Die künstlichen Paradiese des Charles Baudelaire

Der unersättliche Durst nach allem, was jenseits der Hüllen dieses Lebens liegt, ist der lebendigste Beweis für unsere Unsterblichkeit –: Wenn ein vollendet schönes Gedicht die Augen von Tränen überquellen macht, so beweisen diese Tränen nicht einen Ausbruch von Wonne, vielmehr sind sie Zeugen einer verirrten Melancholie, einer Forderung der Nerven, einer Natur, in die das Land des Unvollkommenen hineingestoßen ist und die im Augenblicke sogar auf dieser Erde hier eines offenbar gewordenen Paradieses sich bemächtigen möchte. So ist denn recht und schlecht das Prinzip der Poesie das menschliche Streben nach einer höheren Schönheit.

Charles Baudelaire

Charles Baudelaire gilt als ein Wegbereiter der literarischen Moderne. Was ist eigentlich Moderne, was ist Charakteristikum der Moderne? Laut Max Weber bedeutet Moderne die Ausdifferenzierung der Lebenssphären. Es kommt zu einer Zunahme von Wissen in der Welt, zu einer Zunahme von (technologisch, industriell konstruierten) Gegenständen, zu einer Vertiefung der Arbeitsteilung, zu einer Neuordnung und offensichtlichen Verkomplizierung der sozialen Verhältnisse u. dergl. mehr. Die verschiedenen Lebenssphären werden vergleichsweise autonom, zur gleichen Zeit durchdringen sie – im Gegensatz zu ihrer vormaligen feudalen Abgegrenztheit voneinander – einander immer mehr. Gleichzeitig werden die Lebenssphären vergleichsweise heteronom zueinander: keine Instanz hat mehr umfassende Kontrolle über einzelne oder über die Gesamtheit der Sphären. Die Sphären und die Gegenstände in den jeweiligen Sphären werden durch die Durchmischung einerseits einander vertrauter, andererseits aber unheimlicher, einem ewigen, unbeherrschbaren Außen zugehörend, fremder. Wenn man so will, werden die autonomen Sphären in einem gewissen Grad zu sich selbst heteronom (einem fremden Gesetz unterliegend). Ausgeglichen wiederum wird das, indem die Sphären reflexiv werden, das Verhältnis der Sphären verhandelbar, wenn nicht überhaupt urtümlich Gegenstand der Reflexion und der Verhandlung. Die Sphären werden, in einer vorher nicht dagewesenen Weise, durchleuchtbar und potenziell transparent und feststellbar. All das ist eben – gar kein Geheimnis, sondern – Ausdifferenzierung. Ausdifferenzierung ist nichts Magisches, sondern etwas banal Rationales – an deren banaler Rationalität man verzweifeln oder sich dem Ennui hingeben kann: wie es in der Moderne ja auch passiert bzw. wie in der Moderne damit kokettiert wird. Die Ausdifferenzierung schafft aber auch neue Geheimnisse. Ursprung, Ziel, Logik, Moral, Sinn der Ausdifferenzierung sind letztendlich dunkel und unbekannt. In all dieser Autonomie und Heteronomie der Sphären, in ihrer zunehmenden Abgrenzung voneinander wie umfassenden Durchdringung ineinander, in ihrer dunklen Geheimnishaftigkeit wie in ihrer erhellenden Reflexivität usw. ist es vielleicht das zentrale Charakteristikum der Moderne, dass sie zentrumslos ist; dass ihr Zentrum – in Bezug auf herkömmliche Vorstellungen davon – leer ist. Sowohl die klassische als auch die romantische Dichtung haben – im herkömmlichen Sinn – ein Zentrum. Bei der Klassik ist es das objektive Ideal, das letztendlich in der Natur liegt und über altehrwürdige Tradition vermittelt wird; in der Romantik ist es die autonome Subjektivität. Trotz all ihrer Gefinkeltheit sind sowohl das klassische objektive Ideal (der Schönheit) und das romantische Ideal der Subjektivität kompakte Zentren. Die Moderne, und daher auch die moderne Dichtung, hat demgegenüber kein kompaktes Zentrum. Das Zentrum der Moderne ist jedoch: Beweglichkeit. Das manchmal elegant glatte, manchmal ächzend-krachend-schwerfällige Gegeneinanderbewegen und Einanderdurchdringen der Sphären, die dezentrierenden Gänge der Reflexivität, die Flüchtigkeit der Wahrnehmung: das ist Moderne.  Sowohl die klassische und die romantische Dichtung sind Verfahren bzw. geben Verfahren an zur (Selbst)Vergewisserung ihrer Zentren: dem objektiven Ideal, der autonomen Subjektivität. Die moderne Dichtung muss ein Verfahren sein, in der es solche kompakte Zentren nicht mehr gibt, bzw. sie nicht mehr glaubwürdig sind. Das Verfahren der modernen Dichtung gilt der Vergewisserung ihres nebulosen, dezentrierten Zentrums: der Beweglichkeit. Insofern ist es zutiefst modern, indem der moderne Dichter Flaneur ist und Dandy. Das aber waren die Verfahren der Selbstvergewisserung von Charles Baudelaire.

Charles Baudelaire war ein mit einem echten Schönheitssinn begabter Mensch. Er hat Schönheit gesucht und Schönheit verstanden. Baudelaire gilt, nach Nietzsche, als der tiefste Kunst-Denker und Kunstrezipient des 19. Jahrhunderts. Er hat der Kunst zu einem tieferen Selbstverständnis verholfen. Damit ist Baudelaire zunächst einmal eine hochgradig autonome und überzeitliche Erscheinung, und nicht vornehmlich, so wie es die Kulturwissenschaften und ähnliche Disziplinen immer wieder in den Vordergrund zu rücken versuchen, ein „Ausdruck“ seines Zeitalters. Er hat Schönheit als was Universelles verstanden und, vor allem, als etwas Universelles gesucht, und sich selbst als einen „Kosmopoliten“ (im Reich der Schönheit) gesehen: Wenige Menschen haben – Im großen Ganzen – diese göttliche Gnade des Kosmopolitismus; doch alle können sie in verschiedenen Graden erwerben. „Universelle“ Schönheit bedeutet dabei nicht notwendig, dass sie statisch und eindeutig ist; denn: Jedermann begreift ohne Schwierigkeit dieses: Wenn die Menschen, deren Amtes es ist, das Schöne auszudrücken, den Regeln der beeideten Professoren sich fügen würde, so würde das Schöne selbst von der Erde verschwinden, da alle Typen, alle Ideen, alle Empfindungserlebnisse in eine große Einfachheit sich ergießen würden, die monoton und unpersönlich wäre und unermesslich wie die Langeweile und das Nichts. Die Verschiedenheit, die Lebensbedingung sine qua non, wäre alsdann im Leben ausgelöscht. So wahr ist´s, dass es in den vielfältigen Hervorbringungen der Kunst ein Etwas gibt, das, immer neu, für immer den Regeln und den Schulanalysen sich entziehen wird! Die Schönheit hat etwas Objektives, Universelles, Überzeitliches. Zumindest scheint es so, und ohne einen solchen Schein würde man es ja kaum als Suprematie wahrnehmen und anerkennen. Das Schöne erscheint jedoch auch in Zeit und Raum, und um authentisch zu sein, sollte sich das Schöne auch zeitgemäß ausdrücken. In seiner berühmten Formel begreift Charles Baudelaire das Schöne als aus einem überzeitlichen und einem zeitgenössischen Element zusammengesetzt: Das Schöne wird aus einem ewigen, unveränderlichen Element gebildet, dessen Qualität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, bedingten Element, das, wenn man will, um und um oder allzugleich, von dem Zeitabschnitt, der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird. Ohne dieses zweite Element, als welches gleichsam der amüsante, glänzende Überguss ist, der den göttlichen Kuchen und verdaulich macht, wäre das erste Element für die menschliche Natur unzuträglich, ungeeignet, unverdaulich. Damit entsteht die Notwendigkeit, das Schöne zeitgenössisch auszudrücken. Eigentlich kann zum universellen, überzeitlichen Schönen nur vorgedrungen werden, wenn ein profunder zeitgenössischer Ausdruck des Schönen gelingt. Der profunde Ausdruck der Schönheit muss nicht nur das Überzeitliche beherrschen, sondern auch die Gegenwart. Profundheit ist exklusiv: Nein! wenig Menschen sind mit der Fähigkeit begabt, zu sehen; noch geringer ist die Anzahl derer, die die Macht des Ausdrucks besitzen. Schönheit hat Qualitäten, die sich entziehen, Ausdruck jedoch ist kompakt. Wenn man so will, ist es das Problem der modernen Kunst, wie man für das nicht-kompakte Zentrum der Moderne einen kompakten Ausdruck finden kann. Baudelaire hat als Dichter nicht unbedingt neue Ausdrucksformen entworfen. Aber er hat neue Verständnisse entwickelt davon, was Schönheit ist und wie sie sich ausdrückt. Es ist schwierig, oder bei genauerer Betrachtung gar nicht einmal so leicht, wie es auf den ersten Blick scheint, bei Baudelaire und seiner Kunst ein kompaktes Zentrum zu identifizieren und eine kompakte Botschaft. Was Baudelaire aber getan hat, ist, dass er ein differenziertes, sich ausdifferenzierendes Verständnis von Schönheit entwickelt hat. Damit ist er vielleicht tatsächlich der zentrale moderne Dichter.

Das überzeitliche, universelle, kosmopolitische Wesen – und das kompakte Zentrum – von Charles Baudelaire war sein authentischer, nach überdauernden Formen suchender Kunstsinn und Schönheitsdrang. Darüber hinaus hat es Baudelaire ungemein geholfen, dass er, gleich dem modernen Zeitalter, scheinbar kein kompaktes Zentrum in seiner Persönlichkeit hatte. Laut Sartre, der einen einsichtsvolle und detaillierte Betrachtung über ihn geschrieben hat (für deren Negativität und Despektierlichkeit er sich später geschämt hat), war das zentrale Streben von Baudelaire das nach Alterität, sich in seiner Alterität zu vergewissern. Baudelaires Leben war traumatisch. Nach dem Tod seines kunst- und literaturliebhabenden Vaters als er fünf Jahre alt war, durchlebte Baudelaire einige glückliche Jahre in seiner Kindheit in einer Art symbiotischen gefühlsmäßigen Beziehung mit seiner Mutter. Als die Mutter erneut heiratete, erlebte er das als Zerstörung dieses Glücks. Er entwickelte daraufhin lebenslänglich einen widersprüchlichen Charakter. Kaum erwachsen, verbrauchte er sein beträchtliches Erbe schnell, um daraufhin nicht nur stets in ziemlicher Armut, sondern auch unter Vormundschaft gestellt zu leben. Er betrieb einen Kult der „Willensstärke“, Arbeit und Unabhängigkeit suchte er jedoch nicht. Vielmehr entwickelte er einen Kult des Müßiggangs, er wollte am liebsten ein „gehätscheltes Luxustier“ sein. Er hasste Autorität, unterwarf sich ihr aber immer wieder. Obwohl er sich rühmte, zum dichterischen Sehen begabt zu sein, blieb er in einer fortwährenden Distanz zur Welt. Ihm fehlte die Unmittelbarkeit. Obwohl seine Dichtung überladen ist mit Sinnlichkeit, fühlte er sich, wie man munkelt, vom eigentlichen Zentrum der Sinnlichkeit, dem Geschlechtsverkehr, abgestoßen. Befriedigung suchte er im Supplement, in Haaren, in Düften, in Anschauungen, in denen er schwelgte. Er träumte von der Ferne, brachte aber keine Reisen zustande; er bejahte das Alleinsein, brauchte aber ständig Menschen um sich. Obwohl er moderner Dichter ist und „das Neue“ liebte, blieb er vergangenheitsfixiert; Realität und Wert hatte für ihn eigentlich nur die Vergangenheit. Trotz seiner Rebellion gegen die Gesellschaft entzog er sich ihr nicht vollständig, sondern nahm immer wieder exzentrische soziale Rollen (wie die des Dandy) ein. Er verkleidete sich gerne, lackierte sich die Fingernägel, färbte sich die Haare, blieb aber damit letztendlich auch innerhalb der Arena des Gesellschaftlichen. Die Einsamkeit Rimbauds erreichte er nie und strebte sie auch nie an. Laut Sartre blieb Baudelaire bei allem immer auf halbem Wege stehen. Wenn man so will, hat man in all dem das Verhalten eines trotzigen, eigentümlich egozentrischen und eigentümlich egozentrisch auf die Mutter bezogenen Kindes, das eine Art Machtkampf mit der Mutter bzw. seinem dyadischen Gegenüber vollzieht, für immer. Bei Hölderlin galt es als ähnlicher Schock, als er, seiner glücklichen Kindheit entrissen, ins Tübinger Stift gesteckt wurde. Deswegen suchte Hölderlin immer nach seinem glücklichen Arkadien der Vergangenheit und hoffte auf die Wiederkunft des Gottes und des Ideals in der Zukunft. Sonst gab es bei ihm wenig an Themen. Hölderlin war jedoch ernsthaft pathologisch und allein schon über dieses Verhalten „schizophren“ (abgespalten von der Realität). Baudelaire war auch, in einem irgendwie ernsthaften Sinn, kein normaler Mensch. Aber auch er hat eine Pathologie in Dichtung von universeller Bedeutung umgesetzt. Zeit seines Lebens blieb er damit vorwiegend unter Eingeweihten bekannt. 1867, im Alter von 46 Jahren starb er. Die Mutter, Caroline, hat ihn um beinahe vier Jahre überlebt und durfte noch Zeugin seines daraufhin einsetzenden Nachruhms werden.

Im Gegensatz zu Hölderlin, und entsprechend seinem passiv-aggressiven Charakter, ist das Schöne, das Göttliche, das Ideal bei Baudelaire aber nicht nicht vollständig, kompakt, ungeteilt. Das Schöne ist bei Baudelaire bekanntlich meistens vom Morbiden durchzogen, oder steht mit ihm im Bund. Baudelaire delektiert sich am Verfall, am Alten, am Ekelerregenden, am Krankmachenden. Mit so was kann man versuchen, Mütter zu schockieren. Man kann es auch als Ausdruck von Melancholie sehen: das Bewusstsein, dass alles Wertvolle, dass das Ideal vom Verfall bedroht und kontaminiert ist. Dichter und Denker sind bekanntlich in der Regel Melancholiker; Baudelaire ging darin aber weiter. Melancholie war etwas, das Baudelaire als Grundbefindlichkeit artikulierte; der Spleen, der bei Baudelaire so zentral ist (Spleen und Ideal, Der Spleen von Paris) bedeutet im Französischen: Melancholie. Ich will nicht sagen, dass sich nicht die Freude mit der Schönheit verschwistern könne, muss aber die Freude als eines der vulgärsten Ornamente bezeichnen, indess die Melancholie der Schönheit hehre Gefährtin ist, derart, dass ich wenigstens mir keinen Typus von Schönheit vorzustellen vermag, dem das „Unglück“ ferne stände, bekennt er. Auf der anderen Seite stellt sich aber die Frage, wie verschwistert Baudelaire mit der Melancholie denn dann tatsächlich auch war (ohne natürlich das in Abrede stellen zu wollen). Lebensfeindlich und -müde schienen weder Baudelaire noch seine Dichtung. Die ist vielmehr prall, überladen, pulsierend, geradezu vital. Wenn sich auch die Schönheit für Baudelaire immer wieder entzieht, findet er sie zunächst ja einmal überall. Er jagt keiner blauen Blume hinterher, sondern schwelgt in einem dauernden sinnlichen Rausch. Ihm gefällt die Mode und das Flüchtige. Das schafft Melancholie nicht notwendigerweise aus der Welt. Aber bei Baudelaire geht sie geradezu mit einer Sanguinik einher, beziehungsweise mit der sanguinischen Empfindlichkeit des Kindes und des Genies. Ein ganzheitliches Sinnbedürfnis bleibt sowieso unerfüllt in der Moderne: heil dem also, der fähig ist, das Vorbeiziehende zu genießen, die Mode zur höchsten Schönheit zu erheben und das Flüchtige als das Dauerhafte und Substanzielle zu erkennen. Im Himmel und, wie Baudelaire ja selber sagt, angesichts statischer Schönheit wird einem schnell langweilig: in der Abwechslung liegt und pulsiert das Leben. Wenn man so will: zwischen den Polen Gott und Satan. Baudelaire ist folgerichtig Flaneur, und erhebt den Flaneur zum urtümlichen Rezipienten moderner, urbaner Schönheit. Insofern in der Moderne keine objektiven Standards für Schönheit mehr existieren, werden die Standards flexibel und kann Schönheit künstlich geschaffen werden. Baudelaire sieht sich als Dandy, als eine Art Aristokrat, dessen einziger Daseinszweck es ist, Schönheit zu kultivieren. Nicht zuletzt delektiert sich Baudelaire am Bizarren. Das Schöne ist immer bizarr, so sein Diktum. Damit ist generell gemeint, dass das Schöne immer ein individuelles Element enthalten muss, um schön zu sein. Ei, das sage ich auch immer. Auch das Bizarre ist mir durchaus bekannt, es liegt innerhalb meiner Arena. An meiner Liliana liebe ich, dass sie sowohl das Schöne versteht, als auch das Bizarre. Wer vollständig sein will, muss ja auch das ganze Spektrum vom Schönen bis zum Bizarren verstehen. Allerdings ist das Bizarre bei mir nicht zentral, sondern eher das Individuelle. Ich finde Frauen, die irgendwie individuell aussehen, schön, nicht solche, die bizarr aussehen. Bei Baudelaire hat das Bizarre einen deutlich zentraleren Stellenwert und das Bemühen um Bizarrerie. Er fühlte sich auch zu bizarren Frauen hinzugezogen. Seine Lebensgefährtin (und „Muse aller Musen“) war Jeanne Duval, eine kreolische Schauspielerin und Tänzerin, die neben ihrer exotischen Ausstrahlung offenbar auch eine ähnlich komplizierte Persönlichkeit war wie Baudelaire selbst, was für eine bizarre Beziehung sorgte.

Sartre macht als das psychologische Zentrum bei Baudelaire dessen Bedürfnis nach Alterität aus. Alterität bezeichnet die Identität stiftende Verschiedenheit zweier aufeinander bezogener, sich bedingender Identitäten. Baudelaire vergewissert sich seiner Identität grundsätzlich, indem er sich als anders definiert. Es ist der eigenartige, dyadische Kampf zwischen dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und nach Geborgenheit, die als Bedürfnisse so extrem empfunden werden, dass sie, obwohl sie ja in gegensätzliche Richtungen laufen, bei Baudelaire dann auch wieder fest aneinander gekettet bleiben und sich in einer fortwährenden Mischung aus Faszination und Abscheu ineinander spiegeln. Baudelaires psychologische Spiegelfechterei und sein Bedürfnis nach Alterität gehen (gemäß Sartre) so weit, dass die Alterität de facto inhaltlich leer bleibt, stattdessen sich selbst zum Inhalt erhebt. Seine Einzigartigkeit, die Baudelaire anstrebt, liegt für ihn in seiner ewigen Alterität, die in ihrem Bedürfnis, sich abzustoßen vom anderen umso radikaler auf den anderen bezogen bleibt. Damit wird seine Identität umso mehr zu einem Bild, beziehungsweise geschieht in der Auseinandersetzung mit einem Bild. Poeten schaffen Bilder. In der Dichtung von Baudelaire vollzieht sich das jedoch in einem abnormen Maße. Man hat bei Baudelaire den Eindruck, dass die Welt, bzw. sein Gegenüber, für ihn tatsächlich in erster Linie Bild ist. Man hat bei Baudelaire scheinbar eine intensive und gegenüber den eigentlichen Weltgehalten additive Wahrnehmung, die die Welt erhebt, indem sie mehr in sie hineinlegt als in ihr eigentlich ist, gleichzeitig aber auch eine flache und blutarme Wahrnehmung, der vieles von der eigentlichen Konsistenz von sowohl dem Selbst als auch dem Gegenüber entgeht. Gleiches gilt für die Emotionalität Baudelaires. Indem sie so dyadisch ist (archaisch zwischen den Polen „Ich“ und „Mutter“ schwingt), ist sie ziemlich asozial. Trotzdem er ein ganzes neues Zeitalter zum Ausdruck brachte, hatte Baudelaire offenbar wenig sozialen Sinn; seine Versuche, sich asozial zu geben (indem er sich sich schminkt, Dandy sein will, Bürgerschreck) wirken vielleicht deswegen ein wenig inkonsistent, da sie sich auf das mütterliche Gegenüber beziehen und scheinbar von keinem eigentlichen gesellschaftlichen Sensorium begleitet werden. Auf der Habenseite steht dann aber doch eine erhebliche Souveränität Baudelaires – gerade durch diese Reflexivität, die in all der Auslebung dieser Alterität und Spiegelfechterei liegt. Wenn man so will, kann (modern betrachtet) weder im Ich noch im Gegenüber, weder im Betrachter noch im Bild das Absolute, das Ganze und Ungeteilte liegen. Superiorität kann das Subjekt erlangen, indem es sich reflexiv und autoreflexiv zwischen diesen beiden Polen verhält. Mit dieser Reflexivität kann das Subjekt sich selbst und die Welt weiterentwickeln, oder zumindest ausgestalten und ausdifferenzieren. Damit ist man bei Baudelaire tatsächlich im Zentrum der Moderne. Was Baudelaire außerdem anstrebte war Luzidität (außerdem: berauscht zu sein und sich zu berauschen. Aber Poesie ist genau genommen eine ins Rauschhafte gesteigerte Luzidität). Luzidität bedeutet aber Durchreflektiertheit; genau gesagt, eine derartige Durchreflektiertheit, dass der Gegenstand transparent wird. Luzidität ist also Modernität. Laut der Philosophin Jadranka Skorin-Kapov steht Alterität mit dem tatsächlich Neuen und Originären, dem Überraschenden in Verbindung, beziehungsweise ist die Basis dafür, dass dergleichen entstehen kann. Baudelaire liebte Neues und Überraschendes, es ist wesentliches Element seines ästhetischen Verständnisses. Und modern bedeutet ja: neuartig. Das Gute an der Alterität ist auch, dass sie das Andere nicht übermannt oder zu übermannen versucht, sondern es als Anderes bestehen lässt. Aus der Alterität entsteht (idealerweise) keine Diktatur und kein verobjektivierender oder stereotypisierender Blick. Alterität inkludiert eine gewisse Anpassungsfähigkeit. Alterität sollte mit Komplexität was anfangen können und sollte in der Lage sein, Komplexität einzufangen. Moderne bedeutet eine gewisse Komplexität und Moderne beinhaltet auch ihre eigene Alterität. Insofern ist es, wenn man die Moderne begreifen oder ausdrücken will, vielleicht ganz gut, wenn man Alterität in sich trägt.

Indem die Moderne kein kompaktes Zentrum hat, gibt es kein eindeutiges Symbol für sie, kein eindeutiges Bild, dass sie darstellt und zum Ausdruck bringt. Man kann zum Beispiel die Moderne utopisch zum Ausdruck bringen, anhand ihrer Leistungen, ihrem Potenzial, ihren Glücksversprechen; oder dystopisch, also über ihr Potenzial zur Potenzierung von Unglück. Beide Ausdrucksformen gibt es, und beide Trajektorien sind in der Realität vorhanden. Aber beide sind unvollständig. Einem Literaturwissenschafter zufolge, dessen Namen ich leider vergessen habe, bringt Baudelaire im Spleen von Paris die Stadt Paris über eine Heterotopie zum Ausdruck. Eine Heterotopie – ein von Michel Foucault geprägter und kurzzeitig verwendeter Begriff – ist eine Art Außenraum, ein Widerlager, eine Gegenplatzierung, die eine verfremdende, gleichzeitig erhellende Sicht auf die Gesamtheit konstruieren. In seinen Prosadichtungen und auch in den Blumen des Bösen beschreibt Baudelaire die moderne Stadt kaum über ihre kulturellen oder politischen Zentren, sondern hauptsächlich über ihre exzentrischen Extremitäten: Armenviertel, alte Jahrmärkte, den Hafen… Genau gesagt, kommt die Stadt in seinen Dichtungen überhaupt nur ziemlich am Rande vor. Dessen ungeachtet evoziert seine Dichtung eine Atmosphäre der Urbanität – hat dann aber trotzdem auch etwas eigentümlich Pastorales, Kontemplatives, Undynamisches und (Morbid-) Idyllisches: was vielleicht auch daran liegen will, dass heterotope Orte, in ihrer Devianz, teilweise nach eigenen Regeln funktionieren und, laut Foucault, eine „tatsächlich realisierte Utopie“ sein mögen (natürlich aber hat, davon abgesehen, eine melancholische Weltbetrachtung durchaus auch all diese Qualitäten bzw. schafft dahingehend ihr eigenes pastorales Territorium). Aller Moderne zum Trotz erscheint die Welt, wie sie Baudelaire vor allem in den Prosadichtungen beschreibt, gleichsam als sehr alt; darin heteronom und fremd, viel älter als das Subjekt, gleichzeitig hat sie durch diese Altheit aber auch die Kraft, Geborgenheit und Platziertheit für das Subjekt zu schaffen und, trotz all ihrer Baufälligkeit, das Subjekt zu überdauern, es in ihrer Erinnerung aber gleichsam aufzunehmen. Sie präsentiert sich als Mimesis des Überzeitlichen, des Ewigen und sie hat etwas Totales und total Immersives. Überhaupt hat die Welt Baudelaires etwas exzessiv Traumhaftes und Bildhaftes – in einer Manier traumhaft und bildhaft, die über das gewöhnliche Maß bei Poeten hinausgeht. Auch ist sie dementsprechend leicht unangenehm, so wie Träume meistens irgendwie unangenehm sind. Wie in Träumen ist dieses Unangenehme dann aber auch wieder ohne echten Belang. Wie in Träumen scheint diese Welt keinen echten Gesetzen zu unterliegen, wie in Träumen ist die Welt fremd, dann aber auch wieder vertraut. Es ist, von den Motiven her, eine mondsüchtige Welt, in der Luna zum Poeten sagt: „Du sollst lieben, was ich liebe und was mich liebt: das Wasser, die Wolken, das Schwingen und die Nacht; das unermessliche, das grüne Meer; das ungeformte, formenreiche Wasser; die Stätte, da du nicht sein wirst; den Liebenden, den du nicht kennen wirst; die ungeheuerlichen Blumen; die taumelschwangeren Düfte; die Katzen, die auf Pianos fast ersterben und seufzen wie die Frauen, mit einer rauen, doch so linden Stimme.“ Die Artefakte der Moderne scheinen (allzu) präzise Konturen zu haben, Baudelaire liebt aber das Unkonturierte, das, was keine klaren Konturen hat und sich, wie das Meer, die Wolken, die Düfte usw. ergießt, das in dem man sich verlieren kann (unkonturiert und zum endlosen Denken und Betrachten anregend ist dann aber eben die Moderne selbst). In den Bildern des modernen Dichters Baudelaire kommen keine Fabriken vor, keine Telegraphenmasten und keine Eisenbahnen. Es kommen bei ihm Arme und Benachteiligte – vor allem Deformierte – vor, aber kein Proletariat. Walter Benjamin fixiert Baudelaire als „Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ – aber in seiner Lyrik gibt es kein Geschäftsleben, keine Arbeitsteilung und kein Geld (wenngleich die Zeit Baudelaires aus heutiger Sicht wohl kaum als eine des Hochkapitalismus erscheint, sondern tatsächlich als eine, in der der Kapitalismus noch vergleichsweise wenig Lebensbereiche kolonialisiert hat). Bei alldem scheinen alle Dinge (bzw. die menschlichen und nicht-menschlichen Gegenstände) in seinen Dichtungen eine Selbstständigkeit und Getrenntheit, eine Autonomie voneinander zu bekommen. Die ganze Welt hat ein undurchsichtiges, aber offensichtliches Eigenleben. Baudelaires Welt scheint eine von ächzenden, schnaufenden – eben erzmodernen – Verkettungen zu sein, einer dauernden Dynamik von Verkettungen: etwas Maschinenhaftes also, das nicht zuletzt eine maschinenhafte Verkettung von Begehren zu sein scheint: das freilich gerade bei Baudelaire niemals durch eigentliche Lust „unterbrochen“ wird (obwohl er somit scheinbar auf so zahlreiche ihrer Lieblingsthemen referiert, nehmen sich ausgerechnet die Landsmänner Deleuze und Guattari – soweit mir erinnerlich ist – Baudelaires aber nicht an). 1848 sollte sich Baudelaire tatkräftig an der Februarrevolution beteiligen; er sympathisierte mit den Idealen von Fourier und Blanqui. Nach deren Niederschlagung und der konservativen Restauration zog er sich jedoch frustriert auf die Existenz eines unpolitischen Schriftstellers zurück. Sonderlich tiefgreifend war sein Flirt mit der Politik und mit dem Sozialismus und dessen avantgardistischer Ansprüche offenbar nicht. Insgesamt scheint Baudelaire (zumindest als Dichter) die Welt vorwiegend als ein ästhetisches Phänomen wahrgenommen zu haben, und er hat sie auch als solches überhöht.

