Gedanken zu Pascal

Atheismus ist das Zeichen eines starken Geistes – aber nur bis zu einem gewissen Grade.

Gedanke 69

Es ist wahr, dass es Qual bereitet, wenn man in die Frömmigkeit eingeht. Aber die Qual kommt nicht aus der Frömmigkeit, die in uns zu entstehen beginnt, sondern aus der Gottlosigkeit, die noch in uns ist.

Gedanke 764

1 Schau, ein gähnender, weiter Schlund tut sich auf: das ist der Abgrund der Existenz. Sturmumweht, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen kämpft sich der Wanderer mühevoll den Weg durch die ewige späte Dämmerung, während es rings um ihn saust und braust. Im späten November hofft er, in das bescheidene Zentrum von all dem vorzustoßen, eine kleine Hütte, in der das Licht brennt und in der es ein wenig warm ist. Doch der Weg ist weit und von ringsumher scheinen Gespenster zu pfeifen. Jetzt wieder eine Böe – die Wanderin duckt sich und zieht die Mütze tiefer ins Gesicht. Gegen die Brandung ruft sie verzweifelt, doch entschlossen: „Wunden erlitt ich im Kampf für die Freiheit unseres Landes, dies Auge verlor ich im Kampfe für euch; gebet mir einen Führer, der mich zu meinen Kindern führe, denn zerhaunes Kniegelenk trägt den schwachen Leib nicht mehr.“ Und tatsächlich — aber was stammle ich da daher? Bin ich denn der einzige, der die Existenz kennt, das heißt, eine schwache, laienhafte Vorstellung davon hat? Lassen wir doch denjenigen beredt sein, welcher in den Abgrund der Existenz viel tiefer geblickt, und der sich viel eloquenter auszudrücken weiß!

2 Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich in einem Winkel dieser unermesslichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und jener, die mir folgt. Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann. (Gedanke 1) Der aber, der das so sagt, ist Blaise Pascal.

3 Die Existenz ist einerseits absolut, andererseits relativ, entwickelt sich über die Kontingenz, kommt aus der Nicht-Existenz und verschwindet in der Nicht-Existenz. Sie ist instabil, bedroht und relativ. Wir stellen uns aber vor: eine Mauer des Absoluten, an der die relative Existenz sinnvoll anschlägt und eine sinnvolle Begrenzung findet. Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das verschlungen ist in die Ewigkeit, die ihm vorausging und die ihm folgt, den geringen Raum, den ich ausfülle, und selbst den, den ich sehe, der in der grenzenlosen Unendlichkeit der Räume versinkt, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, dann erschrecke ich und wundere mich, dass ich mich hier sehe und nicht dort, warum jetzt und nicht irgendwann. Wer hat mich dahin gestellt? Durch wessen Befehl und Führung sind dieser Ort und diese Zeit für mich bestimmt worden? Memoria hospitits unius diei praetereunitis. (Gedanke 14) Dieses Absolute mag da sein: Gott. Dieses Absolute mag da sein: die Religion.

4 Das ist unser wahrer Zustand. In ihm sind wir unfähig, sicher zu wissen und absolut nichts zu wissen. Wir treiben über einen weiten Mitten-Raum dahin, stets unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen getrieben. Wo immer wir an eine Grenze zu geraten und festen Fuß zu fassen vermeinen, gerät sie in Bewegung und entgleitet uns; wenn wir ihr folgen, entzieht sie sich unserem Griff, entschwindet uns, in ewiger Flucht vor uns. Nichts bleibt vor uns stehen. Das ist der Zustand, der uns natürlich ist und trotzdem zu unseren Neigungen im größten Widerspruch steht; wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf. (Gedanke 315)

5 Religion bedeutet: „Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt in der Befolgung der Regeln und Zeichen“. Nehmen wir an, das was außer uns liegt, was älter ist als wir, was die Metaphysik unserer Existenz anlangt, sind Regeln und Wahrheiten; ist eine (von uns unabhängige) Ordnung. Dann verleiht das unserer Existenz eine grundlegende Solidität. Das tut die Religion und tut der religiöse Existenzialismus, deren Prototyp Pascal ist.

6 Beim nicht-religiösen Existenzialismus hingegen ist der Mensch mit dem Nichts konfrontiert und der Abwesenheit von höherer Wahrheit; das andere zur Existenz ist also nicht Gott oder die Wahrheit, oder das Ideal, sondern das Nichts, oder das Chaos, die Instabilität, die Unzuverlässigkeit. Das eröffnet gewisse Perspektiven und Flexibilitäten, die der religiöse Existenzialismus so nicht (zumindest nicht unmittelbar) hat.

7 Aber auch wenn Gott tot sei, ist es doch der nicht-religiöse Existenzialismus, dem vergleichsweise das Überzeitliche und die Gravität zu fehlen scheinen (Sartre als Erscheinung des Zeitgeistes der 1950er Jahre zB). Er scheint eine dünne Suppe und löst sich schnell auf, ist schnell gegessen. Seine avantgardistischen Weisheiten von damals sind heute längst Trivialitäten. So verliert er seine Konsistenz. Betrachte im Gegensatz dazu, wie fest der Mensch bei Kierkegaard angespannt ist, beinahe bis zum Zerreißen! Diese Spannung hält bis heute an, und wird auch nie nachlassen. Denn bei Kierkegaard und seinem religiösen Existenzialismus ist die relative menschliche Existenz nicht an das nihilistische Nichts gebunden, sondern an das absolute Alles, an die Instanz Gott. So zittern diese Stahlseile in der Ewigkeit. Die Erregung über diese Spannung zwingt mich, die Feder niederzulegen. Ich vermerke nur noch schnell: Der Prototyp des religiösen Existenzialismus aber ist Pascal.

8 Neulich stoße ich auf einen linken, subversiven Theorieversuch. Linke, subversive Theorieversuche, fällt mir auf, leugnen immer wieder gerne, dass es tatsächliche Wahrheit und Verbindlichkeit gäbe. In einem naseweisen Gestus entlarven die linken, subversiven Frevler alles, was solide und von offenbar höchster Materialität ist, als „Konstruktion“, die im Rahmen von „Praktiken“ etabliert werde, und hinter denen, in der eigentlichen Instanz, ein bloßer Willensakt, eine bloße Willkür der „Macht“ und „Herrschaft“ stecke. Aber das sei eine Täuschung und in Wirklichkeit lösten sich diese Materialitäten gleichsam in Luft auf. Und die linke, subversive Theorie kämpft gegen die etablierte „Macht“ an, um sie zu stürzen, und dann, wie sie meint, einen unendlichen Raum der spielerischen Möglichkeiten zu eröffnen, wie Dinge und Verhältnisse sein können bzw. wie sie ausgestaltet werden können. Ihre Haltung, nirgendwo Wahrheit zu vermuten, steht damit im Zusammenhang, dass sie das, was etabliert ist und was „herrscht“, delegitimieren will, ihm den Boden – sogar den metaphysischen Boden – unter den Füßen wegziehen will. Wenn die linken, subversiven Theoretikerinnen, die Lenins, dann aber selbst an der Macht sind – und das ist es ja, was sie gemeinhin wollen – , was sagen sie dann plötzlich? Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist! Dann heißt es plötzlich nicht mehr: Eine andere Welt ist möglich! ach was, viele andere Welten sind möglich! Oder: Das „System“ – in dem Fall das kommunistische System – kann ganz einfach durch ein anderes System ersetzt werden! Nein, so spielerisch geht es dann auf einmal nicht mehr zu. Dann beginnt ein neues Zeitalter doktrinärer Wahrheiten.

9 Will also sagen: Ohne die Vorstellung von Wahrheiten und von Verbindlichkeiten, von Idealen usw. kommen wir doch schwer aus. Ich selber bin ja extrem subversiv und rufe zur Revolution auf. Ich mag die Radikalität und ich schaue gerne diversen Arschlöchern zu, wie sie alles durcheinanderwerfen und die Stühle fliegen lassen. Aber ich habe auch eine ausgeprägte Ehrfurcht in mir und ein natürliches religiöses Sentiment. Ich verstehe die Ideale und ich verstehe das Heilige. Und so erblicke ich im Universum eine große Ordnung, der ich mich ehrfürchtig unterwerfe, oder eigentlich nur: die ich ehrfürchtig anschaue, und der ich positiv gestimmt und vertrauensvoll entgegentrete. Chaos und Revolution mag ich nur auslösen, um einen unbefriedigenden Zustand in eine neue Harmonie hin zu überführen. Ganz offensichtlich ist auch das Weltall eine Ordnung (und daher eine dahintersteckende Wahrheit). Ganz offensichtlich ist auch das Weltall ein Raum mit Freiheitsgraden und ein Ort des Chaos. Es ist ein Chaosmos. Ich bin grundsätzlich mit dieser Welt zufrieden, so wie sie ist. Und so mag ich sowohl die Ordnung, die ich spiritualisiere, und die Freiheit, die mir natürlich erscheint. Andere, wie zum Beispiel Pascal, waren mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden, und so lehnen sie entweder das eine oder das andere ab. Ich glaube nicht, dass das richtig ist.

10 Die kürzlich verstorbene russische Komponistin Sofia Gubaidulina meinte: Ich bin überzeugt, dass die Kunst Hauptwurzeln hat, ob heidnisch oder ob es irgendwelche anderen Konfessionen betrifft, und zwar auf einer Dimension, die uns verbindet. Mit Vollkommenheit, absoluter Wahrheit, die unerreichbar ist, aber immer existiert. Wahrheit ist etwas nicht bloß logisch oder rational Erfassbares, sondern auch etwas Spirituelles. Wenn man sich eingehend mit Dingen, die Hand und Fuß haben sollen, beschäftigt, so wie die Gubaidulina, gelangt man in einen spirituellen Raum, in einen intuitiven Raum, wo das Verhältnis zur Wahrheit spiritualisiert wird. Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott, meinte Werner Heisenberg, der Entdecker der Unschärferelation.

11 Es gibt einen langen, seltsamen Kampf, wenn die Gewalt die Wahrheit zu unterdrücken sucht. Doch alle Anstrengungen der Gewalt können die Wahrheit nicht schwächen und dienen nur dazu, ihren Glanz zu erhöhen. Alles Licht der Wahrheit vermag der Gewalt keinen Einhalt zu tun, es reizt sie nur noch mehr in ihrem Zorn. Wenn Macht gegen Macht kämpft, dann vernichtet die stärkere die schwächere; wenn Rede gegen Rede steht, dann wird die wahrheitsgetreue und überzeugende die zuschande machen, die nur Eitelkeit und Lüge ist. Gewalt und Wahrheit aber vermögen nichts gegeneinander. Jedoch ist daraus nicht zu folgern, sie seien einander ebenbürtig. Es besteht vielmehr zwischen ihnen die große Verschiedenheit, dass die Gewalt nur begrenzte Dauer hat, da Gottes Ordnung ihre Wirkungen zum Ruhme der angegriffenen Wahrheit lenkt, während die Wahrheit ewig währt und schließlich den Sieg über ihre Feinde davonträgt, weil sie wie Gott selber ewig und allmächtig ist. (Zwölfter Brief an die Provinz)

12 Man meint, und verzweifelt gemeinhin: Wahrheit und Moral seien in „der Welt“ machtlos und richten dort beide nichts aus. Tatsächlich ist die Sphäre der Wahrheit und der Moral eine andere als die ganz unmittelbare Welt der Taten: sie bildet eine Welt des Ideals! Allerdings ist diese Sphäre der Ideale von der realen Welt gar nicht abgehoben, sondern wirkt, genauer betrachtet, überall in diese Welt hinein. Menschen fällen dauernd moralische Urteile und versuchen sich moralisch in dieser Welt zu orientieren. Die sozialen Medien der Neuzeit werden gemeinhin oft als „Ort der Selbstdarstellung“ begriffen. Was aber tatsächlich den breitesten Raum auf Facebook einnimmt, sind jedoch ständige, endlose Diskussionen der Teilnehmenden darüber, was richtig ist und was falsch. Ein endloser, lebhafter Austausch wo permanent beurteilt wird, wie etwas zu sein habe und wie man etwas machen solle, und wie nicht: das ist der eigentliche Hauptgesprächsstoff in der Menschenwelt. So gesehen ist diese nüchtern-rationale, gleichsam nihilistische Welt von der Sphäre der Ideale hochgradig durchzogen, durchtränkt, überschwemmt. Mach etwas, was aus der Art fällt, und die Sintflut kommt über dich.

13 Allerdings ist es nicht so, dass sich die Mächte der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Ausgleichs usw. in dieser Welt dann tatsächlich so einfach durchsetzen. Vielfach tun sie das nicht. Die meisten Gesellschaften versuchen, anders als die unsere, nicht, ihre Vergangenheit eingehend zu bewältigen, sondern sind auf die Sauereien ihrer Vorfahren auch noch stolz! Kämpfe für Wahrheit, Gerechtigkeit usw. sind meistens mit ständigen Rückschlägen verbunden. Um sich Mut zu machen, kann man die Wahrheit als etwas Transzendentes sehen, letztendlich überhaupt als etwas Eschatologisches (dem Theologen Karl Barth zufolge ist Wahrheit grundsätzlich etwas, was im Eschatologischen aufgeht; ich muss mich mit diesem Gedanken näher vertraut machen). Grundsätzlich weisen Wahrheit und das Ideal u. dergl., neben aller Diesseitigkeit, auch auf etwas Transzendentes und Eschatologisches hin, haben solche Qualitäten und Dimensionen, zu denen sie wiederum den Zugang eröffnen. Ansonsten bleiben Wahrheit und Gerechtigkeit einfach Ergebnisse aus dem Kampf zweier oder mehrerer Instanzen, bei der sich die stärkste durchsetzt. Des einen Freude ist des andere Leid usw. Wahrheit und Gerechtigkeit beziehen sich aber darauf, wie etwas, allgemein betrachtet am besten zu sein hätte, und verlangt nach Entschädigung derer, die bei der Suche danach (oder aufgrund niederer Motive) unter die Räder geraten. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden die Wahrheit als Glaubensbesitz der Menschen bewahrt, während der falsche Frieden den Irrtum als Besitz menschlicher Leichtgläubigkeit erhält. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden von der Wahrheit untrennbar ist, dass er in den Augen Gottes niemals durch jene Streitigkeiten wird, die ihn in den Augen der Menschen immer dann zu unterbrechen scheinen, wenn Gottes Gebot befiehlt, seine Wahrheit gegen ungerechte Angriffe zu verteidigen, und dass das, was für die Menschen Frieden wäre, für Gott ein Krieg ist. (Zweite Schrift der Pfarrer von Paris)

14 In ihrer absoluten, totalitären Verfassung tritt uns die Wahrheit in ihrer transzendenten, eschatologischen Form als Religion gegenüber. In der christlichen Religion ist Gott die absolute Achse und Instanz, die alle Wahrheit beinhaltet. Und der man selbst, in all seiner Relativität, gegenübertritt. Wenn es eine Wahrheit gibt, und so empfinden die meisten von uns, dann wird man auch selber sich an diese Wahrheit anschmiegen wollen. Man wird auch selber „wahr“ sein wollen. (In der Hospiz bedauern angeblich viele Menschen, dass sie ihr Leben nicht nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse, ihnen entsprechend gelebt hätten, sondern sich zu sehr an anderen und anderem orientiert hätten. Das scheint ein verbreitetes Bedauern unter den Menschen.) Die christliche Religion ist der ultimative Appell an das Individuum, „wahr“ zu werden und in Wahrheit aufzugehen.

15 Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, dass ich beim Verlassen dieser Welt für immer entweder in ein Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche von diesen beiden Bedingungen für ewig mein Los sein muss. Das ist mein Zustand: voll der Schwachheit und Ungewissheit. (Gedanke 1) Der erzürnte Gott will aber besänftigt sein. Er lässt sich offenbar nur so besänftigen, wenn man seine strenge Wahrheit anerkennt.

16 Zur Wahrheit ist der Mensch dem Vermuten von Pascal nach aber gar nicht geboren: Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Er will nicht, dass man ihm die Wahrheit sage, er vermeidet es, sie den anderen zu sagen, und alle diese Neigungen, die von der Vernunft und von der Gerechtigkeit so weit entfernt sind, haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen. (Gedanke 770)

17 In einer Weise imitiert Pascal durchwegs das, von dem er sich, in seinem postulierten Elend doch „unendlich“ weit entfernt fühlt: einen erzürnten Gott. Denn Pascal sucht das Seelenheil, und ist erbost, wie wenig Bedeutung dem Seelenheil in der Menschenwelt zugemessen werde: Die Unsterblichkeit der Seele ist von so gewaltiger Bedeutung für uns, berührt und so tief, dass man jedes Gefühl verloren haben muss, wenn es einem gleichgültig sein kann, zu wissen, was es damit auf sich hat. (Gedanke 1)

18 (Was aber ist eigentlich das Seelenheil? Trotzdem Pascal die Frage nach dem Seelenheil dauernd umkreist, ist er nicht sonderlich beredt darüber, worin das Seelenheil eigentlich besteht. Zumindest besteht das Seelenheil in einer Unzerstörbarkeit der Seele, die „erlöst“ ist. Damit wird das Seelenheil aber eigentlich eine negativ bestimmte Qualität: ewige Abwesenheit vom und Befreiung vom Elend. Der größte Wunsch wird winzig klein gegen den, gesund zu sein, singt das Kind. Und ein Seelenheil von solcher Qualität ist also der Wunsch eines Kranken nach Gesundheit. Da die Frage nach dem Seelenheil, wie Pascal selbst sagt, eine so wichtige ist, stellt sie sich in der Form: was kann Seelenheil noch alles sein?)

19 Der Sinn der Religion ist, wie Pascal ja selber sagt, dass der Mensch von seiner falschen, egoischen Wurzel sich emanzipiert, und sich für die Wahrheit, die in Gott und in seinem Gesetz liegt, öffnet. Kierkegaard hat postuliert, das Ziel des Lebens sei „durchsichtig zu werden in Gott“. Was hat er damit gemeint? Tja, das hat er nicht näher erläutert. Nimm aber den Menschen her, so wie er im Allgemeinen ist. Also blockiert, intransparent und neurotisch. Sich selbst im Weg stehend. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre richtet sich gegen solche Blockaden und Lebenslügen. Allerdings bleibt sein existenzialistischer Mensch, der sein Leben selbst entwirft, irgendwie schwach und blass, und schon als Jüngling habe ich nicht verstanden, was an ihm so heroisch sein soll, wie Sartre das immer (freilich noch zu einer anderen Zeit) beschwört. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre kennt, wie oben gesagt, ansonsten nur das Nichts. Der existenzialistische Mensch gemäß Kierkegaard kennt als andere Instanz aber das absolut Absolute. Das verleiht ihm eine solche Spannkraft. „Durchsichtig werden in Gott“ bedeutet so, transparent zu werden gegenüber der absoluten Instanz, der man dann furchtlos entgegentritt (auch wenn Pascal ziemliche Angst vor dem absoluten Gott hat, und Kierkegaard in Furcht und Zittern lebt, sein Lebensvollzug könnte, gegenüber der absoluten Instanz dann vielleicht doch nicht ganz der richtige sein). Es macht also schon Sinn, und es hat viel mehr Gravität als der nicht-religiös existenzialistische Lebensentwurf, „durchsichtig in Gott“ zu werden; also so durchsichtig, dass man vor der Gesamtheit des Absoluten bestehen kann.

