Russland

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„Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand, „ auf-
geklärt“ und „sozial gesinnt“. Alles was er um sich sieht, nimmt
die späte, großstädtische und westliche Form eines Problems an.
Dostojewski weiß gar nicht, was Probleme sind …
(Tolstoi) gehört irgendwie zu Marx, Ibsen und Zola. Seine Werke sind nicht Evangelien, sondern späte, geistige Literatur.
Dostojewski gehört zu niemand, wenn nicht zu den Aposteln des Urchristentums. Seine „Dämonen“ waren
in der russischen Intelligenz als konservativ verschrien. Aber
Dostojewski sieht diese Konflikte gar nicht. Für ihn ist zwischen
konservativ und revolutionär überhaupt kein Unterschied: beides
ist westlich. Eine solche Seele sieht über alles Soziale hinweg.
Die Dinge dieser Welt erscheinen ihr so unbedeutend, daß sie
auf ihre Verbesserung keinen Wert legt. Keine echte Religion
will die Welt der Tatsachen verbessern. Dostojewski wie jeder
Urrusse bemerkt sie gar nicht; sie leben in einer zweiten, meta-
physischen, die jenseits der ersten liegt. Was hat die Qual einer
Seele mit dem Kommunismus zu tun? Eine Religion, die bei Sozial-
problemen angelangt ist, hat aufgehört, Religion zu sein. Dostojewski aber lebt schon in der Wirklichkeit einer unmittelbar bevorstehenden religiösen Schöpfung. Sein Aljoscha ist dem Verständnis aller literarischen Kritik,
auch der russischen, entzogen; sein Christus,
den er immer schreiben wollte, wäre ein echtes Evangelium ge-
worden wie jene des Urchristentums, die gänzlich außerhalb aller
antiken und jüdischen Literaturformen stehen. Aber Tolstoi ist
ein Meister des westlichen Romans — Anna Karenina wird von
keinem zweiten auch nur entfernt erreicht — , ganz wie er auch
in seinem Bauernkittel ein Mann der Gesellschaft ist, Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dostojewski ist ein Heiliger, Tolstoi ist nur ein Revolutionär.
Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend“.

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II., S. 235ff

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Philip Hautmann Tolstoi, Krieg und Frieden, habe ich als Jüngling mal zu lesen versucht, habe aber auf Seite 400 oder so damit wieder aufgehört, weil mir das Aristokratengeschwätz nach dieser Weile zu sehr auf die Nerven gegangen ist. Anna Karenina habe ich nur als Film gesehen, aber ich habe mit diesen unwichtigen Charakteren und jenen unwichtigen Problemen, die da vorgeführt werden, nicht wirklich was anfangen können. Freilich mag die Leistung Tolstois darin liegen, die tiefe Ernsthaftigkeit unwichtiger menschlicher Probleme darzustellen, sicherlich liegt sie darin, und ich werde ihn irgendwann mal genauer lesen; aber bei Dostojewski hat man halt mal die tiefschürfendsten Probleme und selbst die siebte Nebenfigur von hinten links präsentiert sich uns in einem rätselhaften Leuchten, während bei Tolstoi einen alle auf uncoole Weise nerven bzw. ihr fahles Licht über uns werfen. Und so hat man bei Dostojewski den tiefen inneren Zusammenhang und Zusammenhalt der Welt; bei Shakespeare hingegen die Vorführung von lauter vollkommen unwichtigen Problemen, zufällige Wellenkräuselungen dort, wo das Flüssige das Feste zu berühren versucht, und die dann wieder verschwinden, ohne irgendwas zu hinterlassen; Probleme, die daraus entstehen und darin wieder vergehen, dass die Menschen zu dumm sind, um authentisch miteinander zu kommunizieren, oder aber halt zu brutal, als Stücke auf einer Bühne, die aber nicht die Bühne der Welt ist. In den Sonetten war Shakespeare zutiefst spirituell, insgesamt aber eben so, als wie wenn die Welt und die Überwelt getrennte Sphären wären, zwischen denen keine eigentliche Kommunikation möglich ist, und so zerfällt das eine in Sinnlosigkeit und auch das andere, und, wie ich bereits einmal erwähnt habe, kann ich mit den Sonetten von Shakespeare nur bedingt was anfangen, vielleicht eben auch deswegen. Bei Dostojewski hingegen hat man das Aufgehen des Personalen in der Welt, im Transpersonalen; auch wenn Raskolnikow mit seinem ursprünglichen Approach nicht völlig unrecht hat und die Brüder Karamasow zu Unrecht verurteilt werden, ist die Läuterung, durch die sie hindurchgehen, das, was sie tatsächlich personalisiert und letztendlich bedeutsam macht. Einer hat mal gemeint, Dostojewski sei der größte Schriftsteller der Neuzeit, ein anderer hält Shakespeare dafür; man kann natürlich einräumen, Shakespeare war ein Engländer in der Dämmerung der Neuzeit und konnte daher nicht die Vollständigkeit und Reife aufweisen wie Dostojewski als Russe des 19. Jahrhunderts, aber Giganten wie Shakespeare und Dostojewski erheben sich über Zeit und Raum und haben auch ihren Ursprung nicht dort, sondern im Hyperraum und in der Zeitlosigkeit, und was sie uns präsentieren, sind sie in ihrem vollständig verwirklichten Potenzial; ja, es erscheint schwierig, genau zu ermitteln, wie das Zeitliche in das Zeitlose hineinreicht und sich gegenseitig durchdringt, der Scherz mit der Herangehensweise vom Tod des Autors aber auf jeden Fall hat bereits wieder das Zeitliche gesegnet, er war zwar, im geistesgeschichtlichen Verlauf, notwendig, aber irrelevant.