Ein Kennzeichen von genialer Kunst dürfte sein, dass in der Darstellung einer Welt noch eine andere Welt hindurchzuscheinen scheint. Eine Welt ist kaum vollständig darstellbar und beschreibbar. Geniale Kunst scheint aber alle Welt, und das auch noch über die bisher bekannten Grenzen hinaus, zur Darstellung zu bringen. Indem sie nun in der Darstellung einer Welt auch noch eine andere Welt zum Ausdruck kommen lässt, könnte über dieses Fluktuieren und Oszillieren das Problem gelöst werden. Obendrein wird es derart ein beweglicher und die Komplexität imitierender Ausdruck sein. Und das hat man in der Kunst Charles Baudelaires. Seine scheinbaren Widersprüche und Inkonsistenzen spannen nur ein weiteres Feld und eine größere Weltsicht auf. Seine Heterotopien sind Brennpunkte der großen Ellipse. Charles Baudelaire hatte die Fähigkeit, eine überzeitliche Welt zu begreifen, und eine zeitgenössische vorausschauend zu definieren. Dass Baudelaire in vielen Aspekten so unmodern und gegenüber seiner Zeit blind zu sein scheint, ist natürlich allein schon einmal dem geschuldet, dass er ja Vorläufer und Prototyp moderner Dichtung ist. Gleichzeitig ist er viel umfassender modern, und außerdem überzeitlicher und generell komplexer als diverse moderne Dichter, die zwar die Schönheit von Stahlbauten mit Antennen dran beschreiben, darin aber auch steckenbleiben und intellektuell in ihrer jeweiligen Zeit verhaftet bleiben. Baudelaire hingegen blickte tief in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er war luzide und berauscht: genau gesagt, von und in seiner Luzidität berauscht. Er war alt wie die älteste und entwickeltste Intelligenz, aber auch jung und frisch wie das Kind: Kind und Genie standen für ihn sowieso in einem Bund: Das Kind sieht alles immer im Lichte der „Neuheit“; es ist immer „berauscht“ … Aber das Genie ist doch nichts anderes als die freiwillig wiedergefundene Kindheit, die nun, um sich Ausdruck zu verschaffen, begabt ist mit mannbaren Organen und mit dem analytischen Geist, der es erlaubt, die Gesamtheit des unwillkürlich aufgespeicherten Materials zu ordnen. Sowohl das Kind als auch das Genie haben eine Lust und sind beherrschend gegenüber dem Paradoxen. In dieser Beherrschung des Paradoxen gelingt es ihnen auch, die diversen sozialen Bezirke (wie zum Beispiel „das Hohe“ und „das Niedrige“) zusammenzubringen, während ein normaler Verstand und eine normale Emotionalität daran scheitert (laut Friedrich Schiller kann nur das Genie (oder eben auch das Kind) verschiedene Lebenssphären, die sich mitunter unversöhnlich gegenüberstehen, zusammenbringen). Bei Baudelaire mag man Trauer über die Unerreichbarkeit des Ideals haben, alle Sphären werden jedoch zusammengehalten über sein spezifisches Sensorium, das alles überbrückt. Im Schluss zu den Künstlichen Paradiesen zitiert er einen bemerkenswerten, wenig bekannten Philosophen, Barbereau. … „Die großen Dichter, die Philosophen, die Propheten sind Wesen, welche durch die reine, freie Ausübung der Willenskraft zu einem Zustande gelangen, darin sie zugleich Ursache und Wirkung, Subjekt und Objekt, Magnetiseur und Somnambule sind.“ Baudelaire gilt als Ausdifferenzierer des Verständnisses von Schönheit, indem er das „Niedrige“ Einzug halten lies in seine Poesie. Tatsächlich war er aber auch Verteidiger eines Ideals der Schönheit gegenüber dem generell Niedrigen, das in den tieferen Logiken des Zeitalters zu liegen schien. Laut Clement Greenberg ist die künstlerische Moderne ein Versuch, bedrohte Qualitätsmaßstäbe gegen die Logik des Zeitalters aufrecht zu erhalten: Der Modernismus ist als ein Versuch des Bewahrens zu verstehen, als ein fortwährendes Bestreben, die bedrohten ästhetischen Qualitätsmaßstäbe zu sichern … Er besteht in einem fortwährenden Bestreben, den Niedergang der ästhetischen Qualitätsmaßstäbe aufzuhalten, die in der Industriegesellschaft von der relativen Demokratisierung der Kultur bedroht werden; die alles beherrschende innerste Logik des Modernismus ist es, das Niveau der Vergangenheit gegen Widerstände zu behaupten, die in der Vergangenheit noch nicht vorhanden waren. (Er fügt an anderer Stelle noch hinzu: Jetzt kommt die Bedrohung der ästhetischen Maßstäbe, der Qualität, aus nächster Nähe, sozusagen von innen her, von den Freunden der Avantgarde-Kunst … man sehe sich nur einmal an, was diesen „postmodernen“ Menschen in der heutigen Kunst gefällt und was ihnen nicht gefällt. Mir scheint, dass sie eine größere Gefahr für die hohe Kunst sind, als es die Banausen früher je waren. Sie machen den banausischen Geschmack wieder aktuell, indem sie ihn als sein eigenes Gegenteil verkleiden und ihn in einem hochtrabenden Kunstjargon verpacken. Sehen Sie sich nur an, wie dieser Jargon sich heute ausbreitet, in New York und Paris und London, sogar in Sydney … Was all dem zugrunde liegt, ist das mangelhafte Sehvermögen der betreffenden Leute, ihr schlechter Geschmack in Sachen der bildenden Kunst.) Baudelaire hatte das vielleicht nicht absichtlich im Sinn – er wusste ja auch noch gar nicht, wovon dementsprechend die Rede war – wahrscheinlich würde er das aber sofort verstanden haben.

Baudelaires Oeuvre ist schmal geblieben, und für mich immer noch eine etwas unebene Landschaft. Seine Dichtung vom Haschisch und seine Künstlichen Paradiese finde ich immer noch sehr langweilig, seine Kunstbetrachtungen und kunstkritischen Schriften sind von atemberaubenden Intelligenz, dann aber auch nur an einigen Stellen gut (der Rest scheint überflüssiger Ballast), seine Blumen des Bösen habe ich erst jetzt, nach über 25 Jahren geschafft, vollständig zu lesen und tiefer zu begreifen – seine Prosadichtungen, Der Spleen von Paris, haben mich hingegen immer schon eingenommen; und ich finde: so sollte Prosa sein. In seiner zentralen kunstkritischen Schrift, wo er sein modernes Programm formuliert, Der Maler des modernen Lebens, exemplifiziert Baudelaire seine Kunstauffassung anhand eines heute schon lange vergessenen Malers, Constantin Guys. Über den und seine Kunst schreibt er zum Beispiel: Wenn aber etwa ein übel Beratener in diesen Kompositionen Guys´, die sich durch sein ganzes Werk zerstreut finden, die Gelegenheit suchen möchte, einer krankhaften Begierde zu frönen, so bin ich menschenfreundlich genug, ihn im voraus zu benachrichtigen, dass er nichts finden wird, was eine krankhafte Phantasie erregen kann. Nichts als das unvermeidliche Laster wird er sehen … nichts als die reine Kunst: die besondere Schönheit des Bösen, das Schöne, das im Grauenvollen wohnt. Oder: Er (Guys) hat überall die flüchtige, vergängliche Schönheit des gegenwärtigen Lebens gesucht, den Charakter dessen, was als die „Modernität“ zu bezeichnen der Leser uns verstattet hat. Oftmals bizarr, gewaltsam, exzessiv, immer aber poetisch hat er in seinen Zeichnungen die bittere oder benebelnde Blume des Weines des Lebens zu konzentrieren verstanden. Offenbar spricht er von Guys, weil er damit genausogut über sich selbst sprechen könnte.

Charles Baudelaire war eine Art Prototyp für den Poéte maudit, den verfemden, unverstandenen Dichter, der – freiwillig oder unfreiwillig/gezwungenermaßen – auf Konfrontationskurs mit der Welt und den Werten seiner Zeit geht, und daher von ihr ausgestoßen wird; der ein gefährliches, an und für sich sauerstoffarm-tödliches und daher auch oft praktisch kurzes Leben hat, um dann nach seinem Tod Anerkennung zu finden. Als Landsmänner seines Jahrhunderts kommen diesbezüglich auch Rimbaud, Lautréamont oder Alfred Jarry in den Sinn, ebenso wie Emily Dickinson, Kierkegaard, Nietzsche oder Büchner. Ei, das ist ja eine ganz charmante Gesellschaft, denn das sind ja alle welche, die die blaue Blume ohne größere Umstände gefunden und bei sich gehabt haben. Sie leben im oder sind Kreaturen aus dem Reich der Ideale, und das Reich des Idealen ist ein ebenes, pazifiziertes, eben pastorales Reich. Es ist daher seltsam, wieso sie sich im Zeitlichen so stoßen und beinahe oder tatsächlich von ihm zermalmt werden. Aber ein ebenes, planes Reich ist die Kultur nur überzeitlich betrachtet. Jeweils aktuell ist die Kultur das Ringen um Werte und Ideale – und daher eine Arena der Auseinandersetzung. Mit diesen Überzeitlich-Idealen will man sich vielleicht lieber nicht anlegen – und so legt man sie zeitgenössisch beiseite. Es erscheint seltsam, aber diese Dichter(innen) selbst scheinen so seltsam, dass es nicht so sehr verwundert, dass die Menschenfamilie sie kaum als unmittelbar ihresgleichen erkennt. Es scheint sich bei den Poétes maudits vielleicht um eine eigene Spezies zu handeln? Aber was ist es dann, was diese Spezies ausmacht und sie so speziell macht? Dass jene Poétes maudits ausgesprochen individuell und subjektiv sind, und daher von zeitgenössischen objektiven Standards nicht erkannt werden, erscheint auch irgendwie als zu kurz gegriffen: denn ausgesprochen subjektiv ist ja so gut wie jeder dann auch wieder. Vielleicht ist das, was die Poétes maudits miteinander teilen, ihre Essenz, eben die Alterität. Ja, so betrachtet erscheinen sie gleichsam als Verkörperungen der Alterität: und das ist dann doch so gut wie niemand – außer eben sie. Und echte Alterität ist mit etwas, das eine Identität sein will, und sich als Identität, als etwas Eindeutiges zu bestimmen versucht, relativ inkompatibel, eventuell Anathema. Das Zeitalter nimmt Individualität gerne auf, um sich selbst zu vergewissern, diverse individuelle Ausformungen sind einem beliebigen Zeitalter ja systemimmanent. Über solche systemimmanenten individuellen Ausformungen und Devianzen mag sich das Zeitalter freuen. Die Alterität ist aber kaum systemimmanent, sondern kommt von einem Anderswo; bzw. ist sie umso unheimlicher, als sie gleichzeitig aus dem tiefsten Inneren, wie auch aus einem entlegensten Außen zu kommen scheint. Um noch einmal auf Foucault zurückzukommen, so kommt der – und die (Post)Strukturalisten mit ihrer topographisch inspirierten Terminologie – öfter mit der Idee/Kategorie von einem „Außen“; das jenseits der bekannten Diskurse und Dispositive liegt, für sie teilweise konstitutiv ist, das bei Foucault et al. aber relativ unbekannt und inhaltlich unterbestimmt bleibt. Für die Poétes maudits scheint dieses „Außen“ gleichsam kein so großer Unbekannter zu sein, sondern eher ihr natürliches Habitat. Sie beherrschen das Außen, und scheinen gleichsam aus dem Außen zu kommen. Aber ihrer Alterität gemäß stehen sie eben mit einem Bein im Diskurs und mit dem anderem in dessen Außen. Das eben ist, ihrem Wesen nach, Alterität. Alteritäten sind, so wie Identitäten, zuletzt noch verschieden. Meine Alterität ist anders als die von Baudelaire. Ich interessiere mich bekanntlich eminent für das Andere, und indem ich mich mit dem Anderen verbinde, erweitere ich meinen Aktionsradius immer mehr, ins unendlich Offene. Meine Alterität beruht nicht auf einem Konflikt. Baudelaires Alterität ist ein dyadisch hin- und herpendelnder Konflikt und ergibt daher einen eindeutigeren Attraktor. Und so schwingt er dann aus dem Außen wieder zurück. Er ist gegenüber allem Möglichen beherrschend, wird dann aber doch wieder in den Bannkreis seiner Faszination für das Morbide und Pathologische gezogen. Mich interessiert das nur am Rande. Ich unterscheide zwischen Geistern, die eine positiv gekrümmte Raumzeit beschreiben, und solchen, die eine negativ gekrümmte Raumzeit beschreiben. Die positiv Gekrümmten sind sphärisch und kommen immer wieder auf sich selbst zurück und die Dinge kommen immer wieder an ihren Platz. Die negativ Gekrümmten sind hyperbolisch, bei ihnen fliegt alles ins Unendliche, sie wollen fortwährend von sich weg. Charles Baudelaire war, so betrachtet, positiv gekrümmt (Rimbaud, der auf ihn folgen sollte, war negativ gekrümmt usw.).

Henrik Ibsen und die Schuldfrage

Leben ist: dunkler Gewalten

Spuk bekämpfen in sich,

Dichten ist: Gerichtstag halten

über sein eigenes Ich.

Henrik Ibsen

Sie sind krank, Baumeister. Ich glaube sogar, sehr krank, sagt Hilde Wangel zu Baumeister Solness, einem literarischen Alter Ego Henrik Ibsens. Zwar nicht im somatischen Sinn oder aber verrückt, denn am Verstand, da fehlt es bei ihnen wohl kaum … Mir scheint eher, dass Sie mit einem gebrechlichen Gewissen zur Welt gekommen sind … Ich meine, dass ihr Gewissen sehr zart und anfällig ist. So – überempfindlich. Dass es keinen Stoß verträgt. Nichts Schweres heben und tragen kann. An einer anderen Stelle gesteht der Baumeister seiner Frau Aline: Ich habe Schuld, unermessliche Schuld – dir gegenüber … Aber es steckt ja doch gar nichts dahinter. Ich habe dir niemals irgend etwas Böses angetan. Jedenfalls nicht wissentlich und willentlich. Und trotzdem – trotz alledem habe ich das Gefühl einer lastenden Schuld, die mich erdrückt.  – Ja dann – dann bist du ja doch krank, Halvard, entgegnet die darauf. Offenbar. Krank – oder so was Ähnliches, dann wieder der Baumeister.

Ein Gewissen ist unruhig oder fühlt sich belastet durch eine tatsächliche oder mögliche Schuld. In den Dramen von Henrik Ibsen wimmelt es von Schuld. Die ausformulierteste, dramatischste Figur bei Ibsen, die ein ganzes Stück trägt, Peer Gynt, findet ihr Selbst nicht; ihre Schuld besteht darin, dass sie gar nicht das Niveau eines tatsächlichen Subjekts erreicht und gar nicht im eigentlichen Reich des Menschlichen, im Ethischen, ankommt. Die Ibsenschen Figuren verstricken sich in Lebenslügen, oder aber folgen ihren (meistens lobenswerten) Lebensaufgaben mit einer Einseitigkeit und einer Borniertheit, auf dass es ihre guten Intentionen oder aber ihre eigene Subjektivität zunichte macht. Diejenigen, die die anderen aus ihrer schuldhaft verstrickten Subjektivität befreien wollen, sind irrationale Fanatiker, die schließlich erst recht die Katastrophe auslösen und noch mehr Schuld in die Welt reinbringen. Geschäfte machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Kunst machen heißt bei Ibsen in aller Regel: sich schuldig machen. Man hat ein schuldiges Patriarchat und noch schuldigere Frauen als dessen willigste Opfer. Hin und wieder schaffen es die Ibsenschen Charaktere, ihrer Schuld zu entrinnen, insgesamt aber ist die Farbe dunkel. Die Freiheit, die Bewegungsmöglichkeiten, der Reichtum der Figuren stehen immer wieder ursächlich mit dunklen Machenschaften aus der Vergangenheit im Zusammenhang: mit Betrügereien, Unterschlagungen, Fälschungen, Raubbau, die den Figuren dann in der dramatischen Situation auf den Kopf fallen. Überall wo man bei Ibsen hinsieht, gibt es illegitime, gar inzestuöse Liebschaften und – erbsündenartige – degenerative Erkrankungen bei den armen Kindern, die daraus entsprungen sind. Eine abartige Menschheit und Gesellschaft hat man bei Ibsen letztendlich, eine große Gesellschaft des Perversen und des universalen Schuldzusammenhangs … die große Gesellschaft … was steckt im Grunde dahinter? Kein moralisches Fundament, auf dem man stehen kann. Mit einem Wort, diese große Gesellschaft von heutzutage ist ein übertünchtes Grab, so der Adjunkt Rörlund in Die Stützen der Gesellschaft. Ob die große Gesellschaft tatsächlich so ist, weiß ich nicht – aber es ist auf jeden Fall ein Schuldspruch über die große Gesellschaft.

Ibsen gilt als Dramatiker mit großem gesellschaftlichen Sinn. Aber warum zeigt er dann so viele mögliche gesellschaftliche Situationen nicht? Warum funktionieren die Gesellschaften bei Ibsen niemals auch so, als dass sich alle mit einer übertriebenen Freundlichkeit versuchen, gegenseitig zu schwächen, weil sie so viel Angst voreinander haben und so viel Angst, dass eine Art archaische Gewaltorgie ausbrechen könnte, wenn sie sich durch ihre Höflichkeitsrituale nicht gegenseitig fast vollständig pazifizieren und einlullen? Warum begegnen sich die Menschen nicht entweder übertrieben freundlich oder aber misstrauisch und mürrisch, in einer Mischung aus Angst und Arroganz, bis sie herausgefunden haben, ob der andere nicht etwa überlegen ist, sondern eh nur unterlegen oder zumindest pari? Warum gibt es nicht, in Anlehnung an Rene Girard, mehr mimetische Konflikte in den Dramen von Henrik Ibsen (als nur in Hedda Gabler), also Konflikte, die entstehen, weil der eine was will, nur weil es der andere will oder hat? Denk dir eine eingeschworene Gesellschaft von Idealisten, die dann auseinanderbricht, als sie merken, dass sie diese Ideale jeweils aus ganz unterschiedlichen, und oftmals gar nicht idealen Gründen verfolgen. Warum zeigt Ibsen nicht eine Gesellschaft von enthusiasmierten Kunstfreunden und Kunstwissenschaftlern, die plötzlich ganz still und verschlossen wird und deren Abwehrmechanismen Amok laufen, wenn ein Künstler höchsten Ranges tatsächlich auftritt? Warum zeigt er nicht eine Gesellschaft von vollmundig „sapiosexuellen“ Frauen, deren „Sapiosexualität“ ganz plötzlich implodiert, deren hübsche Gesichter ganz plötzlich vereisen und aus ihren Augen blitzt der blanke Hass etc., wenn ein tatsächlich intelligenter Mann daherkommt? All das tut Ibsen nicht. Alles schuldig machen, alle in schuldhafte Verstrickungen verwickeln, unlösbare Knoten der Schuld knüpfen, Netze von Schuldzusammenhängen weben, in denen sie sich verlieren wie Insekten im Netz der Spinne – das ist es, was ich will, das ist der Sinn meiner Existenz, ja das ist ganz klar, deshalb bin ich ja hier – grummelt er im fahlen Licht in der Ecke, senkt sein beeindruckendes, einschüchterndes Löwenhaupt und macht sich an die Arbeit.

Ihr Frauen, ihr seid die Stützen der Gesellschaft, erkennt Konsul Bernick am Ende des gleichnamigen Stücks – auf das dann das „feministischste“ Drama Ibsens folgen sollte: Nora – Ein Puppenheim. Aber die „feministischen“ Heldinnen bei Ibsen bleiben ein ziemliches Ärgernis. Nora im Puppenheim lässt sich von ihrem Gatten über Jahre hinweg als singende Lerche, als lockerer Zeisig, als Leckermäulchen, als seltsames kleines Ding, als Du kleiner Leichtsinn oder als Du schwaches, hilfloses Wesen titulieren (was angesichts ihrer Persönlichkeit auch durchaus angemessen ist), kauft ein wie eine Blöde, kennt sich nirgendwo aus und übernimmt für nichts Verantwortung. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren unsympathischen Mann, um sich selbst zu finden, sondern kurzerhand auch ihre Kinder (was symbolisch gesehen eine gewisse Konsequenz und Folgerichtigkeit in der Abrechnung mit dem Patriarchat hat, seinerseits aber auch etwas Unheilvolles symbolisiert oder ankündigt). Hedda Gabler ist hinter ihrer eindrucksvollen Oberfläche noch stärker von Männern abhängig und lebt von deren Energie wie ein Vampir, sie kann bösartig, gefährlich und zerstörerisch werden und ist überhaupt kein Charakter, dem man im Leben begegnen will. Ellida, die Frau vom Meer, ist langweilig; im gleichnamigen Stück symbolisiert sich aber auch, dass „Freiheit“ ein verzwicktes, verwickeltes Ding ist: Sie funktioniert an und für sich nur, wenn man sie sich selber nimmt, aber auch, wenn sie einem von anderen gegeben wird (ansonsten hat sie etwas Solipsistisches und Anarchisches). Das Verlangen nach dem Grenzenlosen, Endlosen, nach dem Unerreichbaren, das treibt deinen Geist zuletzt noch ganz ins nächtige Dunkel hinein, warnt überhaupt der Doktor Wangel die Frau vom Meer. In diese leere, anarchische Freiheit, ins Meer, läuft Ellida dann aber nicht, weil ihr die Freiheit gegeben wird, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen: Denn nun komme ich zu dir in Freiheit – freiwillig – und in eigener Verantwortung, beschließt sich Die Frau vom Meer als eines der wenigen Stücke Ibsens heiter und beschwingt.

Als Feminist verstand sich Ibsen aber sowieso nicht. Die „Menschenschilderung“ hat er als seine Aufgabe betrachtet. So gilt Ibsen auch als Schilderer und Analytiker des Durchschnittsmenschen: und in der Hinsicht verdanken wir ihm wertvollste Einsichten. Der Durchschnittsmensch aber, wie er in der Wirklichkeit erscheint, hat zahlreiche liebenswerte Eigenschaften; er mag in der Lage sein, beträchtliche Energien zu mobilisieren; er mag zielstrebig, arbeitssam und konsequent sein; immer wieder einmal wartet er mit klugen Einsichten und so trefflichen sprachlichen Formulierungen auf, so dass selbst uns Dramatikern die Spucke wegbleibt. Peer Gynt und Ekdal Vater und Sohn hingegen sind unternormal. Das einzige Genie hinwiederum, das bei Ibsen auftritt, Ejlert Lövborg in Hedda Gabler, ist verwahrlost und lebensuntüchtig und stirbt; der genialische Mensch, Ulrich Brendel in Rosmersholm, fällt, nur weil er die Schwelle zum Genialen doch nicht überschreiten kann, einfach ins Nichts. Die stattlichen, annähernd majestätischen Kunstmenschen, Baumeister Solness oder Professor Rubek, sind innerlich fragil, die majestätischen Geschäftsmenschen und Bankiers sowieso. Die einzige Figur, die die Menschheit und die Gesellschaft tatsächlich durchschaut, der Arzt Relling in der Wildente, ist wesentlich zynisch und beharrt darauf, dass die Gesellschaft nur durch Lügen zusammengehalten werde. (Was nicht heißt, dass nicht auch, in anderen Stücken, Lona Hessel oder der Volksfeind Doktor Stockmann auftreten, die in der Wahrheit und am Festhalten an der Wahrheit die eigentliche kohäsive Kraft erkennen wollen.)