20 Nicht allein kennen wir Gott nur durch Jesus Christus, sondern wir erkennen auch uns selbst nur durch Jesus Christus. Wir erkennen das Leben, den Tod nur durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus wissen wir nicht, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch was wir selbst sind. So erkennen wir nichts ohne die Schrift, deren Gegenstand nur Jesus Christus ist, sondern wir sehen nur Dunkelheit und Verwirrung, in der Natur Gottes und in unserer eigenen Natur. (Gedanke 570) Es macht schon einen gewissen Sinn, Jesus Christus zur Heuristik zu wählen. Aufgrund der ubiquitären Natur Gottes ist das auch gar nicht so schwierig. Seine unendliche Liebe, Barmherzigkeit und Gnade nimmt ja leicht alles auf und schnell kann man sich damit arrangieren.

21 Ist die Aufnahme von Religion und von Jesus Christus also etwas Leichtes oder etwas Schweres? Darüber sind sich die Religiösen uneinig. Pascal war erbost über die Möglichkeit, es als etwas Leichtes zu betrachten, und seine frühen religiösen Schriften, die Briefe an die Provinz, verdammen den Laxismus bestimmter Teile der Kirche. Damit ist gemeint: Um die Menschen besser zu erreichen, wie sie eben sind, kann es sich für religiöse Instanzen empfehlen, volkstümlich und ein wenig nachlässig, nicht allzu streng in der Auslegung ihrer Gesetze und der praktischen Beurteilung menschlicher Handlungen zu sein. Ein solches Vorgehen empfehlen damals die menschenkennenden Jesuiten; sehr zum Missfallen der rigorosen Jansenisten, denen Pascal angehört. Die Idee dahinter mag praktikabel sein, und hat eine rationale Basis. Allerdings hat sich die Bastion des Glaubens und der höheren Wahrheit, die Kirche, aber auch immer wieder als erfindungsreich erwiesen, wenn es darum geht, selbst Kapitalverbrechen und Mord und Totschlag zu legitimieren und sich damit zu arrangieren. Pascal aber zieht grundsätzlich gegen jeden Laxismus zu Felde.

22 Wenn man Jesus Christus in sich aufnimmt, schneidet es einem wohl von diversen Lebensmöglichkeiten ab. Aber es eröffnet einem neue. Ich glaube, es kann schon ziemlich gut wirken, wenn man sich mit Jesus Christus als in der Wahrheit wähnt, und das Leben und den Tod und Gott durch Jesus Christus erkennt. Andere nehmen Drogen, um der Wirklichkeit zu entfliehen, oder sie zu übersteigern. Aber wenn man in Jesus Christus ist, muss einem das eine Luzidität eröffnen, die wahrscheinlich besser ist als Drogen usw. (Untersuchungen und die unmittelbare Evidenz zeigen natürlich das Gegenteil: Religiöse Menschen sind meistens nicht luzide, religiöse Menschen sind, sobald eine Sache Dinge ihres Glaubens berührt, meistens nicht aufrichtig, sondern passen die Interpretation ihrer Wahrnehmungen einfach an ihr Glaubenssystem an. (Kein Wunder freilich, wenn sie sich dann dauernd als „Sünder“ usw. vorkommen und ein schlechtes Gewissen haben.) Andererseits mag das den Status der Religion als logischer, rationaler Wahrheit betreffen, den sie hintanstellen. Aber religiöse Menschen betrachten ihre Religion eben primär als eine moralische Wahrheit, die ist ihnen die wichtigere Wahrheit, und die verteidigen sie dann gegen Angriffe, die von der logischen Wahrheit kommen. Umgekehrt können sich die Verteidiger von rationalen und logischen Wahrheiten auch gegen die Ansprüche moralischer Wahrheiten stemmen und sich darüber hinwegsetzen. Uns interessieren hier Möglichkeiten, wie man in der totalen Wahrheit leben kann.)

23 Wie kann man aber Gott gegenüber in der Wahrheit oder durchsichtig sein? In Entweder – Oder lässt sich Kierkegaard aus über Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben. Zwar meint Kierkegaard das ein wenig anders, aber ich finde einfach die Vorstellung gut, wonach es eine Instanz gäbe, die uns intellektuell und moralisch so weit überlegen ist, dass wir gegen sie immer nur im Unrecht sein können! Nichtsdestotrotz sei es unser Auftrag, trotzdem immer so Recht zu haben zu versuchen, wie uns das bei bestem Wissen und Gewissen möglich ist. Dann ist man gerettet und man ist durchsichtig in dieser Instanz. Wie will man „durchsichtiger in Gott“ sein, als darin, dass man gegen ihn immer Unrecht hat, das erkennt und das vor allen Dingen auch noch bejaht? Es wird so auch Gott dadurch durchsichtig für sich selbst. Es wird ihm klar: er hat ein Mangelwesen geschaffen. Als Gott kann er das auch nicht anders, sonst hätte er ja einen zweiten Gott geschaffen. Das zeigt ihm dann, in seiner Absolutheit, eine notwendige Relativität seiner selbst auf, und das ist unendlich lustig. Das hält die Sache ewig in Bewegung. Man kann mit dem Absoluten nicht auf Augenhöhe sein. Aber man kann eine Metaebene gegenüber dem Absoluten errichten, und sich so auf eine paradoxe Augenhöhe dazu begeben, sich ihm mimetisch annähern, ihm gleichsam auf der Nase rumtanzen. Wenn wir uns freuen darüber, dass wir gegenüber einer absoluten Instanz immer unrecht haben, errichten wir eine solches Plateau. Und das Absolute und das Relative sahen so beide, dass es gut war, und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Unsere absolute Verfassung ist: dass wir gegen Gott immer im Unrecht sind. Bejahen wir das also, und der ewige Bund mit dem Absoluten ist besiegelt.

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24 Wir wünschen die Wahrheit und finden in uns nur Ungewissheit. Wir suchen das Glück und finden nur Unglück und Tod. (Gedanke 193) Dabei gelang es Blaise Pascal doch, das von ihm als so allgegenwärtig beschworene Chaos der Welt handhabbarer zu machen, indem er (gemeinsam mit Fermat) die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte. Seine Berechnungsmethode vom Pascalschen Dreieck war von einer solchen intuitiven Genialität, dass selbst Fermat die Spucke weggeblieben ist. Bereits als Zwölfjähriger leitete Blaise die Sätze des Euklid – welche zu den größten Leistungen des deduktiven Denkens zählen – eigenständig her; im Alter vom 16 Jahren erschütterte er die französische Gelehrtenrepublik mit einer Abhandlung über Kegelschnitte. Mit 19 Jahren konstruierte er eine Rechenmaschine. Später befasste er sich Hydrostatik, mit dem Nachweis des Vakuums, mit der Berechnung von Zykloiden und lieferte mit seiner Arbeit über den Sinus des Viertelkreises entscheidende Hinweise für Gottfried Wilhelm Leibniz bei der Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Er befasste sich, unabhängig davon, auch mit Fragen der Didaktik und Pädagogik.

25 Dieses eines der fähigsten Hirne aller Zeiten steckte aber in einem hinfälligen Körper. Bereits als Kind litt Pascal an Episoden schwerer Krankheit, was sich sein Leben über fortsetzte. Die letzten Lebensjahre verbrachte er zunehmend in Siechtum. Er starb im Alter von nur 39 Jahren an einer Art Verfaulung der inneren Organe. Lebenslänglich hatte er an Kopfschmerzen gelitten. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass auch sein Hirn läsioniert war.

26 Ursprünglich war die Familie Pascal nicht übertrieben religiös gewesen. Die Bekanntschaft mit dem Jansenismus, einer christlichen Reformbewegung, die Rigorismus, Weltabkehr und Askese predigte, machte jedoch Vater wie Kinder zu religiösen Eiferern. Pascals hochtalentierte Schwester Jacqueline wurde gar eine ungemein glaubensstarke Ordensfrau und Nonne, im Kloster von Port-Royal, dem Zentrum der Jansenisten. Pascal interpretierte seinerseits seine körperlichen Leiden als göttliche Zeichen und hatte schließlich ein religiöses Erweckungserlebnis, nach dem für ihn nichts mehr so war wie vorher. Im Rahmen dieses außernatürlichen Erlebnisses empfand er eine abstrakte Begegnung mit dem göttlichen Licht und eine große Euphorie. Die Worte, die er dabei niederschrieb, trug er immer eingenäht in seine Kleidung mit sich, wo sie nach seinem Tod schließlich gefunden wurden. Wie für solche Erlebnisse charakteristisch, beschreiben sie einen Zustand ungeteilten großen Glücks und einer Art Einigkeit mit Gott, so als wäre man aller weltlicher Zustände und ihrer ständigen Fluktuationen enthoben und würde bereits in das ungeteilte jenseitige Paradies blicken. Das muss ein sehr außergewöhnliches Erlebnis sein. Ich würde das auch gerne kennen oder Näheres darüber wissen.

27 Die glaubensstarken und eifernden Jansenisten wurden allerdings sowohl der weltlichen Autorität als auch der etablierten Kirche bald ein Dorn im Auge. Zunehmend waren sie der politischen Verfolgung ausgesetzt, in der bald mit harten Bandagen gekämpft wurde. Das betraf auch Pascals Schwester und die Menschen von Port-Royal. Erbost darüber verfasste Pascal anonym seine Briefe an die Provinz, in denen der Jansenismus gegenüber dem Jesuitentum und gegenüber dem Laxismus verteidigt wurde. Die Briefe, die aufgrund ihrer hohen literarischen Qualität mit Leistungen aus der Antike verglichen wurden, erregten großes Aufsehen, wurden aber bald verboten und erschienen schließlich illegal, wodurch sich Pascal aber freilich noch weniger in seinen Überzeugungen beirren ließ.

28 Eine weitere wundersame Geschichte: Pascals kleine Nichte Marguerite litt an einem hartnäckigen Augenleiden. Nachdem alle medizinischen Versuche fehlschlugen, verschwand das Leiden plötzlich nach der Berührung mit einer religiösen Reliquie in Port-Royal – ein Wunder, das Pascal in seinem Glauben ein weiteres Mal bestärkte. Und darin, eine apologetische Schrift auf das Christentum in Angriff zu nehmen, die uns, aufgrund seines vorzeitigen Todes, eben als die Gedanken erhalten geblieben ist. Seine zunehmend extrem asketische Lebensweise und seine Selbstkasteiungen, seine mutwillige Selbstauferlegung von Schmerzen und Unbequemlichkeiten haben seinen Tod wohl noch zusätzlich beschleunigt. Der diesseitigen Welt abhanden gekommen ist Pascal aber schon viel früher. Das Erwachsenenleben des mathematisch-wissenschaftlichen Wunderkindes bestand in fortschreitender religiöser Entrücktheit, die allerdings ebenso geniale Formen warf, wie eben die Gedanken.

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29 Existenz bedeutet: spielen, singen, tanzen. Existenz bedeutet auch: behindert sein beim Spielen, Singen, Tanzen. Man ist in der Existenz mit Widerständen konfrontiert, oder aber die Existenz ist ihr eigener Widerstand und Widerspruch. Existenz bedeutet, wenn man darüber nachdenkt, oder sie versucht ins Philosophische zu heben: Sorge um die Existenz. Die Existenzphilosophen haben eine sehr nachdenkliche, verhaltene Sicht auf die Existenz. Nackte Existenz ist unbehaust, gefährdet, mit der Nicht-Existenz, von der sie doppelt begrenzt wird, scheinbar qualitativ identisch. Singen, spielen, tanzen wollten wir, doch hier kommen die Existenzphilosophen und schweres Wetter zieht auf. Und da kommt schon der schwerste von den Existenzphilosophen, der, der die ganze Existenzphilosophie gleichsam erfunden hat; Pascal. Scheiße, wir konnten unsere Sache nicht rechtzeitig packen und unser Picknick rechtzeitig verstauen; jetzt steht er da, eine zerklüftete, furchtbare Gestalt mit dem Wanderstab, und belehrt uns, und wir können seiner Belehrung nicht mehr entkommen: Man braucht keine besonders erhobene Seele zu haben, um zu begreifen, dass es hier keine wahrhafte und ausdauernde Befriedigung gibt, dass alle unsere Freuden nur Eitelkeit sind, dass unsere Leiden ohne Ende sind, und dass uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jahren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht oder unglücklich zu sein. Es gibt nichts Wirklicheres als das, und nichts Schrecklicheres. (Gedanke 1) Krach!, jetzt hat es gedonnert. Wir schaffen es, uns davonzumachen, er kommt uns langsam nach und wir hören ihn gleichsam aufzählen: Der Zustand des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Unruhe. (Gedanke 194) Vielleicht vernehmen wir die Worte nicht nur und nehmen sie uns sogar zu Herzen, einstweilen verlieren sie sich hinter uns, so wie der Existenzphilosoph, seine Worte vermählen sich schließlich mit dem Wind und werden ununterscheidbar mit dessen Pfeifen. Wir haben uns wirkungsvoll in unsere Trivialität zurückgeflüchtet.

30 Pascals Vorstellung von der Existenz ist aber nicht allein depressiv. Was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. Das Ende der Dinge und ihr Anfang sind in einem undurchdringlichen Geheimnis unüberwindlich für ihn verborgen. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen ist, wie die Unendlichkeit, von der er verschlungen ist. (Gedanke 313) So gesehen begreift Pascal den Menschen aber als aufgespannt zwischen dem Unendlichen und Absoluten und dem Nichts; er oszilliert, wie er es selber zur Philosophie erhebt, zwischen den beiden Polen: Größe – Elend.

31 Wenn man die ganze Natur des Menschen verstanden hat, und dann bewirken will, dass unsere Religion wahr sei, muss man zeigen können, dass sie unsere Natur erkannt hat. Sie muss unserer Größe und unsere Niedrigkeit erkannt haben und den Grund für diese wie für jene. Wer hat sie erkannt außer dem Christentum? (Gedanke 235)

32 Die wahre Religion müsste die Größe und das Elend lehren, müsste den Menschen dazu bringen, sich selbst zu achten und zu verachten, zu hassen und zu lieben. (Gedanke 234)

33 Die Größe des Menschen ist groß darin, dass er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt sein Elend nicht. (Gedanke 123) Der Mensch ist klarerweise groß, indem er erkennen und denken kann; womit er letztendlich auch Gott, sein eigenes Elend, und die Möglichkeiten der Befreiung aus dem eigenen Elend zu erkennen vermag. Über dem Menschen stehen die Engel, die Gott zwar besser zu erkennen vermögen, dafür aber die Freiheiten des Menschen nicht haben. Ansonsten ist der Mensch, indem er erkennen und denken kann, sogar dem ganzen riesigen, aber gedankenlosen Weltall überlegen: Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. … Aber wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt, und kennt die Überlegenheit, die das Weltall über ihn hat; das Weltall weiß nichts davon. (Gedanke 128)

34 Das Weltall und der Mensch. Dass so wunderbare Wesen wie wir Menschen von Gott abstammen müssten, und eine spezielle Beziehung zu Gott hätten, rührt als Vorstellung auch daher, dass wir sonst keine vergleichbare Spezies im Weltall kennen. Das kann dem religiösen Empfinden schon Auftrieb geben und selbst dem rationalen Menschen einen religiösen Schauer über den Rücken jagen. Wenn wir keine andere dementsprechende Spezies kennen, mit der wir uns vergleichen können, müssen wir uns ja mit Gott vergleichen, beziehungsweise uns zu einem Gott ins Verhältnis setzen.

35 Das Fermi-Paradoxon: Wenn es im Weltall zahlreiche außerirdische Zivilisationen gibt (wie man aufgrund der schrecklichen Größe des Weltalls ja annehmen würde), warum sind wir dann noch nicht auf sie gestoßen? Heute nimmt man an, dass einfaches Leben im Weltall vielleicht nicht so selten ist; es könnte sogar auf dem Mars vorkommen. Komplexes, eukaryotisches Leben beruhe dann aber offenbar auf einem viel größeren Glücksfall, der, relativ gesehen zumindest, nicht oft stattfinde. Intelligentes Leben sei dann noch viel seltener. Und Leben, das zu Kultur- und Technikleistungen imstande ist, also eben außerirdische Zivilisationen, das Seltenste überhaupt. Lawrence hat berechnet, die nächstgelegene außerirdische Zivilisation würde, bei der statistischen Verteilung, die sich daraus ergibt, zumindest 50 Millionen Lichtjahre von uns entfernt leben. Zum Vergleich: die berühmte Andromeda Galaxie ist 2 Millionen Lichtjahre weit weg. Die nächstgelegene außerirdische Zivilisation wäre im Vergleich dazu also zum Beispiel auf der anderen Seite des Virgo Galaxienhaufens beheimatet. Damit erklärt sich das Fermi-Paradoxon damit, dass Zivilisationen im Universum viel zu weit auseinander wären, um gegenseitig Signale voneinander zu erkennen, geschweige denn miteinander kommunizieren zu können. (Andere, wie Lovelock oder Lane, sind noch pessimistischer und betrachten hinreichend intelligentes Leben als dermaßen unwahrscheinlich, dass wir wahrscheinlich das einzige Beispiel dafür im ganzen Universum seien.)

36 Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich. (Gedanke 314)

37 Die Geheimnisse des Universums und der Physik sind noch nicht entschlüsselt, und die Technologie ist noch primitiv. Dennoch sieht es so aus, dass interstellare Reisen und das Kolonialisieren von anderen außerirdischen Welten schwierig bis unmöglich sein dürften. Es ist uns nicht bekannt, wie man die Lichtgeschwindigkeit überschreiten könnte. Und auch unterhalb der Lichtgeschwindigkeit wären hinreichende Raumfahrzeuge riesig und teuer und würden für ihre Reisen Unmengen an Energie benötigen, was insgesamt an Kosten die Wirtschaftsleistung unserer gesamten derzeitigen Weltwirtschaft um ein Vielfaches überschreiten würde. Um gar mit Überlichtgeschwindigkeit reisen zu können (so dass es sich auch tatsächlich lohnt), wäre negative Energie nötig. Ein Feld von negativer Energie würde sich allerdings kausal abtrennen von der übrigen Raumzeit und wäre kein guter Aufenthalt; das Innere von Schwarzen Löchern entspricht einem Feld von negativer Energie, und dort will man nicht hin. Um ein exotisches Feld aufrechtzuerhalten (auch, wenn die Möglichkeit überhaupt nur theoretisch dazu besteht), das den Raum krümmt, oder einen WARP-Antrieb ermöglicht, wäre wohl eine extreme Energiemenge notwendig. Eine Reise durch den Raum könnte die Energie eines ganzen Sterns verschlingen. Ähnlich wie die Menschheit auf der Erde hätte eine intergalaktische Raumfahrer-Zivilisation in ihrem Hunger nach Energie und nach Ressourcen wohl eine Spur der Verwüstung durch das Weltall gezogen. Wären allerdings Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit möglich, hätte eine solche Zivilisation innerhalb von nur einigen Tausend Jahren, oder eventuell einer Viertelmillion Jahre, das ganze Universum besucht. Das angenommen, stellt sich wieder die Frage: Wo sind sie also?

38 Es gibt also offenbar (noch) keine intergalaktischen Raumfahrer-Zivilisationen (auch wenn der Kosmos, so gesehen, noch jung ist, und es sie in der Zukunft geben könnte. So gesehen sind Zivilisationen im Universum nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit getrennt). Das macht uns Menschen schon zu einem sehr herausragenden Qualitätsphänomen im Universum. Mit der riesigen quantitativen Ausdehnung des Weltalls können wir nicht mithalten, und die macht uns irrelevant. Aber qualitativ sind wir vielleicht das bedeutendste Vorkommnis im Universum. Ein Wunder sind wir deswegen nicht, denn wenn unter Abermilliarden von Abermilliarden von Abermilliarden von möglichen Fällen der tatsächliche Fall ein oder ein paar Mal auftritt, ist das eher eine prosaische zufällige Fluktuation, mit der sich das ganze Mysterium erklärt. Aber zu etwas unglaublich Großem im Universum macht uns das schon; da hat Pascal schon recht. Zu etwas Gottähnlichem. Aber auch zu etwas von Gott reichlich Verschiedenem. Und Elendem.

