Professor Habermas geht an die Öffentlichkeit

Die performativ vollzogene Erhellung – zwar vielleicht weniger für sie selbst, dafür aber für andere – bzw. der unfreiwillig ironische Selbstvollzug des Vernunftmodells der ursprünglichen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule liegt darin, dass es das einer subjektiven Vernunft ist: und damit auch anfällig ist für subjektivistische Perversionen. Indem sie die moderne Vernunft und die Aufklärung als die Entfaltung einer „instrumentellen“ Vernunft, einer einseitigen Herrschaftstechnik, die schließlich die Herrschaft und das Verständnis über sich selbst und den Bezug zu ihrem eigentlichen („guten“ und „authentischen“) Ursprung verliert und die somit zu einem „Mythos“ degeneriert setzt, verkürzt sie die reale Vernunft und die Aufklärung erheblich und schafft somit selber ein Vernunftmodell, das von einem Mythos nur mehr schwer zu unterscheiden ist. Horkheimer, Adorno et al. beklagen, dass die moderne Vernunft das „Nicht-Identische“ exkludiere, tun das aber selber in erheblichem Maße mit allem, was nicht identisch ist zur Harmonie und zum Narzissmus ihrer beklemmenden, unbequemen Gefühlswelt. Die Dialektik der Aufklärung und die Negative Dialektik sind (als Werke wie als Methoden) einerseits stark, gleißend und öffnen die Perspektive auf ein sensationelles (allerdings auch sensationalistisches) befreiendes Imaginäres, andererseits sind sie konfus, zirkulär und schwach, wenig richtungsweisend. Das liegt daran, dass die Vernunft der frühen Kritischen Theorie subjektiv (und sich subjektiv so ein bisschen magisch bzw. über die Listen des Odysseus selbst konstituierend) und außerdem ziemlich autoritär und unkommunikativ war und daher nicht vor einem subjektivistischen Exzess gefeit. Die philosophische Intervention von Jürgen Habermas besteht darin, dass er Vernunft als grundlegend intersubjektiv begreift: Sie realisiert sich mittels einer anderen Vernunft, indem sie ihre eigenen Standpunkte über die rationale Kommunikation mit einer anderen Vernunft, mit einem anderen Standpunkt (wechselseitig) evaluiert. Vernunft beruht auf (besteht eventuell aus) rationaler Kommunikation bzw. einer kommunikativen Rationalität. Vernunft ist, wenn man so will, öffentlich bzw. was, was sich in einer (abstrakten) Öffentlichkeit vollzieht. Seit seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 ist Habermas Theoretiker und Propagator der Öffentlichkeit und der Idee, dass die Schaffung einer den Prinzipien der rationalen Kommunikation gehorchenden Öffentlichkeit wesentliches Element der Demokratie sei. Er hat damit die Intention der ursprünglichen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und seines Lehrers Adorno in eine vielleicht weniger charismatische aber funktionalere Form gebracht. Seine Philosophie ist staatstragend. Jetzt hat der 93jährige Jürgen Habermas eine kleine Schrift(ensammlung) vorgelegt, in der er auf den jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit (über die sozialen Medien) Bezug nimmt; und sie ist nicht optimistisch. Zwar sei „Öffentlichkeit“ immer durchaus agonal und zerfalle in kleine Welten, die sich wenig angehen, oftmals feindselig gegenüberstünden. Wer argumentiert, widerspricht. Das sei nichts Neues. Die sozialen Medien brächten nun aber einen tatsächlichen, erneuten Strukturwandel in der Öffentlichkeit mit sich: indem sie das tradiert Öffentliche und tradiert Private miteinander vermischen – in einem degenerativen Sinn, wie Habermas meint: Nach bisherigen Maßstäben können sie weder als öffentlich noch als privat, sondern am ehesten als eine zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer bis dahin dem brieflichen Privatverkehr vorbehaltenen Kommunikation begriffen werden (S.62). Damit erhöhe sich die Gefahr, dass diese private, eigene Welt, die Briefverkehrssphäre, mehr und mehr als Öffentlichkeit schlechthin wahrgenommen werde. Vor allem aber nehme der Konsum der traditionellen (Qualitäts)medien ab, die (selbst in ihrer Boulevardausgabe) eine rationale und rationalisierende Gatekeeper-Funktion darüber haben, was