Der Baumeister Solness ist der Kunstmensch als Willensmensch, geradezu als Gewaltmensch. Er lässt seine Zuarbeiter, Vater und Sohn Brovik, nicht aufkommen und fördert und lobt den talentierten Sohn nicht. Er hat Angst vor der jungen, aufstrebenden Künstlergeneration (Knut Hamsum). Na gut. Und sonst? Aber wir wissen nicht, was sonst ist. Vielleicht ist das alles, im harmlosen Sinn. Vielleicht ist es aber auch alles, im potenziell gefährlichen Sinn. Vielleicht ist der Baumeister Solness außerhalb seines Kunstwillens tatsächlich fast so gut wie nichts. Vielleicht ist der Baumeister ein reiner Wille zur Macht und daher etwas Sinistres. Oder aber, vielleicht ist er zu hauptsächlich das – deswegen verfügt er über Sensibilität genug, sich dafür zu schämen. Ich verdiene (Ehre) nicht; denn ich bin bis zum heutigen Tage kein uneigennütziger Mensch gewesen. Hatte ich auch nicht immer pekuniäre Vorteile im Auge, so bin ich jedenfalls doch jetzt überzeugt, dass größtenteils das brennende Verlangen nach Macht, Einfluss und Ansehen die Triebfeder meiner Handlungen war, gibt Konsul Bernick gegen Ende der Stützen der Gesellschaft zu. Auch der napoleonisch gestimmte, jedoch glücklose Bankier John Gabriel Borkman (einer fratzenhaften Selbstkarikatur Ibsens) sieht sich als Stütze (sogar eher als Fundament) der Gesellschaft, deren Wohlstand er auf ein höheres Niveau heben will. Geradezu ausschließlich und besessen rotiert er jedoch um seinen eigenen, aus seiner eigenen archaischen Urtümlichkeit kommenden Willen zur Selbstbehauptung.

Ich war damals kaum erwachsen, aber ich fühlte die Kraft Gottes in mir, und ich meinte, der Herr selbst habe mich gezeichnet und mich auserkoren, offenbarte Ibsen einmal über sich selbst. Ibsen war als Künstler ein Willens- und Machtmensch. Mehr noch, opferte er alles der Arbeit an seinem Lebenswerk, das, wie ich unerschütterlich glaube und weiß, Gott mir auferlegt hat. Ein solcher Glauben an sich selbst und an seine Sendung ist bei einem Genie nichts Ungewöhnliches (außerdem auch nichts, was sich das Genie von den Nichtgenies ausreden lassen sollte). Eine derartige „Unerschütterlichkeit“ ist dann aber vielleicht doch nicht so gut. Sie behindert das Genie in seiner wertvollsten Gabe, seiner Versatilität, und sie interferiert erheblich mit der typischen Gelassenheit des Genies. Vor allem hat Unerschütterlichkeit auch etwas Unmenschliches. Man sagt, über das Privatleben von Henrik Ibsen gibt es kaum was zu berichten. Er sei ganz in seinem Werk aufgegangen. Menschen hat er ziemlich gemieden. Vielleicht war er recht eingeschränkt in seiner Genussfähigkeit. Die Menschen um sich habe er sich und seinem Schaffensdrang untergeordnet. Am Ende schämt er sich, seiner Frau in seinem Willen zum Werk, wie er meint, das Leben versaut zu haben. Er glaubt zu erkennen, nie „gelebt“ zu haben (ein Drang zu „leben“ beherrscht etliche Figuren im Ibsenschen Kosmos). Ja, –  was sehen wir da eigentlich? (wenn wir Toten erwachen) fragt Professor Rubek im gleichnamigen Fanal. Wir sehen, dass wir niemals gelebt haben, antwortet seine verflossene, verstoßene Liebe Irene. Es gewährt mir eine gewisse Befriedigung, so bekannt zu sein in den Ländern ringsum, aber ein Glücksgefühl bringt es mir nicht. Und was ist es schließlich wert, das Ganze?, gesteht Ibsen (eventuell ein wenig launenhaft) über sich selbst in einem Brief. Schon Ella Rentheim prophezeit John Gabriel Borkman: Niemals wirst du als Sieger Einzug halten in dein kaltes, finsteres Reich. Klar – denn wie sollte man in ein kaltes, finsteres Reich denn überhaupt auch als Sieger Einzug halten? So ein bisschen was von einem kalten, finsteren Reich hat das ganze dramatische Werk Henrik Ibsens.

Es ist keine revolutionäre Erkenntnis, dass die „Menschheits“- und „Gesellschaftsdramen“ von Henrik Ibsen in einem erheblichen Maße nach außen gewandte innere Dramen ihres Schöpfers sind. Dass die Figuren, die auftreten, Ibsensche Selbstprojektionen sind oder aber erhebliche Ich-Anteile von ihm verkörpern und illustrieren. All seine Dichtung beruhe darauf, was er selbst – zwar nicht notwendigerweise erlebt, aber doch – durchlebt habe, offenbart Ibsen. Daher kommt, wie man meint, auch der große psychologische Sinn bei Ibsen – weil diese („vermeintlich“) gesellschaftlichen Dramen innerliche psychologische Dramen bzw. Auseinandersetzungen und Vivisektionen sind. Literarisches Genie besteht darin, dass jemand seine Gedanken und psychologischen Zustände dermaßen objektivieren und auf eine solche Ebene der Analyse, der Abstraktion, der Konkretion und der Integration erheben kann, dass er damit so sinnvolle Aussagen über Mensch und Gesellschaft machen kann, dass es scheint, dass er das „Wesen“ von Mensch und Gesellschaft insgesamt durchschaut hätte. Einen solchen Fall hat man natürlich auch bei Ibsen. Es gibt dann aber größere und kleinere Genies. Den Reichtum und die Mannigfaltigkeit (und das Komödiantische) des Figuren- und Ideenkosmos von Shakespeare oder Dostojewski hat der Ibsensche dann nicht. Ich habe Ibsen früher für gigantisch gehalten, jetzt aber arbeite ich mich an der Laune ab, dass ich in seinen Dramen nicht einmal wirkliche Dramen sehen kann. Dramen sind etwas Dynamisches. Bei Ibsen hat man aber etwas beinahe Statisches, seine Dramen erscheinen wie ein bleierner Mantel, die er um seine Figuren und um die Welt legt – indem er alle in Schuld verwickelt. Bei Dante laufen Sünder in der Hölle in bleiernen Mänteln herum und sind mit ihnen beschwert. (Ibsen selbst ist in schweren Mänteln herumgegangen, als hätte er sich hinter ihnen verbergen wollen, genauso wie hinter seinem rauschenden Bart und Haar.) Groce macht es als große künstlerische Feinsinnigkeit bei Ibsen aus, dass man in seinen Dramen nie so genau weiß, wer eigentlich schuld ist. Man kann sich in seine Figuren meistens hineinversetzen und ihre Handlungen und ihre Motive verstehen. Umgekehrt führt diese nicht eindeutige Lokalisierbarkeit von Schuld aber auch irgendwie dazu, dass die Schuld so breit wie möglich gestreut wird und dass alle so ein wenig Schuld sind. Vielleicht hat die ständige Beschwörung der Schuldhaftigkeit bei Ibsen eine Wurzel auch in einer narzisstischen Selbstaufblähung. Auch dann aber irritiert die Omnipräsenz der schuldhaften Verstrickungen in seinem Universum; weist aber auch auf die schuldhafte Wurzel (der narzisstischen Selbstbezogenheit und sadomasochistischen Lust an der schuldbeladenen Selbstbespiegelung) ihrer selbst hin. Insofern die Ibsenschen Dramen so gesehen nicht ganz Dramen sind, ist die Ibsensche Tragik, aus der sein Weltbild scheinbar besteht, vielleicht nicht ganz Tragik. Tragik ist: Eine Figur, die auch gewinnen könnte, verliert. Bei Ibsen sind die Figuren aber kaum darauf angelegt, gewinnen zu können. Man hat bei Ibsen kein tragisches Universum, sondern ein sadistisches Universum. Es ist ein aggressives Universum, gegenüber seinen Bewohnern. Man hat bei Ibsen etwas Degradierendes gegenüber dem Menschen – was so wohl kaum in seiner Absicht gelegen ist. Johannes Rosmer auf jeden Fall zerbricht in Rosmersholm an seiner unerfüllbaren Lebensaufgabe, daran, dass er, wie er meint, doch nicht über die Fähigkeit verfügt, die Menschen zu adeln, er den Glauben daran verliert, dass es möglich ist, die Herzen zu läutern und zu veredeln, und bringt sich um (was schon wieder als unnötige Aggressivität irritiert).

Angesichts einer derartigen sadistischen (Auto-) Aggressivität verwundert es dann nicht, dass Ibsen dann ordentliche Gewissensbisse verspürt haben muss. Oder vielleicht noch mehr: Erinnere ich mich da an den einen Nachtschwärmer neulich um 2 Uhr früh in der Fledermaus, der mit allen Leuten aggressiv ins Gespräch kommen wollte. Er hasse sich selbst, hat er mir ganz unvermittelt und distanzlos erklärt: Klar, wenn man so aggressiv ist wie ich, muss man sich ja selbst hassen, ned wahr?

Wenn einer Gewissensbisse hat, sieht er überall Schuld – und will (zur eigenen Entlastung) überall Schuld sehen. Q.E.D.

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Einer der wichtigsten Texte in der Menschheitsgeschichte ist der Text von Otto Weininger über Henrik Ibsen. In dem geht es vor allem um das Menschheitsproblem, das der Peer Gynt aufwirft. Der Peer Gynt gilt als der „nordische Faust“, oder auch als „bizarre Satire“ auf den Faust (mein Rompf hinwiederum ist eine bizarre Satire auf den Peer Gynt). Zunächst einmal fungiert er als bizarre Satire auf die lethargische Rückständigkeit und Verträumtheit Norwegens zur damaligen Zeit. Darüber hinaus und vor allem sind aber sowohl Peer Gynt als auch Faust Figuren, anhand derer sich „Menschheitsprobleme“ illustrieren; beziehungsweise sind sie Figuren, in denen sich die Menschheit individualisiert. Sie sind beide auf der Suche nach einem „Selbst“, und sie sind beide auf der Suche danach (so wie die Ibsenschen Charaktere generell), das Leben zu beherrschen. Peer Gynt tut das auf triviale Weise: er will Reichtümer anhäufen, Macht, Annehmlichkeiten, er will Kaiser werden. Das Stück schildert praktisch sein ganzes Leben, in dem er zwar älter wird, aber nicht reifer. Peer Gynt strebt nach Ich-Genuss, der sich noch dazu vorwiegend in der Befriedigung seiner Eitelkeit vollzieht. Diese Egozentrik führt dazu, dass er im Wesentlichen durch äußere Gegenstände sich definieren lässt, und gar kein „Ich“ ausprägt, symbolisiert durch das Schälen einer Zwiebel, bei der man immer nur zu neuen Schalen, aber niemals zu einem Kern vorstößt.

Faust ist da gescheiter und reflektierter; er ist kein „Durchschnittsmensch“. Er ist mehr als nur ein Ego, er hat (in etwa) so etwas wie ein Selbst. Er strebt manisch nach Wissen, Bildung, Erfahrung; durch Wissen, Bildung, Erfahrung will man idealerweise Gegenstände in sich selbst ausprägen, eine Welt in sich werden, die dann auch in sich ruht. Aber Faust schafft das nicht ganz; da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor u. dergl. Irgendwie kann er keine prägenden Erfahrungen machen (wird also, in den Sinn, ebenfalls „älter, aber nicht reifer“), und bekanntlich auch nichts genießen. Er überschreibt, wie man weiß, dem Teufel seine Seele, sollte der ihm einen Augenblick verschaffen, von dem er wünschte, er würde verweilen. So gesehen hat der Faust gleichsam ein „leeres“ Selbst, das gewisse Funktionalitäten eines Selbst hat, aber nicht die Integriertheit (und das Integre) eines Selbst. Sowohl Peer Gynt als auch Faust sind einigermaßen (nicht vollständig, da sie ein bestimmtes Gewissen ja haben) amoralisch, egozentrisch und nihilistisch. Sie sind keine in sich integrierten Menschen, sie haben nicht wirklich ein Selbst.

Henrik Ibsen strebte nach Wahrheit und nach Aufrichtigkeit. Die Emanzipation von der Lebenslüge und das Übernehmen von moralischer Verantwortung durch das Individuum war sein Lebensthema und das durchgehende Thema seiner Literatur. Damit ein Individuum echte moralische Verantwortung übernehmen kann und in sich ausprägen kann, muss es sich dafür entscheiden. Wahrhafte Selbstentfaltung und das Übernehmen von moralischer Verantwortung des Individuums kann nur in Freiheit und auf der Basis von freien Entscheidungen stattfinden; eine authentische Entscheidung ist nur in Freiheit und selbstgewählt möglich (ansonsten ist sie ja mehr oder weniger aufgezwungen und ein Gegenstand, der mehr oder weniger von außen kommt). Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft; mit dieser Proklamation der Lona Hessel beschließt sich das gleichnamige Stück.

Auch Otto Weininger strebte nach Wahrheit und nach Freiheit und nach der Kultivierung eines moralisch kompetenten Ich: eines Selbst. Er war vom Peer Gynt begeistert. Ich wiederum bin von Otto Weininger begeistert: weil der, so weit ich sehen kann, es tatsächlich geschafft hat, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Die gleichzeitige Verwirklichung von Logik und Ethik ist der Imperativ, der Otto Weininger an das Subjekt aufstellt. Tatsächlich wird über die Verwirklichung von Logik als auch Ethik das Subjekt konsistent in sich und gegenüber sich selbst, sowohl als Individuum wie als Wesen einer Gesellschaft; es bringt seine Doppelnatur als Individual- wie als Kollektivwesen in Einklang und verwirklicht so sein Selbst. Ich finde das einfach wirklich sehr gut, obwohl ich mich mittlerweile nicht mehr davon übermannen lasse. Im Gegensatz dazu hat der Idealismus von Otto Weininger offensichtlich aggressive Züge. Vielleicht war er sogar wesenshaft Aggressivität. So gesehen hat Otto Weininger eventuell deswegen so gut mit Henrik Ibsen resoniert (er hat sogar extra Norwegisch gelernt, um Ibsen im Original zu lesen), weil sie sich in dieser Aggressivität (oder irgendetwas dergleichen, sagen wir halt zumindest: in dieser Angestrengtheit) ihres Idealismus ja offenbar getroffen haben. Noch ausgeprägter – in einer grotesken Weise ausgeprägt – war bei Otto Weininger die Besessenheit von Schuldgefühlen, die er da hin und dort hin reinprojiziert hat. Auch wenn man sich an diese Schuldkomplexe und ihre Projektionen mit rationalen Erklärungen annähern kann, versagen sie schließlich im Fall Weininger. Er – einer der absolut intelligentesten und einsichtigsten, intellektuell vielversprechendsten Menschen aller Zeiten und im persönlichen Umgang hochgradig harmlos – hat sich bekanntlich mit 23 Jahren erschossen: weil er sich für einen „Verbrecher“ gehalten hat.

(Im Übrigen warnt Otto Weininger in seinem Ibsen-Aufsatz auch davor, zu glauben, man könne die „Symbole“ eines Dichters eindeutig erklären und sie eindeutig psychologisch, soziologisch usw. rückverfolgen. Aber das wollen wir hier ja gar nicht tun. Wie immer, sind auch diese Reflexionen über Ibsen nur ein angeregtes Experiment.)

Ich sehe, ich habe scheinbar sehr viel Glück: dass meine Emotionalität gut funktioniert und dass ich eine transparente Persönlichkeit habe. So etliche andere haben es offenbar nicht so leicht, selbst wenn sie Genies sein sollten. Aber mein Werk ist im Wesentlichen ein einziges Gebet für sie.

Opernerlebnisse 2023

Opern höre ich mir zuhause selten an, is mir irgendwie zu anstrengend. Ausgerechnet Le Grand Macabre ist eine Ausnahme, die höre ich mir immer wieder mal an. Le Grand Macabre ist eventuell das Opus Magnum von György Ligeti, fungiert zumindest am Ehesten als eine Art Zusammenfassung seines Könnens. Was darin passiert, ist stets frisch und scheinbar spontan, es verfällt nicht in die Abgeschmacktheit und Klischeehaftigkeit, die man bei moderner Musik leicht hat. Es entspricht eigentlich überhaupt keinem mir bekannten Idiom in der (modernen) Musik. Eigentlich ist Le Grand Macabre trotz seiner „Atonalität“ eine sehr musikalisch wirkende Angelegenheit, trotz dem scheinbar Fragmentarischen und Fetzenhaften, das seine Textur bildet, genauer gesagt, der Aneinanderreihung von scheinbar spontanen Einfällen, die schon wieder verschwinden, bevor sie richtig entwickelt werden, um dem nächsten Platz zu machen. Die Handlung – ein Weltuntergang, der dann doch nicht stattfindet, weil alle zu betrunken sind – ist erfreulich für Menschen mit einer ironischen Grundhaltung. Der Stoff stammt ursprünglich von Michel de Ghelderode, einem wenig bekannten Dichter. Ich habe mal das wenige, was bei uns verfügbar ist gelesen und es tatsächlich nicht so gut gefunden. Aber ich werde es noch einmal probieren. Le Grand Macabre habe ich schon einmal vor ca. 10 Jahren gesehen, im Museumsquartier. Damals hat mir das Bühnenbild besser gefallen, dafür wird jetzt besser getanzt, und sie haben herzige Einfälle, wie den mit dem Pferd. Auch wenn Scelsi das reinere Genie war, war Ligeti der raffiniertere Komponist. Schade ist, dass er aus Alice im Wunderland keine Oper mehr machen konnte. Vielleicht ist es ihm allerdings auch überflüssig erschienen. Denn wo Alice im Wunderland das Absurde und Groteske philosophisch und stilistisch erfolgreich integriert und verwindet, geht Le Grand Macabre als Oper eigentlich weiter, indem sie eine noch größere Antithese, nämlich das Idiotische, integriert und verwindet. So betrachtet ist Le Grand Macabre ein wirklich großes Kunstwerk, mit transzendenten Bedeutungen, und ein Gesamtkunstwerk des Musiktheaters. Und dann eben tatsächlich das Opus Magnum von Ligeti. Aufgrund all dessen könnte es eigentlich Eingang in den Mainstream finden. Hoffentlich bleibt es in den kommenden Saisonen im Programm.

17./18.11.2023

Heute habe ich zum ersten Mal die Netrebko erlebt. Die Rolle der Manon Lescaut passt ja gut zu ihr. Bei ihr gibt es ja auch immer nur Vergnügen und Geld ausgeben und niemals Krieg, in den Niederungen der Politik. Bei mir gibt es auch keinen Krieg und keine Niederungen der Politik, weil ich mich mit niemandem streite. Außerdem zieht sie sich gut an und sie präsentiert sich gut, teilweise sogar freakig auf Instagram, was sonst jeweils fast niemand macht.

8.11.2023

Thielemann habe zum ersten Mal vor etlichen Jahren an der Staatsoper erlebt, wie er Die Meistersinger von Nürnberg dirigiert hat. Hanslick, der zeitgenössisch führende Musikkritiker, der feindselig gegenüber Wagner eingestellt war – und der von Wagner eben in den Meistersingern in der Figur des Beckmesser karikiert wurde – war bei der Uraufführung schon mit der Ouvertüre unzufrieden und bezeichnete sie als eine Art ärgerlichen, chaotischen Tonorkan. Das ist schwer nachvollziehbar, denn die Meistersinger- Ouvertüre kommt ja durchaus harmonisiert und geglättet daher. Aber bei Thielemann hat sie sich damals tatsächlich so angehört. Man hat geglaubt, man hört jedes Instrument einzeln und die spielen alle gegeneinander.

17.10.2023

“Leierkasten – Blödsinn”

Nietzsche über Verdi

Vergleichsweise blass ist Verdi eher geworden, als er später im Leben versucht hat, Wagner zu adaptieren (Otello, Falstaff) und die unendliche Melodie zu komponieren anstelle der herben Gassenhauer – Arien (die, wie man wieder hören konnte, an und für sich die Unendlichkeit in kompakter Form sind).

12.10.2023

Wahrscheinlich ist keine Oper – außer vielleicht der Don Giovanni – perfekt. Aber der Barbier von Sevilla ist ein vollendetes komisches Meisterwerk bzw. ein Gesamtkunstwerk der Komik und ein Wunderwerk an Vitalität. Kaum etwas haut einem unweigerlich so nach vorne wie der Barbier. Verständlich, dass Schopenhauer in seiner Fake Grumpiness Rossini geliebt hat. Er ist eine von den besten Sachen in der Welt. Damit steht der Barbier von Sevilla zumindest im irregulären Sinn über allen anderen Opern.

26.09.2023

Nach etlichen Versuchen muss ich konstatieren, dass der Tristan einfach überbewertet ist, auch das Liebestod-Finale suboptimal, für sich genommen, oder im Vergleich zB zum Schluss von Lohengrin oder den Meistersingern (wobei es freilich in seiner dramatischen Zugespitztheit unerreicht ist).

Wobei die Frage bei Wagner immer bleibt: Wie sollte man das anders oder besser machen, und nur ein praktisch letztgültiges künstlerisches Talent kann in solchen Dimensionen was aufspannen und in solchen Dimensionen denken. Vielleicht ist das Phänomenale an Wagner, dass er trotz seiner häufigen Schwachstellen und Mängel, die seit jeher an ihm bemerkt werden, Sachen tut und Ringe schmiedet, mit denen er übergeordnet und unbesiegbar bleibt.

(Wie macht er das genau? Ich glaube, ich muss auch einen Fall Wagner eröffnen.)