39 Der Mensch ist ganz offensichtlich dazu geschaffen, um zu denken. Darin liegt seine ganze Würde begründet und dies macht all sein Verdienst aus, und seine ganze Pflicht besteht darin, in rechter Weise zu denken. Die Ordnung des Gedankens erfordert es nun, bei sich selbst, bei seinem Schöpfer und bei seinem Ziel zu beginnen. Doch woran denkt die Welt? Niemals daran! Vielmehr ans Tanzen, ans Lautenspiel, an Gesang, an Versedrechseln, an Reiterspiele, usw., und daran, sich zu prügeln, sich zum König zu machen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was es bedeutet, König zu sein und Mensch zu sein. (Gedanke 130)

40 Wo viel Licht, da auch viel Schatten. Während die Größe des Menschen darin besteht, denken und erkennen zu können, liegt für Pascal dessen Elend darin, dass er es meistens nicht tut. Da die Menschen den Tod, das Elend und die Unwissenheit nicht besiegen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, darauf verfallen, gar nicht daran zu denken. (Gedanke 176)

41 All diesem Elend zum Trotz will (der Mensch) glücklich sein und nichts als glücklich, und ist außerstande, es nicht zu wollen; aber wie wird er das anfangen? Um es richtig zu machen, müsste er sich unsterblich machen, da er es aber nicht kann, ist er darauf verfallen, sich des Gedankens daran zu enthalten. (Gedanke 175) Daher strebt der Mensch also Zerstreuung an, der Pascal viele seiner Gedanken widmet.

42 Auffällig umfangreich stellt Pascal Betrachtungen an über die Hohlheit und die Nichtigkeit der menschlichen Alltagsexistenz. Die Menschen beschäftigen sich damit, einem Ball oder einem Hasen nachzulaufen. Das ist sogar das Vergnügen der Könige. (Gedanke 185) Und überhaupt: Eitelkeit: Spiel, Jagd, Besuche, Theater, falsche Fortdauer des Namens (Gedanke 139) Das ist deswegen so, weil der Mensch im Allgemeinen innerlich leer sei. Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. (Gedanke 192)

43 Auch das Streben nach Wahrheit sei in erster Linie ein Spiel: Man liebt es, bei Disputen den Streit der Meinungen zu beobachten, aber ganz und gar nicht, die gefundene Wahrheit zu betrachten… (Gedanke 184). Und wenn nicht gespielt wird, wenn da keine Möglichkeiten zur Zerstreuung sind, macht sich Langeweile breit im menschlichen Herzen. So läuft das gesamte Leben ab: Man strebt nach Ruhe, indem man einige Hindernisse bekämpft. Und wenn man diese dann überwunden hat, dann wird die Ruhe aufgrund der Langeweile, die aus ihr erwächst, unerträglich. (Gedanke 181)

44 Überhaupt: die Eitelkeit, die Pascal hinter allem sieht. Wenn die Welt ein Nichts ist, aber aufgeblasen, ist sie naheliegenderweise eitel, denn Eitelkeit ist ja aufgeblasenes Nichts. Die Eitelkeit ist so tief im Herzen des Menschen verankert, dass … (Gedanke 147) Pascal immer wieder darauf zurückkommt, die diesseitige Welt sei, in der Hauptsache, „eitel“. Einem Menschen, der sich für das Jenseitige entscheidet, mag das vielleicht so scheinen. Eventuell weil mit Eitelkeit konnotiert ist: Vergeblichkeit, Substanzlosigkeit, Vergänglichkeit. Er vergewissert sich (moralisch), dass die jenseitige Welt die substanzielle ist, die diesseitige aber nicht (schließlich ist die unmittelbare Evidenz ja dazu gegenteilig). Er spricht sich so Mut zu. Trotzdem ist es ein wenig eigenartig, wo (ein so neugieriger und scheinbar gut in sich fundierter Mensch wie) Pascal überall Eitelkeit ausmacht (Neugierde ist nur Eitelkeit. Meistens will man nur etwas erfahren, um davon zu sprechen. (Gedanke 142)).

45 Ich aber will mir das so nicht vorstellen, also, dass die Welt Eitelkeit sei (inwieweit mich das wohl entlarvt?, denn: Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selbst sehr eitel. (Gedanke 192)) Ich glaube zwar, dass der Narzissmus eine wichtige Rolle spielt in dieser Menschenwelt (und auch in der Tierwelt), aber keine so ausschließliche. Man tut Sachen aus einer Leidenschaft heraus oder aus einem Interesse, oder aus bloßem Überlebenszwang. Das Resultat mag man dann narzisstisch besetzen, überhaupt wird man zunächst einmal harmlos stolz und voll der Freude sein, weil man da was zusammengebracht hat. Dann mag die Eitelkeit dazukommen. Aber die Grundlage für das Resultat ist dann eben doch eine andere als die Eitelkeit (nämlich ein tatsächliches Interesse an der Sache), und mit dem jeweiligen Resultat unmittelbarer verwandte.

46 Eventuell war Pascal also sehr eitel! Man könnte meinen, sein angestrengtes Asketentum sei sehr eitel (eine eitle Flucht vor der eigenen Eitelkeit, mit der man unzufrieden ist). Könnte so ein weiser, über den Dingen schwebender Mensch wie Pascal in Wahrheit sehr eitel sein? Man mag es sich ja kaum vorstellen können. Pascal aber zumindest bekennt: Ich sehe in meinen Abgrund des Stolzes, der Neugierde, der Begehrlichkeit. Es gibt keine Beziehung zwischen mir und Gott, noch zwischen mir und Jesus Christus, dem Gerechten. (Gedanke 612)

47 Aber Pascal, alter Motherfucker! Du bist doch ein ganz famoses Haus! Zeig den schönen Frauen in den leichten Kleidern doch, was für ein großer, sensibler Mensch du bist, voll der seelischen Qualitäten und zu großen Höhenflügen imstande und bereit! Das sagt man auch dem Emil, und dem Erwin, und dem Erich doch spontan immer wieder, wenn sie in verdrießliche Stimmung kommen und in ihr Bier weinen. Um sie aufzumuntern, und damit sie sich ihrer Kräfte und Qualitäten besinnen, die man bei ihnen dann doch immer als grundsätzlich vorhanden annimmt. Also würde man doch das erst recht einem wie Pascal zurufen. Aber in Wahrheit: Fremde Herzen kennt man nicht, fremde Herzen bleiben fremd, groß immer wieder die Enttäuschung, wenn zwei, die geglaubt haben, einen Herzens zu sein und voller Ideale desselben Weges zu ziehen, schließlich draufkommen: die Motive des anderen sind ja eigentlich doch ganz verschiedene, obwohl man sie immer als mit seinen eigenen gleich oder zumindest ähnlich vermutet hatte. In Wirklichkeit kennt sein Herz jeder selbst am besten. Und so wie sein Herz ist, wird er das Herz auch bei anderen vermuten. Was vermutet Pascal? Wie ist das Herz des Menschen hohl und voll von Gestank. (Gedanke 180)

48 Auf jeden Fall ist Pascals inneres Bild von der Existenz reichlich bipolar; manisch-depressiv. Dem Göttlichen will er sich absolut verschreiben. Die Euphorie dafür kennt er (oder tut er das wirklich? Handelt er nicht eher aus einem inneren Zwang heraus, den er dann leidenschaftlich besetzt?). Das Weltliche verwirft er; und selbst unter die ungeheure Vielfalt des Weltlichen, dem Glanz und dem Elend und dem ganzen Dazwischen, das das Weltliche aufweist, zieht er einen einzigen Strich und markiert dazu: Elend.

49 Widerspruch, Selbstverachtung, sterben für nichts, Hass auf unser Dasein. (Gedanke 141) … murmelt Pascal bei sich.

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50 Immer wieder wird versucht, die religiösen Asketen und ihre Leistungen zu verweltlichen, indem man vermutet, sie würden allein ihre Not zu einer Tugend machen. Auch Aldous Huxley sieht in Pascal einen kranken Menschen, unfähig Leidenschaften zu empfinden, und so versuche er sie eben auch theoretisch zu annullieren (und seine Leidenschaftslosigkeit zu legitimieren), im Rahmen seiner düsteren asketischen Religiosität.

51 Pascal selbst war schon zu Lebzeiten mit solchen Ansichten über derartige Masken der Frömmigkeit vertraut. Im Neunten Brief an die Provinz zitiert er aus einem Werk des Pater Le Moyne, einen der Kasuisten, die er darin bekämpft: „Ich leugne nicht, dass es Fromme gibt, die aufgrund ihrer Veranlagung bleich und melancholisch sind, die Stille und Zurückgezogenheit lieben, die nur Trägheit in den Adern haben und aschgrau im Gesicht sind … Ein solcher Tor hat keine Augen für die Schönheiten der Kunst und der Natur. Er würde glauben, eine unbequeme Last auf sich zu laden, wenn er sich irgendein Vergnügen gönnte. An den Festtagen zieht er sich unter die Toten zurück. Er gefällt sich mehr in einem Baumstamm oder in einer Höhle als in einem Palast oder auf einem Thron. Gegen Schmach und Beleidigungen ist er so unempfindlich, als hätte er die Augen und Ohren einer Statue. Ehre und Ruhm sind Götzen, die er nicht kennt und denen er keinen Weihrauch opfert. Ein schönes Weib ist für ihn ein Schreckgespenst. Und die stolzen, königlichen Gesichter der Frauen, die lieblichen Tyrannen, die überall Sklaven finden, freiwillig und ohne Ketten, üben auf seine Augen keine stärkere Wirkung aus als die Sonne auf die einer Nachteule.“ (dies zitiert Pascal aus dem Werk Les Peintures morales, ou les Passions sont representées par Tableaux, par Charactéres, et par Questiones nouvelles et curieuses des besagten Paters aus dem Jahre 1640) Pascal mieselsüchtig an seinen imaginären Adressaten im Brief: Ich kann Ihnen versichern, … wenn Sie mir nicht gesagt hätten, dass diese Schilderung von dem Pater Le Moyne stammt, so würde ich geglaubt haben, irgendein Gottloser wollte mit ihr die Heiligen ins Lächerliche ziehen. Denn wenn dieser Tor nicht das Bild eines Menschen ist, der sich von allem losgelöst hat, dem zu entsagen uns das Evangelium verpflichtet, dann bekenne ich, dass ich nichts davon verstehe. Pascal ist wohl nicht entgangen, dass er selbst mit dem religiösen Asketen, der aus seiner Not eine Tugend machen will, zumindest äußerlich identisch ist. In das Innere eines Menschen kann man freilich nicht hineinsehen. Man sieht nur seine Zeichen, die Zeichen, die er aussendet. Und Pascal sendet Zeichen aus, die ihn für unbeschwertere Geister verdächtig wirken lassen.

52 (Anschließen will ich mich denen nicht unbedingt – ich glaube ja immer nur an das Beste und an das Aufrichtige im Menschen – aber das, was sie sagen, erwähnen…)

53 Huxley meint, während Nietzsche seine Krankheiten habe überwinden wollen, und sich in einen leidenschaftlichen Vitalismus hineingesteigert habe, der tatsächlich eine großen Lehre für die Menschheit und für verdrossene Individuen ist, habe Pascal sich leidenschaftlich gegen die Leidenschaften gerichtet und sein Siechtum zu einer religiösen Tugend, verbunden mit ultimativem Erlösungsglauben gemacht. Nietzsche hat später im Antichrist, etwas einseitig, das Christentum als ein Phänomen der décadence begriffen, der Lebensabtötung. Aber Nietzsche hatte ja immer wieder Pascal im Blick.

54 Pascal äußert sich an etlichen Stellen in den Gedanken auch negativ über Montaigne. Natürlich muss der mit seiner sehr diesseitsorientieren Essayistik ein Affront und ein Gegenmodell zum Pascalschen Entwurf über die Existenz sein. Also versucht Pascal sich davon abzugrenzen, um seine Positionen abzustecken. Aber vielleicht waren Pascal auch die lebensprallen Schilderungen und die lebenspralle Einstellung bei Montaigne zuwider, und er reagiert mit Ressentiment darauf.

55 Goethe äußerte sich im Hinblick auf Pascal: Wir müssen einmal sagen: Voltaire, Hume, La Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule, haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet, als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.

56 Und Voltaire: … wenn ich London oder Paris betrachte, sehe ich keinen Grund, in die Verzweiflung zu geraten, von der Pascal spricht; ich sehe eine Stadt, die in nichts an eine verlassene Insel erinnert, sondern bevölkert, reich und gesittet ist, wo die Menschen glücklich sind, soweit die Natur das mit sich bringt. Wer ist der kluge Mann, der bereit sein wird, sich zu hängen, weil er Gott nicht gegenüberzutreten weiß und das Geheimnis der Dreieinigkeit nicht zu lösen vermag? … Warum uns Angst machen vor unserem Wesen? Unsere Existenz ist nicht so unglücklich, wie man es uns glauben machen will. Die Welt als einen Kerker anzusehen und alle Menschen als Verbrecher, die man henken wird, ist die Idee eines Fanatikers.

57 Aber man kann in Voltaire auch einen zynischen Börsenspekulanten sehen, der zu oberflächlich war, um die Metaphysik von Leibniz zu begreifen. Und in Goethe einen ständig in die Irre gegangenen Unbehausten, der Eckermann im hohen Alter nichts anderes zu gestehen vermochte, als dass er in seinem Leben vielleicht ein paar glückliche Wochen allein verbracht habe. Das Glück ist weder außer uns, noch in uns; es ist in Gott, und sowohl außer und als auch in uns. (Gedanke 205)

58 (Heine hat vermutet, dass der verdrossene Goethe, der kaum je einen Augenblick auffordern wollte: Verweile doch, du bist so schön, ihn deshalb so frostig aufgenommen habe, weil er, Heine, im Gegensatz zu Goethe im Wesentlichen heiter und unbeschwert sei, und Goethe das registriert und eifersüchtig darauf reagiert habe.)

59 Auch wenn er sich von den Vorbildern seiner Jugend Schopenhauer und Wagner später emanzipiert hat, bewahrte der Antichrist Friedrich Nietzsche eine lebenslängliche Bewunderung für Pascal. Warum eigentlich? Wahrscheinlich, weil er in Pascal einen aphoristischen Metaphysiker und Erkunder der Existenz sah, der der Existenz unverwandt ins Auge blickte und darin ähnlich Depressives sah wie Zarathustra. Diese „Ehrlichkeit“ hat Nietzsche imponiert, er betrachtete Pascal als eine „starke Natur“, eine Art Herren- und Übermensch, die er so attraktiv fand – nur sei das Christentum stark genug gewesen, „selbst eine solche Natur wie Pascal“ zugrunde zu richten. Weswegen Nietzsche dem Christentum den Krieg erklärte. Auch Nietzsche fühlte sich dauernd von der Existenz „geschwächt“ und in seinen „Instinkten“ in die Irre geleitet von: den unteren Schichten der Gesellschaft, der Demokratie, dem Sozialismus, dem Bildungswesen, der deutschen Küche, Alkohol, Frauen, dem Parsifal und eben dem Christentum. Nietzsche war auch, wie Pascal, ein physiologisch kranker Mensch. Als Gegenmodell dazu hat er sich aber in seinen Vitalismus und seinen Kult vom Übermenschen reingesteigert, als Methoden, über die nackte Existenz zu triumphieren. Nietzsche wollte ewig wiederkehren, Pascal wollte sterben.

60 War Pascal in seinem Glaubenseifer also in etwa verrückt? Oder war er einfach nur sensibler, ist dadurch in Bereiche vorgedrungen, die weltlichen Naturen wie Goethe oder Voltaire verschlossen bleiben, von jemanden wie Nietzsche allerdings erahnt werden?

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61 Religion ist (in dieser Hinsicht) gut, denn sie bedeutet eine größere Sensibilität im Empfinden der Existenz und eine größere moralische Ernsthaftigkeit. Mit gefällt eine Sensibilität – eine metaphysische Sensibilität – für das Umgebende, und mir gefällt eine moralische Ernsthaftigkeit. Daher gefallen mir auch, in gewisser Weise, religiöse Menschen. Niemand ist so glücklich, so tugendhaft, so liebenswert wie ein wahrer Christ. (Gedanke 94) Zumindest gefallen mir religiöse Menschen, unter gewissen Vorbehalten, aus der Ferne bzw. in wohldosiertem Abstand wenigstens; eben deswegen. Religion ist ein Mittel, ein Aufruf, für den Menschen, sich über das bloße Mittelmaß zu erheben: und das ist gut, das ist konstruktiv (auch wenn sie praktisch dann wieder neue Grundlagen und Selbstverständnisse für saturierte Mittelmäßigkeit schafft und zulässt -> daher dann auch Pascals Kampf gegen die Laxheit). Dann noch eben die scheinbare Fröhlichkeit und Lebensfreude, die Entspanntheit der religiösen Menschen (auch wenn sie womöglich hauptsächlich aus einer Unfähigkeit stammen mag, sich tatsächlich Sorgen/Gedanken zu machen). Usw.

62 Ich habe also durchaus ein Sensorium für die Erhabenheit der Religion, und das Positive, das sie in einem bewirken kann. Dabei frage ich mich aber natürlich schon, wie religiöse Menschen all diese Sachen, die sie glauben, tatsächlich ernst nehmen können. Doch: Das Herz hat seine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. (Gedanke 89)

63 Es ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht der Verstand. Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand. (Gedanke 90) Pascal weiß also selber, dass der Glaube eine letztendlich rational nicht verhandelbare Angelegenheit des Gefühls ist. Dennoch nannte ihn Nietzsche anerkennend „den einzig logischen Christen“. Das ist kein Widerspruch, man kann ja auch logisch sein im Umgang mit seinen Gefühlen.

64 Etwas, das logisch ist, bei der Gelegenheit angemerkt, ist aber freilich noch nicht schon allein deswegen wirklich. Das Logische ist nicht so weitreichend, wie man glauben mag. Idealerweise bedeutet Logik, dass man aus Annahmen einen eindeutigen und richtigen Schluss ziehen kann. Ein logischer Schluss ist dabei außerdem nicht notwendigerweise ein logischer Beweis; sondern zunächst einmal nur Basis für ein logisches Argument. So genannte Gottesbeweise (in die hinein Pascal sich aber nicht versteigt), basieren meistens auf Logik. Allerdings lassen sich gegen alle Gottesbeweise auch logische Gegenargumente einbringen; es gibt keinen Gottesbeweis, der dagegen gefeit ist. Das reduziert die Gottesbeweise dann zu logischen Argumenten, die nahelegen könnten, dass (so etwas wie) Gott existiert. Während die logischen Gegenargumente eine solche Annahme hauptsächlich entkräften. Ob man dann eher zum theistischen Argument neigt oder zum atheistischen, ist dann wieder eine Sache des Glaubens. Wir erkennen die Wahrheit nicht mit der Vernunft allein, sondern auch mit dem Herzen… (Gedanke 334) Bewiesen ist dadurch aber eben nichts.

65 Außerdem bedeutet Logik: Man zieht einen logisch richtigen Schluss aus bestimmten Annahmen. Das heißt aber nicht, dass die Annahmen richtig sind, oder umfassend gelten. Pascal hat lauter eigenwillige Annahmen über die Existenz (aus denen heraus er allerdings nichts beweisen will: so dumm ist er nicht). Allerdings stellt er auch die Annahme zur Disposition, Gott könnte gar nicht existieren. Das ist dann der Gegenstand der berühmten Pascalschen Wette. Der zufolge könne man durch die Annahme, dass Gott existiert, nur gewinnen, während man, bei Richtigkeit der Annahme, dass Gott nicht existiert, zwar nicht verliert, aber auch kein ewiges Seelenheil gewinnt. Gottes Existenz anzunehmen, sei also relativ zu anderen Optionen das Lohnendste.

