Möglichkeit einer Kritik an Guy Debord

„Das Unbehagen der modernen Zeit ist das Unbehagen jeder Zeit. Den Menschen fehlt der Zugang zu ihrem Geist … Neunundneunzig Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu ihrem Geist … Ich kann das nicht historisch sehen. Die Geschichte ist für mich ein schwarzes Loch. Was zählt, ist der GEIST. Der Rest ist Schnickschnack.“

Samuel Beckett im Gespräch mit Patrick Bowles, Nov. 1955

Gemeinsam mit Genossen M. habe ich in grauer Vergangenheit festgestellt: Wo Baudrillard entfesselt und selbstzweckhaft vom Simulakrum spricht, da offeriert Debord die stärkere Theorie, indem er diese spezifische Form von gesellschaftlicher Entfremdung (der scheinbaren „Losgelöstheit“ ihrer Zeichen) an die Warenwirtschaft bindet, sie als Epiphänomen des Kapitalismus begreift. Was aber bedeutet eigentlich das? Guy Debords Schlüsselwerk Die Gesellschaft des Spektakels erschien 1967, einer Zeit, wo der westliche Kapitalismus scheinbar seinen größten, entscheidendsten, endgültigen Triumph feiern durfte. Armut und Knappheit schienen überwunden, ebenso wie unversöhnliche Klassengegensätze, die Zukunft leuchtete noch verheißungsvoller als die glückliche Gegenwart in diese herein. Ambivalenz und Ambiguität gab es auch; ein Gefühl dafür, dass anonyme Logiken wie die Technik und die Massenproduktion/konsumtion die Herrschaft über den Menschen übernommen hätten und den Menschen nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinem Nebenmenschen entfremden würden; ein Gefühl der Irrealität inmitten penetrant schimmernder Oberflächen – bei einer gleichzeitigen Tristesse der wenig spektakulären und entwickelten urbanen Lebenswelten; einerseits ein Verharren in einer sehr konservativen Mentalität, was vor allem für die Jugend einengend war; andererseits ein Verlust von Tradition und tradiertem Sinn sowie tradierten Hierarchien, was vor allem für Konservative alarmierend schien. Die Filmkunst erreichte dafür einen Höhepunkt, indem Meisterregisseure wie Antonioni, Godard, Tati oder Ozu diese Ambivalenzen zu ihren Themen machten. Die moderne (das heißt offenbar bedeutungs- und geistvolle) Kunst schien sich in der Pop Art zum letzten Mal triumphal aufzubäumen – wobei die gesichtslos-ausdrucksvolle Über- und Unterbestimmtheit, die geheimnislose Geheimnishaftigkeit der Warenwelt von Warhol am symptomatischsten registriert und im Übrigen auch in dieser schweigenden Ambiguität belassen wurde. Ökonomiekritiker und Marxisten wollten sich das nicht leisten und riefen angesichts des Siegeszuges des Kapitalismus kritisch eine Ära des „Spätkapitalismus“ aus. Debord sucht die Gesellschaft in seiner als eine Art Aphorismensammlung gehaltenen Schrift als eine „des Spektakels“ festzustellen: Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in die Vorstellung entwichen, setzt sie, an Das Kapital anspielend, ein(Aphorismus 1). Wo es im Kapital allerdings daraufhin heißt: Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware, bleibt bei Debord eine solche tatsächlich aus: Trotzdem er dauernd davon redet, definiert Debord nie, was ein Spektakel eigentlich sei; und seine Untersuchung ist weniger eine solche als eine fortwährende Aneinanderreihung von Proklamationen. Damit könnte man die Auseinandersetzung mit Debord und seiner Gesellschaft des Spektakels gleich wieder als erledigt betrachten.

