Der Parsifal ist musikalisch vergleichsweise arm und statisch, aber so ist das eben bei sakraler Musik. Trotzdem ist der Gesang der Blumenmädchen wohl die beste Annäherung an den unendlichen Gesang der Sirenen. Wagner hat sich mit dem Vorhaben getragen, als letztes eine Oper über Gautama Buddha zu schreiben (“Der Sieger”). Aber so ist es eben eine Oper über den Bodhisattva geworden. Einige halten die Parsifal Ouvertüre oder den Karfreitagszauber für das schönste Stück Musik, das es gibt. Naja, ich finde, wenn es so was schon gäbe, würden es die Cello Suiten von Bach sein. Nietzsche hat den Parsifal insgeheim für Wagners bestes Werk gehalten. Es ist wohl an der Zeit, das wieder einmal ein Bodhisattva in dieser Welt erscheint, wenn nicht gar ein Buddha. Und Kunst, die erlöst, anstatt einfältige Spompanadeln zu machen. Den heil’gen Speer, ich bring ihn euch zurück.
23. April 2025
Ich bin so gebildet, dass ich bisweilen die naheliegendsten Sachen nicht kenne. Jetzt war ich zum ersten Mal in der Zauberflöte. Wagner war so angestrengt bemüht, mit seinen Opern Erlösung zu bewirken, und er hat das natürlich recht gut gemacht. Aber die heiteren Opern von Mozart und Rossini (außerdem die Musik und vor allem der grandiose Charakter von Haydn) schaffen das ganz unmittelbar von allein. Das Leben ist schön.
28. April 2025
Tannhäuser behandelt die Dichotomie zwischen der sinnlichen Welt (Venusberg) und der übersinnlichen Welt (Rom). Dazwischen verhandelt die (moralisierende) Kunst (Wartburg). Ich bin für eine orgiastisch-sinnlich-intellektuelle, künstlerische Wahrnehmung, in der sinnliche und übersinnliche Welt ineinander verschmelzen; schließlich reichen sich ja auch so ineinander hinein. Man darf dafür halt keine Fehler machen und es sollten da nicht sein Dispositionen wie Angst, Stolz, Scham oder Reue, denn die organisieren antagonistische Grundhaltungen, sind also anti-integrativ; am erbärmlichsten von allem wenn sie auch noch narzisstisch besetzt werden! Das, was dann aber sein wird, wird sicher eine große Herrlichkeit sein. Wagner war ein chaotischer Charakter, der die Sphären nicht gut integrieren konnte, und der sich in eine gesellschaftliche Utopie geflüchtet hat, die vorgesellschaftlich ist usw. Schließlich nervt es auch, dass bei ihm dauernd eine Frau sterben muss, damit er sich „erlöst“ fühlen kann. Erst im Parsifal übernehmen die konstruktiven Ich-Anteile (Parsifal) Verantwortung und zeigen Mitgefühl (nicht nur mit sich selbst, sondern) mit anderen, und überwinden und entsühnen so die destruktiven, selbstverhassten Ich-Anteile (Kundry). Eine Art Vorstufe zum Parsifal ist aber der Tannhäuser; und das humoristische Gegenstück zum Tannhäuser sind die Meistersinger, wo es ausschließlich um die Kunst geht. Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst.
Die Neuinszenierung von Lydia Steier gefällt. Der Tannhäuser ist von den großen Wagneropern im Allgemeinen die am wenigsten beachtete, an mir ist er auch bislang ziemlich vorbeigegangen. Vielleicht weil es nicht so viele musikalische Nervenkitzel- und Gänsehaut-Momente gibt; dafür ist aber konstant auf einem hohen Niveau und kennt keine belastenden Längen wie der Lohengrin oder die Meistersinger. Die Geschichte ist nicht so charismatisch und suggestiv wie sonst, dafür ist die Dichtung gut. Ich will über den Tannhäuser nichts Negatives mehr sagen; ach was, vielmehr will ich den Tannhäuser fürderhin hochhalten und gegen seine Feinde verteidigen, ich solidarisiere mich sowieso am liebsten mit den Underdogs.