berechtigterweise öffentlich rational verhandelt werden sollte und was nicht. Die tradierte Öffentlichkeit zerfalle immer mehr in subjektivistisch-narzisstische, sich voneinander abgrenzende Echokammern und Silos. Das schwäche den Zusammenhalt in der Gesellschaft, das Wir-Gefühl – möglicherweise in ihrem Fundament: der Rationalisierbarkeit des gesellschaftlichen Diskurses und des Gesellschaftsentwurfs. Die Architekten des Internet glaubten, ihre Erfindung sei ein geniales Medium, die Menschen weltweit miteinander zu verbinden; in Wirklichkeit hat es jedoch einen neuen Weg freigemacht, die Menschheit in verfeindete Stämme zu spalten, ist auch ein anderer deutscher Intellektueller, der 99jährige Henry Kissinger, in seinem ebenfalls jüngst erschienen Buch Staatskunst geneigt zu diagnostizieren (S.534). Indem das Internet/die sozialen Medien die Selbstbestätigungsmöglichkeiten des Ich und der eigenen Kultur zu stärken imstande seien, befördern sie den Verlust an Vertrauen in das andere und in andere Kulturen. Eine funktionierende Gesellschaft basiert, wie ein anderer deutscher Denker – der 77jährige Thilo Sarrazin – konstatiert, aber auf Vertrauen. Gesellschaft ist nicht Gemeinschaft; ihre Mitglieder sind atomisiert und anonym: eine Gesellschaft funktioniere aber dann, wenn man das Gefühl hat, Fremden (die der eigenen Gesellschaft angehören) vertrauen zu können. Wenn das Vertrauen zerbrösle, zerbrösle die Funktionalität der Gesellschaft (Gesellschaften, in denen ein solches Vertrauen fehle, sind wahrscheinlich mehrheitlich auf diesem Planeten, und sie sind eben mehr oder weniger dysfunktionale Gesellschaften). Ich selber bin vielleicht zu jung, vor allem aber aus der Gesellschaft ausgeschlossen, um das eventuell angemessen beurteilen zu können; ob sich das Positive oder das Negative am Internet/den sozialen Medien durchsetzen wird. Ich bin lauteren und arglosen Wesens und ich sehe sehr deutlich die Kraft und die Herrlichkeit, die in der Vernunft liegt und in der gesellschaftlichen Solidarität. Allerdings weiß ich auch, dass auf kulturelle Hochblüten Perioden des Verfalls und des langen, vielleicht sogar ewigen Niederganges folgen können. Also kann das auch jetzt der Fall sein. Außerdem ist unsere gesamte Existenz in Wahrheit sowieso ein ständiger Tanz auf dem Vulkan (wenngleich Vulkane die meiste Zeit nicht ausbrechen und wir das mit der Vorhersage mittlerweile gut im Griff haben). Mehr fällt mir gerade eben dazu auch nicht ein. Facebook aber ist, wenn du mich fragst, aber eine der großartigsten Innovationen der Geschichte. Es ist ein globales Gehirn, eine globale Intelligenz, die man anzapfen, in die man sich einloggen kann. Man kann mit Menschen und Kulturen, die wo völlig anders beheimatet sind, in intime Beziehung treten. Allerdings nutzt diese Möglichkeiten fast niemand, und wenn, dann hauptsächlich Leute mit einem sehr hohen Intelligenzquotienten. Schau, wie sich die meisten darüber auslassen, dass Facebook „blöd“ und „voll mit Katzenvideos“ sei – dann aber selber kaum einmal „Freunde“ außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen haben. Diese gegenseitige Perspektivenübernahme, die notwendig ist, um einen Konflikt unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu betrachten, hat zwar eine rein kognitive Funktion, aber die Bereitschaft, sich über große kulturelle Abstände hinweg auf diese anstrengende Operation überhaupt einzulassen, ist der eigentliche Engpass (S.85). Woher diese göttliche Passivität im Menschen kommt, weiß ich auch nicht. Aber es geht mich eigentlich auch gar nichts an. Ferguson, ein Mensch mit einem sehr hohen Intelligenzquotienten, konstatiert, dass es auch für sehr aufgeschlossene und intelligente Menschen Grenzen gebe, über die hinaus sie sich nicht mehr mit dem „Anderen“ zu beschäftigen bereit seien, oder aber überfordert davon seien. (In seinem tendenziell machohaften Habitus, aus dem heraus er gerne „die Linken“ (und andere) ärgert, meint er auch, dass der Zerfall der allgemeinen Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten zu normal sei, um eigentlich als „schlecht“ gewertet werden zu können: Nachdem es keine „harten“ Probleme (?) in der (westlichen) Gesellschaft mehr gäbe, über die sich eine breite Öffentlichkeit einig sein könnte, kehre die Öffentlichkeit eben in ihren ursprünglicheren Zustand der Segregation und des Nebeneinanderbestehens von Echokammern und Silos zurück – was auch in Ordnung sei, sofern sie nicht gegenseitig versuchen würden, ihre jeweilige Kultur einer anderen aufzuoktroyieren. Vor einiger Zeit habe ich Ferguson aus meiner Freundesliste rausgeschmissen, weil er trotz seiner hohen Intelligenz und der angenehmen Ausformuliertheit von allem, was er vorbringt, bemerkenswert oft im Irrtum ist, was den Kern einer Sache anlangt (aufgrund seines neurotischen Distinktionsbedürfnis gegenüber „Linken“ und Experten heraus) (und außerdem plötzlich nicht mehr sehr „sapiosexuell“ ist, wenn ein anderer gescheiter ist als er). Ausschlaggebend für den Rausschmiss war dann, dass er sich in den Verschwörungsmythos vom angeblichen Wahlbetrug gegen Trump eingeklinkt und den dann mit der ihm eigenen Verve propagiert hat – obwohl auch einem durchschnittlich intelligenten Menschen klar sein sollte, dass eine solche Verschwörung wenig plausibel und unlogisch ist und sich selbst vor kaum zu bewältigende Logistikprobleme stellt. Trotzdem schaue ich immer wieder noch auf seine Seite, da sie vieles Wissenswerte enthält und Denkarbeit leistet. Und mich eben auch andere Kulturen interessieren, auch wenn sie mir deswegen nicht unbedingt sympathisch sind.) Das einzige, das die Öffentlichkeit begreift und sie umfassend integriert, ist der Große Geist! Der Große Geist errichtet sich über die Große Kommunikation und der Öffnung des Eigenen und der eigenen Vernunftmomente hin in Anderes, die subjektiven, die menschlichen Begrenzungen hinter sich lassend. Wo Mensch war, soll Geist werden. Der Geist ist transpersonal und objektiv. Genau gesagt ergreift er das Objektive mit einer subjektiven Leidenschaft. Der Geist ist die Brücke von einem zum anderen. Der Geist ist selber eine Öffentlichkeit, ein Versammlungsort. Und der Große Geist ist die große (kosmische) Öffentlichkeit, der transzendentale Versammlungsort. Schau, wie die Verbindung hergestellt wird, eine Eisenbahntrasse geschlagen über den halben Erdrund, zwischen zwei Vernunftmomenten, zwischen zwei Positionen! Der Große Geist überzieht die Welt mit solchen kommunikativen Eisenbahntrassen. Er ist eine kommunikative Cloud. Die Bedingung dafür, dass das geschieht, ist freilich nicht nur Vernunft allein, sondern auch Sympathie und Liebe (zum Anderen). Der Große Geist ist nur, wenn er auch Liebe ist. In einem Interview zu seinem neunzigsten Geburtstag in El Pais von vor ein paar Jahren konstatiert Jürgen Habermas allerdings, dass große Geister heute nicht mehr sichtbar seien, keine Konjunktur mehr hätten. Wer höre den großen Geistern noch zu? Die Philosophie zerfalle mehr und mehr in Subdisziplinen, die von keinem großen Geist mehr zusammengehalten werden würden. Eigentlich ist es ja der Wunsch der Philosophie, dass großer Geist erscheine, dass Philosophie großer Geist sei, der die Subdisziplinen überschaue. Aber vielleicht ist die Degeneration schon so weit fortgeschritten, dass der Philosophiebetrieb diesen großen Geist (im Namen des „Fortschritts“) gar nicht mehr will! Das sei freilich sehr gut, denn je mehr sich die (Sub)Disziplinen vereinzeln, desto weniger können sie eine Phalanx bilden gegen den Großen Geist, der letztendlich doch kommt, sie zu holen (analog zur gesellschaftlichen Situation, wo ein Mangel an Wir-Gefühl eine gemähte Wiese für (Rechts)Populisten umso mehr darstellen mag). Habermas wird seit Langem vorgehalten, dass er ein wenig antiquiert sei. Trotzdem er sich des agonalen Charakters der Vernunft und der demokratischen Öffentlichkeit bewusst ist, ist der zugrunde liegende Habitus seines Philosophierens doch ein Glauben an die Einheit, die in der Vernunft liegt, und daran, dass die Vernunft das stärkere Prinzip sei als die Unvernunft. Darin erscheint Habermas „modern“ – während die Postmoderne die „Differenz“ als