu unseren Verständnissen im Westen verhalten. Wie groß und wie gefährlich das Konfliktpotenzial mit China tatsächlich ist, ist aber ungewiss: ebenso wie die weitere interne Entwicklung des Landes. Nach wie vor ist China fragiler, als es nach außen hin den Eindruck macht.

Wahrscheinlich kommt es auch deswegen unter der gegenwärtigen Regierung Xis zu einer Stärkung des Autoritarismus und einem Rückbau des Liberalismus. Die Xi-Regierung reaktiviert das Andenken Maos: allerdings aus nationalistischen Gründen und um einen Führerkult zu stärken. Eigenartig bleibt aber, dass Xi tatsächlich über die Vollmachten eines diktatorischen Herrschers verfügt. Das Erfolgsgeheimnis des China der Gegenwart wird unter anderem darin gesehen, dass sich die oberste Führung darauf geeinigt hat, nie wieder einen Diktator wie Mao mit all seinen irrationalen und gefährlichen Anwandlungen aufkommen zu lassen: die tatsächliche Führung liegt beim Kollektiv des Politbüros (etwas Analoges tat die Sowjetführung nach dem Tod Stalins). Wieso die chinesische Führung dieses Prinzip im Fall von Xi wieder aufgegeben hat, ist rätselhaft – weist aber auf nichts Gutes hin.

Als Gründer des modernen China ist Mao naturgemäß Bestandteil der chinesischen Folklore. Die Kommunistische Partei Chinas ist bedacht, Mao nicht wirklich vom Podest zu stürzen – sie würde sich dadurch ja selbst infrage stellen. Schon nach Maos Tod hat sie sich – ähnlich wie die Sowjetführung in Bezug auf Stalin – auf die Formel geeinigt wonach Maos Politik „zu 70 Prozent gut, zu 30 Prozent schlecht“ gewesen sei.

Maos Geist schwebt aber auch noch über der chinesischen Bevölkerung. Maoisten, die den kapitalistischen Kurs seit Deng Xiaoping ablehnen, gibt es in China seit Maos Tod; ihr politisches Gewicht unterliegt dabei Konjunkturen. Insofern Mao zwar Diktator war, aber auch Revolutionär, ist er Inspirationsquelle für alle, die sich gegen die chinesische Staatsmacht und die Ungerechtigkeiten des chinesischen Kapitalismus auflehnen, die sich für den Schutz der Werktätigen und von Minderheiten einsetzen. So sympathisch und rosig das auf den ersten Blick anmutet, handelt es sich bei diesen Maoisten aber um das, um was es sich bei Maoisten schon immer handelte: um doktrinäre, intellektuell beschränkte, an und für sich absurde Gruppen; keine fröhlichen Revoluzzer. Um etwas Intransigentes, Militantes. Um etwas einigermaßen – Böses. Was nicht heißt, dass das, wogegen sie sich wenden, gut ist.

Die Geschichte des Maoismus ist noch nicht vorbei. Aber sie war keine echte Erfolgsgeschichte. Die Misserfolge des Maoismus, und die der Versuche, den Maoismus zu exportieren, waren zahlreich; die Erfolge waren unvorhersehbar. Mao selbst war enttäuscht, dass es ihm nicht gelungen ist, den Maoismus tatsächlich auch nur in ein Land zu exportieren, geschweige denn im Weltmaßstab, trotz der Präsenz, die er überall hatte. Und dass es ihm auch nicht gelungen ist, China tatsächlich zu „maoisieren“. Was die Vorstellungen Maos von einer gelungenen Revolution eigentlich gewesen seien sollten, ist dabei so unklar, wie beim Marxismus selbst, dessen Vorstellung einer grenzenlosen Befreiung des Menschen notgedrungenermaßen eine zwar grelle, aber inhaltlich leere Halluzination bleibt. Auch insofern sich der Marxismus zu stark an einem Feindbild orientiert bzw. um ein Feindbild rotiert, von dem er sich abzugrenzen versucht – was dann aber etwas Negatives bleibt, auch wenn es sich als strahlende Positivität (vom „besseren sozialistischen Menschen“) ausgibt. Mao war – wahrscheinlich mehr als von allem anderen – besessen, ein „völlig neues“ China, einen „völlig neuen“ chinesischen Menschen zu schaffen. Dabei spielten paranoide Phantasien einer „Reinigung“ vom unsauberen Bestehenden eine zentrale Rolle. Bekämpft wurden so „bourgeoise“ und „restaurative“ Tendenzen im Menschen. Ohne sich aber die Frage zu stellen, inwieweit solche bourgeoisen Tendenzen beim Menschen normal und auch wünschenswert seien. Damit sind der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus etwas erheblich Menschen- und Lebensfeindliches.

Mao und der Maoismus haben eine tiefe Furche durch die Geschichte und durch das menschliche Sein gezogen. Heute aber gibt es nur ein Land, das von Maoisten regiert wird: Nepal. Jeder, der will, kann das näher beobachten. Der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus erscheinen, wenn schon, dann für zurückgebliebene Gesellschaften adäquat. Dementsprechend zurückgeblieben sind heutige Gesellschaften aber nicht mehr. Damit war insbesondere der Maoismus wohl eine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts, und blieb auf dieses Jahrhundert beschränkt (der Marxismus ist dabei breiter aufgestellt und wird als Referenz (wenngleich nicht als echte Macht) im politischen Denken und innerhalb des Weltanschaulichen wohl erhalten bleiben). Aber trotzdem beinhaltet der Maoismus ein starkes Prinzip der Transzendenz. Der Maoismus überschreitet daher potenziell auch sich selbst, und hat daher die Möglichkeit, dass er wiederkommt, oder eben als Prinzip offen und erhalten bleibt. Er adressiert das politisch Imaginäre, kraftvoll, wie eine Saugglocke scheint er einen imaginären Himmel und Horizont aufzuspannen. Das ist nicht schlecht und scheint wie ein ewiger Wert. Inwieweit er, in diesem Jahrhundert und in folgenden, so noch einmal aktiviert wird, können wir nicht wissen. Bislang scheinen in diesem Jahrhundert eher bewahrende Prinzipien – die Religion und der Nationalismus –, die man bereits als etwas beinahe Erledigtes geneigt war anzusehen, ihre Resurgenz zu feiern.

„So sieht sie aus, unsere Welt. Ein Kosmos voller Narben. Und ein Ende der Verstümmelung ist nicht abzusehen.“ – steht am Ende von Waldherrs Bruttoglobaltournee, einem von mir geschätzten Buch mit Reportagen von den Beschädigtheiten, die man in diversen Winkeln der Welt heutzutage findet. Jetzt, als ich diese Mao Zedong-Gedanken mit dem 12. Dezember 2023 in Argentinien abschließe, habe ich dieses Buch gerade nicht bei mir und kann mich nicht erinnern, ob da auch was über China drinnen steht. Über Argentinien steht was drinnen, es wird illustriert anhand von der melancholischen Rückwärtsgewandtheit seiner Gauchos und deren Kultur und Mentalität. Vorgestern, ausgerechnet zum 40. Jahrestag der Demokratie in Argentinien, kam ein neuer argentinischer Präsident ins Amt: Javier Milei; ein offensichtlicher Psychopath, so wie sie in jüngerer Zeit auf der Weltbühne als Politiker wieder in Mode gekommen sind.

https://dangerousminds.net/comments/the_revolution_will_be_glamorized_sharon_tate_models_mao_tse_tung_1967