66 Hmm.

67 Indem Religion eine Sache des Herzens und des Gefühls ist, haben religiöse Stimmungen aber ihren Sitz im Gehirn. Zwillingsstudien legen nahe, dass unsere Affinität für Religion zu 50 Prozent genetisch bedingt ist. Frühe Prägungen durch das Umfeld verankern unsere Disposition zur Religiosität in unseren Hirnkreisläufen wie die Muttersprache. Die genetischen Anlagen spielen eine wichtige Rolle darin, ob wir uns später im Leben leicht von der Religion lösen können oder an ihr festhalten. Vor über 20 Jahren postulierte der amerikanische Genetiker Dean Hamer die Existenz eines „Gottes-Gens“, bei dem Variationen darüber entscheiden, wie anfällig für Spiritualität und Religion man sei. Es handle sich um den vesikulären Monoamintransporter (VMAT2), der den Zufluss der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin, Histamin und Noradrenalin erleichtere; Neurotransmittern also, die entscheidend auf unseren Gefühlshaushalt wirken, und deren Anwesenheit oder Abwesenheit Euphorie oder Depression begünstigt. Bis heute ist die VMAT2-These, beziehungsweise dass für etwas so Komplexes wie religiöse Sentiments ein einziges Gen verantwortlich gemacht werden könne, aber umstritten.

68 Gehirnscans und bildgebende Verfahren ermöglichen ihrerseits ständig neue Einsichten, wie bestimmte Gefühle und Dispositionen mit bestimmten Regionen im Hirn in Verbindung stehen. Genauso Langzeitstudien mit Menschen, die Gehirnschädigungen erlitten haben. Tumore oder Verletzungen im Gehirn mögen Menschen gravierend verändern, auch im Hinblick auf ihre Religiosität, die nach einem solchen Erlebnis signifikant zunehmen oder abnehmen mag. Vor wenigen Jahren haben Forschungen ergeben, dass insbesondere das Periaquäduktale Grau mit religiösen Stimmungen in Verbindung steht. Selbst im Periaquäduktalen Grau gebe es sowohl hemmende als auch fördernde Areale: Verletzungen bestimmter Areale führten zu einer Abnahme an religiöser Empfindsamkeit, während sie diese bei anderen Teilarealen verstärke. Die Areale im Periaquäduktalen Grau, die für Hyperreligiosität verantwortlich sind, stünden auch in Verbindung mit Halluzinationen und einer gestörten Körperwahrnehmung. Das Periaquäduktale Grau ist dabei eine evolutionär sehr alte Hirnregion und sitzt im Stammhirn. Das legt nahe, dass Religiosität und Spiritualität bei uns in fundamentalen neurologischen Prozessen involviert sind, und „tief in unsere neurologische Matrix eingeschrieben“. Gott ist also, so gesehen, nicht tot.

69 Untersuchungen mit gläubigen Mormonen zeigen auf, dass in religiösen Zuständen der Nucleus accumbens aktiviert wird, ein Belohnungszentrum in Hirn, das Glücksgefühle auslöst. Auch das Zentrum für die Aufmerksamkeit und der mediale präfrontale Cortex werden bei spirituellen Empfindungen aktiv. Dieses Hirnareal ist unter anderem für Bewertungen, die Einschätzung von Situationen und moralische Überlegungen zuständig. Bei Menschen, die meditieren, feuern Neuronen anders als herkömmlich, und lange Übung im Meditieren kann die Hirnstruktur verändern. Die Meditationspraxis verstärkt Verknüpfungen von Hirnarealen, die für Wahrnehmung und Selbstkontrolle zuständig sind und hemmt das Angstzentrum. Das „ganzheitliche Erleben“, das mit Spiritualität in Verbindung steht, mag seine Grundlage in der besseren Vernetzung von Hirnregionen haben. Interessant also, was weitere Forschungen erbringen werden. Inwieweit sich Religion – und alles Mögliche andere auch – auf ein bloßes „Gehirnphänomen“ reduzieren lasse, ist natürlich eine andere Frage. Die derweil auch unterschiedliche Antworten zulässt. Wir sind unser Gehirn lautet ein Buchtitel des Hirnforschers Dirk Swaab. Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert hingegen heißt ein Buch des Philosophen Markus Gabriel. (Descartes`Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn des Neurologen Antonio Damasio plädiert hingegen dafür, Denken und Fühlen als nicht voneinander getrennt, sondern als eine Einheit zu begreifen, beziehungsweise als eine Wechselwirkung. Das allerdings eben wusste auch schon Pascal.)

70 Die Wissenschaft, so darf man erwarten, wird aber schon das Nötige richten und besorgen.

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71 Eben gerade genieße ich eine sehr spezielle Lektüre: den Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz mit den Jesuiten in China zwischen 1689 und 1714. Der große Universalgelehrte, der wohl noch ein wenig gescheiter war als sogar Pascal, hatte auch ein leidenschaftliches Interesse an China, und er korrespondiert mit den Patres in China über Pflanzen, Mineralien, Metalle und Erden in China, darüber, wie man in China Häute und Papier bearbeitet, wie die Chinesen astronomische Berechnungen anstellen, wie sie Blattgold auf Seide auftragen, wie sie im Schiffsbau zusammengefaltete Segel herstellen und welche Vorrichtungen sie da gegen Windstöße kennen. Im I Ging glaubt Leibniz einen Universalschlüssel für menschliches Wissen zu erkennen, ähnlich zu seiner eigenen Hoffnung, man könne aus der Mathematik eine Art Universalsprache extrahieren; nur dass dieses Wissen bereits vor unvordenklichen Zeiten aus der Traufe gehoben wurde (von einer Art mythischen Gestalt namens Fuxi, einer Art östlicher Hermes Trismegistos). Und die Patres antworten sehr genau und detailliert, es ist eine Konversation auf höchstem Niveau, die noch heute über hunderte von Seiten hinweg von Anfang bis Ende lesenswert ist. Ebenso enthusiastisch wie über die Entdeckungen in China steigert sich Leibniz mit seinen Gesprächspartnern in die Hoffnung und Zuversicht hinein, das Christentum nach China bringen zu können, den Kaiser von China zum Christentum bekehren zu können und im Gefolge ganz China zu christianisieren. Man kann sich das heute wahrlich nur mehr schwer vorstellen, beziehungsweise sich da hineinversetzen: was für eine bedeutende, allumfassende und unhinterfragte Rolle und welchen Zauber die Religion selbst über die erlauchtesten Geister früherer Zeiten ausgeübt hat, die kaum irgendetwas als dringlicher erachteten, als diese ihre Religion der ganzen Welt überzustülpen. Andererseits, wie soll es angesichts eines dermaßen integralen Systems, wie es die christliche Religion damals war, die alles Denken und alle Lebensbereiche vereinheitlicht hat, auch anders sein? Es war eine Grundheuristik, es war die Matrix der Welt; und aus der Matrix kann man bekanntlich kaum ausbrechen. Aufgrund der Fortschritte in der Wissenschaft und in der Philosophie ist diese Einheit der Sphären zerbrochen, und die Wissenschaftler und Philosophen sind heute im Allgemeinen nicht mehr so, und von solchen Hoffnungen und Zuversichten getrieben, wie es Leibniz und Pascal damals waren. Aber es ist durchaus naheliegend, dass sie damals so waren; auch wenn man sich in so was nicht mehr ganz hineinversetzen kann. Heute betrachtet sich nach wie vor der Islam als ein derartig integrales, alle Lebensbereiche vereinheitlichendes System, und heute hat man Angst, dass der Islam sich über das ganze Abendland überstülpen will. Heute wollen die Chinesen die ganze Welt sinisieren. (Wie beruhigend also zu sehen, wie solche Hoffnungen schon damals eine völlige Fehleinschätzung waren.)

72 Was für tapfere, gleichsam heroische Menschen der Wissenschaft und der Pflege des interkulturellen Austauschs das waren, die uns im Briefwechsel von Leibniz mit den Jesuiten in China entgegentreten! Hättest du das gewagt, im Jahr 1692 einen morschen Kahn nach China zu besteigen, und umständlich die sieben Weltmeere befahren, um dort dann dem furchtbaren chinesischen Kaiser gegenüberzutreten (vorher müsstest du zudem noch Chinesisch lernen)? Großes, wohltuendes Vertrauen flößen solche Zeugnisse einem ein, in die Menschheit, in die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft! Was die Menschheit alles imstande ist, auf sich zu nehmen, um sich besser kennenzulernen und Wissen zu vertiefen! (Pascal hingegen hat für sich … entdeckt, dass das ganze Unglück der Menschen aus einer einzigen Ursache kommt: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können. (Gedanke 178)) Pascal wurde von seinem wissenschaftsbegeisterten Vater früh in die Wissenschaften eingeführt, tat sich selber als Knabe darin hervor, gelangte in den höchst elitären wissenschaftlichen Zirkel rund um Père Mersenne, korrespondierte mit Fermat (der Briefwechsel ist, zum großen Unglück für die Mathematik, leider verschollen) usw. Wie aber äußert sich Pascal über dieses hochedle und von solch einem Drang zur Konstruktivität angetriebenen Wesen, den Menschen? Alle Menschen hassen einander von Natur. Man hat, soweit man dazu imstande war, die Begehrlichkeit ausgenützt, um sie dem öffentlichen Wohle dienstbar zu machen: aber damit täuscht man nur ein falsches Bild der Liebe vor, denn im Grunde ist das nur Hass. (Gedanke 245)

73 Gegen die schreiben, welche die Wissenschaften zu sehr vertiefen. Descartes. (Gedanke 64)

74 Descartes und Pascal waren Zeitgenossen. Der ältere Descartes war als Mathematiker, Wissenschaftler und Philosoph eine fix etablierte, unhintergehbare Größe in der intellektuellen Szene seiner Zeit. Auf den Jungstar Pascal blickte er mit (zumindest verstohlener) Neugier, aber scheinbar auch mit einem gewissen Argwohn und vielleicht mit Eifersucht. Descartes hat Pascal nur zweimal kurz hintereinander aufgesucht, da lag Pascal krank im Bett. Er wollte dabei vor allem die Frage nach dem Vakuum diskutieren, über die er und Pascal gegensätzlicher Meinung waren. Pascal hat sich zu dem Zeitpunkt dafür aber nicht mehr so sehr interessiert. Er empfand das Gespräch mit Descartes nachträglich als limitiert.

75 Descartes gilt als der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Seine Intervention ist die Postulierung des klar analytischen, deduktiven Denkens als alleiniger Methode, um zu wahrheitsfähigen Aussagen zu kommen. Seine andere Intervention ist die Skepsis. Sich der zweifelhaften Natur von fast allem, was ihn umgibt und dennoch allgemein als „wahr“ angenommen wird, will Descartes skeptisch alles in Zweifel ziehen, ob es denn tatsächlich wahr sein könne, und es einer umfassenden, radikalen Überprüfung unterziehen. Damit stößt Descartes an und für sich vor in eine Philosophie ohne religiös-metaphysischen Überbau und ohne Gott (auch wenn er diesen, über scheinbar klare logische Argumente, sofort wieder einführt, wie alles Mögliche andere auch. Ein Landsmann hat über Descartes witzig geurteilt: Er hat zuerst alles bezweifelt, um schließlich alles zu glauben. Der Kern von Descartes Intervention liegt aber eben tiefer und ist allgemein brauchbarer). Auf jeden Fall ist mit Descartes die Frage der Philosophie nicht mehr: Was ist die Struktur des Seins? Sondern: Was kann ich wissen, worüber kann ich mir tatsächliche Klarheit verschaffen? Das Zentrum der Philosophie wird also das autonome Subjekt. Unumstößliche Gewissheiten strebte die Philosophie zwar immer schon an, neu war aber die denkerische Radikalität, die man diesbezüglich bei Descartes hatte. Heute scheint der Gestus von Descartes schon lange nicht mehr radikal, sondern vielmehr banal. Auch wenn wahrscheinlich trotzdem kaum ein Mensch so wie Descartes nach wie vor denkt. Aber in seiner ursprünglichen Originalität war er vielleicht ähnlich radikal wie das Philosophieren von Wittgenstein.

76 Wittgenstein wird als lausiger Volksschullehrer beschrieben, für einen solchen Job naheliegenderweise kaum geeignet. Aber er hat seine Schulkinder nicht nur geschlagen, sondern konnte ihnen auch ungewöhnlich nahe sein und hat sich über das gewöhnliche Maß hinaus um sie gekümmert. Als bei einer Wanderung durch den Wald ein Junge ängstlich wurde, gesellte sich Wittgenstein zu ihm und sagte: Hast du Angst? Dann musst du nur ganz fest an Gott denken.

77 Wittgenstein ist so charismatisch, weil er ein durch und durch existenzieller, von der Frage nach dem Sinn der Existenz scheinbar gebeutelter Denker scheint. Er war auch moralisch kompromisslos, und hatte, trotz seiner weltlichen Natur, ein religiös erhobenes moralisches Empfinden. Immer wieder hat sich Wittgenstein in seinem Leben mit seinen „Sünden“ beschäftigt, und wollte sie abtun. Als er sich Jahrzehnte danach an ein Mädchen erinnerte, das er als Lehrer besonders hart geschlagen hatte (weswegen er dann auch seinen Posten verloren hatte), fuhr er beim nächsten Mal, als er in Wien war, im tiefsten Winter über den Wechsel nach Niederösterreich (damals eine Reise von vier Stunden), um sich bei der mittlerweile Erwachsenen in aller Form zu entschuldigen und bei ihr Abbitte zu leisten. Mit einem teilnahmslosen Ja, ja… winkte die ihn ab. Daraufhin fuhr Wittgenstein im tiefsten Winter wieder vier Stunden zurück über den Wechsel nach Wien. Als er seinen Posten als Volksschullehrer angetreten hatte, schrieb Wittgenstein an Russell über seine neue Erfahrung: Auch wenn Menschen überall schlecht seien, komme es ihm so vor, als wie sie bei ihm in Niederösterreich am schlimmsten wären. Russell hielt dagegen, die Niederösterreicher und ihre Kinder seien wohl auch nicht schlimmer als die Menschen anderswo. Unterhaltung zwischen erlauchtesten Geistern.

78 Wittgenstein verfügt über ein einzigartiges Charisma, denn er war eine Art Heiliger, eine religiöse Figur in einem modernen Zeitalter. Das Verlangen danach, die Wahrheit herauszufinden, und festzustellen, was richtig ist und was falsch, war bei ihm so stark ausgeprägt, und so rücksichtslos seiner eigenen Person und seinen eigenen weltlichen Interessen gegenüber, dass es eben religiös wurde. Wenn einem Wahrheit so stark beschäftigt, wird die Wahrheit etwas Heiliges. Je mehr man sich der Wahrheit annähert – und desto luzider man sie erkennt – desto mystischer wird sie (weil sie sich ja immer wieder entzieht) und man lebt in einem Raum des mystischen Ahnens. Das ganze Leben ist eine geistige Suche und wird somit also spiritualisiert. Religion bedeutet eben sorgfältige Beachtung, Unterwerfung unter ein höheres Prinzip. Und dieses höhere Prinzip, die absolute Instanz ist für den Wahrheitssucher eben die Wahrheit. Rene Girard geht davon aus, dass tiefsinnige Schriftsteller Erfahrungen machen, die er in eine Klasse mit den religiösen Erfahrungen stellen will. Klar, wenn man sich so intensiv mit der Menschheit beschäftigt, sich introspektiv und empathisch, sympathetisch in sie vertieft, und nach einer Lösung sucht für die Probleme der Menschheit und das Menschheitsproblem, gerät man in diesen selben religiösen Raum. Einstein formuliert eine „kosmische Religiosität“: eine Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Universums, als der übergeordneten, absoluten Instanz.

79 Bei Wittgenstein waren die intellektuelle Existenz und die ethische Existenz unmittelbar verbunden, und in diesem Amalgam haben sie sich diese Pole gegenseitig intensiviert. Sein Problem war, wie man aus logischen Sätzen ethische Sätze gewinnen könne; und er erachtete das als unmöglich. Es handle sich um verschiedene Sphären. Das religiöse Empfinden verbindet aber urtümlich Seinsaussagen mit Sollensaussagen, empfindet das Dasein als etwas Normatives, die grundsätzliche, logisch ablesbare Ordnung der Welt als eine profund ethische. Wittgenstein sagt im Tractatus: der Sinn lasse sich nicht aussagen, der Sinn zeige sich. Der hochethische Wittgenstein hat keine moralphilosophischen Aussagen gemacht. Aber er hat die Moral aufgezeigt, indem er kraftvoll ethisch gelebt hat. Er hat seine moralphilosophischen Aussagen gemacht, aufgezeigt, durch seinen praktischen Lebensvollzug.

80 Das rätselhafte Charisma, eigentlich müsste man sagen, die hypnotische Wirkung, die Wittgenstein auf andere Intellektuelle ausübt, beruht (neben dem Rätselhaften an sich, das man bei jedem Charisma hat) auf der extremen Entschlossenheit und Prägnanz, dem scheinbaren Gestus übermenschlicher Kraft und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, mit der sich Wittgenstein auf eine oder in eine Sache stürzt, um deren Wahrheit zu bestimmen oder deren Qualität festzustellen. Sowie gleichzeitig, dass er sich von einer Sache zu lösen weiß, wenn die Wahrheit woanders zu liegen scheint. Er orientiert sich tatsächlich an rein abstrakten Qualitäten, wie dem Wahren, Guten, Schönen, und nicht an Gegenständen, in denen er diese Qualitäten letztendlich reinprojizieren würde. Mit dieser ungeheuren Flexibilität imitiert Wittgenstein scheinbar die Fluidität des Geistes Gottes. Er ergreift die Dinge ernsthaft, und ist ernsthaft genug, sie wieder loszulassen und sie nicht zu verabsolutieren und zu verdinglichen. Er kann sich in eine Richtung bewegen und in eine beliebige andere auch, und schlägt vor allen Dingen dauernd unvorhersehbare Haken; allerdings nicht aus einer Laune heraus, sondern je nachdem, wie sich die Gedanken in aller Stringenz entwickeln. Denken heißt, einer Hexenlinie folgen. (Deleuze/Guattari) Wittgenstein errichtet eine Metaebene über die Philosophie und über das Denken: und das ist das rätselhafte Charisma Wittgensteins. Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr heraufgestiegen ist.), lautet der vorletzte Satz 6.54 aus dem Tractatus, unmittelbar vor dem unergründlichen Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wittgenstein ist kein systemerstellender) Philosoph, sondern ein (alle Systeme reflektierender) Meta-Philosoph. Damit hat Wittgenstein dann wahrscheinlich den transzendentalen Intellekt, über den nichts mehr hinausgehen kann. Und das ist dann eben das rätselhafte Charisma von Wittgenstein.

81 Sich über die Philosophie lustig machen, das heißt in Wahrheit philosophieren. (Gedanke 702)

82 (Soll man versuchen, Gedanken 702 auch auf die Religion anzuwenden? Das ergibt dann eine Meta-Religiosität. Dem Absoluten kann man sich nicht gleichberechtigt nähern. Auf der Metaebene kann man aber mit ihm tanzen und sich mimetisch zu ihm verhalten. Das ist die Hoffnung. Das Erbauliche in dem Gedanken, dass man gegen Gott immer unrecht hat. Und das muss einen praktisch nicht verzweifeln lassen. Denn es ist ja nur eine gedankliche Wahrheit.)