22. Mai 2025
Yo, der Urgroove, und weiawagawogeduwelle rappen die Bitches vom Rhine; der hässliche kleine Nigger kann keiner von den dreien Bitches den Schwanz ins Maul stecken also raubt er ihnen das Gold und versklavt all die anderen Nigger damit sie ihm noch mehr Gold scheffeln. Nigger haben es eben mit schweren Goldketten, yeah. Derweil bauen die beiden riesigen Nigger den Boss-Niggern eine Hood, werden verarscht, und dann rauben sie dem hässlichen kleinen Nigger all sein Gold um die riesigen Nigger bezahlen zu können und der eine riesige Nigger macht den anderen gleich kalt. Yeah zum Schluss der Einzug der Nigger in Walhall, in die Hood, geil; nur der eine schlaue Nigger, der Lo, sieht wie die Kacke jetzt erst recht am Dampfen ist, verhurt noch mal, aber hey interessiert uns mal nicht, jetzt werfen wir uns mal ein paar Drogen ein, unser schlauer Nigger wird sich schon was ausdenken und uns da wieder raushauen
28. Mai 2025
Während es im Rheingold um List und Tücke, Betrug, Ausbeutung und Täuschung geht, kollidieren in der Walküre stets die freien Willen der handelnden Individuen mit den Gesetzen und Geboten, die den Verkehr zwischen den Individuen regeln. „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“ (Schiller, Wallensteins Tod) Am Ende, wenn in der Götterdämmerung (ursprünglich: Siegfrieds Tod) deswegen alles zusammenkracht, bleibt eine Vision von einem anarchistischen Neuanfang, einem politischen Clear der Menschheit. Man spürt einmal mehr, was für ein verzwickter Charakter Wagner gewesen sein muss. Aber die Vision vom ständigen Neuanfang! Blicke in dein Inneres. Sieh eine friedliche Weide, links ein Baum, leicht dunst- und nebelverhangen, ein wenig Morgentau, denn es ist Morgendämmerung. Der Möglichkeitsraum, was werden sich im Laufe des angehenden Tages wohl für allerhand schöne und interessante Dinge an dieser Lichtung des Seins ereignen, in dieser Zone der Begegnung? Und so wird es Tag und so wird es Abend und Nacht – aber das geht uns schon kaum mehr was an; denn bei uns ist es ewiger früher Morgen. Es ist gut, dass es neben dieser Primordialität und Offenheit auch ein paar Gesetze gibt, die dem Ganzen auch Stabilität und Dauer ermöglichen; Dinge, die älter sind als wir und Dinge, die uns überdauern: worin sollte sonst Geborgenheit zu finden sein? Erkennst du das an, so bist du im Clear.
Im Anschluss an die Aufführung wurde Andreas Schager in einer Zeremonie vom Bundesministerium der Titel eines österreichischen Kammersängers verliehen. Er hat an dem Abend einen hervorragenden Siegmund gemimt. Bei den noch ausstehenden Ring-Opern wird er auch der noch stärkere Siegfried sein.
Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie
2. Juni 2025
Richard Wagner hatte viele Anzeichen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, unter anderem auch seinen Antisemitismus. Paranoia bedeutet eine Aggression, die in einem selber ist, die aber nach außen projiziert wird, und einen Verfolgungswahn, der seine Wurzel in der eigenen Verfolgungswut gegenüber anderen hat. Der Paranoide hat einerseits ein schwaches, sich ständig von der Vernichtung bedroht sehendes Ego, träumt andererseits von „maßloser Macht“ (wie ihn der Ring des Nibelungen verheißt), findet keinen Ausgleich dazwischen und wird daher leicht aggressiv. Der Paranoide hat ungeliebte Ich-Anteile, die er vernichten will und von denen er „erlöst“ werden will (so wie Wagner andauernd „durch Untergang erlöst“ werden will). Seine bekannteste antisemitische Karikatur ist der Nibelung Mime. Klein, mit großem Kopf, laut und gellend redend, vor allem versessen auf Geld und Macht, ist er gleichzeitig eine Karikatur Wagners, der auch so war. Durch dessen Ideal-Ich Siegfried, den reinen, naiven Helden, wird Mime zwar vernichtet, doch auch Siegfried geht schließlich unter (wenn man so will, kann auch Siegfried seine engen Ich-Grenzen nicht sprengen und bleibt egoisch und naiv; der Überwinder – der das Ideale der Moral dann tatsächlich zu einer realen Möglichkeit werden lässt – wird dann schließlich der Parsifal). In „Das Judentum in der Musik“ spricht Wagner Juden echtes tiefes Kunstempfinden und einen wahren Willen zur Kunst ab, Kunst sei für den Juden nur eine Camouflage für was anderes. In „Der Fall Wagner“ (und anderswo) dann die Retourkutsche; darin wird dann der Philosemit Nietzsche genüsslich versuchen, Wagner als unechten Künstler zu demaskieren, als effekthaschenden „Zauberer“ und „Theatermacher“. Nietzsche ist rätselhaft, weil er ebenfalls paranoid ist. Ein Mann mit starken femininen Charakterzügen, hasst und fürchtet obzwar Nietzsche alles, was „schwach“ ist und durch allzu große Nähe auch ihn „schwächen“ könnte: die unteren Schichten des Volkes, die Demokratie, den Sozialismus, das Christentum, das Mitleid, die so genannte „décadence“, oder eben den späten Wagner und den Parsifal (im Hinblick auf Frauen sind seine Kommentare zu unsystematisch, als dass man ihn eindeutig als misogyn charakterisieren könnte). Die Juden hingegen schätzt er, weil sie „vornehm“ seien, und das ist für ihn die edelste Währung. Der Paranoide sucht nach etwas Hartem, Beständigen, Fetischhaften, etwas dessen er sich vergewissern kann, weil sein Inneres unbeständig ist. Das hat dann auch bei Nietzsche, trotz seiner sehr coolen Anlagen, zu Verhärtungen des Denkens und fetischhaften Konstrukten geführt. Ich finde es gut, dass ich, in der Vorstellungswelt von Guattari und Deleuze, kein paranoider, sondern ein rein schizophrener Charakter sein muss, der nie lange irgendwo bleibt. „Schlagt keine Wurzeln, macht Rhizom“ usw; ich werfe mich dann also schon wieder auf eine Fluchtlinie.
25. Juni 2025
Otto Weininger meint, am Schluss von der Götterdämmerung steht ein Lächeln über all das, was vorher allgewaltig passiert ist, „denn das Lächeln ist wohl das Gefühl, dass sich nach dem Tode (d.h. im ewigen Leben) über das Leben (d.h. über allen Tod) am stärksten einstellt.“ Naja, er sollte ja bald darauf herausfinden, ob das denn tatsächlich so sei.
Am Ende der Götterdämmerung steht die Frage nach einem Neubeginn der Welt ohne Korruption, an der die alte schließlich gescheitert ist. Kann eine Welt ohne Korruption möglich sein? Natürlich nicht, denn menschliche Verhältnisse beruhen auf Transaktionalität und dem gegenseitigen Erweisen von Gefälligkeiten, und einige Menschen, und man selbst, sind einem näher als die meisten anderen Menschen, was allein schon einmal eine höhere Verantwortung für diesen kleineren Kreis gegenüber dem größeren bedeutet (dem man außerdem auch eher vertrauen kann). Korruption wird aber problematisch, wenn sie exzessiv wird. In einigen Teilen der Welt ist Korruption Teil des Systems. In anderen (und weiten) Teilen der Welt hingegen ist Korruption das System selbst. Dann gibt es, sozusagen, Mischformen; Länder, in denen die Bevölkerung zwar gut darin ist, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, dabei aber auch alle auf gefährliche Weise in die eigene Tasche wirtschaften (zB China). Es gibt viele Arten und Regimes von Korruption, woher kommen die jeweils alle?; zu berücksichtigen sind dabei die Geographie eines politischen Gebildes, die Ressourcenausstattung, die Sozial- und Familienstrukturen, der Charakter von Staat/Herrschaft und Verwaltung, das Rechtsverständnis, Mentalitäten, Traditionen usw. Es würde mich sehr interessieren, auf eine umfangreiche und vergleichende Darstellung der verschiedenen Formen der Korruption und der Korruptions-Regimes in dieser Welt zu stoßen. Trotz der Brisanz dieses Themas scheint das noch zu fehlen.
Die Installierung von korrupten Regimes ist auch eine Herrschaftsstrategie. Den jeweils Herrschenden und den Reichen nutzt ein korruptes Regime natürlich eher als ein rechtsstaatliches und transparentes. Korrupte Funktionäre und Beamte sind auch loyaler und abhängiger von den oberen Instanzen als es nicht korrupte sind. Das hat auch Hugo Chavez in Venezuela begriffen, der unter dem Deckmantel eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ absichtlich ein korruptes und auf ihn persönlich zentriertes Regime geschaffen hat, das ihn immer noch überdauert.
