Vorbemerkungen zu einer großen Auseinandersetzung mit Marx und mit dem Marxismus

Der Marxismus ist nicht unfertig oder unvollendet, sondern – von Anfang an, implizit, inhärent und daher für immer – unausgegoren … Er will Wissenschaft sein, ist aber primär Ideologie. Er ist also primär Wille, weniger Vorstellung. Es ist aber in erster Linie die Vorstellung, die allgemeine Verständnismöglichkeiten und Objektivität schaffen kann, während der Wille in seiner Durchsetzung subjektivistisch, militant und agonal bleibt. Und so ist auch der Marxismus subjektivistisch, militant und agonal. Der Marxismus hat keine rationale Basis und kein rationales Ziel. Er enthält (bestechende) rationale Elemente und die einer Lehre, ist aber hauptsächlich irrational und eine Irrlehre. Der Marxismus beruht auf der paranoiden, sadomasochistischen Empfindsamkeit von Marx und ist demgemäß eine zentrumslose Spiegelfechterei (von Marxisten bekanntlich bezeichnet als „Dialektik“, wobei sie dann immer so tun, als ob die für was garantieren würde, obwohl die Dialektik für ziemlich wenig garantiert). Er ist damit eher zirkulär als progressiv, indem er immer wieder dieselben Sachen zum Problem erhebt, ohne sich zu fragen, ob sie eigentlich ein Problem sind. Daher dann auch das ewige intellektuelle Auf-der-Stelle-treten des Marxismus, zumindest seit Jahrzehnten. Seit jeher hat sich der Marxismus dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus verschrieben – wobei die „Überwindung des Kapitalismus“ eine durchaus populäre Vorstellung ist. Es muss aber gar nicht sein, dass der Kapitalismus je „überwunden“ wird, da es nicht einmal feststeht, ob es den Kapitalismus überhaupt gibt. „Kapitalismus“ ist, wie „Patriarchat“, nur ein Begriff, oftmals in pejorativer Absicht verwendet, der aber vielleicht nicht das einfängt, was sich eigentlich abspielt, und was an Entwicklungen eigentlich tragend und relevant ist. Freilich, gegenüber einem solchen Skeptizismus kann man sich wohl darauf einigen, dass sowohl „Kapitalismus“ als auch „Patriarchat“ sinnvolle Begriffsschöpfungen sind, und etwas bezeichnen, was in der Wirklichkeit tatsächlich vorhanden ist und wirksam ist. Das Problem ist aber, dass die sinnvollen Begriffe „Kapitalismus“ und „Patriarchat“ sowohl im Marxismus wie im Feminismus hochgradig fetischhaft und verdinglicht verwendet werden und so genau zu den Täuschungen und Illusionen verleiten mögen, wie Marx es in seiner Analyse vom Warenfetisch und vom Kapitalfetisch eigentlich dargelegt hat. Seit Jahren arbeite ich nunmehr an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Marxismus. In einer Weile sollte sie einmal fertig werden. Der Marxismus verlangt aber eine viel weitreichendere Auseinandersetzung als zum Beispiel die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche. Die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche, bzw. Philosophien im Allgemeinen, sind geistige Gebilde, Markierungen und Positionen im Reich des Denkens, die man als solche eingrenzen und isolieren kann. Der Marxismus reflektiert ein grundsätzliches Welt-Mensch-Gesellschaft (etc.)- Verhältnis, er ist so was wie der Liberalismus oder der Katholizismus, also etwas Umfassenderes als eine Philosophie (sogar eigentlich etwas Umfassenderes als eine „große Erzählung“) und etwas von höher Plastizität. Der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus können viele Formen annehmen, mit denen sie an die jeweilige Realität andocken können; so haben sie das zumindest im Lauf ihrer Geschichte getan. Zusammenhänge wie der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus gleichen Viren und sind Meme, die ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte auftauchen, mutieren, sich verändern und damit fortpflanzen, als quasi eigenständige Organismen. Bis sie eventuell wieder unter die Oberfläche verschwinden. Und so ist es auch die Hoffnung der Marxisten, dass der Marxismus in irgendeiner gefährlichen, virulenten Mutation dereinst wiederkommt. Diese Virtualität besteht und das ist möglich, in dem Sinn ist aber auch so gut wie alles andere möglich. Bei Viren weiß man nie genau, was passiert. Letztendlich sind Viren und jedwede Organismen aber an eine bestimmte Identität und