Die Kunst denkt nicht

Jörg Immendorff, Daniel Richter, Albert Oehlen, Katharina Grosse, Arnulf Rainer oder Sigmar Polke, die derzeit in der Albertina Modern präsentiert werden, sind zweifelsohne erhebliche künstlerische Talente und echte Maler. Sie haben ihren Platz; das kann man nicht bestreiten. Allerdings kann das, was derzeit in der Albertina Modern gezeigt wird, nicht mithalten mit dem, was derzeit im BaCA Kunstforum hängt (Robert Motherwell). Während im Kunstforum Kunst hängt, die sich auch radikal will und sucht, hat sich die Kunst in der Albertina Modern ein wenig aufgegeben oder zumindest vernachlässigt; sie ist zwar Kunst, aber als Begleiterscheinung innerhalb der Gesellschaft; nicht eine, die sich triumphierend über die Gesellschaft erhebt und die Gesellschaft und ihre lärmende Aufdringlichkeit in die Schranken verweist. Allein bei Albert Oehlen scheint man da was aus dem Urgrund – bzw. dessen epistemologischem Korrelat: den Geistestiefen bzw. dem transzendentalen Imaginationsvermögen – aufzusteigen haben; etwas, das sich noch dazu in einer rätselhaften Überdimensionalität, in die wir nur partiell Einblick haben, zu entfalten scheint, so wie das bei letztgültiger Kunst ja ist (bei Albert Oehlen scheint man also, gemein gesprochen, etwas Aufsteigend/Emporkommend authentisch-voraussetzungslos Schöpferisches zu haben). Aber ich weiß nicht, ob Albert Oehlen das auch so versteht, oder aus dieser Intention heraus malt. Heidegger hat vor geraumer Zeit gemeint: Die Wissenschaft denkt nicht. Rettung (einen Ausweg für die Philosophie und für die Entfaltung des Geistes, für das authentische Denken) hat er dann deswegen in der Kunst gesucht, freilich in ihrer vergeistigtsten Form (Hölderlin). Seit in etwa dem Tod von Heidegger in den 1970er Jahren kann man aber wohl sagen: Die Kunst denkt nicht. Man kann allgemein nicht feststellen, wo die Kunst heutzutage groß oder tief denkt. Das ist ein Substanzverlust, der nicht einmal genau bestimmt ist. Er wird von den Kunsttheoretikern (die korrelativ dazu ihre beste Zeit auch hinter sich zu haben scheinen oder die zumindest nicht die gegenwärtige ist) in ziemlich äußerlicher Weise umkreist. Sie scheinen vergessen zu haben, dass Kunst eine Erscheinungsform des Geistes ist und dass ein Aufstieg oder Abstieg der Kunst daher notwendigerweise ein Aufstieg oder Abstieg des Geistes ist bzw. ebendarin zu suchen ist. So kommt in der besonderen Malerei von Robert Motherwell der Geist zum Vorschein, der sich selbst begegnet – deswegen ist sie außerdem auch rein als Malerei besser als Malerei, die weniger Geist verkörpert. Damit der Geist sich selbst begegnen kann, muss er sich extrem vertiefen. Der Geist muss in die Malerei stürzen und in den Abgrund der Möglichkeiten, die in ihr liegen. Nur dann kann Malerei den Geist des Betrachters absorbieren und ewig lebendig sein. Indem in ihr ein ahnungsvoller Abgrund gähnt – der aber das reine Imaginationsvermögen und dessen offener Raum und dessen lebendige Sogwirkung ist. Die Malerei muss also denken, die Kunst muss also denken, nur in dieser Bewegung eröffnet sich in ihr der abgründige, absorbierende Raum in all seiner unermesslichen Tiefe, aus der dann Motive an die Oberfläche gespült werden und das ganze dann einigermaßen fixiert wird. Man hat im echten Kunstwerk das einigermaßen Fixierte und Eindeutige, das im Offenen oszilliert, die klare Konturiertheit und intellektuelle Präzision in der Bestimmung der Gegenstände der Welt, die dann aber gleichzeitig wieder in der Offenheit und Rätselhaftigkeit des Welthintergrundes verschwimmen bzw. mit ihm verschmelzen – gleichzeitig wird durch diese Beleuchtung aber auch der tiefere, rätselhafte Welthintergrund fassbarer und konkreter gemacht, der Scheinwerfer auf