Neben materieller Korruption gibt es auch noch eine ideelle Korruption, zB das Festhalten an Lebenslügen und an Ideologien, die sich längst als falsch erwiesen haben, weil sie einen egoistischen psychologischen Komfort bieten. Wo ideelle Korruption ist, wird dann auch die materielle Korruption nicht weit sein. Man sollte daher bei Idealisten aller Couleur vorsichtig sein und nicht glauben, die könnten nicht korrupt sein, weil sie scheinbar keine materiellen Interessen haben. Menschen können auch eine korrupte Psychologie haben, und daher auch korrupte Ideale. Was soll man überhaupt machen mit dieser Menschheit? Radikale Unbestechliche und unverfälschte Revolutionäre wie Robespierre, Thomas Sankara oder Che Guevara waren auf ihre Weise aggressiv und gefährlich, weltfremd und haben ein schlechtes Ende gefunden.
Es hat ein Regime gegeben, das die Korruption tatsächlich radikal ausrotten und das tatsächlich einen vollkommenen Wagnerschen Neuanfang (und außerdem eine extrem rassistische, „reinrassige“ Ordnung) setzen wollte, das war das von Pol Pot. Heute ist Kambodscha ein Hub für professionelle Online Scam-Aktivitäten und massive Geldwäscheoperationen im Darknet, hinter denen keine rein kriminellen Organisationen stecken, sondern ganz legale und offizielle Unternehmen, wie der größte Zahlungsdienstleister des Landes, Huione Pay, der dafür in seiner Zentrale eigene Abteilungen hat, die sich nur um so was kümmern. Diese kriminellen Aktivitäten machen, wie man vermutet, mittlerweile einen zu großen Anteil an der Wirtschaft des Landes aus und generieren zu viel Einkommen, als dass die Politik noch ernsthaft dagegen vorgehen möchte oder könnte (abgesehen davon, dass sie ja selber meistens darin involviert ist).
In der Philosophie von Schelling, die ich gerade studiere, kommt die Möglichkeit der Korruption bereits durch die Ur-theilung in die Welt, bzw. ist bereits im göttlichen Ungrund als Potenzial enthalten. Bei Schopenhauer ist das Weltprinzip überhaupt an sich korrupt. Schelling wollte „Identitätsphilosophie“ betreiben. Aber bei Schopenhauer ist seine Sprache identischer mit sich selbst als bei Schelling, finde ich.
28. Juni 2025
Tschaikowsky hat einen tiefen existenziellen Moment, in meinem Verständnis, wenn er am Anfang der 1812 Ouvertüre gleichsam die Menschheit in ihrer Dimension der Schutzbedürftigkeit ausdrückt. Ansonsten ist mir Tschaikowsky mal näher, mal ferner. Von großer Gravität ist auf jeden Fall die Pique Dame, von der er selbst gemeint hat, die Pique Dame müsse die Krönung seines Schaffens sein. Trotz ihrer grundsätzlichen Ernsthaftigkeit, sogar ihrer gewissen Morbidität, hat die Pique Dame viele lebenspralle und lebensbejahende Momente, und auch der russische Nationalismus erscheint geradezu unschuldig-treuherzig, vitalisierend und naiv, so wie die Kinder am Anfang, die Soldaten spielen. Ausgezeichnet, dass die Rolle der Lisa diesmal mit der Netrebko besetzt ist. Ich mag die Netrebko mit ihrem Joie de vivre, ihrem Modebewusstsein und ihrer Leidenschaft für das Kochen und Basteln. Sie singt und schauspielert auch gut. Leider ist die Lisa eine ein wenig passive Rolle, sodass sie diesbezüglich nicht ganz aufblühen konnte. Aber ihr Ex-Mann Yusif Eyvazov als Hermann hat sie im Hinblick auf Gesangsleistung sogar übertroffen, eigentlich.