Solcherart theoretische Unschärfen könnten allerdings genauso gut ein angemessenes Erkenntnisinstrument sein für Feinheiten oder für Gegebenheiten, die sich der Eindeutigkeit entziehen. Am besten, man fasst das Debordsche Spektakel als eine Art Allegorie. Symbole, Allegorien, Mentalitäten, mentale Repräsentationen oder ein Zeitgeist sind allerdings was, was in der Menschenwelt vorhanden und wirkungsmächtig ist. Und Debord (sowie Baudrillard) sind mit ihren (analytischen) theoretischen Proklamationen immerhin dem Zeitgeist gut entgegengekommen. So erscheint das Spektakel als ein Sinnbild für eine Epoche, in der die Wirtschaft sich verselbstständigt hat; als ein Sinnbild dafür, dass Welt in eine Welt der Oberflächen entschwunden ist, in der kein Terror und keine echte Unterdrückung mehr herrschen, sondern die Macht der Werbung, des Kommerzes und des Fernsehens, die bei aller Freundlichkeit gespensterhaft und unecht wirkt, und ein Unbehagen in der Kultur provoziert. Auf einer so trivialen und offensichtlichen Ebene operiert die Debordsche Diagnostik allerdings nicht – zum Preis aber eben, dass weniger offensichtlich ist, was mit Spektakel eigentlich gemeint ist. Debord erläutert das meistens beispielhaft oder anhand von Aspekten, die mit dem Spektakel einhergehen. Selten wird er konkret und versucht, das Phänomen von der Wurzel her zu bestimmen – und wenn, dann in einer Art und Weise, dass sich die Bestimmung schon wieder schnell verflüchtigt, wie z.B. wenn er sagt: Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird. (34) Allgemein versteht er unter dem Spektakel eine Form der irrealen Einheitsstiftung, eine halluzinatorische, implizit propagandistische, ich-syntone Anschauungsdoktrin über eine vermeintlich einheitliche, pazifizierte, mit sich selbst identische Gesellschaft, die in Wirklichkeit aber in sich getrennt ist und in der die bestimmenden Kräfte daran interessiert sind, diese Trennungen aufrecht zu erhalten: die also, genau gesagt, eine kapitalistische Klassengesellschaft ist. Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen Produktionsweise beruht. (72) Damit ist das Konzept vom Spektakel so was ähnliches wie der Marxsche Warenfetisch oder eben eine Form des „falschen Bewusstseins“. Debords spezifischer Marxismus legt den Fokus der Kritik weniger auf Ausbeutung sondern vielmehr auf Entfremdung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften. Das Spektakel fungiere als Hinwegtäuschung über und gleichzeitig Bekräftigung und Vertiefung der zunehmenden Unfähigkeit der Menschen, einander „authentisch zu begegnen“. Das Spektakel ist materiell „der Ausdruck der Trennung und der Entfremdung zwischen Mensch und Mensch“. (215) Es ist … das Spektakel, das als eine systematische Organisation des „Versagens der Begegnungsfunktion“ und als deren Ersatz durch ein halluzinatorisches gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist: das falsche Bewusstsein der Begegnung, die „Illusion der Begegnung“. (217) Die Möglichkeiten der Menschen, einander zu begegnen, liegen letztendlich im Menschen selbst. Die Möglichkeiten der Menschen, einander zu begegnen sind einerseits erstaunlich, andererseits enttäuschend. Das weiß jeder, und das weiß auch Debord. Das macht allerdings Kulturkritik und Untersuchung spezifischer sozioökonomischer Konstellationen und wie sich Menschen darunter verhalten nicht nutzlos. Und Debord steht eben dem Marxismus nahe und will den Gesellschaftszustand im Jahre 1967, einem Jahr des größten Triumphes des Kapitalismus feststellen bzw. möglichst vernichtend kritisieren.

Der Marxismus ist ein groß angelegter – und großartiger – Versuch, den Kapitalismus als Ganzes – und das bedeutet auch: in seiner Eingelassenheit in die Gesellschaft und die Geschichte, in die Menschenwelt insgesamt – zu fassen. Allerdings im Wesentlichen bzw. meistens ausschließlich daraufhin reflektiert, dass er was Falsches und Heteronomes, und (daher) auch etwas zum Scheitern und zum Untergang Verurteiltes sei. Für junge Menschen kann der Marxismus mit seinem scheinbar rational fundierten Welterklärungsanspruch was Faszinierendes sein. Das seltsame Charisma des Marxismus (das ihn auch gleichzeitig an seiner Oberfläche charismatisch leicht und in seinem Kern (der Mehrwerttheorie) charismatisch schwer verständlich macht) liegt darin, dass er vermittelt, zu einer Art traumatischen Kern des Weltprozesses, einem Ding an sich hinter den Erscheinungen, einer unabwendbaren Gesetzmäßigkeit vorzustoßen und zu einer (als „Dialektik“ getarnten) Mechanik, gemäß derer der Kapitalismus (und alles gängige Weltverständnis) aus inhärenten Gründen scheitern und durch etwas anderes (furchtbar Aufregendes und Charismatisches) abgelöst werden müsse. Als derartige Gesetzmäßigkeiten, Entwicklungen, Ursünden, Konsequenzen, Entfaltungen von Widersprüchen werden im Rahmen des Marxismus aufgeführt: das Wertgesetz, die Mehrwerttheorie, der Gegensatz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und ihrer privatwirtschaftlichen Aneignung, die Trennung des Arbeiters von seinem Produkt, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, die Verelendungsthese, der Warenfetisch, der Kapitalfetisch, der Klassenkampf, der Umschlag von Quantität in Qualität und die Negation der Negation innerhalb des Klassenkampfes, die Überakkumulationsthese, die Unterkonsumtionsthese, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, die Sprengung der Produktionsverhältnisse durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die Determiniertheit des geschichtlichen Verlaufs durch die Ökonomie (in letzter Instanz), die Dialektik zwischen Basis und Überbau, die Konzentration des Kapitals, das Finanzkapital, der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, der Spätkapitalismus, der Neoliberalismus, das Empire. Aus all dem lässt sich aber – weder praktisch noch theoretisch – eine Gesetzmäßigkeit begründen, warum „der Kapitalismus“ „scheitern“ müsse. So gesehen ist der charismatisch vermittelte „Kern“ des Marxismus leer, bzw. ist er vielmehr ein traumatischer Kern, der sich als solcher der Selbstaussage entzieht. Dieser traumatische Kern wäre im Fall des Marxismus ein (hilfloser) Hass auf den Kapitalismus oder auf die bestehende Gesellschaft (oder auf irgendwas wie z.B. Autoritäten – oder auch auf real existierende Ungerechtigkeit – der dann auf die Gesellschaft oder den Kapitalismus projiziert wird). – Natürlich kann sein Kern auch Liebe und Interesse sein; der Wunsch, eine bessere Welt zu schaffen. Ob er dem Hass- oder dem Liebe-Pol näher steht, hängt vom individuellen Fall ab.