einen bestimmten Bauplan gebunden, und können nicht grenzenlos mutieren und sich grenzenlos anpassen. Irgendwann könnte ihre Uhr auch abgelaufen sein. Die Möglichkeiten von Viren und Memen, zu mutieren und Anschlussmöglichkeiten zu finden, sind nicht unendlich, sondern in Wahrheit beschränkt. Der Marxismus erscheint als etwas Profundes, denn er reflektiert auf die Uneinheitlichkeit und die Unerlöstheit der Welt und auf die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft. Sein erheblicher Konstruktionsfehler scheint aber darin zu liegen, dass er in erster Linie um ein Feindbild rotiert. Trotzdem er eine gewaltige Positivität (den Sozialismus) formulieren will, kreist er wesentlich um ein Feindbild und ist somit in seiner Substanz wesentlich negativ und reaktiv (was bei anderen großen Sinnsystemen wie dem Christentum oder dem Liberalismus nicht der Fall ist). Auf der Basis von Feindbildern und von Spaltung kann man aber keine gute Gesellschaft errichten. Um ihre großen Feinde auszuschalten, setzen Kommunisten auf die Revolution. So denn die Revolution erfolgt ist, wittert das kommunistische Regime dann aber wiederum überall Feinde, die es zu bekämpfen gilt, weswegen es sich die Form einer Diktatur gibt etc., bis in eine indefinite Zukunft hinein, in der der Sozialismus dann endlich für eine große Herrlichkeit sorge bzw. bis dass die „Weltrevolution“ erfolgt sei. Wobei die „Weltrevolution“ eine der dümmsten Vorstellungen ist, die die Menschheit je hatte: denn wie sollte in etwas, was so unzusammenhängend ist wie die Welt etwas so Delikates stattfinden wie eine Revolution? Angesichts der Dummheit dieser Vorstellung, die aus ihm aber entspringt, drängt sich auch der Verdacht auf, dass der Marxismus insgesamt eine Dummheit sein müsste. Diese Dummheit hat ihre Wurzel darin, dass schon im Kommunistischen Manifest steht: Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat. – Wobei diese Vereinfachung – also die Reduktion des gesellschaftlichen Geschehens auf zwei dynamische (einander intransigent feindselig gegenüberstehende) Elemente – aber nicht in der Wirklichkeit stattfindet, sondern allein im Rahmen der Theorie, die noch dazu den überheblichen Anspruch erhebt, die gesamte Wirklichkeit in einer Art gnostischen Weise zu durchschauen. So sehr der Marxismus als großartiger, heroischer Versuch erscheint, die Wirklichkeit zu interpretieren, um eine hochgradig defizitäre Wirklichkeit zu verändern, so sehr drängt sich ebenso der Verdacht auf, wenn man Marx genauer liest, dass seine Lehre eine Projektion seiner Komplexe in die Wirklichkeit ist: notabene seiner pathologischen Disposition, dauernd Zweikämpfe zwischen ihm und anderen – vor allem solchen, die eine höhere gesellschaftliche Machtposition innehaben als er – anzuzetteln: mit den Intention zu gewinnen, über den anderen zu triumphieren, und zu demonstrieren, dass der eigentlich legitime Mächtige er selber sei. So hat Marx nicht allein relativ unsympathische Erscheinungen wie die Bourgeoisie und die Aristokratie mit einer irrational überschäumenden Wut verfolgt, sondern auch Proudhon, Lassalle, Bakunin, Adam Smith, John Stuart Mill, den Herrn Vogt oder das Gothaer Programm. So gesehen steckt hinter der gesellschaftsübergreifenden Vision vom Klassenkampf des Marxismus dann eventuell auch nur der aggressive, asoziale Wille zur Selbstbehauptung von Einzelnen. Dementsprechend morbid scheint dann auch die ständige Fixierung auf die Überwindung des Kapitalismus und die Etablierung des glorreichen Sozialismus in der Zukunft bei den Marxisten. Es hat etwas todestriebähnliches, etwas Ähnliches also zum ständigen Wiederholungszwang einer irrationalen Handlung, der ein aggressiver Impuls zugrunde liegt. Überhaupt, die Zwangsvorstellung von der Großen Befreiung im Marxismus, die er gegen das Bestehende auszuspielen versucht. Was aber soll diese große Befreiung sein? Da führt der Marxismus gegen den Liberalismus ins Feld, dass der Mensch kein Individuum sei, sondern ein soziales Wesen – wie aber sollte bei einem sozialen, sprich einem auf andere und anderes angewiesenen Wesen so etwas wie eine grenzenlose Befreiung möglich sein? Der glorreiche Sozialismus der Zukunft wird in den Werken von Marx und