30. Juni 2025
Solti, wenn ich mich recht erinnere, hat den Fliegenden Holländer für viel besser gehalten als die späten Wagneropern, wie den Parsifal. Während der Parsifal, so wie die meisten Wagneropern, eine jenseitige Oper ist, ist der Holländer auf jeden Fall – neben den Meistersingern – eine vergleichsweise diesseitige. Eigentlich ist Senta, die Entscheidungsmöglichkeiten hat, die Hauptfigur; und nicht der Holländer, der im Wesentlichen keine Entscheidungsmöglichkeiten hat. Senta entscheidet darüber, was sie ihrem Leben für einen Sinn gibt, und es ist ein gleichsam singulärer Sinn und eine anspruchsvolle Entscheidung, die sie trifft. Senta ist eine starke, unbändige Figur, in ihrer eigentümlichen todesnahen Romantik eine vitale Macht für sich, verkörpert eine Entscheidung, die das Leben trifft, aus sich selbst heraus; in der Verbindung mit dem Tödlichen affirmiert sich das Leben gleichsam selbst. Der untote Holländer ist vergleichsweise nur eine Folie. Vordergründig werden im Fliegenden Holländer die Lebensmächte besungen, in den ausdrucksstarken Volksgesängen, als unbändige Mächte, die, so wie Senta, den Urgewalten des Ozeans gleichen: Arbeit, Abenteuer, Liebe, Freude, Geschenke machen, Solidarität, Mannschaftsgeist, Jagd, Essen machen, Kleider machen, gegenseitige Unterstützung und Sorge der Geschlechter füreinander, feiern, singen, tanzen, Treue halten bis in den Tod. Eigentlich sind allein die Meistersinger von Nürnberg eine heitere Oper von Wagner, aber die Aktivität, beinahe Agitiertheit vom Fliegenden Holländer haben die Meistersinger nicht. Eigenartig. Die Tumultszene in den Meistersingern ist textlich besser als musikalisch; und was ist schon der Volksgesang zur Begrüßung des Johannistages gegen Steuermann, lass die Wacht? Die Inszenierung vom Fliegenden Holländer im Steinbruch St. Margarethen, die diese Woche ausläuft, ist sehr reizvoll und schön. Sie wurde gestern am Rathausplatz übertragen. Ich würde das gerne vor Ort sehen. Aus irgendeinem Grund muss ich beim Lied der spinnenden Mädchen immer an Gilles Deleuze denken.
18. August 2025
Claude Debussy mit seiner meerartigen, kontinuumsmäßigen Musik muss ich mir insgesamt näher zu Gemüte führen. Bei seinen butterweichen, fließenden Klangwelten ist es besonders wichtig, dass sie mit der nötigen Raffinesse dargeboten werden, und das gelingt an der Wiener Staatsoper insgesamt bei Pelléas et Mélisande hervorragend. Auch die Inszenierung und das Bühnenbild sind gut, obwohl ich da keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Die musikalische Sprache von Debussy ist nicht aufgesetzt und artifiziell, sondern authentisch und eine sinnvolle Weiterentwicklung der Musik seiner Zeit. Das bemerkt jemand wie ich sofort. Anders als bei der präzisen Mikrotonalität, die man später bei Scelsi oder Ligeti hat, ist die Musik von Debussy eigentümlich unscharf und undefiniert, scheint an mehreren Orten gleichzeitig zu sein, und dann eben auch wieder nicht. So wie eine ständige Differentialrechnung bzw. ein Differentialkalkül, an das man sich ganz nah ranzoomt bzw. einer ständige Ineinanderspiegelung vom Stetigen und vom Diskreten bzw. dem Aufwerfen der Frage, was jetzt real ist: das Stetige oder das Diskrete? Damit rührt die Musik von Debussy an die grundlegendsten Fragen der Natur, der Struktur der Mathematik und der Physik und von Raum und Zeit. Die von Debussy ist also eine sehr metaphysische Musik und, wie Metaphysik es eben ist, ist sie eine sehr merkwürdige Musik, wo in der Welt, die dargestellt wird, noch eine andere Welt durchzuschimmern scheint. Beziehungsweise gilt die Musik von Debussy als impressionistische Musik, und der Impressionismus ist gleichzeitig kontinuierlich und pastos, flüchtig und fixiert. Ich muss versuchen, sein Kalkül zu durchschauen und seinen Code zu knacken. Das wird sich dann sicher gut anfühlen.