83 Wahrscheinlich ist das die Art und Weise, wie man leben soll; der Lebensvollzug auf der höchsten Stufe. Das scheint kaum einem einzuleuchten, und Wittgensteins Leben gilt, aufgrund seiner ständigen Hin- und Hergebeuteltheit, als exemplarisch unglücklich. Wittgensteins letzte Worte auf dem Totenbett aber waren: Sagen Sie allen, ich hatte ein wundervolles Leben.

84 Descartes begründet einen Optimismus. In seiner Welt wird es Licht, es wird eine Methode angegeben, wie die Welt eindeutig begreifbar und beherrschbar werden kann, und dieses Licht liegt im Menschen selbst. In seiner Schrift über Die Leidenschaften der Seele betrachtet Descartes auch Gefühle in einer gleichsam mechanischen Art und Gefühlsregungen als deduktive Ableitungen (etwas, das man, ebenso irritierend, später dann auch bei Spinoza wiederfinden sollte, der ebenfalls glaubte, in der deduktiven Methode nach dem Vorbild der Geometrie alles bestimmen zu können). Das unterscheidet sich dann doch sehr von der zerklüfteten, sturmumwitterten Landschaft, die man bei Pascal hat, der Atmosphäre, wo aus dem Halbdunkel Teile eines Antlitzes mit einem halbverrückten Grinsen einem entgegenragen. Bei Pascal hat man ein Klima der Instabilität und der Irrationalität, wenn über die Leidenschaften und über das Sein des Menschen gesprochen wird. Das für immer unbeherrschbar bleibt, außer man flüchtet sich absolut zu Gott. Skeptizismus diesbezüglich ist die Sache von Pascal nicht, nur eben der unbedingte Glaube (inmitten eines irdischen Umfeldes, das aber nicht zu einem wohldosierten Skeptizismus einlädt, sondern pathologisch unzuverlässig ist). Was auch immer Descartes für die Philosophie geleistet hat, die lebensechtere Darstellung des Lebens und des Literarischen und Poetischen im Leben, ist viel eher die Sache und das Verdienst Pascals. Pascal war ein Schriftsteller des Lebens. Während Descartes also der Begründer der modernen Philosophie ist, so ist Pascal gleichsam der Begründer der Existenzphilosophie.

85 Ich habe lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften verbracht, und die geringe Möglichkeit der Mitteilung, die man darin haben kann, hat sie mir verleidet. Als ich mit dem Studium des Menschen begann, habe ich gesehen, dass diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht gemäß sind, und dass ich mich durch mein Eindringen in sie über meinen Zustand mehr getäuscht habe als die anderen, indem sie nichts davon wussten. Ich habe es den anderen verziehen, dass sie wenig davon wussten. Aber ich habe geglaubt, wenigstens beim Studium des Menschen sehr viele Gefährten zu finden, und geglaubt, dass dies das wahre, dem Menschen gemäße Studium sei. Ich habe mich getäuscht: Es gibt derer, die den Menschen erforschen, noch weniger, als derer, welche die Geometrie studieren. (Gedanke 209)

86 Ein gutes Mittel, gegen das Gefühl, einsam und ungeborgen zu sein, ist sicherlich die Religion.

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87 Unsere ganze Würde besteht im Denken. Daraus muss unser Stolz kommen, nicht aus Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: das ist das Prinzip der Moral. (Gedanke 128)

88 Was der Kern von Religion sei – falls eine solch fetischistische Vorstellung einem so weitläufigen Phänomen überhaupt angemessen sein kann – mag jeder unterschiedlich beantworten. Andrea betrachtet sie als eine Nebelgranate im Klassenkampf. Fjell aus Norwegen möchte hingegen, Odins Raben folgend, um die Welt segeln und Thors Hammer auf England niedersausen lassen, um es besser ausrauben zu können. Gottfried Wilhelm delektiert sich an Zahlenmystik. Bei Muhammad wirkt die Religion als ein süßer und willkommener Verstärker auf seine angeborene Paranoia, während das Dorf von Razia, einer Rohingya in Burma, gerade niedergebrannt wird, weil sich ihre kulturellen Codes zu stark von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, oder dem, was die Militärjunta als solche in dem Vielvölkerreich etablieren will. Gott bewahre einem daher vor allzu vereinheitlichenden Vorstellungen über die Religion(en). Im Maße man mehr Geist hat, findet man mehr Originalität unter den Menschen. Die gewöhnlichen Leute finden keinen Unterschied unter den Menschen. (Gedanke 707)

89 Sehen wir also, betrachten wir das wir das aber so, ohne es als allzu verbindlich zu postulieren: der Kern der Religion ist das Gute und die Suche nach dem Guten. Wissenschaft und Politik sind Erklärung und Handhabung der Welt, so wie sie ist; Religion beschreibt die Welt so, wie sie sein sollte. Während der Mensch, wie es religiöse Menschen immer wieder betonen, sündig und egoistisch geboren sei, könne er durch seine Hinwendung zum Nebenmenschen, und zur Gesamtheit der Nebenmenschen, sich zum Guten hinwenden. Wir werden … geboren, wir werden also ungerecht geboren, denn alles strebt zu sich selbst. Das ist gegen alle Ordnung: man muss zum Allgemeinen streben, und der Hang zu sich selbst ist der Anfang aller Unordnung … Wenn die Mitglieder der natürlichen und politischen Gemeinschaften das Wohl der Gesamtheit erstreben, so müssen die Gemeinschaften selbst eine andere, allgemeinere Gesamtheit anstreben, deren Mitglieder sie sind. Man muss also das Allgemeine erstreben. Wir werden also ungerecht und entartet geboren. (Gedanke 87)

90 Der gute Mensch ist also der, der sich nicht fragt: Wie kann diese Sache für mich nützlich sein?, sondern: Wie kann diese Sache allgemein von Nutzen sein? Glück hat dann derjenige, bei dem das Zweitere als natürlicher Reflex so angelegt ist. Sein Ich ist dann so strukturiert, dass er natürlich auf das Allgemeine bezogen empfindet und reflektiert. Es muss das dann nur noch kultivieren, aber eigentlich nichts mehr überwinden. Er muss sein Ich nicht hassen, so wie es Pascal dauernd vorschlägt: Das Ich ist hassenswert… (Gedanke 587) Sie wollen nur Gott dienen, sie wollen nur sich selbst hassen. (Gedanke 45) Um es nicht falsch zu verstehen: Pascal und seine Familie haben so viele altruistische Unternehmungen geleitet und sich für den Nächsten aufgeopfert, dass ich mich am liebsten schamvoll in einer kleinen Ecke verkriechen möchte, angesichts meiner diesbezüglich kleinen Verdienste. Aber/also warum kommt dann bei ihm, und bei diversen Heiligen, immer wieder die Proklamation des Selbsthasses und die Aufforderung dazu? Leiden sie, dysfunktional, an Angstzuständen oder an einem grausamen Über-Ich? Dramatisieren sie ihren Glaubenskampf? Oder sind sie eben tatsächlich so sündig und ichbezogen, dass diese Selbstablehnung nicht von ungefähr kommt? Die Jansenisten berufen sich auf den eigentlichen Kirchenvater Augustinus. Kenne ich nur oberflächlich, aber so wie es scheint, hatte Augustinus enorm viel Böses in sich, für das er sich geschämt hat („mein sündhafter Charakter“ usw.) und daher rigorose Praxen gegen das Böse aufstellen wollte, die aber naturgemäß, in einem so einen Fall, ebenfalls vom Bösen durchzogen sind. Da Leute in ihren Schwächen und in ihren Neurosen nicht allein sein wollen, wollen sie ihre Schwächen und Neurosen in der ganzen Welt sehen und eine neurotische Weltsicht etablieren und für alle verpflichtend machen. Augustinus wurde zum Kirchenvater. Da das ein Phänomen von enormer Tragweite ist, werde ich also auch Augustinus näher studieren müssen.

91 Die eineinhalbjährige Giovanna Milagros nimmt gerne alles Mögliche an sich, und wirft es dann außerdem immer wieder in einem hohen Bogen von sich weg, sobald sie es hat. Ihr Geschrei, wenn sie etwas nicht sofort bekommt oder sie sonstwas irritiert, erschüttert Haus und Hof. Süßes Obst hat sie gern. Immer wenn ich eine Pera oder eine Ciruela esse, kommt sie her, und will ein Stück, sobald sie dieses verzehrt noch eines, bis wir beide die Frucht ganz aufgegessen haben. Aber sie gibt auch immer wieder gerne Sachen her. Kleine Kinder sind so, dass sie ihre Sachen bereits früh mit anderen teilen wollen. Dem kann man jetzt mit einer dieser Psychologien des Verdachts begegnen: das würden die Kinder nur machen, um sich einen späteren Vorteil zu sichern; oder anzugeben; oder sich dem anderen, durch eine herablassende Geste der Gabe, überlegen und monarchisch fühlen zu können. Aber nehmen wir an, dergleichen steckt nicht dahinter, sondern solches Verhalten ist rein und ursprünglich. Dann können wir also davon ausgehen, dass Menschen bereits von Anfang an nicht bloß egoistisch sind, sondern auch eine prosoziale Natur haben. So gesehen ist die vollkommene Verzweiflung über die menschliche Natur, so wie man sie bei Pascal hat, unangemessen.

92 Überhaupt: warum verzweifelt einer? Weil er keinen Ausweg mehr hat. Prüfen wir diesen Punkt und sagen wir: Gott ist, oder er ist nicht. Aber welcher Seite werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann hier nichts entscheiden: es ist ein unendliches Chaos, das uns trennt. Wir spielen am äußersten Ende dieses unendlichen Chaos ein Spiel … (Gedanke 83)

93 Chaos, Chaos! Parteiische Menschen sehen außerhalb ihrer Partei nur das Chaos, und können kaum anders. Das gilt insbesondere für Parteien mit eschatologischem Anspruch. Zwar mögen Kommunisten mit ihrer Partei sehr unzufrieden sein. Aber was sollen sie tun? Außerhalb ihrer Partei und ihrer Weltanschauung können sie gemeinhin nur Chaos erblicken, vor dem sie sich erschreckt abwenden. Wenn man die Dinge im Außen näher studiert, wird man draufkommen, dass sie meistens so chaotisch nicht sind, sondern sogar vielleicht logischer und intuitiver als die eigenen Glaubensartikel. So bezwingt man das Chaos, schiebt es etwas weiter zurück. Es ist das Problem dichotomischer Weltanschauungen, dass sie nur sich und das Chaos sehen können. Betrachten wir die Wirklichkeit hingegen so, wie sie ist: also als teilweise göttlich-geordnet und sinnvoll; als teilweise chaotisch und des Sinnes entbehrend. Seitdem ich diese Physik und Metaphysik vom Chaosmos pflege, bin ich gesund, und kann zwischen meinem Auge und dem Auge Gottes kaum mehr unterscheiden, denn ich sehe somit das was alle sehen wollen, was aber kaum einem zu sehen gelingt: das Große Ganze, das ganze Große Spiel. Hallelujah.

94 Mit der Erschließung des Chaosmos ist die Existenz einerseits völlig enträtselt und sind ihre Zumutungen daher vollständig überwunden. Andererseits ist die Geometrie vom chaosmotischen Weltbild fraktal: man stößt auf immer wieder neue Manifestationen von Ordnung und Chaos, so dass man ständig auf Trab gehalten wird. Langeweile im Pascalschen Sinn kommt keine mehr auf. Man ist in Stasis, man ist in Bewegung. Man ist das ruhende Auge im Tornado. Deswegen verkünde ich gerne die Religion vom Chaosmos.

95 Das Böse ist leicht und es gibt unendlich viel Formen des Bösen; das Gute ist beinahe einförmig. (Gedanke 684) Das Böse ist simpler als das Gute. Denn das Böse ist direkt und will eindeutig was. Destruktivität kann ein einfaches Ziel benennen, Konstruktivität geht immer über jedes eindeutige Ziel hinaus, will ständig neue Häuser bauen. Das Böse mag kompliziert sein, voller Winkelgänge, es liebt den Hinterhalt und das Arbeiten im Verborgenen, wie aber genauso den frontalen Angriff, das Böse ist labyrinthartig. Das Gute hingegen ist komplex, und das heißt: in seinen möglichen Erscheinungsformen niemals völlig vorhersehbar und erklärbar. (Allerdings ist es mit sich selbst identisch und daher, bei aller Komplexität, einförmig.) Das Gute wächst über sich hinaus. Der Teufel ist als Widersacher gedacht. Raffiniert ist er, und er kann eine Vielfalt von Erscheinungen annehmen. Aber das Göttliche sind unendliche Räume, in denen er letztendlich herumirrt, und aus denen er nie herauskommt. Solange es Sein gibt und nicht Nichts, triumphiert das Gute, denn wo das Nichts einförmig ist, kann das Sein unendlich viele Formen annehmen. Und wenn schließlich das Nichts triumphiert, mag man es auch als gut ansehen; als vielleicht sogar noch besser. Es war Pascal, der Angst vor dem Tod als Nichts hatte. Schopenhauer hingegen fand das Eingehen in das Nichts als die beste Sache von der Welt. Vielleicht hat man von diesem Sein und seiner verwirrenden Vielfalt irgendwann einmal genug.

96 Wer gut ist, wird erlöst und kommt zu Gott in den Himmel; wer böse ist, wird verdammt und fährt zum Teufel und zur Hölle. Was aber ist der Himmel, und was die Hölle? Über den Himmel hat sich Pascal kaum ausgelassen. Er spricht hauptsächlich von „ewiger Seligkeit“ und dem Seelenheil. Die Hölle sind für ihn gleichsam die irdischen Verhältnisse selbst. Damit ist seine Vorstellung vom Himmel gleichsam negativ bestimmt, und beinahe als eine unterschiedslose Euphorie, weil Gott da ist, und die Lebenswelt nicht mehr da ist. Im Paradies auf jeden Fall sind die Seelen in ewiger Kommunion mit Christus, der wiederum für die All-Kommunion sorgt. Der positive Inhalt des Lebens ist es, gute Beziehungen herzustellen; zu dem, was uns umgibt und zu uns selbst. Im Paradies leben unsere Seelen dann nur mehr in guten Beziehungen, in der All-Kommunion. Es gibt keine schlechten Beziehungen mehr. Das also ist das Paradies.

97 Man fragt sich: Kann das für so viele Menschen überhaupt etwas sein, streitsüchtig und zänkisch, wie sie sind; für die „gute Beziehungen herstellen“ in der Praxis bedeutet: ihre Neurosen zu pflegen und zu bestärken, und sich dadurch von der All-Kommunion eben gerade abwenden? Was sollen solche Seelen im Himmel also überhaupt anfangen? Laut dem Geisterseher Emmanuel Swedenborg steht die Einrichtung der Hölle nicht im Gegensatz zur angenommenen großen Barmherzigkeit Gottes, sondern ist vielmehr ein Beispiel seiner Gnade. Himmel und Hölle seien so Welten, in denen man emotional lebt, wie man es schon auf Erden getan hat; etwas anderes würde man auch gar nicht verstehen. Die große Liebe und Barmherzigkeit Gottes würde die für die Hölle Bestimmten schnell geradezu erdrücken. In der Hölle hingegen können sie sich streiten, neurotisch sein usw., und für jede Pathologie hat die Vorsehung wohlweislich einen eigenen Höllenkreis eingerichtet. Das Paradies ist aber All-Kommunion auf der Basis guter Beziehungen.

98 Was ist der große Sinn, was ist die wirkliche Erfüllung im Leben? Man könnte annehmen, jemand wie David Bowie müsste das wissen. Ruhm, Talent, Genie, Kunst, Musik, eine großartige Stimme, Geld, Modebewusstsein, ästhetischer Sinn, Schönheit, eine markante Physiognomie, Charisma, Sex-Appeal, Bisexualität, Bekanntschaften, Drogen, Party, Exzesse, Bildung, Familie, Ruhe, all das ist diesem seltenen Menschen zugeflogen. Und er hat sich nie lächerlich gemacht, sondern immer eine gute Haltung bewahrt, auch wenn er schwächere Alben herausgebracht hat, oder Kunst, die nicht so gut war. Er hat in dieser Welt alles – und noch dazu überreichlich – erreicht, was man wohl erreichen kann. Wie aber würde er sein Leben leben, wenn er es nochmals könnte? Er würde es spiritueller leben, so darauf seine Antwort, als eine Art Mönch, dabei ein Mönch, der trotzdem viel Gitarre spielt. Die Reichen, die sich in dieser Welt alles leisten können, bekommen später im Leben dann immer wieder Sehnsucht nach den Künstlern, umgeben sich gerne mit denen, weil ihnen das mysteriöse Künstlerische, als eigentlicher Modus der menschlichen „Selbstverwirklichung“, noch fehlt im Leben, und sie es gerne hätten. Die Künstler, die alles erreicht haben, wollen schließlich Mönch werden… die Spiritualität, die geistvoll-empathische gute Beziehung zu allem und zu uns selbst, ist der Malstrom, der uns alle, bewusst oder unbewusst, verschlingt und in dem das Chaos und das Rätsel der Existenz schließlich an ihr Ende stoßen.

100 Mit Einem Wort, ein Heiliger sein, und damit ist Alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge, welche, im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so schön, dass sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig, als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswert, als nur das Laster. Die Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig. – Das ist der letzte Aphorismus, mit der Nummer 300, aus dem Handorakel und Kunst der Weltklugheit, der Strich, den es unter das Leben zieht und die Summe, die es darunter setzt, von Baltasar Gracián, einem Zeitgenossen Pascals. Gracián war ein spanischer Jesuit und hatte nicht das tiefe Empfinden Pascals. Aber Weltklugheit, die hatte er. Ich werde wieder einmal Gracián lesen müssen.

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101 Pascals Mutter Antoinette starb kurz nach der Geburt des dritten Kindes, Jacqueline. Blaise war damals drei Jahre alt. Antoinette Begon stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die in den Amtsadel strebte, dem Pascals Vater in zweiter Generation angehörte. Wenn Schopenhauer recht hat, dass man die Intelligenz von der Mutter erbt, das Temperament vom Vater, was muss Antoinette Begon dann wohl für eine Frau gewesen sein?

102 Pascals vorzüglicher Vater, Étienne, war Steuerrichter und ein hochgebildeter Mensch, der mit den größten französischen Gelehrten auf vertrautem Fuße stand. Angesichts der Talente, die sich bei allen drei Kindern schon früh bemerkbar machten, gab er seine Stellung auf und widmete sich ganz der Erziehung seiner Kinder. Sanft und verständnisvoll – nach den Empfehlungen Michel de Montaignes – wurden Gilberte, Blaise und Jacqueline mit den Wissenschaften vertraut gemacht, in denen sich Blaise auf dem Gebiet der Mathematik schon als Knabe eigenständig hervortat. Auch auf Ètienne selbst geht eine mathematische Innovation zurück, die Pascalsche Schnecke. Aufgrund eines Verdachts einer Verschwörung fiel Ètienne dann beim Regime in Ungnade. Diesbezüglich rehabilitierten ihn die Talente seiner Tochter Jacqueline, die als Wunderkind die Königin höchstselbst nachhaltig zu bezaubern wusste und somit den Bann, der über ihre Familie verhängt war, zu lösen vermochte. Ètienne wurde daraufhin zu einem hohen Steuerbeamten ernannt. Bei den umständlichen Berechnungen ging ihm Blaise zur Hand, der deswegen eine Rechenmaschine erfand und konstruieren ließ, um die Arbeit zu erleichtern. Man kann also sagen, dass sich Étiennes Investitionen in seine Kinder ausgezahlt haben. Als er sich im fortgeschrittenen Alter das Bein brach, wurde er von jansenistischen Brüdern gepflegt. Er schloss sich dem Jansenismus an, und seine Kinder folgten ihm darin. Incipit tragoedia. Einige Jahre darauf starb Étienne im Alter von 63 Jahren.