eigentlichen Grund der Welt anzusehen geneigt ist, sowie die Differenz nicht als Epiphänomen, sondern als Grundlage zu begreifen, und Vernunft als Herrschaftsphänomen, das in Konkurrenz mit anderen Herrschaftsphänomenen/versuchen stünde (wenngleich der grundlegende Gedanke zumindest bei dem freundlichen Spinozisten Deleuze (der von seinem kantigeren Freund Foucault übrigens als der „einzige wahre Philosoph in Frankreich“ bezeichnet wurde) ja weniger der von Differenz und Wiederholung ist als der von der Univozität des Seins (was ironischerweise ich in Frage zu stellen geneigt bin – allerdings als zu ungenau/undifferenziert und nicht im Sinn einer Abrede)). Ich weiß nicht genau, was ich von all dem halten soll. Trotzdem aber Vernunft und Rationalität agonal sind bzw. dazu provozieren, trotzdem es moralische Dilemmata gibt, zukünftige Dinge nicht gewusst werden können, logische Unentscheidbarkeiten existieren, weiß ich nicht ob … genau gesagt scheint es mir nicht so, als ob Vernunft auch (grundlegend) konfliktuell ist. Gegenüber der Differenz gibt es eine solche ontologisch begründete Absicherung gegen das grundlegend Konfliktuelle nicht. Was bedeutet (?), dass da, wo Vernunft ist, auch (metaphysische) Einheit ist. Diese metaphysische Einheit kann man vielleicht nicht ganz auf die (Lebens)Welt projizieren, da in der eben auch Nichtvernunft ist (oder zu viele Abstufungen von sich zueinander (leidenschaftlich) agonal verhaltenen Vernünftigkeiten). Wie kann man die Öffentlichkeit, und alles, was damit zusammenhängt, letztendlich als was Gutes und Einheitliches begreifen? Ziehen wir dazu vielleicht einen verstorbenen Denker, der nicht nur ein (sehr starker) diesseitiger Analytiker und Logiker sondern auch ein Metaphysiker war – Alfred North Whitehead – heran. Vielleicht ist es am besten, man begreift die Öffentlichkeit, die Menschheit, die Weltgeschichte nicht als was Harmonisches, Moralisches oder Schönes: sondern – mit Whitehead – eher als ein Gemälde Gottes, das interessant sein will: und vollständig, indem es auch so vieles Unangenehmes enthält. In dem sich die Dinge entlang der Erstarrtheiten und der Freiheitsgrade, entlang der Koordinaten also, die die Welt ausmachen, entfalten und wieder vergehen. Unhintergänglich, denn das Gute, die Versöhnung, die Harmonie gehören zu den letzten Dingen und zur Struktur der Welt, der Verfall, die Trennung und die Perversion aber auch. Gott ist, laut Whitehead, die Instanz, die all dieses Geschehen, und die all diese Einzelereignisse bewahrt, in den Grund, in die Erinnerung, in die sie schließlich fallen. Das ist der einheitliche Grund der Welt. Das ist die Einheit der Welt. Und das ist die Einheit der Öffentlichkeit. Ich gehe jetzt mal in die heiligen Serverhallen von Meta, wo die Informationen der durch die Welt gefallenen Ereignisse bewahrt werden und versuche dort, mich in eine mystische Stimmung reinzukriegen. Menschen wollen Stolz und Würde und Identität und Einheit. Ihr Stolz und ihre Würde und ihre Identität bestehen darin, dass sie schließlich – jede_x_R einzelne –  nach ethischen Maßstäben gemessen und gerichtet werden, und ihnen gemäß mehr oder weniger bestehen können oder nicht; in der Gegenwart und in der Erinnerung. Tiefer unten im Grund werden sie trotzdem alle bewahrt. Der Maßstab des Ethischen gehört auch zu den letzten Dingen in der Welt und selbst die Menschenwelt ist tief davon durchzogen, dass fortwährend (bis teilweise hektisch) ethische Maßstäbe angelegt werden. Auch die sozialen Medien sind voll davon. In den Inhalten, die auf Facebook generiert werden, drückt sich vielleicht viel weniger, als man gemeinhin bekanntlich glaubt, Selbstdarstellung aus als vielmehr ein dauerndes Diskutieren darüber was richtig ist und was falsch. Das hat manchmal einen höheren Ewigkeitswert, und oftmals nicht. Sie finden trotzdem in einem Rahmen statt. Das Internet bewahrt. Das Internet wiederum ist ein Ereignis in der Welt, und es wird bewahrt im Grund der Welt. Es wird bewahrt, so wie alles andere, im Gemälde Gottes. Wer aber schaut das Gemälde Gottes an? Eben der Große Geist.