20.09.2023

Netrebko: In 9.000-Euro-Stiefeln macht sie sich über Sparer lustig

Vorbemerkungen zu einer großen Auseinandersetzung mit Marx und mit dem Marxismus

Der Marxismus ist nicht unfertig oder unvollendet, sondern – von Anfang an, implizit, inhärent und daher für immer – unausgegoren … Er will Wissenschaft sein, ist aber primär Ideologie. Er ist also primär Wille, weniger Vorstellung. Es ist aber in erster Linie die Vorstellung, die allgemeine Verständnismöglichkeiten und Objektivität schaffen kann, während der Wille in seiner Durchsetzung subjektivistisch, militant und agonal bleibt. Und so ist auch der Marxismus subjektivistisch, militant und agonal. Der Marxismus hat keine rationale Basis und kein rationales Ziel. Er enthält (bestechende) rationale Elemente und die einer Lehre, ist aber hauptsächlich irrational und eine Irrlehre. Der Marxismus beruht auf der paranoiden, sadomasochistischen Empfindsamkeit von Marx und ist demgemäß eine zentrumslose Spiegelfechterei (von Marxisten bekanntlich bezeichnet als „Dialektik“, wobei sie dann immer so tun, als ob die für was garantieren würde, obwohl die Dialektik für ziemlich wenig garantiert). Er ist damit eher zirkulär als progressiv, indem er immer wieder dieselben Sachen zum Problem erhebt, ohne sich zu fragen, ob sie eigentlich ein Problem sind. Daher dann auch das ewige intellektuelle Auf-der-Stelle-treten des Marxismus, zumindest seit Jahrzehnten. Seit jeher hat sich der Marxismus dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus verschrieben – wobei die „Überwindung des Kapitalismus“ eine durchaus populäre Vorstellung ist. Es muss aber gar nicht sein, dass der Kapitalismus je „überwunden“ wird, da es nicht einmal feststeht, ob es den Kapitalismus überhaupt gibt. „Kapitalismus“ ist, wie „Patriarchat“, nur ein Begriff, oftmals in pejorativer Absicht verwendet, der aber vielleicht nicht das einfängt, was sich eigentlich abspielt, und was an Entwicklungen eigentlich tragend und relevant ist. Freilich, gegenüber einem solchen Skeptizismus kann man sich wohl darauf einigen, dass sowohl „Kapitalismus“ als auch „Patriarchat“ sinnvolle Begriffsschöpfungen sind, und etwas bezeichnen, was in der Wirklichkeit tatsächlich vorhanden ist und wirksam ist. Das Problem ist aber, dass die sinnvollen Begriffe „Kapitalismus“ und „Patriarchat“ sowohl im Marxismus wie im Feminismus hochgradig fetischhaft und verdinglicht verwendet werden und so genau zu den Täuschungen und Illusionen verleiten mögen, wie Marx es in seiner Analyse vom Warenfetisch und vom Kapitalfetisch eigentlich dargelegt hat. Seit Jahren arbeite ich nunmehr an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Marxismus. In einer Weile sollte sie einmal fertig werden. Der Marxismus verlangt aber eine viel weitreichendere Auseinandersetzung als zum Beispiel die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche. Die Philosophien von Kant, Hegel oder Nietzsche, bzw. Philosophien im Allgemeinen, sind geistige Gebilde, Markierungen und Positionen im Reich des Denkens, die man als solche eingrenzen und isolieren kann. Der Marxismus reflektiert ein grundsätzliches Welt-Mensch-Gesellschaft (etc.)- Verhältnis, er ist so was wie der Liberalismus oder der Katholizismus, also etwas Umfassenderes als eine Philosophie (sogar eigentlich etwas Umfassenderes als eine „große Erzählung“) und etwas von höher Plastizität. Der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus können viele Formen annehmen, mit denen sie an die jeweilige Realität andocken können; so haben sie das zumindest im Lauf ihrer Geschichte getan. Zusammenhänge wie der Marxismus, der Liberalismus oder der Katholizismus gleichen Viren und sind Meme, die ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte auftauchen, mutieren, sich verändern und damit fortpflanzen, als quasi eigenständige Organismen. Bis sie eventuell wieder unter die Oberfläche verschwinden. Und so ist es auch die Hoffnung der Marxisten, dass der Marxismus in irgendeiner gefährlichen, virulenten Mutation dereinst wiederkommt. Diese Virtualität besteht und das ist möglich, in dem Sinn ist aber auch so gut wie alles andere möglich. Bei Viren weiß man nie genau, was passiert. Letztendlich sind Viren und jedwede Organismen aber an eine bestimmte Identität und einen bestimmten Bauplan gebunden, und können nicht grenzenlos mutieren und sich grenzenlos anpassen. Irgendwann könnte ihre Uhr auch abgelaufen sein. Die Möglichkeiten von Viren und Memen, zu mutieren und Anschlussmöglichkeiten zu finden, sind nicht unendlich, sondern in Wahrheit beschränkt. Der Marxismus erscheint als etwas Profundes, denn er reflektiert auf die Uneinheitlichkeit und die Unerlöstheit der Welt und auf die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft. Sein erheblicher Konstruktionsfehler scheint aber darin zu liegen, dass er in erster Linie um ein Feindbild rotiert. Trotzdem er eine gewaltige Positivität (den Sozialismus) formulieren will, kreist er wesentlich um ein Feindbild und ist somit in seiner Substanz wesentlich negativ und reaktiv (was bei anderen großen Sinnsystemen wie dem Christentum oder dem Liberalismus nicht der Fall ist). Auf der Basis von Feindbildern und von Spaltung kann man aber keine gute Gesellschaft errichten. Um ihre großen Feinde auszuschalten, setzen Kommunisten auf die Revolution. So denn die Revolution erfolgt ist, wittert das kommunistische Regime dann aber wiederum überall Feinde, die es zu bekämpfen gilt, weswegen es sich die Form einer Diktatur gibt etc., bis in eine indefinite Zukunft hinein, in der der Sozialismus dann endlich für eine große Herrlichkeit sorge bzw. bis dass die „Weltrevolution“ erfolgt sei. Wobei die „Weltrevolution“ eine der dümmsten Vorstellungen ist, die die Menschheit je hatte: denn wie sollte in etwas, was so unzusammenhängend ist wie die Welt etwas so Delikates stattfinden wie eine Revolution? Angesichts der Dummheit dieser Vorstellung, die aus ihm aber entspringt, drängt sich auch der Verdacht auf, dass der Marxismus insgesamt eine Dummheit sein müsste. Diese Dummheit hat ihre Wurzel darin, dass schon im Kommunistischen Manifest steht: Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat. – Wobei diese Vereinfachung – also die Reduktion des gesellschaftlichen Geschehens auf zwei dynamische (einander intransigent feindselig gegenüberstehende) Elemente – aber nicht in der Wirklichkeit stattfindet, sondern allein im Rahmen der Theorie, die noch dazu den überheblichen Anspruch erhebt, die gesamte Wirklichkeit in einer Art gnostischen Weise zu durchschauen. So sehr der Marxismus als großartiger, heroischer Versuch erscheint, die Wirklichkeit zu interpretieren, um eine hochgradig defizitäre Wirklichkeit zu verändern, so sehr drängt sich ebenso der Verdacht auf, wenn man Marx genauer liest, dass seine Lehre eine Projektion seiner Komplexe in die Wirklichkeit ist: notabene seiner pathologischen Disposition, dauernd Zweikämpfe zwischen ihm und anderen – vor allem solchen, die eine höhere gesellschaftliche Machtposition innehaben als er – anzuzetteln: mit den Intention zu gewinnen, über den anderen zu triumphieren, und zu demonstrieren, dass der eigentlich legitime Mächtige er selber sei. So hat Marx nicht allein relativ unsympathische Erscheinungen wie die Bourgeoisie und die Aristokratie mit einer irrational überschäumenden Wut verfolgt, sondern auch Proudhon, Lassalle, Bakunin, Adam Smith, John Stuart Mill, den Herrn Vogt oder das Gothaer Programm. So gesehen steckt hinter der gesellschaftsübergreifenden Vision vom Klassenkampf des Marxismus dann eventuell auch nur der aggressive, asoziale Wille zur Selbstbehauptung von Einzelnen. Dementsprechend morbid scheint dann auch die ständige Fixierung auf die Überwindung des Kapitalismus und die Etablierung des glorreichen Sozialismus in der Zukunft bei den Marxisten. Es hat etwas todestriebähnliches, etwas Ähnliches also zum ständigen Wiederholungszwang einer irrationalen Handlung, der ein aggressiver Impuls zugrunde liegt. Überhaupt, die Zwangsvorstellung von der Großen Befreiung im Marxismus, die er gegen das Bestehende auszuspielen versucht. Was aber soll diese große Befreiung sein? Da führt der Marxismus gegen den Liberalismus ins Feld, dass der Mensch kein Individuum sei, sondern ein soziales Wesen – wie aber sollte bei einem sozialen, sprich einem auf andere und anderes angewiesenen Wesen so etwas wie eine grenzenlose Befreiung möglich sein? Der glorreiche Sozialismus der Zukunft wird in den Werken von Marx und Engels immer wieder mit Bildern aus der Steinzeit illustriert. Indem er diversen dynamischen Elementen in der Gesellschaft (wie eben dem privaten Unternehmertum) die Lebensgrundlage entziehen will, steuert der traditionelle, orthodoxe Marxismus eine radikal unterkomplexe Wirtschaft und Gesellschaft an. Deswegen hat der Marxismus in den entwickelten Industrieländern, denen seine Analyse und seine Prophezeiungen gegolten haben, und in ihren relativ fortgeschrittenen Gesellschaften dann auch nie wirklich Fuß fassen können – weil er bereits zum Zeitpunkt seiner Formulierung eigentümlich veraltet und in seinen Verständnissen inadäquat gewesen ist. Wahrscheinlich wird er diese ursprünglichen Versäumnisse nicht aufholen können (was nicht heißt, dass er nicht als bedeutende Energiequelle für diverse soziale Bewegungen erhalten bleibt). Die Welt ist dann doch zu groß und zu bunt, als dass die simple Heuristik des Marxismus und des dialektischen Materialismus sie einfangen könnte. Die Kämpfe in dieser Welt sind zu zahlreich (und in ihren Zielsetzungen oftmals illusorisch), als dass man sie – wie es der feuchte Traum der marxistischen Revoluzzer ist – als „Klassenkampf“ (oder als „gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten und Ausgebeuteten“) vereinheitlichen könnte. Was mich dabei anlangt, so habe ich trotzdem nach wie vor gewisse Sympathien für den Marxismus. Ich interessiere mich sehr für Möglichkeiten, wie sich die Gesellschaft auf einem höheren Niveau der Qualität reproduzieren kann (halte das, genau gesagt, für den Sinn von Gesellschaften), und mir gefällt auch das Revolutionäre und das Ikonoklastische; und mir gefällt auch die sozialistische Folklore. Außerdem verspüre ich eine gewisse Solidarität mit den Armen und mit den Freaks – wenngleich keine grenzenlose Solidarität (der Marxismus tut so, als wie wenn die „Unterdrückten“ dauernd Recht hätten, obwohl das ja gar nicht ausgemacht ist). Im Herzen, vor allem, bin ich ja nach wie vor Kommunist. Auf der emotionalen Ebene begegnen mir andere Menschen als etwas Gleichwertiges. Auf der Verstandesebene weiß ich aber auch, dass Menschen einander nicht gleich sind. Optimismus der Herzen, Pessimismus des Verstandes. Ich habe das große Aufheben, dass die Marxisten um das „dialektische“ Denken machen, nie ganz verstanden. Abgesehen davon, dass sie das als Instrument zu verwenden scheinen, um gewisse, ihnen genehme Schlussfolgerungen zu rechtfertigen und zu beweisen, erscheint es mir als geradezu statisch und gefroren, als ein Hin- und Herschieben von Eisblöcken in der ewigen geistigen Arktis (der strukturalistische Marxismus versucht ohne Dialektik auszukommen; ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit „Struktur“ eine adäquate Heuristik sein kann, um eine Gesellschaft zu beschauen). Das dialektische Denken ist recht langsam. Ich präferiere das ultradialektische Denken; und ich will das ultradialektische Denken und sein Bewusstsein – das Einheits-Bewusstsein – als Modell setzen, wie man die moderne Welt begreifen kann. An die Stelle des dialektischen, oder des formallogischen, oder des rechnenden, oder des besinnlichen, oder des rhizomatischen Denkens will ich das totale Denken setzen, das mit Totalitäten fertig wird oder sich zumindest mimetisch zu Totalitäten verhält: das total vernetzte, integrale Denken und Empfinden. Das wird sich sicherlich sehr gut anfühlen und einigermaßen nützlich sein. Es kann sein, dass die Menschheit für das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein noch nicht reif ist. Es kann sogar sein, dass sie dafür auch gar nicht reif sein will, da sich in ihm liebgewonnene Identitäten aufzulösen scheinen (auch wenn das so nicht stimmt). Das totale Denken und das Einheits-Bewusstsein sind radikal anti-neurotisch; Menschen hegen und pflegen aber immer wieder ihre Neurosen, insofern sie ja auch deren primäre Energiequelle sein mögen. Dann aber bleiben die Menschen halt in ihren kleinen Formaten hängen, aus denen heraus sie von grenzenloser Macht und Befreiung phantasieren, oder sich wahlweise für so unterdrückt, ausgebeutet, schlecht behandelt, in ihrer Selbstverwirklichung behindert etc. fühlen etc.

Artikel: Der richtige Marxismus

Mao Zedong-Gedanken

Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hört auf seine Worte und handelt nach seinen Weisungen.

Lin Biao

(Mao) verehrt sich selbst, glaubt blind an sich selbst, betet sich an, er wird für jede Errungenschaft den Ruhm für sich beanspruchen, aber für seine Misserfolge andere verantwortlich machen.

Lin Biao

Mao Zedong war einer der größten Revolutionäre aller Zeiten, eine der größten politischen Gestalten Chinas aller Zeiten und einer der größten Massenmörder aller Zeiten. Er war eine überdimensionale Gestalt, in der sich Geschichte verdichtet, in ihrer Dramatik, in ihrem gewalttätigen Fortschritt, in ihrer Irrationalität, in ihrer Komplexität. Er hat eine tiefe Furche nicht allein durch das 20. Jahrhundert gezogen, sondern durch die Menschheitsgeschichte insgesamt. Er hat mit dem Maoismus etwas Transzendentes geschaffen. Wenn wir transzendente Dinge betrachten, und wenn wir die Menschheit und ihre Geschichte betrachten, müssen wir auch Mao Zedong betrachten.

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Mao hat ein gewichtiges Werk nicht nur in der Zerstörung hinterlassen, sondern auch im Aufbau. Als Mao 1976 starb, war in China die Produktion von Stahl gegenüber dem Revolutionsjahr 1949 von 1,3 Millionen auf 23 Millionen Tonnen, die von Kohle von 66 Millionen auf 444 Millionen Tonnen, die von chemischen Düngemitteln von 0,2 Millionen auf 28 Millionen Tonnen und die von Elektrizität von 7 auf 133 Milliarden Kilowattstunden gestiegen. Der Anteil der Industrie am materiellen Nettoprodukt betrug nunmehr 50 Prozent (gegenüber 23 Prozent im Jahr 1952), der der Landwirtschaft war von 58 Prozent auf 34 Prozent gesunken. China produzierte zu Maos Tod Lastwägen, Traktoren, Flugzeuge und Hochseeschiffe und war in den Rang einer Nuklearmacht aufgestiegen. Der Bildungsgrad und die Lebenserwartung innerhalb der Bevölkerung und die Qualität der medizinischen Versorgung haben sich stark verbessert. Trotz der wirtschaftlichen Fortschritte war ein Großteil der Bevölkerung zu Maos Tod nach wie vor arm und unterversorgt, da unter seiner Herrschaft vorwiegend die Produktionsgüterindustrie ausgebaut wurde. Damit wurde jedoch auch ein solides Fundament für die weitere wirtschaftliche Entwicklung gelegt. Das alles ist die Bilanz eines Diktators, allerdings nicht unbedingt eines lausigen Diktators. Wenn man hartgesotten sein will, kann man zwar versuchen, Mao (direkt oder indirekt) für den Tod von bis zu 70 Millionen Menschen verantwortlich zu machen. Unter seiner Herrschaft kam es aber auch zur Bevölkerungsexplosion in China. Wenn man es also hartgesotten betrachtet, hat Mao unterm Strich also vielleicht mehr Leben geschaffen als Tod gebracht.

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Diese erheblichen Erfolge halten sich Kommunisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass zu dieser Zeit auch andere Länder, vor allen Dingen in Asien, eine solche erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung durchgemacht haben, ohne auf den Kommunismus zu setzen). Sie können es sich auch zugute halten. Angesichts der gewaltigen menschlichen Opfer sind sie vielleicht geneigt, die Sowjetunion und Rotchina, die sie damals so bewundert haben, heute, etwas achselzuckend, als „Entwicklungsdiktaturen“ zu kategorisieren (und zu den Akten zu legen). Einige ehemalige Revolutionäre wie Gerd Koenen gehen, etwas melancholischer, so weit, in der Sowjetunion und in Rotchina dann auch nur den Versuch zu sehen, die Bevölkerung und die Ressourcen zum Zweck der eigenen nationalen Machtentfaltung zu organisieren, also einen imperialistischen Versuch, der sich vom kapitalistischen Imperialismus auch nicht großartig unterschieden habe. Wie soll man das bewerten? Trotzdem Lenin, Stalin und Mao psychopathienahe Charaktere waren, waren sie an der Entwicklung ihres Landes und an der Errichtung einer besseren Gesellschaft ernsthaft interessiert und haben diesen Zielen ihre Energien und ihr Leben gewidmet. Dass es in der russischen und chinesischen politischen Kultur eher darum geht, das eigene Land groß und mächtig zu machen und weniger die Bevölkerung und deren individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen, war eine Mentalität, der auch sie sich nicht entzogen haben, sich entziehen konnten oder wollten. Ebenso ging es ihnen darum, den Sozialismus aufzubauen und die Revolution zu sichern – wenn man also so will, um Ideale, um Konstruktivität und den Aufbau einer besseren Welt. Allerdings drängt sich die Frage auf, wie viel authentisches Verständnis und wie viel Tiefenschärfe ihre Verständnisse für all das hatten. Letztendlich war das (sozialistische) Weltbild von Stalin und Mao ein selbstgerechtes, paranoides Weltbild, das plump in Gut und Böse unterteilte und das von paranoiden Vernichtungs- oder zumindest Reinigungs- und Säuberungsphantasien durchzogen war. Das starke Interesse an der Entwicklung ihres Landes seit ihrer Jugend ist nichts, was bei hochbegabten, intellektuellen Jugendlichen wie Lenin, Stalin, Mao und diversen kommunistischen Führern in ihrer damaligen Zeit in ihren jeweiligen Ländern an sich ungewöhnlich oder heroisch gewesen wäre. Vielmehr entsprach es einem Geist, der in der Luft lag. Allerdings haben sie – unter lebensgefährlichen Umständen – der Revolution auch ihr Leben gewidmet. Ob diese Lebensentscheidung in erster Linie heroisch oder fanatisch war, ist schwer zu durchschauen. Inwieweit ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus ein authentischer Impuls für sie war, oder eher eine unbewusste Projektion ihrer persönlichen Komplexe in die Welt, und ihr Streben nach der Entwicklung ihres Landes und des Sozialismus nicht in erster Linie unbewusst der Expansion ihrer Egos und dessen pathologischer Bedürfnisse galten, ist auch nicht leicht auszusortieren. Kommunisten (und auch andere) entschuldigen die Gewaltexzesse unter ihrer Herrschaft gerne damit, dass Lenin, Stalin, Mao et al. bei der Entwicklung ihres Landes vor Problemen standen, für die es keine konziliante Lösung gegeben hätte. Allerdings haben sie diese Probleme und Konflikte auch absichtlich und lustvoll heraufbeschworen. Lenin, Stalin, Mao waren pathologische Persönlichkeiten, die sich allerdings in pathologischen Umständen bewegt haben. Sie haben sich einer Ideologie verpflichtet gefühlt, die ein erhebliches Potenzial hat, ins Pathologische abzugleiten (dem Marxismus). Wollen wir uns Mao also in all diesen Hinsichten versuchen, zu vergegenwärtigen.

Die bei ihrem Erscheinen spektakuläre, mittlerweile aber nicht mehr zentrale Mao-Biographie von Chang und Halliday widmet sich auf gut 1000 Seiten dem Versuch der Darstellung Maos als reinem Machtmenschen, der also an nichts als an Macht als Selbstzweck interessiert gewesen wäre. Etliches von dem, was an Material offeriert wird, ist (wenngleich auch so bekannt) auch beklemmend und kann schwer beiseite geschoben werden. Allen anderen Biographien zufolge erscheint Mao dann aber doch als deutlich komplexere, dialogorientierte, neugierige, an der Welt interessierte, bildungshungrige Persönlichkeit – und eben vor allem als eminent politische Persönlichkeit. Mao war kein reiner Wille zur Macht. Mao hat früh einen Personenkult um sich pflegen lassen und sich den Apparat seiner Partei hörig gemacht. Dass er in eine solche Position von Macht und Einfluss kommen konnte, hatte er aber seinem Charisma und seinem Intellekt zu verdanken. Genau gesagt, dem Umstand, dass er ein origineller, mehr noch: originärer Denker der Revolution war. Wenngleich es honorigere Marxisten in China gegeben hat und tatsächlich große marxistische Gelehrte (zu denen Mao meist in einem guten Verhältnis und in einem Verhältnis von großem wechselseitigen Respekt gestanden ist), war es die originäre Leistung von Mao, marxistisches Gedankengut mit den Erfordernissen, die sich aus den Verhältnissen in China an die Revolution ergaben, zu synthetisieren. Diese Synthese war dann eben der Maoismus, eine Ideologie, die für einige Jahrzehnte auf der Weltbühne virulent zu werden vermochte. Inwieweit Maos Streben nach der Revolution (und der Macht) primär aggressiv oder primär defensiv und reaktiv war, verliert sich im Dunkel. Ob – stellvertretend dafür – Mao tatsächlich in erster Linie unter einem tyrannischen Vater gelitten hat (bzw. ob der Vater tatsächlich so tyrannisch gewesen war, wie von Mao später beschrieben), oder ob Mao in erster Linie von sich aus ein ungehorsamer, aufmüpfiger, arroganter Sohn war, lässt sich anhand des biographischen Materials kaum entscheiden. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Auf jeden Fall aber lässt das Aufeinandertreffen von solchen Dispositionen bei der einen und der anderen Partei ein erhebliches Konfliktpotential zu. Und ein solches Konfliktpotenzial lag im Großgefüge des damaligen China.

Ein gefühlskalter Machtmensch ist Mao bei alldem gewesen. Und als solcher erwies er sich im Alter immer mehr, in dem er immer paranoider wurde. So wie Stalin ist Mao ursprünglich in die Rolle des Diktators geschlüpft, weil er glaubte, es müsse sein und ginge nicht anders, um konstruktive politische Ziele zu erreichen, um das bislang Erreichte abzusichern. Das ist – wie im Fall der Selbstkrönung Napoleons (oder Julius Cäsars) und seiner Ausrufung zum Kaiser – rational nicht von der Hand zu weisen. Wie im Fall von Napoleon oder Cäsar lag es allerdings auch in der Entwicklungsbahn all dieser imperialistischen Persönlichkeiten, wie Mao, Stalin und viele andere es waren. Vor allen Dingen war es eine Entwicklung und eine Entscheidung, die neue Konflikte und Probleme erst produzierte und die, aus einem mehr oder weniger rationalen Kalkül heraus entstanden, den Boden für irrationale und erratische Politiken bereitete. Maos Leibarzt, Dr. Li Zhisui, stellt auch in den Raum, dass Maos zunehmender Größenwahn und zunehmende Paranoia im Alter die Folge einer unbehandelten Geschlechtskrankheit gewesen sein könnten. Auch in Maos Sexualverhalten scheinen Sinnlichkeit und Machtmenschentum amalgamiert gewesen zu sein. Mao hatte großen sexuellen Appetit (angeblich gegenüber beiden Geschlechtern). Als er sich auf diesem Weg Trichomanas vaginalis zugezogen hatte, lies er die Krankheit nicht behandelt, da sie für ihn asymptomatisch verlief. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass er so aber die Krankheit an zahllose andere seiner SexualpartnerInnen weitergab. Trotzdem er aufgeklärter Marxist war, hing er dem Volksglauben an, wonach Geschlechtsverkehr mit jungen Frauen den Alterungsprozess verzögerten. Wenn man so will, kommt in all dem eine menschlich-allzumenschliche, aber auch eine eigenartige und unmenschliche, unberechenbare/unverantwortliche Persönlichkeit zum Vorschein.

Mao war früh von dem expliziten Wunsch getrieben, ein außergewöhnlicher Mensch und ein großer Führer zu werden. Das ist eine unangenehme Konstante in Maos Leben und Wirken. Zumindest einmal führte das zu der deprimierenden Selbsterkenntnis, dass für eine Rolle aber nicht geeignet sei. 1921 enthüllte er in einem Brief an einen Genossen acht Mängel, die er bei sich feststellte und die ihn, seiner Meinung nach, daran hinderten, je ein tatsächlich außergewöhnlicher Mensch und großer Führer zu sein, und zwar: 1 zu emotional und stets im Griff von Gefühlen; 2 zu subjektiven Urteilen neigend; 3 etwas eitel; 4 zu arrogant; 5 selten selbstkritisch, zu schnell im negativen Urteilen über andere und nicht bereit, eigene Fehler einzugestehen; 6 gut in großen Reden, aber schwach in systematischer Analyse; 7 zu hohe Selbsteinschätzung und allzu leicht mit Eigenlob bei der Hand; 8 „willensschwach“ … Mao war ob dieser Selbsteinschätzung sehr deprimiert, sagte aber auch: Ich möchte mein wahres Ich nicht opfern, ich möchte mich nicht in eine Puppe verwandeln. Die Biographen Pantsov und Levine merken an: „Maos Selbstverachtung verging so rasch, wie sie gekommen war. Er sollte nie mehr an seinem Recht auf Macht zweifeln. Erstaunlich ist nur, dass der Brief überlebt hat.“

Mao Zedong war ein Exzentriker. Er hasste Disziplinierung und Kontrolle durch andere, er bewegte sich selbstbestimmt, teilweise ziellos und schlendernd durchs Leben. Er besuchte staatliche Feiern in einem geflickten Schlafanzug und zwang führende chinesische und ausländische Politiker zu Audienzen in den frühen Morgenstunden. Er war ein Schürzenjäger, aber putzte sich im Leben nie die Zähne (er zog es vor, sie mit grünem Tee auszuspülen). Sein Glaube an die geschichtliche Vorherbestimmtheit des Sozialismus und andere Aspekte seiner Ideologie und auch seiner Selbsteinschätzung kommen dem magischen Denken von Schizotypischen nahe. Er war, wie für Exzentriker typisch, intensiv, neugierig, vielseitig und belesen und wollte alles genau wissen. Mao entfaltete großes Charisma, indem er Menschen, inklusive anderen Staatsoberhäuptern, in einer informellen, zwanglosen Weise begegnete oder, wie beim Treffen mit Nixon und Kissinger in seiner „Gelehrtenklause“ (wie Nixon Maos privateste Räumlichkeiten empfand), darauf bestand, anstelle von herkömmlichen politischen Gipfelgesprächen locker zu „philosophieren“. Den finsteren Mobutu begrüßte er bei einem Staatsbesuch lachend: Sind Sie das wirklich? Angesichts all der Attentatsversuche, die ich auf Sie unternommen habe, kann ich das gar nicht glauben. Nur ein Exzentriker kann letztendlich einen Großen Sprung nach vorn und eine Kulturrevolution anzetteln, und dann wieder versuchen, „Hundert Blumen blühen“ zu lassen. Nur ein Exzentriker wird permanent versuchen, etwas zu tun, was deutlich aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fällt, so wie Mao das tat. Nur ein Exzentriker kann sagen: Die Atombombe ist ein Papiertiger. Für Exzentriker ist es typisch, dass sie aufmüpfig oder gar „revolutionär“ sind, zumindest aber in einer Welt leben, die von der herkömmlichen Lebenswelt der Menschen verschieden ist. Leider sind Exzentriker, trotz aller für sie typischen Offenheit und Neugierigkeit, oftmals auch sehr selbstbezogen, außerdem unrealistisch und weltfremd. Durch sein Exzentrikertum hat Mao seine charismatische Strahlkraft entfaltet, und Exzentriker (gefährliche und ungefährliche) hat er auch angezogen. Exzentriker glauben gerne, dass die „Normalen“ die eigentliche Gefahr seien. Aber vielleicht sind das eher Exzentriker, die die Macht erobern und ihre Exzentrizität dann als neue Normalität ausrufen, der die Normalen dann begeistert folgen. Für die Maoismus-Forscherin Julia Lovell scheint der Maoismus besonders als Ideologie für Verrückte geeignet, die mit der Gesellschaft in Konflikt treten wollen – oder aber sie beherrschen wollen.

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Mao war ein Gewaltherrscher. Aber Maos ganzes Leben war von Gewalt begleitet und die gesamte Geschichte von China ist von verheerender Gewalt durchzogen. Der Taiping-Aufstand, ein Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts, der 20 Millionen Tote forderte, ist vergleichsweise bekannt. Aufstände entfachten dabei in China immer wieder eine verheerende Wirkung. Während der An-Lushan-Rebellion im 8. Jahrhundert könnten bis zu 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Ähnlich katastrophal waren die Nian- und Miao-Aufstände des 19. Jahrhunderts sowie die muslimischen Erhebungen in Yunnan und im Nordwesten Chinas. Rekonstruktionen gehen in den betroffenen Provinzen von Todesraten von 40 bis 90 Prozent aus, wobei die Mehrzahl der Menschen weniger durch Waffengewalt als durch Krankheiten und Hungersnöte gestorben ist. Die Geschichte Chinas ist auch eine Geschichte von katastrophalen Hungersnöten, bei denen darüber hinaus die Obrigkeit untätig geblieben ist und keine Hilfe geleistet hat (wie effizient das logistisch zu dieser Zeit möglich gewesen wäre, ist eine andere Frage). In Maos Jugend kam es zu Aufständen der Armen und der Bauern, die sich zu mafiaähnlichen Banden zusammenschlossen. Ebenso brutal und marodierend, wie diese vorgingen, wurden sie von der Obrigkeit bekämpft. Diese Gewalt und Gegengewalt hinterließen bei Mao nach eigenem Bekunden einen unauslöschlichen Eindruck und prägten ihn ein Leben lang. Später gingen Obrigkeiten mit brutaler Gewalt gegen Gewerkschaften und gegen Streikende vor – oftmals, indem sie plötzlich die Seiten und die politischen Loyalitäten wechselten und sich als verschlagen und unberechenbar erwiesen. Das war dabei Ausdruck einer Gesellschaft, in der sich die einzelnen Gruppen feindselig bis hasserfüllt gegenüberstanden, die sich gegenseitig fremd waren und die keinen Modus der Mediation zwischen diesen Gruppen gefunden hatte. So war die Obrigkeit selbst opportunistisch, selbstsüchtig und verächtlich gegenüber der Bevölkerung. Bevor Mao 1949 China geeinigt hat, haben sich Provinzgouverneure (d.h. die Obrigkeit) teilweise wie Warlords oder Mafia-Kriminelle aufgeführt und die eigene Bevölkerung terrorisiert und erpresst, sie haben geraubt und Menschen, zu deren Schutz sie eigentlich da waren, entführt und vergewaltigt. Dann kam noch die Gewalt des Auslands dazu, vor allem die sadistische Brutalität der japanischen Besatzer, unter der die chinesische Bevölkerung jahrelang zu leiden hatte (zu einer seiner beiden großen Lebensleistungen hat Mao es gerechnet, die japanischen Imperialisten vertrieben zu haben).

Dazu kommt, dass China im Lauf seiner Geschichte (und daher womöglich auch in seiner Zukunft) Phasen des Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat. Die autoritäre Obrigkeitsstaatlichkeit in China ist darin begründet, dass China tatsächlich instabil ist. Mein Facebook-Freund Stephen (ein Australier, also Bewohner eines Landes/Kontinents, den die Chinesen seit geraumer Zeit als Rohstofflieferanten-Kolonie unter ihre Fittiche zu bringen versuchen) hat es einmal so formuliert: Die Geschichte von China ist eine Geschichte von 5000 Jahren Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung: das nennen sie dann Zivilisation. Nach 1912 und nach der sklerotischen Herrschaft der Kaiserinwitwe Cixi war China erneut in einen Zustand der streitenden Staaten zerfallen, die oftmals von Warlord-ähnlichen Gouverneuren regiert wurden. Eine bedeutende Leistung von Mao war es, China 1949 geeint zu haben. Deswegen werden die Chinesen den Großen Steuermann nie vergessen.