103 Die Frau seines Lebens war für Blaise Pascal seine höchstbegabte Schwester Jacqueline. Von Kindesbeinen an waren die beiden eng verbunden. Jacquelines Begabung war zunächst eine poetische. Mit ihren spontanen Dichtungen setzte sie die Königin höchstselbst so sehr in Erstaunen und Entzücken, dass sie eine Begnadigung ihres Vaters erwirkte, der beim Regime in Ungnade gefallen war. Die Königin Anna von Österreich wollte das Wunderkind ständig um sich haben. (Ich habe in einer Pascal-Biographie einige Stellen aus ihren Gedichten gelesen. Sie haben sich mir aber nicht erschlossen. Aber das ist bei Gedichten bei mir selten der Fall. Ob es tatsächlich große Poesie war und nicht nur (außergewöhnliche) Talentproben, weiß ich nicht. Wenn es aber große Poesie gewesen wäre, wäre sie ja wohl diesbezüglich bekannt. Ich muss das bei einer Gelegenheit noch einmal genauer studieren, wenn ich kann.) Als junge Erwachsene bekannte sich Jacqueline zum Jansenismus und hängte die Dichtung allerdings an den Nagel (also, bevor sie als Dichterin noch tatsächlich reifen konnte). Sie schwor, sehr zum Verdruss ihres Bruders, nach dem Tod des Vaters in das Konvent von Port-Royal einzutreten, und tat das dann auch. Blaise, der es ohne sie schwer aushielt, siedelte sich daraufhin in ihrer Nähe an. Als Ordensfrau verfasste sie Werke über die Kindeserziehung und auch biographische und autobiographische Texte. Zunehmend gerieten die Jansenisten und ihre spirituelle Hochburg Port-Royal unter politischen Druck, dem die glaubensfesten Jansenisten lange standhalten konnten. Trotzdem erwies sich der Druck seitens der Regierung als übermächtig und schließlich mussten die Nonnen von Port-Royal, und auch Jacqueline, eine aufoktroyierte Erklärung unterzeichnen, in der sie sich von ihren Ansichten distanzierten. Um ihren religiösen Lebensinhalt betrogen starb Jacqueline wenig später am Tag ihres 36. Geburtstages. Der Verlust seiner geliebten Schwester hat Pascal noch schwächer und lebensmüder gemacht, als er es schon war. Im Jahr darauf bereits sollte er ihr folgen.

104 Gilberte war das unbegabteste und einfältigste unter den Pascal-Geschwistern. Das bedeutet aber, dass sie dennoch deutlich intelligenter war als das, was einem im täglichen Leben unter einem „intelligenten Menschen“ allgemein begegnet. Sie sprach mehrere Sprachen und war sehr gebildet. Ihr Leben verlief, nach äußeren Umständen gemessen, auch glücklicher als die ihrer beiden Geschwister. Sie heiratete und brachte sechs Kinder zur Welt. Auch sie war religiös, aber nicht in einer so morbiden Weise wie die beiden genialen Geschwister. Ihr verdanken wir die ersten Biographien von Blaise und Jacqueline, und sie brachte Pascals Gedanken heraus. Sie starb im Alter von 67 Jahren, nachdem sie ihr späteres Leben in selbstgewählter Einsamkeit zugebracht hat.

105 Marguerite Périer war Pascals Nichte, die als Kind durch die Berührung mit einer religiösen Reliquie von einem hartnäckigen Augenleiden geheilt wurde, und die durch dieses Wunder den Anstoß für die Verfassung der Gedanken gegeben hatte. Immer wieder, wenn ich im Museum Bilder betrachte aus längst vergangenen Zeiten, mit Menschen, die alle schon lange gestorben sind, werde ich nachdenklich und frage mich vor allem bei den Kindern, wie ihr späteres Leben, das dennoch schon lang vorbei ist, den langen ruhigen Fluss vollständig entlang gezogen ist und sich endlich ins Meer verlaufen und aufgelöst hat, wohl verlaufen ist. Erwachsene faszinieren mich weniger, weil die bereits was geworden sind. Kinder aber sind noch Potenzial, sie werden erst was. Und damit sind sie mir näher. Vor zum Beispiel das Gemälde Blick aus einem Torbogen auf Prag von Karl Postl, ermalt um das Jahr 1800, frage ich mich, was wohl aus dem kleinen Jungen geworden ist, der im Bild links die Mauer hochzuklettern versucht? Oder aus dem kaum sichtbaren Mädchen am Arm ihrer Mutter in der Bildmitte, in der sich der Blick auf Prag öffnet? Vielleicht ist der eine in den Himmel, die andere zur Hölle gefahren. Warum aber, und was haben sie in ihrem Leben angestellt, zu was sind sie möglicherweise vom Schicksal gezwungen worden, was erfolgte aus freiem Entschluss? Über so etwas sinniere ich bei der Betrachtung von alten Bildern gerne nach. Marguerite aber wurde ebenfalls Nonne und bekam im Laufe ihres Lebens immer wieder Probleme im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jansenisten. Sie widmete sich Werken der Nächstenliebe und verfasste Erinnerungen an ihren Onkel Blaise und an ihre Mutter Gilberte. Ihre eigenen Memoiren sind bis heute verschollen. Wenn sie auftauchen, werde ich sie irgendwann einmal lesen. Sie starb im biblischen Alter von 87 Jahren. Die Geschichte von ihrem Augenleiden und dessen wundersamer Heilung berührt und mystifiziert mich. Ich will diese Gedanken zu Pascal daher der zehnjährigen Marguerite Périer widmen.

106 Eine der großen infrastrukturellen Errungenschaften, auch wenn man sie heute beinahe übersieht, ist, neben der Kanalisation, der Müllabfuhr und der Chlorung von Trinkwasser das öffentliche Verkehrssystem. Was hat man davon, wenn man in einer Stadt lebt, aber Kilometer weit weg vom Zentrum? Früher ist man aus seinem Viertel kaum rausgekommen. Was für beengte, kleinkarierte Lebensverhältnisse also. Und auch wenn man heute die elfjährige Amantlé und ihre Schwester, die zwölfjährige Aissatou aus dem Dorf in Sambia fragt, was der weiteste Punkt ist, wo sie im Leben hingekommen, dann werden sie zur Antwort geben: bis zur Straßenkreuzung. Oder: bis zum Brunnen vor dem Tor. Die (nicht nur heutige sondern) historische Unterentwicklung von Afrika liegt vor allem darin begründet, dass der Kontinent schlecht erschließbar und verkehrsmäßig verbunden ist. Das gilt für den Landweg als auch für den Flussweg, denn afrikanische Flüsse sind, aufgrund ihrer ständigen Stromschnellen und Wasserfälle, über weitere Strecken schlecht passierbar. So kann ein Kontinent aber nicht gut zusammenwachsen und Handel und Austausch betreiben. Und so bleibt ein Kontinent auch ethnisch, kulturell und sprachlich stark fraktioniert (so wie es selbst Frankreich bis ins 20. Jahrhundert hinein geblieben ist; der Konservatismus von de Gaulle – so wie der von Adenauer in Deutschland – hatte seine tiefere Wurzel in der Sorge darin, die Nation mental zusammenzuhalten). Das erhöht dann das Potenzial für Rivalitäten zwischen Gruppen, für Bürgerkriege, Sezessionskriege usw., wie man sie in Afrika so überreichlich hat. Das öffentliche Verkehrssystem ermöglicht also insgesamt eine erhebliche Erweiterung des Erfahrungshorizonts und damit der Lebensqualität, wenn nicht der Allgemeinbildung. Es müsste eben auch zur Pazifizierung der Gesellschaft beitragen. In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Pascal, trotz seines Siechtums und seiner religiösen Weltabkehr, dem Aufbau von etwas, was damals noch völlig neu war: eben dem eines öffentlichen Verkehrssystems, in dem Fall von Kutschen, die zu festgelegten Uhrzeiten zwischen festgelegten Stationen in der Stadt kursieren sollten. Die Adeligen und die oberen Schichten waren dagegen, da das einfache Volk damit in etwa auf dieselbe Stufe gehoben wurde wie sie selbst. Heute sind die oberen Schichten nicht mehr so, ihr dementsprechendes Verhalten hat sich nur in andere Bereiche verlagert. Aber die gehen mich nichts an. Pascal hat aber so ein weiteres Mal – und ein letztes Mal im Leben – dazu angestoßen, einen neuen Bereich überhaupt aufzumachen, eben den des öffentlichen Verkehrswesens. Pascal sah darin ein echt christliches Unternehmen: den weniger Begüterten die Zirkulation und einige Annehmlichkeiten des Lebens zu ermöglichen. Ich selber habe kein Auto und keinen Führerschein, sondern verlasse mich ebenfalls auf den öffentlichen Verkehr. Hier in Wien haben wir, erwiesenermaßen, eines der besten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt. Und die Wiener Linien haben sogar einen guten Humor in ihrer Eigenwerbung und Selbstdarstellung. Ein sympathisches Unternehmen, ein tüchtiges Unternehmen. Der Urvater davon war also Blaise Pascal, auch wenn er die praktische Lebenswelt so sehr verworfen hat und nichts mit ihr zu tun haben wollte. Vor allem deswegen bin ich ihm sicher sehr dankbar.

19. März – 28. März 2025  

Essai über Montaigne

Mit den großen Philosophen erst beginnt das Gebiet der eigentlichen Größe … Sie bringen die Lösung des großen Lebensrätsels, jeder auf seine Weise, der Menschheit näher; ihr Gegenstand ist das Weltganze von all seinen Seiten, den Menschen nota bene mit inbegriffen … An die Philosophen möchten diejenigen anzuschließen sein, welchen das Leben in so hohem Grade objektiv geworden ist, dass sie darüber zu stehen scheinen und dies in vielfältigen Aufzeichnungen an den Tag legen: ein Montaigne, ein Labruyère. Sie bilden den Übergang zu den Dichtern.

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen

Was ist das Leben, objektiv betrachtet? Eine verfluchte, endlose Subjektivität und Idiosynkrasie, mit der kein verobjektivierender Geist jemals fertig werden kann! Der Philosoph versucht einen großen objektiven, theoretischen Rahmen zu etablieren, eine Arena zu entwerfen, innerhalb derer sich das Leben abspielt; mit dem möglichen Gewinn, einen Sinnzusammenhang und eine Verständigungsmöglichkeit über das Leben herzustellen, und der möglichen Gefahr, das Leben zu kastrieren, abzutöten, es zu einer Abstraktion zu machen, nur damit sie sich in die größere Abstraktion einfügt. Der Dichter ist kein echter Alliierter der Abstraktion, sondern bildet das Leben unmittelbarer ab. Der Poet verschafft seiner Subjektivität einen wortreichen Ausdruck. Der Dramatiker erstellt Situationen, in denen sich allgemeine Lebenssituationen verdichten und dramatisieren und wirft Figuren dort hinein, um zu sehen, wie sie sich darin benehmen. Der Romancier schafft Charaktere und Typen, die menschliche Eigenschaften illustrieren und, wenn es gut gelingt, höchst symbolkräftig darstellen. Der Großschriftsteller etabliert Charaktere, in denen sich überhaupt die Menschheit individualisiert: im Faust, im Don Quichote, im K., im Idioten. Und schafft so Menschheitsparabeln. Die Meditation und Durchreflexion der Unendlichkeit der subjektiven Manifestationen des Lebens ist hingegen Metier des Essayisten. Seine Sache ist das Durchdenken, das Sichvergegenwärtigen, das Abwägen von Subjektivitäten, das sich Annähern daran; weniger jedoch das Räsonieren darüber oder das Theoretisieren. Mir liegt zum Beispiel weniger daran, Ansichten zu haben, die gelehrt und geistesmächtig sind, als daran, dass sie einem unbeschwerten Leben dienlich seien: Ich finde sie schlüssig und vernünftig genug, wenn sie nützlich und befriedigend sind. (Über die Eitelkeit) Damit gerät er einerseits in die Nähe des Philosophen, bleibt ihm gegenüber aber auch in einem Abstand. Der Essayist will die Qualitäten spezifischer Subjektivtitäten feststellen, sie jedoch als Subjektivitäten erhalten. Das verlangt danach, die Qualitäten aller möglichen Subjektivitäten festzustellen, die schließlich auch gegeneinander abgewogen werden müssen. Damit ist die Aufgabe des Essayisten, der sich den subjektiven Manifestationen widmet, eigentlich endlos und unabschließbar. Er schreibt somit an einem endlosen Text. Der Philosoph arbeitet in der letzten Konsequenz an einem System und will das Unendliche verendlichen; er hofft auf einen endlichen, abgeschlossenen, endlich definitiven Text. Der Essayist, der die Qualitäten der subjektiven Manifestationen bestimmen und gegeneinander abwägen, deren Wert und Gewicht feststellen will, arbeitet hingegen an einem unendlichen Text. Sowohl der Philosoph, der das Weltganze in den Blick nimmt, aber vielleicht noch mehr der Essayist, dem die Lebenswelt gar nicht als Ganzes erscheinen kann, sondern als ein endloses Feld, das sich stets jenseits des aktuellen Horizontes erstreckt, müssen daher vielseitig und universal sein. Die wahrhaft schönen Seelen freilich sind die universalen, die allseits offenen und aufnahmebereiten: wenn nicht gelehrt, so doch gelehrig. (Über den Dünkel) Die Gelehrtheit ist das Abgeschlossene, daher möglicherweise das Lebensabtötende, oder dasjenige, das (vor allem im Verbund mit der Eitelkeit und dem Dünkel) glaubt, bereits mit dem Wesentlichen fertig zu sein. Das Gelehrige ist hingegen eben das Offene und Unabschließbare: es trachtet danach, sich ewig zu kultivieren und erlangt daher das Instrument der Kultur. Die Leute haben schon recht, wenn sie sagen, nur ein vielseitiger Mann sei ein Mann von Kultur. (Über die Eitelkeit) Und mit dem Instrument der Kultur wiederum kann man die Natur zähmen und daher auch den Wildwuchs der natürlichen subjektiven Manifestationen in der Welt, den Wildwuchs des Lebens. Mit Subjektivitäten fertig zu werden, ist eine Art Kunst, verlangt Instinkt, Intuition. Kultur wiederum kultiviert in einem Kunstfertigkeit (oder -verstand), Instinkt und Intuition. Wissenschaft, Rationalität, Gelehrtheit will eindeutige Aussagen über was machen. Kunst hingegen ist eine schöne eindeutige Illustration von den Mehrdeutigkeiten einer Sache, die unter Beobachtung steht. Und eine solche mehrdeutige Sache ist das Leben, eine solche mehrdeutige Sache ist der Mensch: der Gegenstand der Untersuchungen bei Michel de Montaigne. Wahrlich, der Mensch ist ein seltsam wahnhaftes, widersprüchliches, hin und her schwankendes Wesen! Es fällt schwer, ein gleichbleibendes und einheitliches Urteil darauf zu gründen. (Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel) Insofern es schwerfällt, ein einheitliches und gleichbleibendes Urteil über den Menschen zu gründen, kann ein solches Urteil immer nur ein versuchsweises und vorläufiges sein, ein Experiment, ein Essay. Dies hier sind lediglich Versuche, meine natürlichen Fähigkeiten zu erproben, nicht aber die erworbenen … Wer auf gelehrtes Wissen aus ist, möge da angeln, wo es sich findet – es gibt nichts, was ich weniger wollte. (Über Bücher) Durch die Unendlichkeit kann man sich nur versuchsweise tasten, den unendlichen Text des Essayisten kann man immer nur versuchsweise und vorläufig schreiben. Denn das unendliche Feld der subjektiven Manifestationen kann man unmöglich ausmessen und kolonialisieren. Aber um sich eine Vorstellung davon zu machen, ist es eine gute Idee, den Blick in die eigene Subjektivität zu richten. Und äußere Subjektivitäten kann man sowieso nur dann irgendwie adäquat erfassen oder sich empathisch zu ihnen verhalten, wenn auch die eigene Subjektivität dazu irgendwie ähnlich ist, oder sie weit und kenntnisreich genug ist – Kultur hat – um mit anderen Subjektivitäten sinnvoll in Kontakt treten zu können. Montaigne hat sein Unternehmen sowieso primär als eines der Selbsterforschung, der Durchleuchtung der eigenen Subjektivität verstanden. Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich … Ich hingegen kreise in mir selbst. (Über den Dünkel) Indem sich Montaigne dermaßen unabhängig macht vom Blick des Anderen, er also für den Anderen nicht etwas scheinen will, was er möglicherweise nicht ist, ist Montaigne in seinen Aussagen glaubhaft und ehrlich. Wie er treuherzig versichert. Selbst sein Gesicht sei so ehrlich gewesen, dass es ihn bewahrt davor haben soll, von den wilden Kriminellen seiner Zeit überfallen und getötet worden zu sein, so wie fast alle anderen damals. Obwohl die Züge meines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln, bleiben sie doch stets wahrheitsgetreu. (Über das Bereuen) Gut so. Das bewahrte ihn sogar davor, unter den Hammer der großen Philosophen zu kommen.

Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: „Kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein und ein Flügel gewachsen“. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimlich zu machen. Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, außer der Ehrlichkeit, gemein: eine wirklich erheiternde Heiterkeit.

Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher

Friedrich Nietzsche war bekanntlich ein großer Liebhaber freier Geister, zu denen Michel de Montaigne natürlich unbedingt gerechnet werden muss. Überhaupt lohnt es sich wohl, wenn es sich schon gerade als Gelegenheit ergibt, Nietzsche mit Montaigne zu vergleichen, um zu sehen, worin sich freie Geister gleichen, sich jedoch aber auch voneinander unterscheiden mögen. Nietzsche war einerseits „größer“ und überlegener als Montaigne, andererseits konnte er mit Montaigne in anderen Bereichen aber offensichtlich nicht mithalten. Als echter Philosoph im Burckhardtschen Sinne offeriert er eine objektive Sicht auf das Weltganze und versucht eine Antwort auf das Lebensrätsel zu geben. Nietzsche war es auch, der die Montaigne ähnliche subjektive Betrachtung, die Betonung der Vielfalt subjektiver Blickwinkel und den Perspektivismus (auch innerhalb des Subjekts selbst) und die dichterische Form der Mitteilung gleichsam zum philosophischen System erhob. Er arbeitete auf einem höheren Niveau der Analyse und der Integration als Montaigne. Er ist auch viel mitreissender, pathetischer, direkter und ein scheinbar intimerer Lebensratgeber als der dem anderen gegenüber reichlich gleichgültig und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt wirkende Montaigne. Dessen Ruhe und Gelassenheit, und auch dessen Genussfähigkeit hatte Nietzsche aber nicht – auch wenn er sie angestrengt suchte. Nietzsche bewunderte Epikur. Montaigne war sowohl Stoiker als auch Epikuräer. Er strebte – als maßvoller, gleichsam unschuldiger Hedonist – Lust und Genuss an, bemühte sich jedoch auch um Abhärtung gegenüber den Wechselfällen des Lebens, die einem mit Lust und Genuss manchmal überreichlich versorgen, und sie ein anderes Mal wieder gänzlich einem nehmen. Er scheint beinahe die Charaktermaske des Phlegmatikers aufzusetzen. Ich bin dem Zugriff solch leidenschaftlicher Gemütsbewegungen wenig ausgesetzt. Meine Empfänglichkeit ist von Natur aus gering: Ich habe ein dickes Fell, und lasse es mit Bedacht von Tag zu Tag dicker werden. (Über die Traurigkeit) Nietzsche hingegen strebte jauchzende Lust an und wollte sich mit ihr – denn alle Lust will Ewigkeit – gleichsam vermählen. Zwar sah Nietzsche tiefer als Montaigne (und nur Sterne, Sterne…), und das ist, zumindest in einer intellektuellen und abstrakten Weise, tatsächlich höchst lustvoll und ekstasegleich. Andererseits war Nietzsche in seiner Genussfähigkeit offenbar eingeschränkt. Vor den meisten Bezirken des Lebens schottete er sich ab, legte sich gleichsam eine Festungsmentalität und ein „Pathos der Distanz“ zu. Er glaubte, alles mögliche würde ihn „schwächen“: die unteren Schichten der Gesellschaft, der Sozialismus, das Christentum, der späte Wagner, insgesamt die sogenannte „décadence“. Montaigne war, bei all seiner Introvertiertheit, hingegen reichlich volksverbunden, und hatte mit dem elitären Bewusstsein von Nietzsche (das offenbar ein unglücklliches, oder zumindest unausgeglichenes Bewusstsein ist), wenig gemein. Er wusste: Sowohl die Könige wie die Philosophen scheißen, und die Damen auch. (Über die Erfahrung) Montaigne lebte in einer furchtbar anstrengenden Zeit, in der Frankreich in endlose Religionskriege verwickelt war, aus denen kein Ende absehbar war. In seine Lebenszeit fielen die Bartholomäusnacht und auch eine Pestepidemie. Sein gesamtes Zeitalter und seine Lebenswelt waren höchst unheilvoll. Und die Essais können auch als Versuche gesehen werden, wie man in einer Welt, die einen auseinanderzureißen droht, sein Innerstes bewahrt und integer hält. Nietzsche hingegen lebte – mit Ausnahme des Deutsch-Französischen Krieges, an dem er als Soldat teilnahm und in dem er verwundet wurde – in einer friedlichen, geradezu idyllischen Zeit – auch wenn er unter schwereren Krankheiten litt als Montaigne (der die Krankheit und den Schmerz zumindest später im Leben durch seine Nierensteine kennenlernte). Insgesamt war Nietzsches Sicht auf die Existenz aber eine (geradezu lustvoll) negative. Er lebte in einer Art sadomasochistischem Universum, in der negative Wechselfälle geradezu als Angriffe gesehen werden, für die man sich rächen will und wo man zurückschlagen will. Aus dem entsprang auf eine Weise sein mitreissender Vitalismus und sein Amor Fati: Positivitäten, zu denen sich Montaigne nie aufschwingen konnte. Andererseits bleibt Nietzsche Gestus stets von Rückschlägen bedoht und pendelt insgesamt zwischen Polen der Übertreibung. Montaigne hingegen ist sicher kein Mensch der Übertreibung. Er weiß: Das Leben ist eine schwankende, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung. Man ist keineswegs Freund oder Herr seiner selbst, sondern sein Sklave. (Über dreierlei Umgang) Auf der anderen Seite ist ihm klar, dass Fluchtmöglichkeiten vor einer einengenden Sklavenexistenz in der Vielfalt und in der Offenheit der Persönlichkeit und des Geistes liegen: Man sollte sich nicht zu fest an seine Anlagen und Neigungen fesseln. Unser wichtigstes Vermögen besteht darin, und unterschiedlichen Tätigkeiten widmen zu können. Wenn man immer in demselben Trott verhaftet bleibt und nie mehr von ihm loskommt, heißt das zwar dasein, aber nicht leben. (Über dreierlei Umgang) Nietzsches Versuche zu leben waren immer angestrengt. Das macht ihn so plastisch und ansprechend, da er tatsächliche Lebenskämpfe und Kämpfe für die persönliche Emanzipation so treffend illustriert. Aber er scheint ewig in ihnen verfangen zu bleiben und ständig zwischen Übertreibungen herumzupendeln. Sein Übermenschenkult, sein (auch ein wenig lächerlicher) Versuch „Immoralist“ zu sein, seine Gewaltverliebtheit. Vor allem sein sich ständiges Abarbeiten am „Ressentiment“, da es in ihm selber so reichlich vorhanden war. Montaigne hingegen kannte offenbar gar kein Ressentiment. Er musste sich von nichts kraftvoll und mit großer Theatralik emanzipieren, da er nirgends feststeckte. Er theoretisierte nicht über den Übermenschen, vielmehr entsprach er eben einem Übermenschen und lebte sein Leben als Übermensch. Nietzsche hatte ein höchst gesunde und eine ziemlich (psychologisch) kranke Seite. Die größte Sache der Welt ist dass man sich selbst zu gehören weiß. (Über die Einsamkeit) Nietzsche war jedoch gleichsam durch seine kranke Seite darin verhindert, vollständig sich selbst zu gehören. So flüchtete er sich in ein übertriebenes Machtpathos und in ein übertriebenes Freiheitspathos. Montaigne aber wusste: Die wahre Freiheit besteht darin, dass man alles über sich vermag. Am mächtigsten ist, wer Macht über sich selbst hat. (Über die Physiognomie) Wenn ich mich recht erinnere, bewunderte Nietzsche Montaigne auch wegen seiner Sprache (andere tun das zumindest, auch ich wollte einmal mein Französisch auffrischen, um Montaigne im Original lesen zu können). Von dessen „Artisten“-Sprache unterscheidet sie sich aber. Artistische Manöver vollzieht Montaigne nicht. Er betrachtet seinen Stil gar als schmucklos und trocken, und extravagant, so wie es damals in der adeligen Welt vielleicht üblich war, ist er sicher nicht. Montaignes Stil aber ist direkt, konkret und vor allem ist auch in seinem Stil Montaigne völlig identisch mit sich selbst und ruht in sich selbst. Montaignes Stil ist ein gänzlich beruhigter Stil. Nietzsche wollte als Hammer auf alle Welt niedersausen und ordentlich wumms hat er immer wieder als ein solcher gemacht. So stellt man sich den Übermenschen vor. Montaigne hingegen ist alles andere als ein Hammer; er wirkt überhaupt nicht wie irgendetwas Kompaktes und Materielles. Er saust zwar nicht wie der Hammer nieder. Aber versuche man mal, Montaigne zu treffen! Er scheint gleichsam viel zu diffus dafür, und ist vielleicht weniger ein Genie des Angriffs als der Verteidigung.

Montaigne zählt zu den Autoren, die nur sehr schwer angreifbar sind. Es ist, als würde man versuchen, einen Nebel durch Handgranaten zu zerstreuen. Denn Montaigne ist Nebel, Gas, Flüssigkeit, ein heimtückisches Element. Er argumentiert nicht, er schmeichelt sich ein, bezaubert und überredet, und wenn er argumentiert, muss man aufpassen, dass er nicht einen ganz anderen Plan damit verfolgt.

T.S. Eliot

Leuchtende, farbige Schwaden, durch die das Licht fällt, die auf- und absteigen, vielleicht ein wenig dampfende Geräusche machen: das ist, in einem Raum, den er ganz ausfüllt, Montaigne. Und aufgrund dieses Mangels an Kompaktheit allein kann er auch Montaigne sein. Denn schwankend und auf- und absteigend, Dampf ablassend ist überhaupt einmal alle Ontologie. Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. (Über das Bereuen) Auch das Denken und die Erfahrung kann, wie gesagt, diese Schwankungen, Subjektivitäten und Koinzidenzen nicht vollständig in sich integrieren, da sie niemals vollständig gegeben sind, sondern in immer neuer Form zutage treten: als Überraschungen. Das Denken hat zahlreiche Formen, daher wissen wir nicht, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung hat aber deren nicht weniger. Der Schluss, den wir aus Ähnlichkeiten der Geschehenisse zu ziehen versuchen, ist wenig sicher, denn in Wirklichkeit sind sie immer unähnlich. Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassende Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt. (Über die Erfahrung) Was man aber machen kann, ist diesen Schwankungen und Vielfältigkeiten die Rute ins Fenster zu stellen, indem man eben selbst das Schwankende und Vielfältige imitiert, so gasförmig und wenig kompakt wird, dass einen die Überraschungen kaum treffen, vielmehr antizipert man sie dadurch oder verhält sich mimetisch zu ihnen. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit versteht sich Montaigne also so gut darauf, eine gasförmige Wirklichkeit einzufangen, und ist, als Essaist, genauso wie sie, immer in einem vorläufigen Versuchsstadium, nichts jemals abgeschlossen Fertiggewordenes. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit entpricht Montaigne der schwankenden Wirklichkeit. Und nicht zuletzt: er liebt die vielfältige und schwankende Wirklichkeit auch so wie sie ist. Ja, ich bekenne es: Selbst im Traum oder als Wunschbild sehe ich nichts, was ich festhalten wollte. Allein Abwechslung und Genuss der Vielfalt finde ich (falls überhaupt etwas) lohnend. (Über die Eitelkeit) Die objektive Wirklichkeit ist nicht eitel, und Montaigne ist nicht eitel. Die Eitelkeit will die Wirklichkeit kompakt machen und domestizieren, den eigenen Wünschen anpassen. Doch Montaigne ist so angenehm, weil er nicht eitel ist. Als Nebel, als Gas, welche sich beliebig im Raum verteilen, hat er gleichsam kein egoisches Zentrum. Und so strahlt er auch keine kompakten Manifestationen eines egoischen Zentrums aus. Machtstreben im unmittelbaren oder abgeleiteten Sinne kennt er keines: Unter allen Narrheiten der Welt ist die herkömmlichste und verbreitetste das Streben nach Ansehen und Ruhm… (Über das Widerstreben, seinen Ruhm mit anderen zu teilen) Auch gegen die mit dem Machtstreben einhergehenden Kränkungen, wenn es sich nicht verwirklichen kann, ist er immun: Die Eifersucht und der Neid, ihr Zwillingsbruder, scheinen mir in der Tat von der ganzen Sippschaft der Laster am hirnverbranntesten zu sein. (Über einige Verse des Vergil) (LaRochefoucauld, der sich von Montaigne einiges abgeschaut hat, meint: Das beste Kennzeichen angeborener Vorzüge ist angeborene Neidlosigkeit.) Montaigne wendet sich gerne gegen Konventionen. Was hat der Geschlechtsakt, dieser so natürlich, nützliche, ja notwendige Vorgang den Menschen eigentlich angetan, dass sie nicht ohne Scham davon zu reden wagen und ihn aus den ernsthaften und sittsamen Gesprächen verbannen? Wir haben keine Hemmungen, die Worte töten, rauben, und verraten offen auszusprechen – und da sollten wir uns dieses eine bloß zwischen den Zähnen zu murmeln getrauen? (Über einige Verse des Vergil) Montaigne spricht zwar – eitel, wie man meinen könnte – unentwegt von sich, aber er subvertiert sich immer wieder, Erwartungshaltungen an ihn unterläuft er. Einzusehen, dass man eine Dummheit geäußert hat, besagt noch gar nichts – man muss einsehen, dass man von Grund auf dumm ist: eine wesentlich umfassendere und wichtigere Einsicht. (Über die Erfahrung) Das subvertiert er dann noch mal, indem man nicht weiß, wie ernst er es mit seinen Behauptungen eigentlich meint. Geradezu penetrant beklagt er immer wieder sein angeblich furchtbar schlechtes Gedächtnis. Was ganz offensichtlich nicht stimmen kann, sind seine Essais doch so vollgespickt mit antiken Anekdoten und Fallbeispielen, Zitaten und Gedichten, dass sie Niederschriften eines gleichsam enzyklopädischen Wissens und Gedächtnises darstellen. Trotzdem er zugibt, ein großer Bücherfreund zu sein und sich am liebsten in seiner Bibliothek aufzuhalten, spricht er von der Gelehrsamkeit immer wieder gering. Ich habe zu meiner Zeit Hunderte von Handwerkern, Hunderte von Bauern gesehen, die weiser und glücklicher waren als Universitätsrektoren und denen ich lieber gleichen würde. Die Gelehrsamkeit gehört meiner Meinung nach unter den Bedürfnissen des Lebens in dieselbe Reihe wie Ruhm, Adel und Würden oder allenfalls wie Schönheit, Reichtum und dergleichen Dinge, die für unser Dasein zwar durchaus nützlich sind, aber nur entfernt und mehr in der Einbildung denn ihrer Natur nach. (Apologie für Raymond Sebond) Aahh… die Einfalt der Sitten und das einfache Volk, das klüger und unverbildeter, mehr bei sich ist als der Professor! Aber als eine Idealvorstellung und ein Korrektiv gegenüber bildungsbürgerlichen (und sonstigen) Eitelkeiten kann man solche Figuren natürlich immer wieder gut einwerfen. Auf Sokrates hält Montaigne große Stücke, ist er ihm ja ähnlich. Sokrates, der weiseste Mann, den es je gab, pflegte auf die Frage, was er wisse, zu antworten: Er wisse, dass er nichts wisse. (Apologie für Raymond Sebond) Natürlich wird Montaigne aber klar gewesen sein, dass Sokrates deswegen (triumphierend) sagen konnte, er wüsste nichts, weil er ja alles wusste und alles durchdacht hatte, und daher Einsicht hatte in die Relativität allen Wissens (er wird auch die Apologie des Sokrates gekannt haben, in der dieser bekennt, dass er gehofft hatte, beim unverbildeten Volk die Flausen und Eitelkeiten der Gelehrten nicht zu finden, er darin aber enttäuscht wurde: dieselben Flausen und Eitelkeiten wie bei den Gelehrten fänden sich auch beim einfachen Volk, wenngleich in ein wenig anderer Form). Wie es sich für ein Gas gehört, ist Montaigne aber eben weichherzig und sanft, und daher auch allem Einfachen und Beschützenswerten gewogen. Ich selbst bin aufgrund meiner kindlichen Natur so weichherzig (ich scheue micht nicht, es zuzugeben), dass ich meinem Hund das Herumtollen kaum verweigern kann, das er mir meist im unpassendsten Augenblick anbietet oder anzubetteln versucht. (Über die Grausamkeit) Er ist gasförmig und amorph in seinem Verhalten wie ein Kind. Neugierig wie ein Kind ist er auch. Neugierig ist freilich alle Welt, oder glaubt es zu sein, vor allem die gebildete Welt. Doch wie weit reichen deren Neugier und deren geistige Offenheit tatsächlich? In der Schule des gesellschaftlichen Verkehrs habe ich oft folgende Untugend bemerkt: Statt zu versuchen, andere kennenzulernen, sind wir bloß darauf aus, dass sie uns kennenlernen, und wir bemühen uns weit stärker, die eigene Ware anzubringen, als neue zu erwerben. Schweigen und Bescheidenheit sind dem menschlichen Umgang aber viel förderlicher. (Über die Knabenerziehung) Letztendlich geht die Neugierde aller Welt mit ihrem zumeist dann doch egoischen Charakter einher, der sie behindert darin, tatsächlich neugierig und offen zu sein. Umgekehrt sehen wir aber, dass Menschen nichts so empfindlich reagieren lässt wie das Gefühl, der Gegner sei ihnen überlegen und sehe verächtlich auf sie herab – dabei würde sich der Schwächere doch vernünftige Einwände, die ihn wieder auf den rechten Weg bringen und ihm weiterhelfen, besser dankbar zu eigen machen. Ich jedenfalls suche eher die Gesellschaft von Leuten, die mir den Kopf zurechtsetzen, als von solchen, die vor mir kuschen. (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Wenn das tatsächlich alles stimmt, was er über sich sagt, muss Montaigne vielleicht zwar das unterlaufen haben, was man sich unmittelbar unter einer „starken“ Persönlichkeit vorstellt. Er hat das aber wohl übetroffen, indem er eine unbesiegbare Persönlichkeit war, an der alle Härte ins Leere trifft. Hat Montaigne das höchste Ziel und die höchste so genannte Selbstverwirklichung erreicht? Wer aber kennt das Höchste? Bei Friedrich Hölderlin (der von Nietzsche ebenfalls sehr geschätzt wurde) könnte man annehmen, dass er weiß, was das Höchste ist. Hölderlin formuliert den idealen und letztgültigen Innenraum, den ein Mensch haben kann, in etwa als

Dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher Empfindung möglich, in einer Empfindung, die darum schön ist, weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes Bewusstsein, bloße Reflexion (…) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie… ist, sondern weil sie alles dies zugleich ist und allein sein kann … in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwirkung der genannten Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig, d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig, d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend (usw. ist, sondern all dies zugleich ist und allein sein kann, Anm.)