27. Oktober 2025
Falstaff habe ich schon vier- oder fünfmal gesehen, nie hat er mir gefallen, eine Verdi-Oper ohne musikalische Höhepunkte wie Otello oder Macbeth; denk ich mir trotzdem: irgendwas muss doch da sein, ich werde noch einmal versuchen, das herauszufinden. Und siehe da: Dieses Mal hat es endlich geklappt! Schön ist die Musik doch, wenngleich höhepunktlos, und alle sind so wohlklingend und geschmeidig an der Wiener Staatsoper. Wenn alle Weiber so lustig und so raffiniert wären wie die von Windsor – und nicht so fade, schattenhafte Gestalten wie sie es in der Wirklichkeit immer wieder sind – gäbe es ja kein Patriarchat, von dem derzeit so ununterbrochen geredet wird. Mit Falstaff hat Verdi ein großes Loch gefüllt und der musikalischen Komödie endlich wieder einen neuen Auftrieb gegeben, den sie damals Jahrzehnte lang nicht hatte. Auch das Originalstück von Shakespeare ist zwar zeitlos beliebt, von Kritikern wenig geschätzt. Die Komödie hat einen schwereren Stand unter den so genannten denkenden Menschen als die Tragödie, denn sie lässt uns keine betroffene Miene machen und so tun, als ob uns die Übel der Welt tief ergreifen würden und so füttert sie eventuell unseren moralischen Narzissmus nicht. Außerdem ist die Tragödie eine vorwiegend abstrakte Aussage, während die Komödie konkret erscheint. Vielleicht muss man aber doch nachdenklicher und melancholischer und besser mit der Welt und der Kreatur connected sein, um eine abstrakte Komödie zu schreiben, als eine reine Tragödie. „Falstaff war ein witziger Kerl. Dick, gutmütig und leutselig wie er war, war er überzeugt von der Originalität seines Wesens“ etc. Warum versuchen wir nicht, die Komödie als den großen abstrakten Lebenszusammenhang zu sehen, und das Tragische als bloße konkrete Ereignisse, die aber nicht die Hegemonie haben? „Alles auf Erden ist Scherz, der Mensch ist als Narr geboren“. (Das ist natürlich auch eine tragische Aussage. Wie aber überwindet man die tragi-komische Doppelgesichtigkeit der Welt? Indem man, so wie sie, gesichtslos wird. Bzw. sein subjektives Gesicht wahrt, über das einen die Ereignisse in der Welt was angehen, und außerdem eine gesichtslose transzendente Allgemeinheit wird, die überall und nirgends ist, und die konkrete Ereignisse nichts angehen, auch wenn sie sie allgemein wahrnimmt.)
17. November 2025
Alice, die humanste und transparenteste Figur der Weltliteratur, navigiert durch das Wunderland, weil das meiste Menschliche ihr fremd ist. Sie kennt nicht Stolz und Scham; hat kein Sensorium für Macht und daher auch keine Angst oder sogenannte innere Unsicherheiten/Insecurities; sie ist nicht ablehnend oder kennt Ekelgefühle; sie ist respektvoll, aber kippt nicht in haltlose Bewunderung; sie ist neugierig und begegnet den sonderbaren Bewohnern des unheimlichen Wunderlandes weder mit Unterwerfung noch Überlegenheitsdünkel, sondern unvoreingenommen und auf Augenhöhe. Sie verhält sich mimetisch zu den Charakteren und ihren sonderbaren Gepflogenheiten und versucht diese zu erlernen, hört allerdings auch damit auf und geht weiter, wenn sie die Sinnlosigkeit und das Unbequeme dieser Gepflogenheiten erkennt.
Das Wunderland ist wahrhaft wunderlich, da man gar nicht weiß, wie man es kategorisieren könnte. Es funktioniert als Parodie auf die Individualität, die Gesellschaft, die Arbeitsteilung unter den Individuen und die Stratifizierung über Machtverhältnisse. Die Figuren sind verschroben und folgen eigenen Logiken, die zwar begrenzt sind, aber doch Logiken, insgesamt gelten im Wunderland Gesetze der Logik, der Mathematik und der Physik, allerdings einer alternativen Logik, Mathematik und Physik (und Biologie). Zwischen den Charakteren des Wunderlandes gibt es Kontakt, aber auch ständige abrupte Kontaktabbrüche („Hier sind aber alle schnell beleidigt“, wundert sich Alice). Es gibt auch eine gemeinsame Essenz unter allen Bewohnern, ein Universal: Hier sind alle verrückt. Vielleicht ist das Wunderland also viel mehr die tatsächliche Welt, wie sie eben ist. Wobei man die Gesamtheit der Welt ja de facto nur sinnbildlich ausdrücken kann, als Metapher. Oder aber, das Wunderland ist das Fundamentalphantasma der Welt. Im Wunderland gibt es keine reale Macht, ist die Macht nur eine Illusion. In der realen Welt ist die Macht auch nur eine Illusion.