Es sollte unterstrichen werden, dass die Gewalt, die Mao in seinem Leben, als Chinese, erlebt hat, vor allem in der gewissen Alltäglichkeit, in der sie aufgetreten ist und von allen Seiten gekommen ist, etwas war, von dem wir uns keine Vorstellungen machen können. Die Gewaltherrschaft Maos war nichts, was in einen friedlichen Zustand hineingebrochen wäre. Als aufgeklärter junger Mensch hat Mao ursprünglich geglaubt, mit der Obrigkeit in einen Dialog treten zu können, doch er musste erleben, dass das nicht möglich war. So gelangte er (seinerseits offenbar ziemlich schnell und unbekümmert) zu der Auffassung, dass Gewalt ein notwendiges, ein normales Mittel zur politischen Willensdurchsetzung sei. Mao selbst hat viele seiner Freunde und Genossen und vor allen Dingen Angehörige seiner eigenen Familie wie seine Brüder, seine zweite Ehefrau und auch Kinder durch brutale Gewalt verloren (sonderlich betroffen gemacht haben ihn solche Verluste allerdings auch im engsten persönlichen Bereich nicht).

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Es kommt in den damaligen Verhältnissen in China noch eine andere Form von Gewalt hinzu. Es herrschte in China die strukturelle Gewalt der Armut, der Obrigkeitsstaatlichkeit, einer repressiven Kultur, eines repressiven Patriarchats und der Stigmatisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden (wie der Hakka oder der Muslime). Vor allem gab es die Gewalt der Rückständigkeit, des eisernen Beharrens auf überkommenen Traditionen, und die Unfähigkeit von ganz China, sich zu modernisieren. Vieles von den damaligen Zuständen musste einem Beobachter – in umso schmerzlicherem Kontrast zum Bild von China, das eigentlich groß, ruhmreich und ehrwürdig ist – als menschenfeindliche Idiotie erscheinen. Und als solche erschien sie auch Mao.

Mao war ursprünglich kein Kommunist und Marxist gewesen, und dem Bolschewismus stand er skeptisch gegenüber. Er hatte auch als junger Mann keine Sympathien für die Leiden der arbeitenden Klasse. Was ihn interessierte, war die nationale Wiedergeburt Chinas, und er war ursprünglich ein Liberaler und ein Anarchist. Seine persönliche Freiheit und Selbstkultivierung interessierten ihn (in einigermaßen egozentrischer Weise), und so nahm er naturgemäß an, dass seine persönlichen Wertvorstellungen auch für die Gesellschaft insgesamt ein Modell sein könnten. Er musste jedoch feststellen, dass ein solches Gedankengut von den breiteren Massen kaum verstanden wurde und kam so zu dem Schluss, dass nur eine Art Bolschewismus das Land modernisieren könnte und die Sowjetunion als Vorbild für China zu dienen hätte.

Mao, Pol Pot oder Abimael Guzman (oder Karl Marx) waren ehrlich schockiert von der Korruptheit, dem Aberglauben und der Lethargie in der Bevölkerung und wollten dem Volk helfen, sich in seinem eigenen Interesse aus seiner Unmündigkeit zu befreien, wobei sich in diese erhebenden Gefühle allerdings auch schnell Verachtung und Hochnäsigkeit gegenüber dem Volk hineingemischt hat. 1919 schrieb Mao entnervt: Die wahre Gefahr (für China) liegt in der vollkommenen Leere und Fäulnis der geistigen Welt des ganzen chinesischen Volkes. Von den 400 Millionen Einwohnern Chinas sind 390 Millionen dem Aberglauben verfallen. Sie glauben an Geister und Gespenster, an Wahrsagerei, an das Schicksal, an den Despotismus. Es gibt absolut keine Anerkennung des Individuums, des Ich, der Wahrheit. Und zwar weil das wissenschaftliche Denken sich nicht entwickelt hat … Die Volksmassen haben nicht die geringste Ahnung von Demokratie und nicht die geringste Vorstellung davon, was Demokratie ist…

Mao wollte Politik machen – ursprünglich mit friedlichen Mitteln –, er musste aber feststellen, dass es in der Gesellschaft gar keine Grundlage gab, um Politik zu machen. Die chinesische Gesellschaft war keine politische Gesellschaft, und der Vorstellungshorizont der Menschen war so eingeengt, dass sie in allen öffentlichen Angelegenheiten nur an sich selbst und ihren eigenen Vorteil dachten, obendrein abergläubisch und in irrationalen Traditionen verhaftet dachten und handelten. So gesehen ist es vielleicht besser, wenn man China nicht regieren muss. Aber Mao wollte genau das allerdings. Das war also eine Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat. Allerdings hat er sie auch einigermaßen ausgelöffelt. Mao hat China auf jeden Fall modernisiert und er ist als großer Modernisierer in die Geschichte eingegangen.

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George Kennan, wichtiger amerikanischer Diplomat und eine Art geistiger Vater des Kalten Krieges, meinte 1948, dass die Gesellschaften Asiens von der amerikanischen zu verschieden seien, als dass sie von den Amerikanern in adäquater Weise begriffen werden könnten, und als dass die Amerikaner eine nützliche Rolle in ihrer Entwicklung spielen könnten. Daher sollte die US-Politik das auch unterlassen. Er schrieb in Memo PPS23: For these reasons, we must observe great restraint in our attitude toward the Far Eastern areas. The peoples of Asia and of the Pacific area are going to go ahead, whatever we do, with the development of their political forms and mutual interrelationships in their own way. This process cannot be a liberal or peaceful one. The greatest of the Asiatic peoples—the Chinese and the Indians—have not yet even made a beginning at the solution of the basic demographic problem involved in the relationship between their food supply and their birth rate. Until they find some solution to this problem, further hunger, distress, and violence are inevitable. All of the Asiatic peoples are faced with the necessity for evolving new forms of life to conform to the impact of modern technology. This process of adaptation will also be long and violent. It is not only possible, but probable, that in the course of this process many peoples will fall, for varying periods, under the influence of Moscow, whose ideology has a greater lure for such peoples, and probably greater reality, than anything we could oppose to it. All this, too, is probably unavoidable; and we could not hope to combat it without the diversion of a far greater portion of our national effort than our people would ever willingly concede to such a purpose.

Vor langer Zeit habe ich einmal eine Gegenüberstellung von Mao und Indiens Nehru gelesen. Nehru wird im Allgemeinen als der viel sympathischere, humanere Politiker wahrgenommen. Doch vielleicht war der Gestaltungswahn Maos und seine Manie, sein Land zu modernisieren, trotz all der Katastrophen, die er mit sich brachte – und der irrationalen Katastrophe, der er für sich genommen war – segensreicher für sein Land, als die vergleichsweise Lethargie, die man in vielen anderen Entwicklungsländern hatte/bis heute hat. Diese Lethargie tut nichts gegen die strukturelle Gewalt und die Armut, die in einem Land herrscht. Sie ist daher ebenso für großflächiges Elend und strukturelle Gewalt verantwortlich, nur dass sie in ihren diesbezüglichen Resultaten stiller und normalisiert daherkommt. Vielleicht war so Nehru mit seiner Politik für größeres und dauerhafteres Leid verantwortlich als Mao mit der seinen. 1962 kam es zu einem Grenzkrieg zwischen Indien und China; wenn man so will, zu einer direkten Konfrontation zwischen Mao und Nehru. Angeblich hasste Mao China. In den späten 1960er Jahren kam es auch zur Formierung von maoistischen Rebellen in Indien, den Naxaliten, die bis heute in einem low intensity conflict mit dem indischen Staat verwickelt sind. Ende der 2000er Jahre war er zuletzt wieder virulenter geworden.

Gerne werden seit einiger Zeit zwischendurch Überlegungen angestellt, ob Indien China als Supermacht überholen, sogar ausbooten könnte. Dagegen ins Feld geführt werden zum Beispiel der schlechte Zustand der indischen Infrastruktur und auch die mangelnde Investition ins indische Humankapital, die schlechte Koordiniertheit der indischen Politik und die Korruption, die zwar in beiden Ländern vorhanden ist, trotz der in China die Dinge aber doch effizienter erledigt werden als in Indien. China hat solche Probleme und Rückständigkeiten zumindest nicht im selben Maße. Wie man sagt, sei China im Planen und Vorausschauen besser als Indien; die indische Art, Probleme in Angriff zu nehmen, sei ziemlich inkrementalistisch und verlasse sich erheblich auf Flickschusterei, die also dazu führe, dass die eigentliche Lösung von Problemen immer wieder verschleppt werde, und die Gewalt als strukturelle Gewalt normalisiert bleibe. Angeblich sterben tausende Menschen in Indien bei Unfällen mit den völlig überfüllten Pendlerzügen. Der Lärm, der in den Nachtzügen herrsche. In Indien herrsche kein Verständnis dafür, dass die persönliche Sphäre nicht in die öffentliche hineinreiche. Inder spielten im Nachtzug ihr Radio so laut, wie es ihnen gefällt, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitreisenden. Daher sei die öffentliche Sphäre in Indien in konkreter wie in abstrakter Hinsicht eine Kakophonie. In dieser Kakophonie komme die Dysfunktionalität Indiens (also der mangelnde zwischenmenschliche Zusammenhalt) zum Ausdruck, hat mal einer gemeint, der es wissen muss, und dem ich nicht unbedingt widersprechen will.

Ich begrüße die Möglichkeit, über diese Betrachtung fremder Länder und Kulturen ein bisschen eurochauvinistisch sein zu können. Der amerikanische/Eurochauvinismus ist unter den (Halb)Gebildeten heutzutage sehr schlecht angeschrieben, wenn nicht als geradezu satanisch verpönt. Daher freue ich mich über eine solche Abwechslung, die durch die Betrachtung nicht-europäischer Kulturen und Mentalitäten möglich wird. Bei der Gelegenheit können wir zum Beispiel hindische Nationalisten (und linke woke Aktivisten, die mit solchen Nationalisten eine seltsame Allianz eingehen) ärgern. Die Figur des Apu bei den Simpsons wurde vor einigen Jahren als „problematisch“ eingestuft; obwohl der eigentlich eine der sympathischsten, rationalsten und persönlich reifsten (außerdem frauenfreundlichsten) Charaktere von Springfield ist. Wenngleich natürlich ein wenig klischeehaft. Ich finde bei der Gelegenheit, man könnte über Apu einen indischen Einwanderer zeigen, der näher an der Realität ist. Also zum Beispiel einen hindischen Nationalisten und Modi-Fan. Keinen großen Freund der Demokratie. Einen Rassisten gegenüber Europäern (und diversen anderen), von denen er sich in seinem indisch kulturellen Überlegenheitsdünkel gekränkt fühlt. Einem Anhänger des Kastensystems, voller Verachtung für die ungewaschenen Armen und Unberührbaren. Der seine Frau zumindest schlägt; schließlich hat man eine so genannte Rape Culture in erster Linie in Indien. Anstelle von seinem freundlichen Ganesha könnte er mit seinen heiligen Kühen kommen, die überall hindürfen und die überall alles vollscheißen. Verkehrsregeln dürften für ihn nicht existieren. So wie John McCain einmal erwischt wurde, wie er (zur Melodie von Barbara Ann von den Beach Boys) Bomb bomb bomb, bomb Iran intonierte, könnte der realistische Apu Bomb bomb bomb, bomb Pakistan singen. Etc.

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Die Mao-Bibel kann man als etwas Unerträgliches und Trockenes ansehen. Aber auch als etwas sehr Erfrischendes, und sogar, neben dem Trost der Philosophie von Boethius, den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, den Büchern vom glücklichen Leben von Seneca, dem Zarathustra von Nietzsche, den Fragmenten von Epikur und Epiktet, dem Handorakel von Balthasar Gracian, dem Buch von der Nachfolge Christi von Thomas Kempen, den Predigten von Meister Eckhart, den Gesprächen von Konfuzius, oder dem Tao te king oder dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken von mir, in die Reihe der großen Weisheitsbücher der Weltgeschichte stellen. Sie schildert eine Gesellschaft, einen Umgang der Menschen untereinander, ein Verhalten von Vorgesetzten zu ihren Untergebenen, von Militärführern zu Soldaten, und von revolutionären Soldaten und Führern gegenüber dem einfachen Volk, wie sie letztendlich sein sollten. Sie schildert eine ideale Welt. Dem kann man sich nicht leicht entziehen. Vor allen Dingen nicht aufgrund der ebenso einfachen und klaren, beinahe bildhaften Sprache von Mao Zedong (und seiner Redakteure), ihrem emotionalen Appell und ihrer großen Suggestivität. Eine onkelhafte Weisheit des mittleren Alters scheint von Mao auszugehen, die gleichzeitig milde und unaufdringlich ist und ebenso bestimmt und den Weg vorgebend. Diese ganz große Angelegenheit von der Schaffung der idealen Welt und dem revolutionären Umstürzen der jetzigen, altersschwachen Welt, erscheint als eine Art Märchen, als eine eben biblische Angelegenheit, die allerdings erst vor uns liegt, jedoch noch zu Lebzeiten stattfindet. Allein die kommunistische Ideologie und Gesellschaftsordnung sind voller Jugendfrische und Lebenskraft, sie gleichen einer allmächtigen Naturgewalt, die mit unwiderstehlicher Kraft über das ganze Erdenrund hinwegfegt. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Es ist die Geschichte einer ganz großen Zeit und von ganz großen Taten. Der Edelsinn und die edle Tatkraft derer, die sich an der Revolution beteiligen, machen, so wie sie in der Mao-Bibel beschrieben werden, einen für ein paar Momente durchaus ergriffen dreinschauen. Oder mögen die Beteiligung an der Revolution als Lebensaufgabe erscheinen lassen. Vor allen Dingen, da ganz einfach davon ausgegangen wird, dass der Sieg der eigenen Sache vom Sozialismus quasi gesetzlich verbürgt sei, so wie es viele Marxisten bis heute aus irgendwelchen Gründen annehmen. Das sozialistische System wird letzten Endes an die Stelle des kapitalistischen Systems treten; das ist ein vom Willen des Menschen unabhängiges Gesetz. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Solcherart sind die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Die Schriften von Mao in ihren Langfassungen erscheinen als deutlich durchwachsenere Angelegenheit und von deutlich geringerer intellektueller Spannkraft. So etwas wie eine philosophische Bedeutung erlangten allerdings die Schriften von keinem marxistisch inspiriertem Revolutionsführer, mit der Ausnahme Lenins. Die grundlegenden Eigenheiten der maoistischen Interpretation des Marxismus-Leninismus – dass die chinesische Revolution sich nicht auf die Arbeiter sondern auf die Bauern stützen müsse, dass der revolutionäre Kampf nicht von den urbanen Zentren sondern vom Land aus initiiert werden müsse, u. dergl. – waren dabei aber tatsächliche geistige Kinder und originäre Leistungen von Mao. Auf so etwas konnten selbst chinesische Marxisten kaum kommen, da es zu sehr vom orthodoxen Marxismus abweicht. Mao war sehr wohl ein innovativer Denker und ein erfrischender Intellekt. Auf seine Weise war der Vorsitzende Mao Zedong dann auch tatsächlich „der größte lebende Marxist-Leninist seiner Zeit“. Später waren es immerhin Kim Il-sung und Abimael Guzman, die einen solchen Titel für sich in Anspruch nahmen.

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1949 kam Mao in China an die Macht. Der anhaltende Bürgerkrieg in China war damit beendet. Gleichsam aufgrund der dynamischen Natur der Weltrevolution wurde China aber gleich in einen anderen Bürgerkrieg hineingezogen: den in Korea. Der Koreakrieg wurde hauptsächlich von Stalin angezettelt. Stalin sah eine große Konfrontation zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager als unvermeidlich an und er wollte mit dem Koreakrieg die Amerikaner ablenken und ihre Kräfte binden. Mao war an einer solchen Eskalation nicht sonderlich interessiert; Stalin hingegen umso mehr, auch China in den Konflikt reinzuziehen und es, wenn möglich, zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und China kommen zu lassen. Für Stalin selber war der Koreakrieg ein risikoarmer Stellvertreterkrieg. China wurde tatsächlich durch die Gravitation der Ereignisse in den Krieg hineingezogen und opferte seine eigenen Leute in großer Zahl um den nordkoreanischen Brüdern zu helfen. Stalin war daran interessiert, dass der Krieg möglichst lange dauern und möglichst blutig sein würde. Bereits 1951 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg zu beenden, aufgrund der Erschöpfung bei allen involvierten Parteien. Stalin drängte jedoch auf dessen Fortsetzung. Dass der Krieg möglichst brutal geführt werde, helfe den chinesischen und koreanischen Genossen auch, „Kampferfahrung“ zu sammeln, so eine weitere seiner Begründungen. Tatsächlich wurde der Koreakrieg dann 1953 beendet, nach Stalins Tod – allerdings nur mit einem Waffenstillstand. Dies hilft dem nordkoreanischen Regime bis heute, das Land in eine Festung umzuwandeln, eine Art permanenten Notstand bzw. eine Art Militärdiktatur auszurufen und der Bevölkerung gegenüber so zu tun, als sei man nach wie vor „im Krieg“ gegen die „Imperialisten“.

360.000 chinesische Soldaten wurden nach offiziellen Angaben im Koreakrieg getötet oder verwundet. Kim Il-sung war jedoch nur bedingt dankbar. Er blieb eher der Sowjetunion als China hörig, nicht zuletzt um sich dessen natürlicher Dominanz zu entziehen. Auch wenn er Elemente des Maoismus übernahm, setzte er mit seiner Juche-Ideologie auf nationale Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit. Auch wenn das eine gewisse rationale Grundlage hat (nicht allzu sehr unter die Fittiche fremder Großmächte zu gelangen), scheint abermals die Pathologie eines Führers als wesentliches Motiv hinter einem politischen Gesamtprogramm. Kim Il-sung sollte bald schon seinen eigenen Personenkult im Land (und auch auf der internationalen Bühne) in einem Maße aufblähen, das auch den Personenkult um Mao in den Schatten stellte. Er bzw. sein Propagandaapparat begann ihn, mit noch geschmackloseren Superlativen („genialer Führer“, „Rote Sonne der unterdrückten Völker in aller Welt“) zu belegen. In den 1970er Jahren begann er auch direkt mit Mao auf der internationalen Bühne als Führer der Weltrevolution zu konkurrieren oder generierte sich zumindest als „Führer aller asiatischen Menschen“. Gleich den Mao-Zedong-Gedanken gab er Kim Il-sung-Gedanken heraus. „Ihr habt Kim Il-sung gefördert. Wie einen kleinen Baum habt ihr ihn gepflanzt. Die Amerikaner haben ihn ausgerissen. Wir haben ihm am selben Ort wieder eingepflanzt. Jetzt ist er extrem aufgeblasen“, bemerkte Mao gegenüber Anastas Mikojan, einem alten sowjetischen Bekannten aus der Stalinzeit. Glaubt man der westlichen Berichterstattung, scheint die Kim-Dynastie, mit dem „Geliebten Führer“ an der Spitze, allem Kommunismus zum Trotz, das Land Nordkorea als eine Art Privatbesitz zu betrachten, und ihren Besitzanspruch über die „Genialität“ des „Ewigen Führers“ Kim Il-sung und seiner Rolle in der Befreiung Nordkoreas zu rechtfertigen. Heute herrscht ein Nordkorea ein bizarres paranoides und größenwahnsinniges Regime, das im Hinblick auf die Menschenrechtssituation weltweit annähernd den letzten Platz belegt. Das ist allgemein bekannt. Es wird dabei nur noch von dem Regime in Eritrea unterboten. Das ist praktisch nur großen Spezialisten bekannt, da im Gegensatz zu Nordkorea nie über dieses Regime berichtet wird.

Die Kommunisten nehmen gerne für sich in Anspruch, friedliebend zu sein und dass sie die beiden Weltkriege verhindert hätten. Stalin wäre aber offensichtlich so weit gegangen, über den Koreakrieg einen Dritten Weltkrieg zu provozieren, den er sowieso als „unvermeidlich“ ansah, und den er lieber gleich, in einem Augenblick der relativen Stärke führen wollte, als später. 1950 hatte sich die Sowjetunion von den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges relativ schnell wieder erholt, sie war in den Rang einer Atommacht aufgestiegen und hatte halb Europa unter ihr Herrschaftsgebiet gebracht. China war rot geworden. Es bestand die Möglichkeit, den Kommunismus in Asien zu verbreiten. In dem sinistren, agonalen Weltbild von Stalin tauchen solche Kalkulationen auch naheliegenderweise auf. Abgesehen von den persönlichen Pathologien Stalins offerieren der Marxismus-Leninismus und der Maoismus Möglichkeiten auf solche Sichtweisen aber auch ganz allgemein. Maos launenhafte Bemerkungen über die Atombombe als Papiertiger und dass China einen Atomkrieg nicht zu fürchten brauche, da seine Bevölkerung zu zahlreich sei um dabei restlos ausgelöscht zu werden, waren Provokationen eines Exzentrikers. Aber so ferne scheint ihm all das dann doch nicht gelegen zu sein. Ende der 1950er Jahre brach er allerhand Streitigkeiten vom Zaun, um die internationale Lage und die „friedliche Koexistenz“ zu destabilisieren. Vor allem wollte er einen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion heraufbeschwören und schließlich auch einen direkten Konflikt mit den USA, als er im Jahr 1958 Jinmen bombardieren ließ, einer von Nationalisten kontrollierten Inselgruppe zwischen dem Festland und Taiwan. Wenngleich er kein Interesse hatte, diese Inseln tatsächlich zurückzuerobern, manövrierte er sein Land in eine potenziell so gefährliche Situation, wie es später die Kubakrise für die Sowjetunion war. Das Ziel war, die Amerikaner unter Druck zu setzen und sich als „Revolutionsführer“ zu gerieren – vor allem aber wohl, um Druck im eigenen Land aufbauen zu können und China in eine Festung umwandeln zu können, die sich umso rascher industrialisieren müsse um „wehrhaft“ zu bleiben (was dann im Großen Sprung nach vorn versucht wurde). Das Risiko, das Mao mit dieser Verschärfung der internationalen Lage heraufbeschworen hatte – ein weltweiter Atomkrieg – war hoch. Und Mao schien einer solchen Konfrontation auch tatsächlich nicht abgeneigt. Seinem Leibarzt gestand er, dass er es auf eine umfassende Konfrontation abgesehen hatte, ohne Rücksicht auf die menschlichen Konsequenzen: „Vielleicht lassen sich die USA dazu bewegen, eine Atombombe auf Fujian abzuwerfen. Vielleicht werden dadurch zehn oder zwanzig Millionen Menschen getötet“. Auf Chruschtschow blickte Mao nicht zuletzt auch wegen dessen Entspannungspolitik mit den USA herab (auch wenn er eine solche dann später gemeinsam mit Nixon einleitete).

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Nach dem Tod Stalins verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China, bis sie schließlich von einer irrationalen Feindseligkeit bestimmt waren. Eine solche Dynamik liegt konkurrierenden Großmächten wohl in einem erheblichen Grad inne. Trotzdem war diese Degeneration hauptsächlich ein Werk Mao Zedongs.

Mao Zedong hatte große Ehrfurcht vor Joseph Stalin. Ohne die wirtschaftliche und militärische Hilfe, die die chinesischen kommunistischen Rebellen während der Jahrzehnte des Bürgerkriegs von der Sowjetunion erhalten haben, wären sie wohl untergegangen. Insofern verdankten die chinesischen Kommunisten den sowjetischen vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel. Seit Beginn ging diese Hilfe aber damit einher, die chinesischen Kommunisten unter die Fittiche Moskaus zu bringen und sie zu einem (oftmals schamlos als solchen ausgenutzten) Instrument der sowjetischen Außenpolitik zu machen. Stalin benahm sich schließlich, auch nachdem Mao zum Herrscher von China aufgestiegen war, sagenhaft arrogant, wenn nicht niederträchtig gegenüber ihm. Das rationale Kalkül, einen potenziell gefährlichen Konkurrenten klein zu halten, hat dabei ebenso eine Rolle gespielt, wie die irrationale Seltsamkeit von Stalins Charakter. Auch in ganz praktischer Hinsicht gab Stalin Mao in seinen hochfliegenden Industrialisierungsplänen fortwährend Dämpfer. Er wollte, dass sich China bescheidenere Ziele setzte als Mao es vorhatte. Das war wahrscheinlich auch gut gemeint, denn aufgrund der eigenen Erfahrungen wussten die Sowjets, was für hohe menschliche Kosten ein solcher Kurs fordern würde, und dass eine überhitzte wirtschaftliche und industrielle Entwicklung die Gefüge im Land insgesamt auseinanderbringen würde (was sich spätestens beim Großen Sprung nach vorn für China entsetzlich bewahrheiten sollte).

Nach Stalins Tod bemühte sich die sowjetische Führung hingegen, Mao mit allen nur erdenklichen Mitteln entgegenzukommen. Sie hatte Angst, dass sich Maos China, bei einer Fortsetzung der bilateralen Beziehungen im Stile Stalins, beleidigt aus dem sowjetischen Orbit bewegen könnte. Das passierte dann tatsächlich – allerdings gerade deswegen. In Chruschtschows übertriebener Jovialität begann Mao eine Schwäche zu wittern – etwas, das er bei Politikern verachtete. Die Geheimrede von Chruschtschow 1956, in der er mit dem Stalinismus brach und sich von ihm loszusagen suchte – womit er indirekt auch eine Richtung für alle anderen kommunistischen Regierungen vorgab – stieß Mao abermals sauer auf (unter anderem, da es ja auch seinen eigenen Herrschaftsstil unterminierte). Der Stalinismus war vor allem aber kein Modell für die Sowjetunion der 1950er und 1960 Jahre mehr, für eine einigermaßen fortgeschrittene, aufgeklärte, urbanisierte Gesellschaft, die zunehmend dynamischer wurde. Und in der die Bevölkerung an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben wollte, die unter Stalin erfolgt ist, die aber der Produktionsgüterindustrie gegolten hat. Die sowjetische Bevölkerung wollte, nach Jahrzehnten der Entbehrung, endlich auch konsumieren. Die sowjetische Führung musste daher auch die Konsumgüterindustrie ausbauen (was ihr, bis zuletzt, nur in unzureichendem Maße gelungen ist – da das Insignium und die Zuliefererindustrie für die Staatsmacht eben die Produktionsgüterindustrie war: das hat mit zum Untergang der Sowjetunion beigetragen). Vor allem waren die Ineffizienzen der Planwirtschaft nur allzu deutlich. Daher versuchte die Sowjetführung die Wirtschaft und auch die Gesellschaft zu liberalisieren.