Engels immer wieder mit Bildern aus der Steinzeit illustriert. Indem er diversen dynamischen Elementen in der Gesellschaft (wie eben dem privaten Unternehmertum) die Lebensgrundlage entziehen will, steuert der traditionelle, orthodoxe Marxismus eine radikal unterkomplexe Wirtschaft und Gesellschaft an. Deswegen hat der Marxismus in den entwickelten Industrieländern, denen seine Analyse und seine Prophezeiungen gegolten haben, und in ihren relativ fortgeschrittenen Gesellschaften dann auch nie wirklich Fuß fassen können – weil er bereits zum Zeitpunkt seiner Formulierung eigentümlich veraltet und in seinen Verständnissen inadäquat gewesen ist. Wahrscheinlich wird er diese ursprünglichen Versäumnisse nicht aufholen können (was nicht heißt, dass er nicht als bedeutende Energiequelle für diverse soziale Bewegungen erhalten bleibt). Die Welt ist dann doch zu groß und zu bunt, als dass die simple Heuristik des Marxismus und des dialektischen Materialismus sie einfangen könnte. Die Kämpfe in dieser Welt sind zu zahlreich (und in ihren Zielsetzungen oftmals illusorisch), als dass man sie – wie es der feuchte Traum der marxistischen Revoluzzer ist – als „Klassenkampf“ (oder als „gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten und Ausgebeuteten“) vereinheitlichen könnte. Was mich dabei anlangt, so habe ich trotzdem nach wie vor gewisse Sympathien für den Marxismus. Ich interessiere mich sehr für Möglichkeiten, wie sich die Gesellschaft auf einem höheren Niveau der Qualität reproduzieren kann (halte das, genau gesagt, für den Sinn von Gesellschaften), und mir gefällt auch das Revolutionäre und das Ikonoklastische; und mir gefällt auch die sozialistische Folklore. Außerdem verspüre ich eine gewisse Solidarität mit den Armen und mit den Freaks – wenngleich keine grenzenlose Solidarität (der Marxismus tut so, als wie wenn die „Unterdrückten“ dauernd Recht hätten, obwohl das ja gar nicht ausgemacht ist). Im Herzen, vor allem, bin ich ja nach wie vor Kommunist. Auf der emotionalen Ebene begegnen mir andere Menschen als etwas Gleichwertiges. Auf der Verstandesebene weiß ich aber auch, dass Menschen einander nicht gleich sind. Optimismus der Herzen, Pessimismus des Verstandes. Ich habe das große Aufheben, dass die Marxisten um das „dialektische“ Denken machen, nie ganz verstanden. Abgesehen davon, dass sie das als Instrument zu verwenden scheinen, um gewisse, ihnen genehme Schlussfolgerungen zu rechtfertigen und zu beweisen, erscheint es mir als geradezu statisch und gefroren, als ein Hin- und Herschieben von Eisblöcken in der ewigen geistigen Arktis (der strukturalistische Marxismus versucht ohne Dialektik auszukommen; ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit „Struktur“ eine adäquate Heuristik sein kann, um eine Gesellschaft zu beschauen). Das dialektische Denken ist recht langsam. Ich präferiere das ultradialektische Denken; und ich will das ultradialektische Denken und sein Bewusstsein – das Einheits-Bewusstsein – als Modell setzen, wie man die moderne Welt begreifen kann. An die Stelle des dialektischen, oder des formallogischen, oder des rechnenden, oder des besinnlichen, oder des rhizomatischen Denkens will ich das totale Denken setzen, das mit Totalitäten fertig wird oder sich zumindest mimetisch zu Totalitäten verhält: das total vernetzte, integrale Denken und Empfinden. Das wird sich sicherlich sehr gut anfühlen und einigermaßen nützlich sein. Es kann sein, dass die Menschheit für das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein noch nicht reif ist. Es kann sogar sein, dass sie dafür auch gar nicht reif sein will, da sich in ihm liebgewonnene Identitäten aufzulösen scheinen (auch wenn das so nicht stimmt). Das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein sind radikal anti-neurotisch; Menschen hegen und pflegen aber immer wieder ihre Neurosen, insofern sie ja auch deren primäre Energiequelle sein mögen. Dann aber bleiben die Menschen halt in ihren kleinen Formaten hängen, aus denen heraus sie von grenzenloser Macht und Befreiung phantasieren, oder sich wahlweise für so unterdrückt, ausgebeutet, schlecht behandelt, in ihrer Selbstverwirklichung behindert etc. fühlen etc.

Artikel: Der richtige Marxismus