ihn draufgehalten. Durch die Kunst wird also Licht, in der Kunst erscheint die Welt. Indem sich die Kunst z.B. bei Motherwell durch das intensive, suchende Denken geklärt hat, erscheint sie in ihrer reinen Form. Das Charisma der Malerei von Motherwell bzw. aller so genannter großer Malerei und großer Kunst liegt darin, dass in ihr scheinbar voraussetzungslos und unmittelbar was erscheint. Dem Künstler ist es gelungen, zum transzendentalen Imaginationsvermögen vorzustoßen und das transzendentale Imaginationsvermögen anzuzapfen, das dann der reine Hintergrund ist, in dem das reine Motiv erscheint. Und beide verweisen unmittelbar aufeinander. Das ist dann die Perspektive der Erleuchtung. Dass ein Motiv in einem Hintergrund erscheint, ist die Struktur der Welt. In der Perspektive der Erleuchtung erblickt man, wie sich Motiv und Hintergrund ständig wechselseitig durchdringen, interdependent sind, sich ineinander spiegeln und dadurch ihren jeweiligen rätselhaften Wesenskern ein wenig erhellen. Das heißt: man sieht dann die totale, dichte Struktur der Welt, in ihrer fraktalen, aufeinander verweisenden „Unendlichkeit“. Man meint vielleicht, die Erleuchtung sei etwas Undurchsichtiges, Geheimes, ein Geheimnis aus dem fernen Osten. Aber im Wesentlichen sieht man in der elementaren Kunst die Welt aus einer solchen erleuchteten Perspektive. Es sind reine Motive, die in einem reinen Hintergrund erscheinen und sich beide wechselseitig durchdringen. Die Erleuchtung ist die höchste Stufe des Denkens und der Verwirklichung des Geistes. Heidegger hat sie gesucht, sie aber nie ganz gefunden, dafür aber in interessanter Weise in all seinem philosophischen Streben umkreist. Heute scheint es nicht mehr so zu sein, dass nach einer solchen Möglichkeit gesucht wird, in der Kunst und anderswo. Bei Basquiat begegnet sich (vielleicht nicht ganz das Denken aber) zumindest die expressive Fähigkeit zum Malen selbst. Basquiat war scheinbar das einzige gewichtige Genie, das nach dem Tod von Heidegger in der Malerei aufgetreten ist, während vorher dauernd gewichtige Genies in ihr aufgetreten sind. Es ist aber zu früh gestorben, als dass man sein Gewicht tatsächlich beurteilen könnte. Ich frage mich, warum solche Vertiefungen in der Kunst nicht mehr stattfinden, angestrebt werden oder zumindest nicht gelingen. Trotz allem Nachdenken über diese Frage habe ich immer noch keine befriedigende Antwort gefunden, warum die Kunst nicht mehr denkt. Die herkömmlichen Erklärungsversuche – der Überdruss der Kunst an sich selbst angesichts einer unästhetischen Realität; die Erschöpfung der inneren Möglichkeiten der Malerei; die Nivellierung durch den Kunstmarkt; die Gravität und Pfadabhängigkeit des Niveauverlustes in der Kunst und in der Kunstrezeption, der sich verstetigt; der sozialistische/feministische Unsinn von der Überflüssigkeit des Genies – scheinen letztendlich ungenügend (auch insofern das alles Mächte sind, die als solche Gegenmächte produzieren würden), da sie äußerlich sind, und scheinbar nicht das Zentrum der Kunst betreffen. Denn das Zentrum der Kunst ist das Denken, ist die Begegnung des Geistes mit sich selbst und ist die authentische Begegnung mit dem transzendentalen Imaginationsvermögen, aus dem alles entspringt und aus dem heraus alles originär erscheint. Das Zentrum der Kunst liegt im Subjekt und im Geist, also in Territorien, die von der Gesellschaft und vom Zeitgeist relativ wenig beeinflussbar sind/sein sollten. Damit liegt das Zentrum der Kunst aber auch im Gehirn. Vielleicht haben die Mediennutzungsgewohnheiten und die Akkulturationen in den letzten Jahrzehnten die Gehirne verändert und die Subjekte deformiert, dass aus ihnen kein Tiefsinn mehr rauskommt/entspringt. Oh ja, so wird das sicher sein! Aber –