Mao war in eigentümlicher Weise nicht in der Lage, dergleichen nachzuvollziehen (wie es allerdings auch etliche andere Kommunisten in aller Welt nicht waren). Er sah im sowjetischen Kurs eine „bourgeoise Restauration“, die es im Sinn der echten Revolution immer und überall zu bekämpfen galt. Es ist bemerkenswert, wie schematisch Mao dachte und wie wenig Tiefenschärfe seine Wahrnehmung hatte, wenngleich solche Anti-Leistungen Marxisten und ideologisch denkende Menschen freilich immer wieder mit Leichtigkeit aufzubringen imstande sind. Auch Lenin hält 1920 fest (in Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus): Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. Etwas darauf musste Lenin all das Gewicht seiner Autorität in die Waagschale werfen, um seine bolschewistischen Genossen von der Notwendigkeit der Neuen Ökonomischen Politik zu überzeugen. Die schließlich dann auch wieder abgeschafft wurde. Indem der Marxismus sich gegen das Bürgerliche und gegen das Kapitalistische insgesamt wendet, ist es naheliegend, passiert es beinahe gezwungenermaßen, dass er das auf allen Ebenen tut (auch wenn heutige Marxisten das, im Großen und Ganzen, natürlich nicht mehr tun würden). Ohne die Vergesellschaftung der Landwirtschaft kann es keinen vollständigen, gefestigten Sozialismus geben. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung) Bei Mao wurde diese Haltung nur auffälliger und welthistorisch wirksam. Auffällig und welthistorisch wirksam wurde auch das Zerwürfnis zwischen den sozialistischen Supermächten China und der Sowjetunion. Es sorgte für erhebliche Irritationen innerhalb des kommunistischen Lagers. Mao steigerte sich immer mehr in eine Verachtung gegenüber der „revisionistischen“ Sowjetunion hinein, es kam zu einem Grenzkrieg, einer bisweilen gefährlichen Zuspitzung der Hostilitäten, zum Leidwesen der Bevölkerung auch zu einem Ausbleiben von sowjetischen Hilfslieferungen an China, als China sie am nötigsten gebraucht hätte. Während Mao in den Sowjetführern gleichsam Antikommunisten sah, sahen die Sowjetführer in Mao einen unverantwortlichen Abenteurer.

Das Festhalten vieler Kommunisten am Stalinismus hat auch damit zu tun, dass der Stalinismus als etwas von Kompliziertheiten Gereinigtes erscheint, etwas – dem Faschismus Ähnliches – ästhetisch Einwandfreies, Unkontaminiertes. Er kommt der schematischen Wahrnehmung entgegen. Er beruht auf eindeutigen Freund-Feind-Unterscheidungen, indem er selbst in einem hohen Maß auf Feindseligkeit, Paranoia und Frontstellung beziehen beruht. Indem er selber der Feind ist. Der Kommunismus/Marxismus hat einerseits eminent konstruktive Elemente, andererseits erhebliche, die sich über Feindseligkeit konstituieren. Wie das eine und das andere dann gewichtet ist, hängt vom individuellen Kommunisten ab. Bei Mao gab es ein starkes Bedürfnis nach Konstruktivität. Aber vielleicht war das, was noch stärker in ihm waltete, die Feindseligkeit. 

Allerdings war die Entscheidung für eine Übernahme stalinistischer Politik eine pragmatisch angezeigte. Bei all ihrer abstoßenden Brutalität hatte die Industrialisierung nach stalinistischem Vorbild eine entscheidende Attraktivität: sie funktionierte als Industrialisierung und Modernisierung. Sie war als solche ein Erfolgsmodell, das Ländern, die vor ähnlichen Problemen standen wie Russland, als Vorbild und Leitfaden zu dienen vermochte: also eben auch China. Das Schwarzbuch des Kommunismus wird teilweise als übertrieben antikommunistisch kritisiert. Aber auch dessen Herausgeber Stéphane Courtois ruminiert in der Einleitung, dass Stalin wohl als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen werde. Er habe aus einem unbedeutenden Agrarland, der Sowjetunion, eine Industrie- und Atommacht gemacht. Das halten sich Kommunisten und Stalinisten gerne zugute (übersehen dabei aber, dass solche Erfolgsgeschichten im 20. Jahrhundert eigentlich Legion waren und auch immer wieder von konservativen, kapitalistisch orientierten, antikommunistischen Politikern angeführt wurden). Mao war aber kein konservativer und kapitalistisch orientierter Politiker, er wollte nicht nur die Wirtschaft seines Landes entwickeln, sondern auch den Sozialismus.

Die beiden katastrophalsten, unheimlichsten Entscheidungen, die Mao dabei zu verantworten hatte, waren der Große Sprung nach vorn und die Kulturrevolution.

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Ein besonders radikales „Lebensraum im Osten“-Kolonialisierungsprojekt der Nazis hatte den Tod von 30 Millionen Menschen in Osteuropa im Laufe von mehreren Jahrzehnten einkalkuliert. Beim Großen Sprung nach vorn Ende der 1950er Jahre in China könnten bis zu 45 Millionen Menschen gestorben sein.

Der Große Sprung nach vorn sollte ein gigantisches wirtschaftliches Entwicklungsprojekt sein, ein Industrialisierungsprojekt in einem nach wie vor hauptsächlich agrarwirtschaftlich dominierten Land. Zu diesem Zweck wurden massiv Ressourcen umgeleitet: um die Industrialisierung zu befördern wurde die Landwirtschaft vernachlässigt. Von Enthusiasmus getrieben, bzw. von den Kadern angeordnet, haben Bauerndörfer Hochöfen errichtet, in der Annahme, man könne damit Stahl in hoher Qualität herstellen (Mao hat sich allen Ernstes gewundert, warum die amerikanischen Kapitalisten riesige und kostspielige Stahlwerke konstruieren würden, wo die chinesischen revolutionären Bauern doch zeigen würden, dass es viel einfacher ginge – er würde bald erfahren, worin der Unterschied liege). All das hat dazu geführt, dass massiv Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen wurden – für Industrialisierungsprojekte, die wenig Nutzen brachten. Konfrontiert mit einer mageren Wirtschaftsleistung – und vor allem geringen landwirtschaftlichen Ertrag – haben die lokalen Kader geschönte Zahlen an die nächsthöhere Instanz weitergegeben, die die Zahlen wiederum geschönt haben – bis schließlich ein völlig verzerrtes Bild entstanden ist, das die sich anbahnende Gefahr einer katastrophalen Unterversorgung verschleiert hat. Ausgerechnet zu dieser Zeit kam es in China zu den schwersten Wetterextremen seit Menschengedenken: einer verheerenden Dürre, begleitet von sintflutartigen Regenfällen und Taifunen, die für Überschwemmungen und Zerstörungen sorgten. Als die Katastrophe bereits offenbar war, hat die chinesische Führung sie wiederum versucht vor dem Ausland zu verbergen, und trotz des allenthalbenen Hungers im eigenen Land Getreide exportiert. Genaue Zahlen sind unbekannt, aber man geht davon aus, dass der Große Sprung nach vorn 45 Millionen Todesopfer mit sich brachte.

Der Große Sprung nach vorn erscheint als eine katastrophale Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. Für einen Narzissten wie Mao ist so was immer wieder charakteristisch. In seinem Enthusiasmus und seiner ehrlichen Begeisterung war er aber nicht allein, ein solcher Enthusiasmus und eine revolutionäre Begeisterung herrschte im ganzen Land, in weiten Teilen der Bevölkerung. Leider entsteht Enthusiasmus immer wieder, wenn als Grundlage Dilettantismus und Inkompetenz herrscht. Weder Mao noch die meisten anderen in der chinesischen Führung hatten Ahnung von Wirtschaft. Dazu kommt noch das Potenzial zu enthusiastischer Selbstüberschätzung und Fehleinschätzung der Realität, das im Marxismus und in der revolutionären Mentalität selbst liegt. Und nicht zuletzt eine krasse Rücksichtslosigkeit gegenüber menschlichen Opfern.

Nach der Machtübernahme hatte Mao die Möglichkeit, China nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Der Sozialismus und der Kommunismus sind an und für sich utopische Projekte; vor allem für ein damals sehr rückschrittliches Land wie China stellte sich die Frage wie der Sozialismus in der Gegenwart verwirklicht werden könnte. Es gab in der KPCh liberalere Kräfte als Mao und es gab in den 1950er Jahren Phasen einer „Neuen Demokratie“. Mao stand all dem im Wesentlichen ablehnend gegenüber. Er entschied meistens zugunsten der sozialistischeren Optionen. Es wurde (mit terroristischen Mitteln) eine Agrarreform durchgeführt und eine Enteignung der Großbauern, bevor man sich den städtischen Besitzenden zuwandte. Privates Unternehmertum bestand bis 1953. Als die Wirtschaft hinreichend stabilisiert war, wurde der Erste Fünfjahresplan beschlossen, der eine Umstellung auf Planwirtschaft beinhaltete. Das Handwerk wurde in Kooperativen organisiert, die Industrie wurde verstaatlicht. Vor allem in den ersten Jahren stand die chinesische Führung vor dem Problem, die Wirtschaft zu organisieren und die Grundversorgung zu sichern. Notgedrungenermaßen musste eine solche Organisation zentralisiert, bürokratisch und von oben herab erfolgen – entgegen aller Romantik von der sozialistischen „Selbstorganisation“ der Massen und ihrer Betriebe. Ein solcher autoritärer Top-Down Sozialismus, wo Betriebsführer und Kader die Macht über wirtschaftliche Betriebe hatten, wurde jedoch beibehalten. Die Arbeiterselbstorganisation wurde abgewürgt und durch eine Einheitsgewerkschaft ersetzt, die eher die Interessen des Staates vertrat als die der Werktätigen. Damit – über die Betriebsführer, die Kader, die Funktionäre – entstand an und für sich eine neue Ausbeuterklasse in China (noch dazu eine sehr korrupte). Die Revolution schuf eine neue Ausbeuterklasse und eine neue Klassenherrschaft. Das führte vielerorts zu Protesten. Vielleicht hat Mao das gedämmert, dass die Resultate seiner Politik den eigentlichen ideologischen Intentionen dieser Politik zuwiderliefen und sie konterkarierten. Vielleicht war das ein Grund, warum Mao die Kulturrevolution anzettelte.

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Die wahren Helden sind die Massen, wir selbst aber sind oft naiv bis zur Lächerlichkeit; wer das nicht begriffen hat, wird nicht einmal die minimalen Kenntnisse erwerben können. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Den Volksmassen wohnt eine unbegrenzte Schöpferkraft inne. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Das verheerende Scheitern des Großen Sprungs nach vorn führte zu einem Machtverlust Mao Zedongs. Der spätere Reformer Deng Xiaoping und Liu Shaoqi übernahmen das Ruder und versuchten, wirtschaftsliberale Reformen einzuleiten. Lange war Mao aber nicht weg. Mitte der 1960er Jahre war seine Macht wieder zementiert (die Interpretation, dass die Kulturrevolution als Machtkampf gegen Gegner in der Partei intendiert war, scheint daher nicht unmittelbar stichhaltig). Trotzdem leitete Mao Ende der 1960er Jahre die Kulturrevolution ein.

Die proklamierte Idee der Kulturrevolution war, die revolutionäre Energie der Volksmassen freizusetzen. In der Reichskristallnacht der Nazis schien es deutlich zivilisierter zuzugehen, wie in der Kulturrevolution, in der großflächig unglaubliche Fälle von Mordlust und Sadismus sich ereigneten, die vorwiegend junge (jugendliche) Chines:innen an Personen auslebten, die sie störten. Schüler zwangen ihre Lehrer, Nägel und Exkremente zu essen, folterten sie zu Tode, vereinzelt kam es zu Fällen von Kannibalismus (bei denen Kulturrevolutionäre stolz darauf waren, „Klassenfeinde“ verspeist zu haben). Mao war ob dieser Ausbrüche der revolutionären „Energien“ – und auch der revolutionären Gewalt – begeistert. Man könne keinen Vorwurf machen, „wenn gute Menschen schlechte Menschen töten“. Wie so viele Kommunisten und Revolutionäre in ihrer mangelnden intellektuellen und moralischen Tiefenschärfe, sah er im Tumult, im Chaos, in der Freisetzung der „revolutionären Energien“ etwas Positives, etwas, das Verkrustungen aufbreche.

Etliche Kommunisten und Revolutionäre stieß Mao mit seiner Kulturrevolution aber auch vor den Kopf, vor allem in der Sowjetunion. Auch dem einstmals loyalen Ho Chi Minh waren seit einiger Zeit Zweifel an Maos Unfehlbarkeit aufgekommen. „Ist hier irgendjemand im Saal, der China besser versteht als ich?“, fragte Ho Chi Minh bei einer Parteiversammlung in die Runde – worauf keiner antwortete. „Und nicht einmal ich kann begreifen, was diese „Kulturrevolution“ wirklich ist.“ Dabei wurde es ja überdeutlich erklärt. Maos Gefolgsmann Lin Biao brachte es zum Beispiel auf den Punkt: Das Ziel der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist die Ausrottung der bürgerlichen Ideologie, die Entfaltung der proletarischen Ideologie, die Umformung des Innersten des Menschen, die Revolutionierung ihres Denkens, die Ausrottung der Wurzeln des Revisionismus und die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems. So einfach und offensichtlich war das ja. Die große chinesische Kulturrevolution ist eines jener abgründigen Ereignisse in der Geschichte, dessen Unergründlichkeit und Abgründigkeit vorwiegend in seiner mangelnden Tiefe lag.

Seiner Frau, einer Hauptinitiatorin der Kulturrevolution, erklärte Mao in einem Brief die Kulturrevolution als „Übungsmanöver“, das „alle 7 bis 8 Jahre“ abgehalten werden müsse, um restaurativen, bourgeoisen Tendenzen in der chinesischen Gesellschaft und in der eigenen Partei entgegenzuwirken. Mit zunehmendem Alter wurde Mao zunehmend paranoider im Hinblick darauf, dass überall die Gefahr der „Restauration“ lauere. Es ist eigenartig, wie kategorisch, genauer gesagt schematisch Mao in seiner Ablehnung der „Restauration“ und des „Bourgeoisen“ war, wenngleich diese schematische Haltung für den Marxismus typisch ist. Trotzdem war und ist eine derartige Starrsinnigkeit keine Haltung von allen Kommunisten, sondern eine gewisse Idiosynkrasie Maos gewesen (die er freilich nach wie vor mit etlichen Kommunisten teilt). Aber Maos gesamtes Denken und Empfinden baute – neben seinen konstruktiven Elementen – eben stark auf einer elementaren Feindseligkeit auf. Und auf einem starken Konkurrenzkampf der Eitelkeit. Vielleicht konnte Maos Eitelkeit es nicht ertragen, dass der liberale Kurs seiner Genossen um Deng Xiaoping die bessere Idee war. Die Revolution war Maos Erbe, und er wollte sein Erbe bewahren. Der revolutionäre Impuls bei Mao hatte immer irrationale Elemente gehabt, und es gibt keine Garantie, dass Menschen statt altersweise und -milde immer noch irrationaler werden.

Der Kommunismus will eine „klassenlose Gesellschaft“ errichten. Die Kulturrevolution zielte aber vielmehr darauf ab, neue Klassenverhältnisse zu zementieren, genauer gesagt, kastenähnliche Verhältnisse. Angehörige der feudalen oder bourgeoisen Klasse – und deren Kinder – wurden als politisch unzuverlässig abgestempelt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die neue Kader- und Funktionärsschicht, und vor allem ihre Kinder, sahen hingegen in der Kulturrevolution die Möglichkeit, sich als politisch zuverlässige, gewünschte Klasse zu positionieren. Ihr Enthusiasmus und ihr revolutionärer Elan scheinen nicht zuletzt aus diesem ganz eigennützigen Motiv erklärbar.

Der Widerspruch des Maoismus, dass er sich einerseits an der „revolutionären Energie der Volksmassen“ erfreut, am Chaos und an der Instabilität, anderseits aber für strikt geordnete, repressive Verhältnisse sorgen will, trat auch mit der Kulturrevolution zutage. Anderen Mächten im Staat wurden die marodierenden Roten Brigaden zunehmend unangenehm, vor allem dem Militär. Mao musste schließlich die Roten Brigaden zurückpfeifen. In den kommenden Jahren setzte Repression und Terror gegen sie ein. Dabei ging der staatliche Terror weit über das hinaus, was die Roten Brigaden angerichtet hatten. Bis zu zwei Millionen Opfer forderte die Kulturrevolution. Nicht allein durch direkte Gewalt oder staatliche Repression, sondern auch durch die erneute Desorganisation, die die Kulturrevolution im Land hervorgerufen hatte. Vor allem in Hunan kam es im Zusammenhang mit der Kulturrevolution und der durch sie bedingten Umleitung von Ressourcen zu Hungersnöten.

Die Kulturrevolution ist den Chinesen dabei nicht nur in schlechter Erinnerung. Neben der echten revolutionären Begeisterung und der Woge des Optimismus brachte sie starke Gemeinschaftserlebnisse mit sich. Die meisten der Roten Brigaden marodierten nicht, sondern nutzten die Gelegenheit, um durch China zu reisen (nichtsdestotrotz wurden sie trotzdem dafür bestraft und lernten ihnen unbekannte und unattraktive Regionen Chinas dann auch so kennen, indem sie für Jahre dorthin deportiert wurden). Arbeiter protestierten im Rahmen der Kulturrevolution für bessere Bedingungen. Mao wollte mit der Kulturrevolution einen neuen, anti-bourgeoisen Menschen erschaffen. Kissinger zufolge fragen sich heute, in einem vom Kapitalismus durchdrungenen China, nicht so wenige Chinesen, ob Mao mit Bestrebungen nicht doch vielleicht irgendwo Recht hatte.

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Mao und Stalin wurden von ihrer loyalen Umgebung aufgrund von ihrer Intelligenz geschätzt, wenn nicht als eine Art Superintelligenz-Mysterium verehrt, und so wurde ihnen blind gefolgt. Tatsächlich waren sie im landläufigen Sinn ja auch recht intelligent. Ich schätze Mao und Stalin hatten einen IQ von um die 150. Was allerdings heißt das? Obwohl intellektuelle Höchstbegabung sehr selten ist, ist sie gleichzeitig ein weites Feld und breites Spektrum. Sie reicht von einem IQ von 145 bis zu vielleicht 200. Marilyn vos Savant, die als intelligenteste Frau der Welt gilt (IQ 186), meint dass unter den historischen Persönlichkeiten unter den Höchstbegabten, bei denen der IQ entweder bekannt war oder geschätzt werden kann, am unteren Ende der Skala politische Revolutionäre angesiedelt sind. Politische Revolutionäre sind also tatsächlich „volksnah“, indem sie nicht von erlauchtester Gescheitheit sind. Die Verheerungen, die politische Revolutionäre anrichten, stehen also sicher damit im Zusammenhang, dass es sich bei ihnen um die vergleichsweise unintelligentesten Höchstbegabten handelt, deren Einsichten in die gesellschaftliche Totalität vergleichsweise mangelhaft sind, und die im Denken zu wenig vorsichtig sind, zudem zu sehr dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. (Ferguson hat einmal ruminiert, die intelligenteste Herrschergestalt der Geschichte könnte der Großmogul Akhbar der Große gewesen sein. Akhbar der Große hatte wohl einen Intelligenzquotienten um die 170. Seine Herrschaft war tatsächlich segensreich für Indien.)  Am oberen Ende der Skala, bei Intelligenzquotienten von 190, vermutet Marilyn vos Savant hingegen „Schriftsteller“. Das wären dann also Leute wie Karl Marx.

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Wie ich vor vielen Jahren einmal einen der Vier Großen Klassischen Romane der chinesischen Literatur – Die Räuber vom Liang-Schan-Moor – gelesen habe, habe ich mir gedacht: Wie ähnlich sich die Menschen doch über alle Zeiten und Kulturen hinweg letztendlich sind! Das sind sie zwar, aber sie sind auch über Zeiten und Kulturen hinweg einigermaßen voneinander verschieden. Chinesische Menschen haben, durch die Akkulturation bedingt, andere Hirnstrukturen als z.B. Menschen im Westen.

China ist (wie man sagt, durch den in größeren Sozialverbänden stattfindenden Reisanbau begünstigt) eine kollektivistische Kultur, die sich von der vergleichsweise individualistischen Kultur des Westens einigermaßen unterscheidet. So haben Chinesen einen weniger ausgeprägten Begriff vom Individuum: sie erleben sich zunächst als Angehörige einer Familie. Das hat erhebliche Auswirkungen. Der Individualismus ist weniger ausgeprägt. Während Chinesen aufgrund von bestimmten Kulturleistungen, die sie erbringen müssen, wie das Erlernen ihres komplizierten Schriftsystems, bei bestimmten kognitiven Leistungen besser abschneiden als Westler, haben chinesische Schüler die meiste Angst nicht vor Prüfungen in Mathematik oder Fremdsprachen, sondern im freien Aufsatz. Also im Formulieren einer eigenen Meinung.

Die eigene Familie ist auch die Zelle des moralischen Zusammenhalts – der außerhalb der Familie nicht unbedingt existiert. Fremden gegenüber fühlen sich Chinesen moralisch nicht verpflichtet – ebenso wenig Vertrauen haben sie also in Fremde, die sich umgekehrt also auch ihnen nicht verpflichtet fühlen. Das Fehlen von einem echten Gemeinsinn und von einer Zivilgesellschaft in China hat hierin eine ihrer Wurzeln. Die ständige Angst der chinesischen Herrschenden, dass die Gesellschaft zerfallen könnte, es zu Aufständen oder einer plötzlichen Illoyalität der Bevölkerung kommen oder dass irgendetwas Unvorhergesehenes (Individuelles) passieren könnte, und ihr Kontrollfetischismus mögen uns irrational und barbarisch erscheinen – aber so unberechtigt bzw. grundlos ist das nicht.

Überhaupt sind das chinesische Denken und das moralische Empfinden einerseits ganzheitlicher, holistischer und mit großem geschichtlichen Sinn, der sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit beruft (daher allerdings auch vergleichsweise inflexibel). Andererseits sind sie aber auch unschärfer. Eindeutige Trennungen zwischen Gut und Böse treten hinter die Facettierungen, in denen moralisch zu bewertende Handlungen wahrgenommen werden, zurück. Chinesen leben, so gesehen, in einer fortwährenden moralischen Grauzone. Der geschichtliche Sinn und das ganzheitliche Denken beeinträchtigen das fortschrittliche Denken. Das „ganzheitliche“ Denken tritt auch so in Erscheinung, dass Chinesen überall Politik (zugunsten Chinas) hineinbringen, auch in Bereiche, wo man Politik in anderen Kulturen nicht haben will. Etliche Konfuzius-Institute, mit denen die Chinesen kulturellen Austausch betreiben und ihre Kultur vermitteln wollen, wurden in Deutschland bereits wieder geschlossen, weil sie ihre kulturellen Aktivitäten dauernd mit politischen Aktivitäten verquicken.

Während bei uns (vielleicht ein wenig dekadent) Bürgerrechte im Fokus der Wahrnehmung stehen, sind es in China Bürgerpflichten. Das alles durchdringende „konfuzianische“ Pflichtgefühl der Chinesen kompensiert den Mangel an eindeutigen Rechten, Rechtsstaatlichkeit (und deren Durchsetzung) und Rechtsansprüchen. Der Mangel an Rechtstaatlichkeit und Rechtsansprüchen (und auch an abstraktem Rechtsdenken) führt dazu, dass sich Chinesen in der Durchsetzung ihrer Ansprüche und Interessen viel mehr auf persönliche Beziehungen verlassen. Das wiederum führt zu Patronage, Klientilismus, Ineffizienz und Korruption. Auf der anderen Seite führt es zu einer großen Verlässlichkeit in dieser austauschhaften Beziehungshaftigkeit. Das soziale Kapital des Chinesen ist „Guanxi“, seine (von anderen als solche wahrgenommene) Fähigkeit, Gefallen zu erwidern und zu erweisen (was bei uns unter anderem auch den „Vitamin B“ entspricht). Da Gunaxi die eigentliche soziale Währung in China sind, scheuen sich Chinesen, ihr Gunaxi zu verlieren. Damit einhergehend räumen sie auch ungern Fehler oder moralische Versäumnisse ein. Es gilt, das „Gesicht“ zu wahren. Angeblich ist Reue kein großartig internalisiertes Gefühl bei den Chinesen.

Während im persönlichen Verkehr das Guanxi gepflegt wird, sind Chinesen im anonymen öffentlichen Verkehr oftmals ohne Höflichkeit, Manieren, Etikette und Distanz. Die „konfuzianische“ Unterdrückung ihrer Gefühle nach außen scheint auch dazu zu führen, dass Wut- und Gewaltausbrüche von Chinesen in der Öffentlichkeit häufig vorkommen. Während das vergleichsweise harmlos bleiben kann oder, mitgefilmt und auf TikTok veröffentlicht, sogar komisch wirken kann, war es das während der Kulturrevolution oder anderer von Maos Kampagnen, die den „revolutionären Volksgeist“ aufrufen wollten, durchaus nicht.

Für diese wertvollen Einblicke bin ich dem Buch Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht von Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron dankbar. Außerdem muss ich, um, wie ich hoffe, viele andere Dinge besser zu verstehen, unbedingt mal Die seltsamsten Menschen der Welt: Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde von Joseph Henrich lesen. Darin geht es darum, dass die Menschen des Westens durch lange Akkulturation besondere Hirnstrukturen ausgeprägt haben, auf deren Grundlage sie dann wieder entsprechende Lebenswelten geschaffen haben, die dann wieder die Hirnstrukturen geprägt haben. Der westliche Mensch mit seinen speziellen kognitiven Fähigkeiten und Dispositionen sei also nicht der Mensch an sich.