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Ein Schriftsteller muss spirituell sein, sonst wird das niemals wirklich was; und wenn er eine einigermaßen mieselsüchtige Weltsicht hat, wie Kafka oder Beckett, so waren Kafka und Beckett als Personen spirituell und in ihrem Verhalten ihren Mitmenschen gegenüber, so wie Wittgenstein als Existenzphilosoph keine ethischen Sätze aufgestellt hat, da das logisch nicht möglich ist, aber eben ethisch gelebt hat und so eben etwas objektiviert hat und ein Beispiel gegeben hat, und so ist die Art, wie Kafka, Beckett und Wittgenstein ihr Leben gelebt haben ebenso bedeutsam wie ihr Werk. Vielleicht sollte ich in dem Zusammenhang Paul Coelho lesen; dass die Halbintelligenten über ihn lästern und ihn verächtlich machen ist vielleicht ein gutes Zeichen, wenngleich es natürlich auch so sein kann, dass sie damit recht haben und auf den Grund der Sache getaucht und das Wesen der Sache tatsächlich erfasst haben, so wie es bei ihnen ja hin und wieder der Fall sein kann; Spengler ist zwar auch kein vollkommen Intelligenter, aber schon ein deutlich schwierigerer und kapriziöser Fall, da muss man sich schon in was hineinversetzen und sich meditativ versenken, wenn man versuchen will, den Wahrheitsgehalt seiner zahlreichen und mannigfaltigen Aussagen zu bestimmen. Die Lektüre von Khalil Gibran hat mich immer wieder komisch berührt, der Prophet, der Narr und auch der Liebesbriefwechsel zwischen ihm und May Ziada, die er dann seltsamerweise innerhalb von 19 Jahren nie persönlich treffen wollte; wer so anbiedernd schreibt und Prophet sein will, ohne auch nur irgendwelche echten Herausforderungen an die Herde zu stellen, an dem muss irgendwas faul sein. Bhagwan hat einmal ausgeplaudert, Khalil Gibran, der herzerwärmende Dichter, sei, vor allem Frauen gegenüber, cholerisch und unbeherrscht gewesen und habe sie auch geschlagen. Ich weiß ja nicht, ob das stimmt, aber immer wenn ich Gibran gelesen habe, habe ich etwas derartiges vor Augen gehabt und in der Melodie seiner Worte so was wie das Klatschen von Ohrfeigen auf den Gesichtern von Frauen vernommen; ein aufgeblasenes Ego, das dauernd platzt, und ein artifizielles, das sich dann eben immer wieder in derartigen Explosionen entlädt, innerlich hilflos. Ich kann mich natürlich auch irren, aber ich glaube, Khalil Gibran ist keiner, der das Chaos tatsächlich beherrscht und einen eisernen Ring schmieden kann, in dem er das Chaos bezwingt, den hochzeitlichen Ring der Ringe, den Ring der Wiederkunft. Dostojewski konnte das, Kafka auch, Beckett auch.

GIF: Der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring der Wiederkunft

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