Friedrich Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes

Man scheint da schon wieder eine große Wolke zu haben. Schwebende Instanzen, die sich gegenseitig adjustieren, ohne eigentliches Zentrum, sondern mit dem Zentrum überall. Wer kann diesen Nebel zerteilen? Der Philosoph mit dem Hammer nicht, und die räuberischen egoischen Mächte der Welt auch nicht. Ja, dieses Gebilde scheint überhaupt dem Gott zu gleichen, dessen Mittelpunkt überall, und dessen Begrenzung nirgends ist. Wenn eine solche Wolke denkt, wie wird das wohl passieren? Sie ist wohl in ihr eigenes Spiel verloren, traumähnlich. Es wird ein fluides Denken sein, ein ständiger Prozess. Es wird ein schwebendes Denken sein. Denn eine Wolke ist in der Schwebe. Und so liebt es auch Montaigne, sein Denken vorzugsweise in der Schwebe zu halten. Falls er mit irgendeinem Philosophen (mit der Ausnahme des Meta-Philosophen Sokrates) sympathisiert, so bekennt sich Montaigne als ein Jünger des antiken Philosophen Pyrrhon von Elis (falls er diesen Ausdruck allerdings verwenden würde, da der ja schließlich eine starke Abhängigkeit signalisiert). Pyrrhon war ein radikaler Skeptiker. Während Sokrates` Maxime lautete: Ich weiß, dass ich nichts weiß, geht Pyrrhon noch weiter, indem man, laut ihm, gar nichts jemals wissen könne. Die Wirklichkeit sei gleichsam selber ohne Wahrheitsgehalt, das Nichtwissen gleichsam in die Ontologie eingeschrieben. Die philosophische Haltung der Pyrrhonisten ist daher der grundsätzliche Zweifel an allem, und die weitgehende Urteilsenthaltung, die Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen, Urteilen und selbst den harten Fakten gegenüber. Dass alle Welt ihr Glück im Meinungsstreit und im Davontragen des Sieges im Meinungsstreit sucht, ist für die Pyrrhonisten daher eben unphilosophisch. Das wiederum erscheint auch Montaigne einleuchtend: Ist es nicht von Vorteil, sich der Zwänge enthoben zu sehen, welche die anderen fesseln? Ist es nicht besser, sein Urteil in der Schwebe zu lassen, als sich in all die von der menschlichen Phantasie hervorgebrachten Irrtümer zu verstricken? Ist es nicht besser, unentschieden zu bleiben, als sich in all diese streitsüchtigen, ja aufrührerischen Auseinandersetzungen zu stürzen? (Apologie für Raymond Sebond) Ja, indem sich die Pyrrhonisten auf nichts einlassen, kein Schiff besteigen, können sich auch nirgendswo scheitern oder untergehen. Sie entwinden sich den Verpflichtungen, die zwar möglicherweise belohnen, in jedem Fall aber auch einfordern. Damit sind die Pyrrhonisten letztendlich die einzig Glücklichen. Sie verstehen aus allem das Beste zu machen. (Apologie für Raymond Sebond) Und (d)eshalb lautet der Standpunkt der Pyrrhonisten: Keinen festen Standpunkt beziehen, zweifeln und nachforschen, nichts als sicher betrachten und für nichts einstehen … Jene geistige Einstellung der Pyrrhonisten nun, geradlinig und unbeirrbar, mit der sie alle Dinge zur Kenntnis nehmen, ohne ein Urteil darüber abzugeben oder sie gar für wahr zu halten, ebnet den Weg zur Ataraxie, einer friedsamen und gleichmütigen Lebensweise … (Apologie für Raymond Sebond) Und mit dieser Ataraxie, dieser inneren Stabilisierung der Wallungen und der Kondensationen gewappnet, tritt Montaigne einer unzuverlässigen, geradezu kriminellen Welt entgegnen, die genauso gut Stoff für tiefe Verzweiflung bieten könnte. Er reflektiert darüber Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel – oder aber, dass man mit gleichen Methoden oftmals – wider besseres Hoffen – unterschiedliche Resultate erzielt. Unbeständig ist diese Welt, und sie scheint es zu lieben, unsere Pläne zunichtezumachen. Auch Tugend und große Taten sind davor nicht gefeiht, denn (o)b tugendhafte Taten also bekannt und genannt werden, ist reine Glückssache. (Über den Ruhm) Der Gewinn des einen ist des anderen Schaden, Göttliche Fügungen sollte man nüchtern betrachten und Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen. Über die Unsicherheit unserer Urteile ist sich der Essaist ebenso bewusst wie Über die Eitelkeit der Worte, sowie Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns und darüber, Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert. Gewohnheit, individuelle Erfahrung, Schicksal usw. bestimmen in einem hohen Maße, wer wir sind, mithin also Mächte, die nicht unter unserer Disposition stehen. So gesehen haben wir gar kein allzu stabiles Ich, auch dieses ist den Umständen unterworfen. Freilich: ein völlig regelloser Kosmos ist der unsere auch nicht. Ob wir etwas als Wohltat oder Übel empfinden, hängt weitgehend von unserer Einstellung ab, das sowieso grundsätzlich einmal, und Fortuna folgt oft dem, was recht und billig ist. Montaigne weiß zu berichten Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte und gibt höchst lehrreiche Hinweise, die sich nicht allein aus hinreichender Beobachtung der empirischen Realität, sondern auch naheliegenderweise ergeben (denen zum Trotz gewisse beliebte Fehler dennoch immer wieder begangen werden) wie Man wird bestraft, wenn man sich darauf versteift, eine Festung sinnlos zu verteidigen. Überhaupt zieht Montaigne aus all dem scheinbaren Chaos der Welt rationale Lehren und sagt die sinnvollsten Dinge Über die Standhaftigkeit, Über die Furcht, Über die Knabenerziehung, Über Tugend und Tapferkeit, Über Grausamkeit, Über belanglose Spitzfindigkeiten und Spielereien, Über die Daumen und Über die Hinkenden. Dennoch bleibt die allgemeine Atmosphäre eine skeptische, eine vorsichtige, eine nachdenkliche – aber dennoch eben eine leichte und keine depressive. Ich bin meiner Veranlagung nach kein Melancholiker, wohl aber ein Grübler. (Philosophieren heißt sterben lernen) Vor allem eine, die sich immer wieder gegen allzu sicher Geglaubtes richtet. Montaigne wendet sich gegen die Humanisten und gegen alle Anstalten, den Menschen allzu wichtig zu nehmen, oder ihn zu sehr zu loben. In der Apologie für Raymond Sebond vergleicht den Menschen nicht nur mit einem Tier, sondern schildert zahlreiche Fälle, wo Tiere höher stehen als der Mensch. Gewisse Auswüchse seines Pyrrhonismus scheinen dabei auch übertrieben. Für seine despektiertliche und misstrauische Haltung der Wissenschaft und der Medizin gegenüber ist Montaigne oft gescholten worden. Allerdings lebte Montaigne in einem de facto vorwissenschaftlichen Zeitalter und in einem, wo die Medizin hauptsächlich (gefährliche) Quacksalberei war, der man sich tatsächlich besser nicht allzusehr anvertraute. Heute würde Montaigne eine solche Haltung wohl kaum mehr pflegen. Trotz allem Skeptizismus und Pyrrhonismus war Montaigne ein Bewunderer allen menschlichen Könnens, und so würde er heute ein Bewunderer der Wissenschaften und der Medizin sein (und auch wenn für die exakten Wissenschaften der Pyrrhonismus nicht die adäquate Methode sein kann, für die „Wissenschaften vom Menschen“, denen Montaigne ja schließlich allein nachging, empfielt sich eine gewisse Dosis davon nach wie vor). Bewundernd äußerte er sich auch Über drei vorteffliche Frauen und Über die drei vortrefflichsten Männer. Trotz seiner Ehrlichkeit und seiner Hochschätzung der Tugend wusste er aber auch, zumindest theoretisch, Über verwerfliche Mittel, die einem guten Zweck dienen. Nichts genießen wir in seiner Reinheit (so ein anderer Essai), und rein und unverfälscht sind auch selten unser Innenleben und unsere Motivationen. Zum Glück: denn Eindimensionalität der Gefühle würde vielleicht gar keine Motivationen begründen; solche erfordern einen Verbund von Gefühlen und Haltungen. Und wieviele edle Taten geschehen aus Ruhmsucht! Wie viele aus Hochmut! Kurz, es gibt keine kraftvolle und überragende Tugend, die ganz ohne untugendhafte Triebkraft auskäme. (Apologie für Raymond Sebond) Später im Leben, und aufgrund der Bekanntheit seiner Essais, wurde Montaigne zum Bürgermeister von Bourdeaux berufen, und bewährte sich dort insgesamt – Hinweis, dass die scheinbar unpraktischen Büchermenschen dann doch vielleicht auch die praktisch Geschickteren bilden. Großen Spaß hatte er an der Sache aber nicht, und so war er froh, als sein Amt wieder zuende war (Über die Nachteile einer hohen Stellung). Gut, dass es also Eitelkeit, Ruhmsucht und Gewinnsucht auch gibt, denn sonst würde in der Welt vielleicht wenig vorwärts gehen. So gesehen hat eben auch ein Montaigne eventuell seine Fehler oder zumindest Versäumnisse.

Die Fehler Montaignes sind groß: geile Worte: Sie taugen nichts … Leichtgläubigkeit … Unwissenheit … Er verleitet zur Gleichgültigkeit dem Heil gegenüber … Da sein Buch nicht mit der Absicht geschrieben wurde, für die Frömmigkeit zu werben, war er nicht dazu verpflichtet: aber man ist stets dazu verpflichtet, nicht davon abzulenken. Man kann seine ein wenig freien und sinnlichen Empfindungen bei gewissen Gelegenheiten des Lebens entschuldigen; aber man kann seine durchaus heidnischen Empfindungen über den Tod nicht entschuldigen; denn man muss auf alle Gottesfurcht verzichten, wenn man nicht wenigstens christlich sterben will; nun denkt er aber in seinem ganzen Buche nur daran, weichlich und bequem zu sterben … Verkehrtheit der Philosophen, welche sich mit der Unsterblichkeit nicht auseinandergesetzt haben. Die Verkehrtheit ihres Dilemmas bei Montaigne.

Blaise Pascal, Gedanken

Blaise Pascal, der exakte Mathematiker, der das Weltenchaos mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchschaubarer machte, und der donnernde Apologet des Christentums in seinen späteren Jahren, war durchaus ein Bewunderer von Montaigne. War er doch schließlich nach dessen sanften Ideen Über die Knabenerziehung erzogen worden. Später gehörte Montaigne zu den wenigen Schrifstellern, die er las und die er ernst nahm (auch widmete er ein ganzes Kapitel von Gedanken dem Pyrrhonismus). Wieviel Ranküne und verstohlener Neid, wieviel ernsthafte Ablehnung, wieviel rein theoretisches Sichabstoßen, um die eigene Position zu präzisieren hinter seinen vorwiegend negativen Gedanken über ihn steckt, weiß man nicht so genau. (Nicht in Montaigne, sondern in mir selber finde ich alles, was ich in ihm sehe, formuliert Pascal den rätselhaften Gedanken 743, ohne jedoch zu präzisieren, was damit genau gemeint ist.) Ein allerchristlichster Christ war Montaigne sicherlich nicht. Das allein schon einmal wird ihn für eben jemand wie Pascal verdächtig machen. Auch wenn sich Pascal Gedanken über die Existenz macht, so lebensprall wie die von Montaigne sind sie nicht. Man ist geneigt, in Pascal einen nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch kranken, wenig genussfähigen Asketen zu sehen, der aus seiner Not eine Tugend zu machen suchte. Das würde natürlich Neid auf eine Erscheinung wie Montaigne provozieren. Oder aber, in den Augen des Asketen, die Montaignesche Diesseitigkeit tatsächlich als was Minderwertiges und Gefährliches dastehen lassen. Deutlich mehr noch als Montaigne betont Pascal immer wieder, dass alles Getriebe der Welt „eitel“ sei, und Eitelkeit die Welt beherrsche und hinter allem stecke. Nun aber ja, war zumindest Montaigne offensichtlich nicht allzu eitel. Eitel war aber vielleicht Pascal: sein religiöses Asketentum und seine radikalen Versuche der Weltabwendung scheinen etwas durchaus Eitles zu haben (eventuell hat er auch deswegen ein so ausgeprägtes Schuldbewusstsein und Sühnebedürfnis…). Und so versuchte eben Pascal Montaigne als den Eitlen dastehen zu lassen. Wie immer auch, ein Reibebaum für die äußerst Frommen, die alles unter dem Gesichtspunkt ihrer Religion betrachten, musste Montaigne leicht sein. Der betrachtete nämlich nicht alles unter diesem Gesichtspunkt. Montaigne war ein ostentativ in der (heidnischen) Antike verhafteter Autor. Fast ausschließlich sind es antike Zitate und Fallbeispiele, Personen und Schicksale aus dem Altertum, mit denen seine Abhandlungen so überreichlich ausstaffiert sind. Christliche Heilige, Kirchenväter oder Herrscher aus seiner Zeit kommen in einer geradezu beleidigenden Weise kaum vor. Lieber äußerte er sich bewundernd Über die römische Größe, vermittelt uns einiges an Wissen Über die Rüstung der Parther, nimmt sich einer Verteidigung Senecas und Plutarchs an, und ergeht sich in Betrachtungen über Cäsars Kriegsführung. Sein Skeptizismus, Pyrrhonismus und seine Indifferenz gegenüber fast allem und jedem müssten sich auch gegen Kirche, Religion und Gott richten, könnte man leicht meinen. Tugendhaft war Montaigne aber zunächst einmal sehr wohl, und man kann sagen, dass sich seine nebelhafte innere Gestalt in der Tugend gleichsam stabilisierte und in ihr aufrecht geblieben ist – ansonsten hätte Montaigne ja auch irgendein Nihilist sein können. Die Tugend ist die Nährmutter der menschlichen Freuden. Indem sie ihnen ihr rechtes Maß gibt, sichert sie ihnen ungetrübten Genuss … Bleibt der Tugend das gewöhnliche Glück versagt, kümmert sie das nicht: Sie kommt ohne es aus … Ihr eigentlicher und vornehmster Dienst aber besteht darin, dass sie all diese Güter maßvoll zu gebrauchen lehrt, sowie standhaft zu bleiben, wenn man sie verliert … (Über die Knabenerziehung) Die Tugend bedeutet Selbstkultur; über diese Selbstkultur (so sie denn gelingt) ist man aber auch zu anderen gut – und damit auch nahe der christlichen Nächstenliebe. Wer überhaupt nicht für andere lebt, der lebt auch kaum für sich. Und umgekehrt: Wer sich selber freund ist, der ist allen freund. (Über den rechten Umgang mit dem Willen) Trotzdem ist Tugend etwas, was schon die Heiden kannten. Pascal betrachtet die heidnische Tugend auch mit einem scheelen Auge (erblickte in ihr oft eigentlich eine Camouflage für charakterliche Niederträchtigkeiten). Trotzdem war Montaigne aber nicht dermaßen antik, dass er sich nicht sehr wohl zur christlichen Religion bekannte. Nur durch unseren christlichen Glauben, nicht die stoische Tugend Senecas, können wir uns das Wunder einer solch göttlichen Wandlung erhoffen. (Apologie für Raymond Sebond) In seinem ungewöhnlich umfangreichen Essai Apologie für Raymond Sebond betonte er die Wichtigkeit der Religion. In seinem Zeitalter der Religionskriege blieb Montaigne durchaus nicht unbeteiligt, sondern bezog Partei für die Katholiken. Wohl, weil er auch wusste, dass der ewige Konflikt nur dadurch gelöst werden könne, indem eine Partei schließlich den Sieg davontrage und so eine Ordnung wiederherstelle, daher es irgendwie angezeigt ist, sich für eine Seite zu entscheiden und konsequent zu bleiben. Allerdings betrachtete Montaigne die Religion vorwiegend unter dem Gesichtspunkt eines Moralsystems bzw. eines Systems der moralischen Orientierung. Wenn auch ein hochmoralischer und engagierter Mensch, war Pascal jedoch vorwiegend an seinem „Seelenheil“ interessiert, und an dem Leben nach dem Tod. Man könnte in seiner diesbezüglich so unbedingten Haltung, die keinen Spaß versteht, auch einen Egoismus, zumindest aber eine starke Ängstlichkeit erblicken. Montaigne schien sich um das Leben nach dem Tod keine so starken Gedanken zu machen, aber der Tod schien ihm tatsächlich Angst zu machen. Immerhin hat die Frage nach dem Tod ihn doch stark beschäftigt. Das haben auch andere als Pascal an Montaigne bemerkt.

Unter allen Kapiteln, die uns der angenehme Schwätzer Montaigne hinterlassen hat, hat mir immer das vom Tode, der vielen vortrefflichen Gedanken ungeachtet, am wenigsten gefallen … Man sieht durch alles hindurch, dass sich der wackere Philosoph sehr vor dem Tode gefürchtet und durch die gewaltsame Ängstlichkeit, womit er den Gedanken wendet und selbst zu Wortspielen dreht, ein sehr übles Beispiel gegeben hat. Wer sich vor dem Tode wirklich nicht fürchtet, wird schwerlich davon mit so vielen kleinlichen Trostgründen gegen ihn zu reden wissen, als hier Montaigne beibringt.

Georg Christoph Lichtenberg

Philosophieren heißt sterben lernen. Für seine Ängste kann man nichts, und die einen müssen eben mehr lernen, um zum Ziel zu gelangen, die anderen weniger. Montaigne hat sich oft über den Tod, den Selbstmord und das Sterben ausgelassen. Hatte er davor panische Angst? Wir wissen es nicht. Einige Philosophen machen den Tod und die Sache der eigenen Endlichkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Philosophie (oder des Philosophierens), bei anderen kommt er kaum oder gar nicht vor. Bei Nietzsche (auch wenn der von seinem geistigen Tod überrascht wurde) hat man kaum Beschäftigung mit dem Tod, bei Lichtenberg auch nicht viel. Über den Tod machen sich diejenigen, die mitten im Leben stehen, selten Gedanken. Sie halten sich gemeinhin für unsterblich. Montaigne wäre in jungen Jahren bei einem Reitunfall tatsächlich fast gestorben. Vielleicht hat ihm das ein Gefühl für seine eigene Endlichkeit gegeben. Nehmen wir, zum Spiel der Gedanken, an, Montaigne hätte also Angst vor dem Tod gehabt. Hatte er Angst vor dem Tod, weil er innerlich wusste, dass er weniger gläubiger war, als er es vielleicht gewollt hätte, deswegen also vor Bestrafung im Jenseits? War ihm das Leben zu interessant, als dass er eine lästige Unterbrechung wie den Tod gerne geduldet hätte? Oder hatte er hatte er eben einfach Angst vor dem Tod, ohne größeres Beiwerk und ohne breiteren Hintergrund dazu? Nach dem Tod wird man zu einer Abstraktion. Nietzsche machte sich diesbezüglich keine Sorgen, sondern sah voraus, dass er in „diversen Verkettungen“ immer wieder kommen würde. Eine Abstraktion ist was Starres. Und eine Abstraktionsleistung verlangt Kraft. Unmittelbar kräftig und ein Kraftmensch war Montaigne nicht. Er war nur nebelhaft genug, um Schlägen der Hämmer der Gegener auszuweichen. Aber der Tod lichtet auch einen Nebel. Erinnern wir uns an das, was Hölderlin beschrieben ist, an jene Form einer scheinbaren Wolke, in der alles miteinander verbunden ist. In diesem Hölderlinschen Kondensat ist ein Zustand nicht bloß dieses oder jenes oder das dazwischen, sondern – wie er immer wieder betont – alles zugleich. Es ist also in Wahrheit eine ziemlich robuste Verstrebung, die keine Schwachpunkte aufweist. Montaigne scheint aber in Wirklichkeit nicht ganz so. Er legt sich zwar wie ein Nebel über alle Positionen, vermeidet aber die Identifikation mit einer jedweden. Seine Haltung ist insgesamt eine vermeidende, ausweichende, wenn man so will. Das ist zwar übermenschlich und man errichtet damit eine Ebene über dem gewöhnlichen (oder auch außergewöhnlichen) menschlichen Leben und der menschlichen Existenz. Man ist, wenn man wirklich so ist, wie Montaigne sich beschreibt, wahrscheinlich ein Angehöriger einer anderen Spezies als der menschlichen. In seiner Weisheit eventuell ein homo sapiens sapiens sapiens. Aber auch die mögen individuell verschieden sein. Ich selber weiß, dass meine Leistung so penetrierend ist, dass ich mich als abstraktes Zeichen in die Textur des Universums eingebrannt habe. Probleme der Unzerstörbarkeit oder der Selbstverwirklichung drängen sich mir nicht auf, da ich selber wirklich bin, und ich mit meinem Gedankengut im Reich der Ideale, also des Unzerstörbaren angekommen bin. Ich empfinde mich daher als jenseits von Leben und Tod (auch wenn ich jetzt natürlich noch leicht reden habe). Das Beherrschen der Subjektivitäten, das in der Nähe des Dichterischen wohnt, habe ich bewerkstelligt und kann das nach wie vor; aber sicher eingebrannt in die Schaltkreise habe ich mich durch die abstrahierende Betrachtung dieser, so dass sie also nicht mehr vom Winde verweht werden können, sondern als Zeichen am Himmel stehen bleiben. Vielleicht hat Montaigne sich in einer solchen Kompaktheit eben nicht empfunden. Ich kann jedenfalls den Wert des meinen nicht klarer beurteilen als die eines anderen, und ich weise den Essais bald einen hohen, bald einen niedrigen Rang zu, ständig wechselnd und ständig im Zweifel… (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Auch wenn das natürlich was ganz Normales ist; ich kenne das ja selber (von früher allerdings). Aber vielleicht war Montaigne letztendlich eben zu sehr Dichter, und zu wenig Philosoph. Gestorben ist Michel de Montaigne offenbar ohne große Panik. In Marie Le Jars de Gournay hatte er in seinen letzten Jahren eine Seelenverwandte gefunden, die nach seinem Tod seine Schriften neu editierte und als Gesamtausgabe herausbrachte. Diese bemerkenswerte Frau übersetzte auch Tacitus, Ovid und Vergil ins Französische, verfasste literatur- und sprachtheoretische Schriften, Gedichte und auch einen Roman, Le Proumenoir de Moniseur de Montaigne. Außerdem war sie Frauenrechtlerin und postulierte in einem Traktat im Jahr 1622 die Gleichheit von Männern und Frauen. Obwohl als geistreiche Schönheit verehrt, hat sie nie geheiratet (… ich muss jedoch sagen, dass ich immer wieder erlebt habe, wie Männer bei Frauen die Schwäche des Geistes um ihrer körperlichen Schönheit willen hinzunehmen bereit waren; aber nie habe ich erlebt, dass die Frauen ihrerseits bereit gewesen wären, dem auch nur unwesentlich gealterten Körper eines Mannes um der Schönheit seines Geistes willen zur Hand zu gehen, mochte dieser noch so reich entfaltet und weise sein. (Über einige Verse des Vergil)). Gestern, am 8. März 2025, war der internationale Frauentag. Ich hätte meinen Essai über Montaigne aber auch so der Madame de Gournay gewidmet.

Add 15.03.2025

Lol