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Wir müssen aber bescheiden sein, und zwar nicht nur heute, auch nach 45 Jahren, für alle Zukunft. In den internationalen Beziehungen müssen die Chinesen den Großmacht-Chauvinismus entschlossen, gründlich, restlos und vollständig beseitigen. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

Seit einigen Jahren zeigt man sich besorgt darüber, dass China weite (wenn nicht praktisch alle) Teile der Welt neokolonialisieren will. Aber dieser Prozess hat schon unter Mao begonnen. Im Rennen um Afrika zum Beispiel war schon Mao bedacht darauf, gehörig mitzumischen. Allerdings sind die Chinesen damals schon wie heute auf spezifische Widrigkeiten gestoßen. In Sambia (wie auch anderswo) wollten die Chinesen z. B. in geheimer Sache Rebellen ausbilden bzw. maoistische Rebellen heranzüchten. Aber anstatt die Chinesen mit einem Gastmahl zu empfangen, haben die Sambianer die Chinesen selbst fortwährend um Essen, Trinken und Zigaretten angeschnorrt. Die Afrikaner achteten während des Kurses nicht auf ihre Ausrüstung, zeigten wenig Durchhaltevermögen, „sie wurden gerne gelobt, hatten aber für Kritik wenig übrig“, und wollten nach drei Monaten nach Hause. So waren Maos Unternehmungen in Afrika für China hauptsächlich ein teurer Spaß. Die afrikanischen Regierungen waren geschickt darin, ihre Sponsoren auszuquetschen und die Rivalitäten zwischen den Supermächten auszunutzen. Die Chinesen haben ihrerseits Tonnen von Getreide nach Afrika geliefert, Kredite bereitgestellt, Agrar- und vor allem medizinische Hilfe geleistet. Diese Hilfsleistungen waren echt, im Sinne von ernst gemeint, vor allem sind sie aber unter einem politischen Vorzeichen (der eigenen Interessensvertretung) gestanden. Das galt nicht zuletzt für die politische Unterstützung und die Militärhilfen für genehme Regierungen (wie die von Kwame Nkrumah, Julius Nyerere oder Robert Mugabe) oder Rebellentruppen. Viele Afrikaner waren vom Maoismus und seiner antiimperialistischen Strahlkraft begeistert. Auch zur Ausrüstung der Black Panther in den USA gehörten neben schwarzen Lederjacken, Sonnenbrillen und Barrettmützen eine Mao-Bibel. Die chinesischen politischen Entwicklungshelfer wurden in Afrika auch als weniger arrogant wahrgenommen als die sowjetischen. Sie erschienen „brüderlicher“. Etliche Afrikaner, die China zur politischen Schulung besucht haben, zeigten sich jedoch nach einer Weile abgestoßen vom Rigorismus und Autoritarismus, von der Armut und der Öde des sozialen Lebens, die dort herrschten. Und nicht zuletzt vom chinesischen Suprematismus und Rassismus.

Niemals dürfen wir die hochmütige Haltung von Großmacht-Chauvinisten annehmen und wegen des Sieges unserer Revolution und einiger Erfolge bei unserem Aufbau überheblich werden. Jedes Land, ob groß oder klein, hat seine Vorzüge und Mängel. (Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung)

(Vor gut zehn Jahren habe ich wo gelesen, wie die alten Kader in China Angst haben vor ihrer eigenen Parteijugend. Sie selber haben China als armes Land erlebt, dass mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat – während die Jugend nur den beispiellosen Boom und Aufstieg kenne. Und deswegen extrem selbstbewusst bis größenwahnsinnig sei. In der nahen Zukunft wird diese Kaderjugend an die Macht kommen. Davor haben die heutigen hohen Kader eine Heidenangst.)

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Zu den letzten politischen Taten Maos zählte, dass er die Roten Khmer in Kambodscha unterstützt und sie in ihrem besonders radikalen Kurs bestärkt hat, in dem er offenbar die tatsächliche Verwirklichung seiner kulturrevolutionären Ambitionen gesehen hat. Nachdem die Roten Khmer in Kambodscha die Macht übernommen hatten, trafen Pol Pot und Ieng Sary (ein ranghoher Roter Khmer) Mao im Juni 1975 in China. Wenig ist über das Gespräch bekannt, unter anderem, da die Akten von beiden Seiten unter Verschluss gehalten werden und Pol Pot später seine Dolmetscher hinrichten hat lassen (einer der beiden dabei anwesenden Dolmetscher hatte Glück und konnte entkommen und berichten). Soweit man weiß, hat sich Mao bei den Roten Khmer damals darüber beklagt, dass „böse Kräfte“ den Kommunismus und die Kulturrevolution in China blockieren würden. Auf die Verwirklichung seines politischen Ideals hoffe er nun in Kambodscha. Pol Pot bekräftigte seinerseits, wie viel er Mao ideologisch zu verdanken habe.

Pol Pot war ein mittelmäßiger Intellektueller (ein Lehrer), der im persönlichen Umgang durch Liebenswürdigkeit und Charme auffiel. Er kam als Student in Frankreich mit revolutionärem Gedankengut in Berührung und schloss sich in Kambodscha den Kommunisten an (dass er nach Frankreich konnte und eine gute Ausbildung genoss, hatte er Verbindungen seiner Familie zur kambodschanischen Königsfamilie zu verdanken). Durch den Kampf im Untergrund wurden Pol Pot und die Roten Khmer fortwährend radikalisiert. Noam Chomsky weist auf die Bombardierung Kambodschas durch die Amerikaner im Vietnamkrieg hin, um eine weitere ideologische Radikalisierung der Roten Khmer und die alptraumhaften, auf Traumatisierungen beruhenden späteren Entwicklungen im Land erklärlich zu machen.

Auf jeden Fall traten die Roten Khmer gleich nach ihrer Machtübernahme 1975 an, das radikalste kommunistische Regime zu errichten, das die Welt je gesehen hat. Die Hauptstadt wurde innerhalb weniger Tage evakuiert (wobei um die 20.000 Menschen starben), die Bewohner aufs Land getrieben und zu Agrararbeitern umfunktioniert. Intellektuelle oder auch nur Personen, die die Insignien der Intellektualität trugen (z.B. Brillen) wurden getötet. Das unbegreifliche Ziel war es, (entgegen der fortschrittlichen Stoßrichtung und des Industrialisierungsoptimismus des Marxismus) eine agrarkommunistische Gesellschaft zu verwirklichen, in der zudem die alte kambodschanische Kultur wiederauferstehen würde. Im Schwarzbuch des Kommunismus wird versucht, das so zu erklären, dass der weltweite revolutionäre Elan Mitte der 1970er Jahre seinen Zenit hinter sich hatte und – in der Wahrnehmung radikaler Kommunisten – sämtliche kommunistischen Länder mit der Zeit einer Verkrustung oder Entwicklungen der Restauration anheimgefallen sind. Der Kommunismus der Roten Khmer sollte daher eine besonders radikale Flucht nach vorn sein. Das liegt nicht völlig außerhalb einer revolutionären Logik, zumal einer solchen, die sich bereits radikalisiert hat (und dann noch dazu von außen – in dem Fall eben von Mao – materiell und ideell unterstützt wurde).

Abgesehen von solchen Rationalisierungen (die solche Phänomene, wie man den Eindruck nicht loswird, nur ungenügend erfassen) kommt in der Person von Pol Pot offenbar der Charakter der Roten Khmer insgesamt zum Vorschein: intellektuelle Inkompetenz gepaart mit haarsträubender Paranoia und Größenwahn (noch dazu eventuell ein Charme und ein Schmeichlertum, das letztendlich auch sich selbst erliegt und sich auf sich selbst anwendet). Pol Pots Mitstreiter hielten ihm nachher zugute, ein „Patriot“ gewesen zu sein, der den bösartigen Einfluss Vietnams draußen halten wollte (zwischen Kambodscha und Vietnam besteht eine historische Feindschaft). Tatsächlich war Pol Pot ein (vietnamfeindlicher) Nationalist und eine Art Suprematist, was die eigene alte kambodschanische Hochkultur angegangen ist. Auch der – dem naheliegende – Rassist scheint in Pol Pot schließlich Bahn gebrochen zu haben. Das Regime der Roten Khmer war so rassistisch, dass einige Forscher in ihm sogar primär ein rassistisches (und nur irgendwie unter ferner liefen ein kommunistisches) Regime sehen wollen. Ziel war es, Kambodscha gegenüber der Außenwelt völlig zu isolieren, mit Ausnahme der Beziehung zu China, und eine glorreiche „neue Gesellschaft“ zu schaffen. Ein grenzenloser Hochmut und eine grenzenlose Selbstüberschätzung scheint darin zum Ausdruck zu kommen – und eine grenzenlose Paranoia, die den Terror, den Autoritarismus und den Sadismus, als Ausdruck ihres eigenen Gefühlslebens, nicht allein funktional einsetzt, sondern außerdem auch liebt und genießt (auch wenn sie letzteres wahrscheinlich verleugnet). Als aufgrund der Zerstörungen, die die Roten Khmer an der Gesellschaft und ihrer Infrastruktur anrichteten, die Wirtschaftsleistung des Landes schnell massiv sank und Versorgungskrisen auftraten (und er sich deshalb wohl auch naheliegenderweise in seiner Stellung bedroht sah), machte Pol Pot an allen Seiten Sabotage dafür verantwortlich und begann mit Säuberungsaktionen und Massenexekutionen innerhalb der eigenen Partei. Ganz anders als Mao, und praktisch alle anderen Politiker, war Pol Pot so verschlossen, dass er in der Bevölkerung lange anonym blieb, gleichzeitig aber – umso selbsterhöhender – als „Angkor“ („Organisation“) oder „Bruder Nummer 1“ auf sich referieren ließ. Erst kurz vor dem Ende seiner Herrschaft trat er aus dem Schatten und identifizierte sich in der Öffentlichkeit als eigentlicher politischer Führer – zur Überraschung selbst seines eigenen Bruders, der davon gar keine Kenntnis gehabt hatte. Das Ende der Herrschaft der Roten Khmer kam dann tatsächlich mit dem Einmarsch des Erzfeindes Vietnam in Kambodscha 1979. Bis zu einem Viertel der kambodschanischen Bevölkerung sind dem Regime der Roten Khmer zum Opfer gefallen, der Großteil davon durch die Entbehrungen aufgrund der Versorgungskrisen. Aus irgendwelchen Gründen, die zu beleuchten wären, blieb die Massenbasis der Roten Khmer in Kambodscha aber fortwährend keine kleine. Pol Pot starb 1998, nachdem er mit engen Mitstreitern im schwer zugänglichen Grenzland zwischen Kambodscha und Thailand gelebt und nach wie vor Schulungen für junge Rote Khmer abgehalten hatte. Bis zuletzt blieben alle beeindruckt von seiner Freundlichkeit und seiner inspirierenden Art.

Finanziert wurde er dabei von China, das ihn als Druckmittel gegen Vietnam aufrechterhielt (wie es auch die USA getan hatten). Und außerdem wohl wenig Interesse hatte an einer Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer-Herrschaft, an der es selbst seinen Anteil hatte. Kurz vor seinem Tod 1976, als einen seiner letzten politischen Akte, sandte Mao Zedong ein Glückwunschtelegramm an die kambodschanische Führung: Das chinesische Volk ist überaus erfreut darüber, die gewaltigen und tiefgreifenden Veränderungen zu sehen, die sich in Kambodscha abspielen. Wir sind zuversichtlich, dass unter der korrekten Führung der revolutionären Organisation Kambodschas das kambodschanische Volk noch größere Siege erringen wird. Kämpfen und Siege erringen, alles tiefgreifend und gewaltig verändern – Konstanten in Maos Denken und Empfinden, die im Alter (und eingedenk des eigenen relativen Scheiterns aufgrund der unrealistischen Ansprüche, die damit verknüpft sind, sich aber nicht eingestanden werden) bei ihm immer starrsinniger in Erscheinung getreten sind. Wie es aber auch heißt, wird der Mensch im Alter immer mehr und ist der Altersstarrsinn nur ein Ausdruck davon, dass er immer mehr zu dem wird, was er immer schon war.

Mao scheint im Alter melancholisch gewesen zu sein, dass die Revolution und sein „eigentliches“ politisches Ideal sich nirgendwo verwirklicht haben. Überall seien sie, sofern überhaupt in Angriff genommen, stecken geblieben. Er scheint es aber dann in Kambodscha unter den Roten Khmer erblickt zu haben. Wenn nach Maos Tod nicht Deng Xiaoping sondern die Viererbande die Macht in China übernommen hätte, wäre dort dann vielleicht – vielleicht sogar wahrscheinlich – dasselbe passiert wie unter den Roten Khmer in Kambodscha.

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Bereits in den letzten Lebensjahren Mao Zedongs bereite Abimael Guzman minutiös und geduldig den Angriff seines Leuchtenden Pfads auf den peruanischen Staat vor, der schließlich 1980 erfolgte – just in dem Jahr, als Peru nach 12 Jahren einer (linksgerichteten) Militärdiktatur wieder zu einer Demokratie wurde (weswegen die neue Regierung und Verwaltung aber heillos desorganisiert war – ein Umstand, den der Leuchtende Pfad ausnutzte). Guzman war selbst in den 1960er Jahren in China gewesen und hatte dort Mao zu verehren gelernt. In den 1960er Jahren war das linke Revoluzzertum in Peru, damals dem zweitärmsten Land Lateinamerikas, in der Luft gelegen, und Guzmans Sendero Luminoso war eine sozialrevolutionäre/maoistische Gruppierung unter vielen anderen. Spätestens ab den 1980er Jahren – und auch schon zuvor – schien Peru aber durchaus kein Territorium für eine maoistisch inspirierte Revolution abzugeben: es war eine Demokratie, es war von keiner fremden imperialistischen Macht beherrscht, die Verstädterung und das Bildungsniveau waren relativ hoch und vergleichsweise viele Peruaner gehörten der Mittelschicht an. Gleichzeitig waren aber viele Regionen des Landes unterentwickelt, die Verhältnisse waren (auch ideologisch und kulturell) halbfeudal und die Indigenen waren politisch nicht repräsentiert. Die Bedingungen für eine Revolution lagen also einerseits in der Luft, andererseits, und vor allem, aber auch nicht. Und keine andere der zahllosen linken Gruppen im Land ist von ihrer Rhetorik tatsächlich zur Aktion übergegangen. Der Sendero Luminoso hingegen zettelte praktisch einen langjährigen Bürgerkrieg mit verheerenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen an und stand zuletzt davor, Lima zu erobern, bevor er 1992 mit der Verhaftung von Abimael Guzman wie ein Papiertiger in sich zusammenfiel.

Abimael Guzman war ein Universitätsprofessor für Philosophie an der Universität in Ayacucho gewesen. In einer abgelegenen, benachteiligten, vor allem aber von der staatlichen Obrigkeit kaum berührten Gegend gelegen, wurde diese Universität zu einer Brutstätte für Revolutionäre (auch insofern die Absolventen der Universität sich schwer taten, Jobs zu finden, nachdem sie in ihre Ausbildung so viel investiert hatten). An Guzman habe sich früh eine hohe Intelligenz und ein gewaltiger Bildungshunger bemerkbar gemacht – allerdings auch eine beklemmende Verrücktheit: Ideen, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, verfolgte er mit einem religiösen Eifer und unter dem Gefühl einer höheren Berufung. Inspiriert durch die Lektüre von Marx, Lenin und vor allem Mao, und dem Geist der Zeit entsprechend, wurde er zum Revoluzzer, der die Indigenen und die Bauern befreien und das Land in einen paradiesischen Zustand überführen wollte. Oder aber, der vielleicht hauptsächlich „alles in die Luft sprengen wollte“ (wobei, wie Guzman es formulierte, der Maoismus lehrte, wie man alles in die Luft sprengen könnte und diesbezüglich konkrete Ziele sowie eine Mission dafür vorgab) und sich am Gefühl übermenschlicher Macht berauschen wollte. Ebenso seltsam und scheinbar widersprüchlich, wie er politisch verwurzelt war, war der Sendero Luminoso als politische Organisation. Als solche glich er eher einer Sekte, mit Abimael Guzman als Sektenführer. Während der Maoismus und Mao selbst, trotz allem Maokult und der Betonung der Genialität Maos, primär „die Volksmassen“ als eigentliche kreative und formende politische Kraft identifizieren, ist in der Ideologie des Leuchtenden Pfades die Person des Abimael Guzman das einzige politische Subjekt, der einzige Wille und die einzige Intelligenz, der sich jedermann zu unterwerfen habe. Der Individualismus aller anderen wird ausgelöscht. Der Sendero Luminoso eroberte bzw. „befreite“ von seiner ländlichen Basis her Bauerndörfer, indem er sie terrorisierte. Da es keine massive Ungleichheit gab, was den Landbesitz betraf und keine eigentlichen „Klassenstrukturen“, die sich als solche marxistisch oder maoistisch interpretieren ließen, nutzte der Sendero Luminoso vorhandene Zwistigkeiten in den Dörfern, um sie zu einem Klassenkampf hochzustilisieren und so dort Fuß zu fassen und ein Terrorregime zu installieren. Aufgrund der methodischen Planung durch Guzman, der Brutalität der Bewegung und dem Mangel an Alternativen, die er zurücklies, gelang es dem Leuchtenden Pfad in den jahrelangen Kämpfen tatsächlich, bis zur Hauptstadt vorzurücken und sie zu bedrohen.

Vor allen Dingen möglich gemacht wurde das jedoch durch das nicht allein stümperhafte, sondern ebenso unheimlich brutale, gewollt sadistisch anmutende Handeln des Staates und seiner Exekutivgewalt. In dem Bestreben, Rebellennester auszuräuchern, mordeten, terrorisierten und vergewaltigten Polizei und Militär in den ländlichen Regionen über Jahre hinweg, als hätten die Ereignisse ihrerseits bei ihnen eine latente Neigung zum rassistisch und sexistisch motivierten sadistischen Gewaltrausch freigelegt (wohl nicht zuletzt aufgrund der starken misogynen Traditionen im Land waren ihrerseits viele – und die brutalsten – Kämpferinnen des Leuchtenden Pfad und auch viele im innersten Zirkel rund um Guzman Frauen). Gedeckt wurde das auch durch eine eigenartige Indifferenz und Verständnislosigkeit der Regierungen und der städtischen Bevölkerung bzw. der Mittelschicht, die sich so verhielten, als würde sich der Konflikt gar nicht im eigenen Land abspielen. Angeblich wurden bis zu 30.000 Tote in den ländlichen Regionen von den städtischen Zentren gar nicht bemerkt bzw. registriert. Das half dem Leuchtenden Pfad und führte ihm neue Anhänger zu, die er seinerseits blutrünstig für seine Ziele opferte. Anfang der 1990er Jahre begannen Teile der Exekutive endlich, dem Problem nicht mit roher Gewalt sondern mit Polizeiarbeit zu begegnen. Nach einiger Detektivarbeit konnten sie Guzman 1992 in einem Haus in Lima aufspüren und verhaften. Rasch nach seiner Verhaftung rief Guzman den Leuchtenden Pfad dazu auf, die Waffen niederzulegen und erklärte, nachdem das Spiel  selber verloren war, den revolutionären Kampf, dem er Jahrzehnte seines Lebens und so viele Menschenleben geopfert hatte, kurzerhand für beendet. Der Sendero Luminoso brach wie ein Papiertiger in sich zusammen. Trotz der eigentümlichen Unsentimentalität, mit der Guzman den Sendero Luminoso dazu aufrief, den Kampf einzustellen, hielt er im Hochsicherheitsgefängnis weiterhin schwungvolle revolutionäre Reden. Er starb dort 2021, bis zuletzt bewundert und umrundet von seinen Frauen und weiblichen Mitstreiterinnen.

Einige Beobachter meinen, die Verbrechen des Sendero Luminoso hätten die aller anderer revolutionärer Bewegungen übertroffen und dass Peru ein ähnliches Schicksal wie Kambodscha geblüht hätte, hätte der Sendero Luminoso dort tatsächlich die Macht erobert. Auch wenn sich Guzman abfällig über Pol Pot äußerte, war der Leuchtende Pfad in einer gewissen Hinsicht tatsächlich noch radikaler als die Roten Khmer, indem er alle anderen, auch linke Gruppierungen und NGOs, die innerhalb der peruanischen Bevölkerung helfen wollten, ausnahmslos angriff und nichts tolerierte neben sich selbst – was man als weiteres Indiz dafür sehen könnte, dass der Sendero Luminoso gar keine eigentliche politische Gruppierung war. Wenn auch die meisten Revolutionäre von revolutionärer Gewalt sprachen und sie zu rechtfertigten suchten, sprach niemand außer Guzman von einer „Cuota“, einem notwendigen erheblichen Blutzoll, und einem Zoll von Menschenleben, die der Revolution gleich einem Todesgott unabdingbar und gleichsam mechanisch geopfert zu werden hätten. Wie es scheint, hatte Guzman offenbar Gefallen daran, Menschenleben in großer Zahl für ein Programm opfern zu können, was so ausdrücklich bei kaum einem anderen Ungeheuer der Geschichte deklariert wird. Der Sendero Luminoso hatte Züge einer endzeitlichen Bewegung, noch dazu kombiniert mit denen eines Todeskults. Im Sendero Luminoso scheinen sich eine Sekte, eine politische/sozialrevolutionäre Bewegung, eine Rebellenarmee und ein millenaristischer, chiliastischer Todeskult zu einem einzigen Ganzen vereinigt zu haben. Auch wenn sie nur als Fußnote in die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts eingegangen sind, waren der Sendero Luminoso und Abimael Guzman die vielleicht unheimlichste Erscheinung des Jahrhunderts.

Ebenso unheimlich legte der Leuchtende Pfad aber auch eine beklemmende Dysfunktionalität und Brutalität innerhalb einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft frei. Der peruanische Präsident zur Zeit der Verhaftung Abimael Guzmans, Alberto Fujimori, war ein korrupter Despot, der wegen zahlreicher Verstöße gegen die Menschenrechte zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und der allein Stoff für eine eigene Betrachtung sein könnte. Wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern (wie z.B. Guatemala) besteht Peru aus keiner Gesellschaft, sondern aus mehreren, die sich mit feindseliger Indifferenz gegenüberstehen, die schnell gefährlich und ausnehmend gewalttätig werden kann. Wiederum hat die Welt (und haben selbst wir in Argentinien) um den Jahreswechsel 2022/23 wenig davon mitbekommen: aber die tödliche Gewalttätigkeit, mit der die (irgendwie im Rahmen eines Kuhhandels) ausgetauschte peruanische Regierung und ihre Exekutive auf (friedliche, aber vorwiegend indigene) Demonstranten losgingen, haben verblüfft. Ebenso, wie die neue Präsidentin, die eigentlich eine (opportunistische) Linke war, schnell eher als extreme und gewaltbereite Rechte aufgefallen ist. Verblüffen tut beim Studium der Geschichte auch, wie leicht und unkritisch sich allerhand Peruaner(innen) für den Leuchtenden Pfad begeistert und sich ihm angeschlossen haben, und wie viele, eigentlich sehr gebildete und scheinbar selbstständig im Leben stehende Menschen sich Abimael Guzman sklavisch und selbstzerstörerisch unterzuordnen bereit war. Guzman galt im persönlichen Umgang als inspirierend, (aufgrund seiner apodiktischen Haltung) überzeugend und mitreißend. Seine Schriften und Pamphlete sind von einer (eigentlich schwer zu ertragenden) plastischen und dramatischen Sprache. Wie meine argentinische Familie meint, lieben die Peruaner das Drama und das Überreagieren.

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Als Mao 1976 starb, waren die Energien des Maoismus im Wesentlichen verbraucht, die letzten Jahre unter Mao, nach der Kulturrevolution, waren in China eine „bleierne Zeit“. Die Phase der antikolonialen Befreiungskämpfe auf der Weltbühne hatte sich in den 1970er Jahren im Großen und Ganzen abgeschlossen, die Abenteurerstimmung der 1960er Jahre in diversen Winkeln der Welt war einem nüchternen Pragmatismus gewichen, der Marxismus war ab den 1980er Jahren kein glaubwürdiges Framework mehr, mit dem Wirtschaft, Geschichte und Gesellschaft erklärbar schienen. Auch wenn die Viererbande, die Maos Politik fortsetzen oder gar verschärfen wollte, nicht ungefährlich war, waren weitere Kulturrevolutionen nichts, an denen eine Mehrheit innerhalb der chinesischen Bevölkerung und der chinesischen kommunistischen Partei interessiert waren. Mit Deng Xiaoping kam jene Politik ans Ruder, die Mao so entschlossen bekämpft hatte und deren Gefahr er überall witterte: die der „bourgeoisen Restauration“, bzw. der wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Liberalisierung. Auch wenn letztere weit weniger forciert wurde, ist China heute gesellschaftlich deutlich liberaler als zu Maos Zeiten (oder in seiner gesamten Vergangenheit). Da es seiner Vergangenheit und seiner grundsätzlichen sozialen Organisation letztendlich nicht wird entkommen können, ist eher nicht zu erwarten, dass China mittelfristig ein tatsächlich liberales Land werden könnte. In erheblichen Aspekten wird sich die chinesische Kultur, Politik und Mentalität antithetisch zu unseren Verständnissen im Westen verhalten. Wie groß und wie gefährlich das Konfliktpotenzial mit China tatsächlich ist, ist aber ungewiss: ebenso wie die weitere interne Entwicklung des Landes. Nach wie vor ist China fragiler, als es nach außen hin den Eindruck macht.

Wahrscheinlich kommt es auch deswegen unter der gegenwärtigen Regierung Xis zu einer Stärkung des Autoritarismus und einem Rückbau des Liberalismus. Die Xi-Regierung reaktiviert das Andenken Maos: allerdings aus nationalistischen Gründen und um einen Führerkult zu stärken. Eigenartig bleibt aber, dass Xi tatsächlich über die Vollmachten eines diktatorischen Herrschers verfügt. Das Erfolgsgeheimnis des China der Gegenwart wird unter anderem darin gesehen, dass sich die oberste Führung darauf geeinigt hat, nie wieder einen Diktator wie Mao mit all seinen irrationalen und gefährlichen Anwandlungen aufkommen zu lassen: die tatsächliche Führung liegt beim Kollektiv des Politbüros (etwas Analoges tat die Sowjetführung nach dem Tod Stalins). Wieso die chinesische Führung dieses Prinzip im Fall von Xi wieder aufgegeben hat, ist rätselhaft – weist aber auf nichts Gutes hin.

Als Gründer des modernen China ist Mao naturgemäß Bestandteil der chinesischen Folklore. Die Kommunistische Partei Chinas ist bedacht, Mao nicht wirklich vom Podest zu stürzen – sie würde sich dadurch ja selbst infrage stellen. Schon nach Maos Tod hat sie sich – ähnlich wie die Sowjetführung in Bezug auf Stalin – auf die Formel geeinigt wonach Maos Politik „zu 70 Prozent gut, zu 30 Prozent schlecht“ gewesen sei.

Maos Geist schwebt aber auch noch über der chinesischen Bevölkerung. Maoisten, die den kapitalistischen Kurs seit Deng Xiaoping ablehnen, gibt es in China seit Maos Tod; ihr politisches Gewicht unterliegt dabei Konjunkturen. Insofern Mao zwar Diktator war, aber auch Revolutionär, ist er Inspirationsquelle für alle, die sich gegen die chinesische Staatsmacht und die Ungerechtigkeiten des chinesischen Kapitalismus auflehnen, die sich für den Schutz der Werktätigen und von Minderheiten einsetzen. So sympathisch und rosig das auf den ersten Blick anmutet, handelt es sich bei diesen Maoisten aber um das, um was es sich bei Maoisten schon immer handelte: um doktrinäre, intellektuell beschränkte, an und für sich absurde Gruppen; keine fröhlichen Revoluzzer. Um etwas Intransigentes, Militantes. Um etwas einigermaßen – Böses. Was nicht heißt, dass das, wogegen sie sich wenden, gut ist.