Das Wunderland ist paradox. Das Paradoxe ist eine Widersinnigkeit, die einen tieferen Sinn zu enthalten scheint – oder aber diesen tieferen Sinn nur vortäuscht. An den Grenzen des Seins wird man an Paradoxa und an Aporien stoßen. Es gibt an den Grenzen des Seins ein Sein das gleichzeitig ein Nichts und gleichzeitig ein Werden ist; eine Abwesenheit, die gleichzeitig eine Anwesenheit ist; ein Leben, das gleichzeitig Tod ist. Willkommen also im Tao! Es gibt ein Ontisches, das gleichzeitig nur ontisches Potenzial ist und wenig Aussagen über das ontisch Manifeste erlaubt. Wie geht man also mit dem Sein insgesamt um? Indem man mit dem Paradoxen lernt umzugehen. Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten, bzw. sehr viele, da sie individuell sind. Die Geist-Seele muss eben weiter werden als das Paradoxe, oder das Paradoxe in sich einbauen. Paradox bedeutet übersetzt aber eigentlich nur: „neben der Meinung“ sein. Alice steht immer neben der Meinung. Sie ist zwar lernbereit und verhält sich mimetisch zu den Meinungen, die im Wunderland herrschen, übernimmt sie dann aber nie. So errichtet sie eine Superposition über das Wunderland. In einer Art Kollaps der Wellenfunktion, die aus einer Messung des Zustandes erfolgt, verschwindet dann das Wunderland mit seinen Unheimlichkeiten. Übrig bleiben der superpositionale Geist und die Phantasie von Alice. Mit dem Imaginationsvermögen und der Mimesis überwindet man das Paradox.
Györgi Ligeti hat lange versucht, aus Alice im Wunderland eine Oper zu machen. Mit Le Grand Macabre hat er eine wichtige Oper gemacht, aber wie wäre die, bzw. wie wäre die Tonsprache von Ligeti mit Alice in Verbindung gestanden? Le Grand Macabre ist ein idiotisches Stück. Und die große Leistung von Ligeti ist, meiner Meinung nach, dass er in Le Grand Macabre eine adäquate musikalische Sprache für das Idiotische gefunden hat. Der Alice/Lewis Caroll Stoff kennt das Idiotische zwar auch, aber er ist ja noch viel mehr als das – und man weiß letztendlich nicht, was er genau ist.
Unsuk Chin, die bei Ligeti studiert hat, hat 2007 ihre Oper von Alice im Wunderland präsentiert und die wurde jetzt am Theater an der Wien zum ersten Mal in Österreich aufgeführt. Vielleicht ist mir der tiefere Sinn noch entgangen, aber insgesamt erscheinen mir die Kompositionen von Unsuk Chin solide: so auch ihre Alice im Wunderland. Das bedeutet aber leider auch: ein wenig beliebig.
Wie kann man aus dem Alice-Stoff überhaupt eine Oper machen? Ligeti ist daran ja auch gescheitert. Um einen fundamental mit dem Stoff verwurzelten musikalischen Ausdruck zu generieren, müsste man einen musikalischen Ausdruck für das Paradoxe schaffen. Aber kann das gehen? Das Paradoxe artikuliert sich zwar in einer Semantik, benötigt aber ein zusätzliches Vermögen (oder gar eine Kombination von zusätzlichen Vermögen), damit man es als solches versteht. Musik ist eine Semantik, die viele Möglichkeiten hat, Bedeutungen zu generieren. Aber sie kann wohl nicht ein zusätzliches, von ihr verschiedenes Vermögen sein. So (und zugegebenermaßen recht rudimentär) betrachtet, scheint eine tatsächliche Oper von Alice im Wunderland auch theoretisch unmöglich. Vielleicht könnte ein Komponist wie Lutoslawski aber eine gute Annäherung dazu schaffen.
26. November 2025