Die Geschichte des Maoismus ist noch nicht vorbei. Aber sie war keine echte Erfolgsgeschichte. Die Misserfolge des Maoismus, und die der Versuche, den Maoismus zu exportieren, waren zahlreich; die Erfolge waren unvorhersehbar. Mao selbst war enttäuscht, dass es ihm nicht gelungen ist, den Maoismus tatsächlich auch nur in ein Land zu exportieren, geschweige denn im Weltmaßstab, trotz der Präsenz, die er überall hatte. Und dass es ihm auch nicht gelungen ist, China tatsächlich zu „maoisieren“. Was die Vorstellungen Maos von einer gelungenen Revolution eigentlich gewesen seien sollten, ist dabei so unklar, wie beim Marxismus selbst, dessen Vorstellung einer grenzenlosen Befreiung des Menschen notgedrungenermaßen eine zwar grelle, aber inhaltlich leere Halluzination bleibt. Auch insofern sich der Marxismus zu stark an einem Feindbild orientiert bzw. um ein Feindbild rotiert, von dem er sich abzugrenzen versucht – was dann aber etwas Negatives bleibt, auch wenn es sich als strahlende Positivität (vom „besseren sozialistischen Menschen“) ausgibt. Mao war – wahrscheinlich mehr als von allem anderen – besessen, ein „völlig neues“ China, einen „völlig neuen“ chinesischen Menschen zu schaffen. Dabei spielten paranoide Phantasien einer „Reinigung“ vom unsauberen Bestehenden eine zentrale Rolle. Bekämpft wurden so „bourgeoise“ und „restaurative“ Tendenzen im Menschen. Ohne sich aber die Frage zu stellen, inwieweit solche bourgeoisen Tendenzen beim Menschen normal und auch wünschenswert seien. Damit sind der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus etwas erheblich Menschen- und Lebensfeindliches.

Mao und der Maoismus haben eine tiefe Furche durch die Geschichte und durch das menschliche Sein gezogen. Heute aber gibt es nur ein Land, das von Maoisten regiert wird: Nepal. Jeder, der will, kann das näher beobachten. Der Maoismus, der Marxismus, der Kommunismus erscheinen, wenn schon, dann für zurückgebliebene Gesellschaften adäquat. Dementsprechend zurückgeblieben sind heutige Gesellschaften aber nicht mehr. Damit war insbesondere der Maoismus wohl eine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts, und blieb auf dieses Jahrhundert beschränkt (der Marxismus ist dabei breiter aufgestellt und wird als Referenz (wenngleich nicht als echte Macht) im politischen Denken und innerhalb des Weltanschaulichen wohl erhalten bleiben). Aber trotzdem beinhaltet der Maoismus ein starkes Prinzip der Transzendenz. Der Maoismus überschreitet daher potenziell auch sich selbst, und hat daher die Möglichkeit, dass er wiederkommt, oder eben als Prinzip offen und erhalten bleibt. Er adressiert das politisch Imaginäre, kraftvoll, wie eine Saugglocke scheint er einen imaginären Himmel und Horizont aufzuspannen. Das ist nicht schlecht und scheint wie ein ewiger Wert. Inwieweit er, in diesem Jahrhundert und in folgenden, so noch einmal aktiviert wird, können wir nicht wissen. Bislang scheinen in diesem Jahrhundert eher bewahrende Prinzipien – die Religion und der Nationalismus –, die man bereits als etwas beinahe Erledigtes geneigt war anzusehen, ihre Resurgenz zu feiern.

„So sieht sie aus, unsere Welt. Ein Kosmos voller Narben. Und ein Ende der Verstümmelung ist nicht abzusehen.“ – steht am Ende von Waldherrs Bruttoglobaltournee, einem von mir geschätzten Buch mit Reportagen von den Beschädigtheiten, die man in diversen Winkeln der Welt heutzutage findet. Jetzt, als ich diese Mao Zedong-Gedanken mit dem 12. Dezember 2023 in Argentinien abschließe, habe ich dieses Buch gerade nicht bei mir und kann mich nicht erinnern, ob da auch was über China drinnen steht. Über Argentinien steht was drinnen, es wird illustriert anhand von der melancholischen Rückwärtsgewandtheit seiner Gauchos und deren Kultur und Mentalität. Vorgestern, ausgerechnet zum 40. Jahrestag der Demokratie in Argentinien, kam ein neuer argentinischer Präsident ins Amt: Javier Milei; ein offensichtlicher Psychopath, so wie sie in jüngerer Zeit auf der Weltbühne als Politiker wieder in Mode gekommen sind.

https://dangerousminds.net/comments/the_revolution_will_be_glamorized_sharon_tate_models_mao_tse_tung_1967

Die Kunst denkt nicht

Jörg Immendorff, Daniel Richter, Albert Oehlen, Katharina Grosse, Arnulf Rainer oder Sigmar Polke, die derzeit in der Albertina Modern präsentiert werden, sind zweifelsohne erhebliche künstlerische Talente und echte Maler. Sie haben ihren Platz; das kann man nicht bestreiten. Allerdings kann das, was derzeit in der Albertina Modern gezeigt wird, nicht mithalten mit dem, was derzeit im BaCA Kunstforum hängt (Robert Motherwell). Während im Kunstforum Kunst hängt, die sich auch radikal will und sucht, hat sich die Kunst in der Albertina Modern ein wenig aufgegeben oder zumindest vernachlässigt; sie ist zwar Kunst, aber als Begleiterscheinung innerhalb der Gesellschaft; nicht eine, die sich triumphierend über die Gesellschaft erhebt und die Gesellschaft und ihre lärmende Aufdringlichkeit in die Schranken verweist. Allein bei Albert Oehlen scheint man da was aus dem Urgrund – bzw. dessen epistemologischem Korrelat: den Geistestiefen bzw. dem transzendentalen Imaginationsvermögen – aufzusteigen haben; etwas, das sich noch dazu in einer rätselhaften Überdimensionalität, in die wir nur partiell Einblick haben, zu entfalten scheint, so wie das bei letztgültiger Kunst ja ist (bei Albert Oehlen scheint man also, gemein gesprochen, etwas Aufsteigend/Emporkommend authentisch-voraussetzungslos Schöpferisches zu haben). Aber ich weiß nicht, ob Albert Oehlen das auch so versteht, oder aus dieser Intention heraus malt. Heidegger hat vor geraumer Zeit gemeint: Die Wissenschaft denkt nicht. Rettung (einen Ausweg für die Philosophie und für die Entfaltung des Geistes, für das authentische Denken) hat er dann deswegen in der Kunst gesucht, freilich in ihrer vergeistigtsten Form (Hölderlin). Seit in etwa dem Tod von Heidegger in den 1970er Jahren kann man aber wohl sagen: Die Kunst denkt nicht. Man kann allgemein nicht feststellen, wo die Kunst heutzutage groß oder tief denkt. Das ist ein Substanzverlust, der nicht einmal genau bestimmt ist. Er wird von den Kunsttheoretikern (die korrelativ dazu ihre beste Zeit auch hinter sich zu haben scheinen oder die zumindest nicht die gegenwärtige ist) in ziemlich äußerlicher Weise umkreist. Sie scheinen vergessen zu haben, dass Kunst eine Erscheinungsform des Geistes ist und dass ein Aufstieg oder Abstieg der Kunst daher notwendigerweise ein Aufstieg oder Abstieg des Geistes ist bzw. ebendarin zu suchen ist. So kommt in der besonderen Malerei von Robert Motherwell der Geist zum Vorschein, der sich selbst begegnet – deswegen ist sie außerdem auch rein als Malerei besser als Malerei, die weniger Geist verkörpert. Damit der Geist sich selbst begegnen kann, muss er sich extrem vertiefen. Der Geist muss in die Malerei stürzen und in den Abgrund der Möglichkeiten, die in ihr liegen. Nur dann kann Malerei den Geist des Betrachters absorbieren und ewig lebendig sein. Indem in ihr ein ahnungsvoller Abgrund gähnt – der aber das reine Imaginationsvermögen und dessen offener Raum und dessen lebendige Sogwirkung ist. Die Malerei muss also denken, die Kunst muss also denken, nur in dieser Bewegung eröffnet sich in ihr der abgründige, absorbierende Raum in all seiner unermesslichen Tiefe, aus der dann Motive an die Oberfläche gespült werden und das ganze dann einigermaßen fixiert wird. Man hat im echten Kunstwerk das einigermaßen Fixierte und Eindeutige, das im Offenen oszilliert, die klare Konturiertheit und intellektuelle Präzision in der Bestimmung der Gegenstände der Welt, die dann aber gleichzeitig wieder in der Offenheit und Rätselhaftigkeit des Welthintergrundes verschwimmen bzw. mit ihm verschmelzen – gleichzeitig wird durch diese Beleuchtung aber auch der tiefere, rätselhafte Welthintergrund fassbarer und konkreter gemacht, der Scheinwerfer auf ihn draufgehalten. Durch die Kunst wird also Licht, in der Kunst erscheint die Welt. Indem sich die Kunst z.B. bei Motherwell durch das intensive, suchende Denken geklärt hat, erscheint sie in ihrer reinen Form. Das Charisma der Malerei von Motherwell bzw. aller so genannter großer Malerei und großer Kunst liegt darin, dass in ihr scheinbar voraussetzungslos und unmittelbar was erscheint. Dem Künstler ist es gelungen, zum transzendentalen Imaginationsvermögen vorzustoßen und das transzendentale Imaginationsvermögen anzuzapfen, das dann der reine Hintergrund ist, in dem das reine Motiv erscheint. Und beide verweisen unmittelbar aufeinander. Das ist dann die Perspektive der Erleuchtung. Dass ein Motiv in einem Hintergrund erscheint, ist die Struktur der Welt. In der Perspektive der Erleuchtung erblickt man, wie sich Motiv und Hintergrund ständig wechselseitig durchdringen, interdependent sind, sich ineinander spiegeln und dadurch ihren jeweiligen rätselhaften Wesenskern ein wenig erhellen. Das heißt: man sieht dann die totale, dichte Struktur der Welt, in ihrer fraktalen, aufeinander verweisenden „Unendlichkeit“. Man meint vielleicht, die Erleuchtung sei etwas Undurchsichtiges, Geheimes, ein Geheimnis aus dem fernen Osten. Aber im Wesentlichen sieht man in der elementaren Kunst die Welt aus einer solchen erleuchteten Perspektive. Es sind reine Motive, die in einem reinen Hintergrund erscheinen und sich beide wechselseitig durchdringen. Die Erleuchtung ist die höchste Stufe des Denkens und der Verwirklichung des Geistes. Heidegger hat sie gesucht, sie aber nie ganz gefunden, dafür aber in interessanter Weise in all seinem philosophischen Streben umkreist. Heute scheint es nicht mehr so zu sein, dass nach einer solchen Möglichkeit gesucht wird, in der Kunst und anderswo. Bei Basquiat begegnet sich (vielleicht nicht ganz das Denken aber) zumindest die expressive Fähigkeit zum Malen selbst. Basquiat war scheinbar das einzige gewichtige Genie, das nach dem Tod von Heidegger in der Malerei aufgetreten ist, während vorher dauernd gewichtige Genies in ihr aufgetreten sind. Es ist aber zu früh gestorben, als dass man sein Gewicht tatsächlich beurteilen könnte. Ich frage mich, warum solche Vertiefungen in der Kunst nicht mehr stattfinden, angestrebt werden oder zumindest nicht gelingen. Trotz allem Nachdenken über diese Frage habe ich immer noch keine befriedigende Antwort gefunden, warum die Kunst nicht mehr denkt. Die herkömmlichen Erklärungsversuche – der Überdruss der Kunst an sich selbst angesichts einer unästhetischen Realität; die Erschöpfung der inneren Möglichkeiten der Malerei; die Nivellierung durch den Kunstmarkt; die Gravität und Pfadabhängigkeit des Niveauverlustes in der Kunst und in der Kunstrezeption, der sich verstetigt; der sozialistische/feministische Unsinn von der Überflüssigkeit des Genies – scheinen letztendlich ungenügend (auch insofern das alles Mächte sind, die als solche Gegenmächte produzieren würden), da sie äußerlich sind, und scheinbar nicht das Zentrum der Kunst betreffen. Denn das Zentrum der Kunst ist das Denken, ist die Begegnung des Geistes mit sich selbst und ist die authentische Begegnung mit dem transzendentalen Imaginationsvermögen, aus dem alles entspringt und aus dem heraus alles originär erscheint. Das Zentrum der Kunst liegt im Subjekt und im Geist, also in Territorien, die von der Gesellschaft und vom Zeitgeist relativ wenig beeinflussbar sind/sein sollten. Damit liegt das Zentrum der Kunst aber auch im Gehirn. Vielleicht haben die Mediennutzungsgewohnheiten und die Akkulturationen in den letzten Jahrzehnten die Gehirne verändert und die Subjekte deformiert, dass aus ihnen kein Tiefsinn mehr rauskommt/entspringt. Oh ja, so wird das sicher sein! Aber –

Robert Motherwell and the Dweller on the Threshold

Tension, forces, confinement and liberation are transcendental categories. In his signature works, Robert Motherwell paints ovals and thick bars that seem to express just these transcendentals, although they officially are Elegies to the Spanish Republic (the ovals are meant to be testicles of a bull, likely in a fight). They are breakthrough paintings, at any rate. An artist has managed to break through the wall and construct his own territory, or energy field. Another one of Motherwell´s series are the Opens: largely monochromous paintings with rectangular interferences that truly open stuff up and dynamise things (they would become more complex over the course of the years). Another transcendental category, very basic, probably that of encounter. Although Robert Motherwell had initially studied philosophy and likely was the most philosophically educated among the Abstract Expressionists, the metaphysics expressed in his paintings seems to come more tacit than in those of many of his peers. They are, probably, metaphysically less strong, bold and important than the paintings of Pollock, Rothko or Newman. But Motherwell was, above all, a supreme abstract painter, i.e. an artist. His intellectual purity expresses itself in the purity of his painting. He is a dweller on the threshold were art remains art and art becomes metaphysics. Or, he dwells in both of them territories.

Mark Rothko and Purity of Vision

The truth-seeker strives to get to know ultimate reality, the most fundamental reality. If this quest is philosophical and metaphysical, it will also involve introspection. Therein, the truth-seeker will also encounter the truth of his own mind, as an integral element of that reality. Such a quest for truth will lead to purification. If you are lucky, you will finally encounter a purified vision of fundamental reality and a purified vision of the mind. Mark Rothko aimed at expressing “universal truths”. In the world of his time, there were no universal truths anymore. Actually, only in medieval, in ancient, in atavistic times there have been lifeworlds and experience realms that were wholly integrated in themselves, unitarian and universal (or so we are inclined to think). Ours is a time of partial truths and accumulations of expert knowledges. Since man cannot bear living in an environment of partial truths, Rothko sought for expressing universal truths, yet at the basis of a contemporary, appropriate worldview and knowledge about the world. (And, I reiterate, what is likeable about the Abstract Expressionists, respectively about modern artists, is that, in apparent contrast to contemporary artists, they wanted such things.) For Rothko, the artist has the task to create a “plastic equivalent to the highest truth” and not to reproduce the specific details of a certain object. Since he was also seeking for truth in art, i.e. the medium in which truth can be expressed in specific ways, he was seeking for an absolute power of painting in itself, revealed not in reference to something, but in reference to itself. Rothko struggled a lot. Like the other major Abstract Expressionists it took him many years, decades to come up with the ultimate results that then became his signature paintings. (Because of this, the art of the Abstract Expressionists, and of the moderns in general, has the charisma of being born out of a transcendent effort, of having been through something, whereas contemporary art has not and therefore deems intellectually powerless.) If you want to get to know reality and the reality of your mind in a fundamental way, you have to be very active and contemplative. It will require great effort. You have to progressively deconstruct traditions, inherited knowledge, ideologies, affiliations, etc. You will finally encounter a vision in which there will be not very much to see. It will be some rather undifferentiated primal ground. Yet out of the primal ground emerges everything; virtually, the primal ground contains everything. In terms of the reality of your mind, you will encounter the primal ground of the power of imagination, the basic capacity of imagination. If you have managed to encounter this in such a fundamental way, you will finally be in control of reality and of the power of imagination. You will have achieved versatility. You will be enlightened. The signature paintings of Rothko are expressions of fundamental reality and epiphanies of the purification of mind.

The primal ground is something primitive and tranquil, but also, and foremost, something extremely sophisticated and very active, agitated. The individual visions of the primal ground are somehow similar to each other, but they are also different and differentiated from each other. Also Ad Reinhardt and Barnett Newman came up with visions of the primal ground (respectively practically all the Abstract Expressionists sought to come up with such a kind of thing, with something primordial). I personally prefer Newman over Rothko. Newman´s signature paintings contain the “Zip”, a narrow vertical flash that emerges over an undifferentiated ground. Such truly is the basic structure of the world: a motif emerges out of, or within, a background. With the right mindset, you understand them both. (“Enlightenment” means: you can permanently switch between motif and background, you oscillate between motif and background: this is then the desired vision of (an internally highly differentiated) “unity” of all things.) Rothko´s paintings are more unclear. They are less internally differentiated. It is said that Rothko wanted to express the Sublime, the Divine, or that he wanted to express harmony. He wanted to create pacifying environments. He wanted to do something  purely meditative. In contrast to this, Newman´s paintings are actually unsettling, even terrifying. They express the IN THE BEGINNING was the word, the Let there be light. They express basic creation, they express the event, something that rips, something that tears apart. Newman´s paintings express the Logos. With the “Zip”, the possibility of narration, of rationality, and therefore of eternal agitation, uneasiness, turmoil and tumult enters. Rothko´s paintings are pre-narrative. They are more oceanic or, if you may, they are more mud-like. Rothko´s paintings are more formulaic, they are more boring, they are weaker. They are, in their repetitiveness, even a bit silly and a bit stupid. But Rothko´s paintings are considerably more popular than Newman´s. Rothko is some kind of household name; Newman is not. If you are into sarcasm you may think this is so because Rothko is “less intellectual” than Newman. People do not want to be confronted with the Logos, especially not if it comes as an aggressive flash. They want to be lulled. Yet, first and foremost, Rothko, maybe more than Newman, actually has managed to create something truly iconic. Rothko´s paintings are more like – paintings (Newman´s actually are more conceptual). Maybe more than Newman´s, Rothko´s signature paintings are iconic, like Warhol´s soup cans, Dali´s Camembert watches, Raphael´s little angels in the Sistine Madonna, Michelangelo´s Creation of Adam, Leonardo´s Mona Lisa, or Duchamp´s urinal. If you have managed to come up with something iconic, then you have most likely triumphed over other frailties that there might be. In his comparative superficiality, Rothko is perhaps more profound, deeper, universal than Newman. (Superficial as I am, I still prefer Newman over Rothko.)

Clyfford Still and Radical Otherness

Clyfford Still makes the rest of us look academic.

Jackson Pollock

I reiterate: If you want to see the world aright, you need to get in mimetic touch with that that is different from you, you need to embrace the other. By permanently and consecutively embracing the different, the other, your vision will become more and more complete, your vision will become more and more one. There will be no more internal stratification inside you, just an open field (with, to be true, largely heterogenous elements, yet their boundaries will become fuzzy and blurred, i.e. open for interaction). E pluribus unum, or so they say. Clyfford Still was very different, very otherwise. Clyfford Still stands in the corner of another room, enigmatically. It is not easy to decipher what such a figure actually wants to say, it does not directly communicate; it is vibrating and humming in itself, obviously it is alive, but most obviously it is something different from us and from anything we commonly know. Clyfford Still is very original and very different, very unlike anything we know. Maybe it is us who are different – and forsaken – , and he is the one more close to the Real Thing, to the real Real. Or so we might think. Jackson Pollock said, Clyfford Still made the rest of the American painters look academic. He was a forerunner of Abstract Expressionism, developed his “style” in reclusiveness, and he disliked Abstract Expressionism once it had become fashionable, and, as he saw it, sterile and formulaic. So he withdrew from the scene. Ideally, Still´s largely monochromous paintings contain flame-like, wedge-like or eye-like elements that shake up the silence of the undifferentiated primal ground, but add another silence into it, or a language that mumbles, partly comprehensibly, partly unintelligibly. They are the (relative) silence of Otherness, the enigma of Otherness. While the other Abstract Expressionists come up with something vivid, or Barnett Newman comes up with a flashing Zip, out of Clyfford Still´s primal ground emerges some primal, originary Otherness. Silent, though not mute, reclusive. An all-over eye, that seems to envision the entire scene and its beyond. It is face-like, like the paintings of another one who was a radical Other: Wols. The paintings by Wols and by Clyfford Still are like faces of Otherness. We gaze into them, they gaze into us. In some way we do meet, in some other way we don´t. Very different, very otherwise, all that. What is striking is the in-your-face character of these painted faces, of the paintings both by Wols and by Still. They come unfiltered and unmitigated. The poststructuralists (Derrida) say that presence does not exist, but the paintings by Clyfford Still and by Wols are of an unmistakable presence. They seem to be presence itself. They shake up poststructuralism. They confront any systems of meaning with some strange, evasive super-meaning; or with an ultra-meaning and an infra-meaning. They are an extension to ordinary meaning. Clyfford Still probably was the best abstract painter who ever existed (or, upon reflection, Mondrian might have been). Yet, maybe therefore, he is not, or cannot be, a household name like Pollock, Rothko or de Kooning. There seems to be an additional level of abstraction to his paintings; in his paintings there seems to be a meta-level of abstraction and Abstract Expressionism. This is what the ordinary eye cannot truly bear: the eye of radical Otherness, the faces of radical Otherness. The art of Clyfford Still exemplifies radical Otherness.

Concerning Lacan´s “Great Other”, I do not know how individuals like Clyfford Still could be intimidated by the uncanny complexity and intransparency of any “Great Other”. Rather, it will be them who intimidate any other Great Other. If we take the “Great Other” to be language, customs, artistic styles – in the final instance: God – i.e. stuff that preforms and predetermines the individual and its modes of thought and expression, then individuals like Clyfford Still function in some way as the register of the Real to the Symbolic register that holds the Great Other. I.e. they are what evades the register of the Symbolic and predetermined language and modes of expression. They are something else. They are the Great Other to the Great Other. They are originary, and they seem to be primary to the register of the Symbolic (or, they seem to be an uncanny return of the Symbolic that has digested itself and now confronts the Symbolic that is still in place with the radical alterity that lies (not only) within the Symbolic (but in all the registers) – so, in some way they are near to the closure of the entire system of the registers). Lacan says the Great Other is barred. Although we may be inclined to think so, the Great Other is not complete and not identical to itself, just as we aren´t. The Great Other is barred. This kind of non-identity you seem to have in the art of Clyfford Still as well. But this non-identity seems to be much more natural and identical to itself, not as helpless as the non-identity in the Great Other, or inside us, whose non-identity evolves out of our inability to come to terms with ourselves. This is so because otherness is the inherent nature of it, and of such individuals who serve as the Great Other to the Great Other. Their otherness and alterity is primary. They are their own Great Other. They embody their own alterity, they are the embodiment of alterity. They are in natural touch with the other – and therefore with the entire universe. The common categories are: the self and the non-self (the other). But inside them, the self and the other are not separated. (You gotta keep em separated, sing The Offspring. But such individuals, who serve as Great Others to the Great Others, they do not.) Frank Stella says that Clyfford Still´s art seems to come effortless, originating from another place. In this effortlessness, it is unlike any other painting, and Clyfford Still is unlike any other painter. Clyfford Still himself says, in his paintings there should be expressed the amalgamation between life and death. What could be more different, more otherwise to each other than life and death? In the paintings of Clyfford Still you gaze into radical alterity, into radical Otherness.

Jackson Pollock and the Wormhole of Creativity

I reiterate: the goal of the creative process is to enable a transformation. The supreme creator attracts matter of all kind, internalises it, makes it his interior; via heavy intellectual concentration, via introspection, under its own weight and gravity it collapses into a black hole; this will open up a hyperdimensional channel through ordinary spacetime fabric, a wormhole; which will then eject the transformed, channeled, dimensionally challenged, warped interior in a complete other region in space and time, via a white hole. This is, then, a true transformation. Though we have recently managed to detect black holes, no one has ever seen the astronomical object of a white hole. But in creative processes, in the arts, you can, from time to time, encounter white holes. The signature paintings of Jackson Pollock, the drip paintings, are probably most exemplary of such white holes.

Pollock, a ruminative, cautious, uncommunicative fellow, seeked to gain access to the spiritual, the “unconscious”, via ancient symbols, totems, and the like. He was less interested in “figuration” or “abstraction” per se but wanted to express his interior via painting. He also wanted to paint “American”, for which there had been no actual template at that time. Well before he had come up with his drip paintings he already had been the only American artist who was able to free himself from the hitherto predominant European influence and to paint in a truly independent manner. He was the only American painter at this time who was able to achieve this. Like Picasso, Pollock was a great painter in the classical sense. Laypersons may suspect Pollock´s or Picasso´s paintings as “something a child could do”. But it can not. Both Pollock and Picasso were great painters that were in need to push boundaries. Via their breakthrough inventions, they seemingly eliminated boundaries and created a new spacetime, a new dimensionality, where stuff unfolds in all kinds of manners, according to the logic of these dimensionalities. That´s when they became greater than just “great”.

Pollock was explosive and highly energetic all along, but he was also highly introspective and creatively introverted. He was sucked into the abyss of his own creative introspection. When he finally channeled through the wormhole and released his energy through the white hole of his drip paintings, he actually managed to “fully express himself” and “turn his inside out”, to fully deliver, via his action painting, his “unconscious”. There is no distance anymore between himself and his paintings, between his expressions and that what is expressed. That was something new again. From a black hole nothing gets out and into a white hole nothing gets in. A white hole is a permanent explosion. Pollock´s drip paintings are said to be both ecstatic and monumental. They are both dynamic and frozen in a statuariness; they are, creatively, tranquil and calm. The are complete. They are, maybe, the world process from a God´s perspective. From a more mundane standpoint – which is yet extremely elevated and something in its own right as well – Pollock managed to do paintings that cannot be counterfeited or duplicated. What a wormhole! What a white hole!

Black holes, white holes and wormholes are logical, though dimensionally different from spacetime as we know it, or they are spacetime in reverse. Their core, their most interior, remains mysterious nevertheless. Scientists suspect that around a singularity anything can happen, as the common laws of the physical universe break down at this point. In the drip paintings of Jackson Pollock, anything happens.

Pollock, they noted, had a unique perception. He could see moving things and movements per se. He could see things from all angles. He had a superdimensional perception. Art, they demand, should let you gaze into another dimension. In the case of Pollock you see the entire dimensionality of the creative process. That is to say: let your stuff, via introspection, collapse into a black hole, dimensionally channel it though a wormhole, and release it through a white hole, unexpectedly, in some completely other part of the universe. This makes, then, a true transformation.