Wir befinden uns im Jahr 1967 (Gilles Deleuze). Marxisten ist es immer wieder zu eigen, dass wenn ihre spezifischen Vorhersagen und Prognosen in der Wirklichkeit nicht eintreten, sie dann ganz einfach die Wirklichkeit als etwas Falsches abtun. Die Wirklichkeit als etwas Falsches (und daher auch scheinbar beliebig Veränderbares) abzutun, ist, symptomatischer gefasst, eine Art Grundlage des Marxismus. Debord befindet sich im Jahr 1967 und tut die triumphierende kapitalistische Wirklichkeit als Wirklichkeit insgesamt ab. Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins gewährleisteten reellen Präsenz der Falschheit. (219) Bei der Lektüre von der Gesellschaft des Spektakels fällt auf, dass all das – die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs, die gleichzeitige An- und Abwesenheit der Welt, die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit und die Gewährleistung der reellen Präsenz der Falschheit unter der Organisation eines Scheins – von Debord und seinem Spektakel(un)begriff selbst gewährleistet und organisiert wird. Die gesamte moderne westliche Kultur fasst Debord als etwas Spektakelhaftes auf: als etwas, das den Schein einer Einheit und Versöhntheit über eine Wirklichkeit organisieren will, die unversöhnt ist und bleibt. Abermals kommt er mit überraschenden, intelligenten Analysen daher, innerhalb eines Verständnisses allerdings, das willkürlich und selektiv ist (und bleibt). Als libertärer Kommunist ist Debord negativ gegen den Sowjetkommunismus eingestellt, in dem er keinen Kommunismus erblicken will, sondern die Herrschaft einer Bürokratie – die sich aber gleichermaßen des Spektakels bediene. Der Inhalt des sowjetischen Spektakels sei es,  die Herrschaft der Bürokratie nach außen hin abzustreiten und die des Kommunismus vorzugaukeln. Ein solches Spektakel ist dann aber was anderes als das „kapitalistische“ Spektakel, das Debord meistens im Blick hat, und ein solcher erweiterter Spektakelbegriff relativiert die Bedeutung und die Skandalträchtigkeit des Spektakels letztendlich: indem es zu etwas den menschlichen Gesellschaften scheinbar mehr oder weniger innewohnendem und zu etwas Natürlichem wird. Als eben libertärer Kommunist strebt Debord deshalb eine ungefilterte Welt an, die sich in Arbeiterräte und Selbstverwaltung organisiert – ohne dass er sich darüber nennenswert auslässt. Das ist nicht verwunderlich, denn die Idealisierung einer solchen Welt als etwas Paradiesisches erscheint naiv. (In seinen zwei Jahrzehnte später erschienenen Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels bezeichnet Debord den „ersten Apologeten des Spektakels“, Marshall McLuhan, mit dessen Vision vom „globalen Dorf“ als den überzeugtesten Dummkopf des Jahrhunderts, denn: Im Gegensatz zu den Städten sind die Dörfer stets von Konformismus, Isolierung, kleinlicher Bespitzelung, Langeweile und dem stets wiedergekäuten Tratsch über einige wenige und immer dieselben Familien beherrscht worden … (XII) Warum sollte das in den Arbeiterräten anders sein? Seine eigene Schrift, Die Gesellschaft des Spektakels, bezeichnet Debord übrigens, schon wieder irgendwie spiegelbildlich dazu, als das wichtigste Buch des Jahrhunderts.) So bleibt Debord dann, in seiner Unfähigkeit irgendwo Wahrheit und Authentizität zu finden, allerdings nichts als die Negation, das Negative als das einzig Wahre anzuerkennen: Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft. (199) Sie (die Kritik, Anm.) ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation. (204) In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur – ihre Erkenntnis wie ihre Poesie – beherrscht und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik allein geht der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen. (211) Diese vereinheitlichte gesellschaftliche Praxis führe dann zur „Revolution“. Die Revolution wird jedoch nur triumphieren, wenn sie sich weltweit durchsetzt, ohne irgendeiner noch bestehenden Form der entfremdeten Gesellschaft auch nur den kleinsten Raum zu überlassen. So haben das auch die Roten Khmer verstanden. Der Geist, der stets verneint, ist ja auch bekannt als Mephisto.

Die Gesellschaft des Spektakels ist eine eigentümliche Mischung aus hochintelligenter Diagnostik und Analyse und einem großartigen Sinn, Zusammenhänge herzustellen und Sinn zu stiften und einer brutalen Gleichgültigkeit, anzuerkennen, was objektiv richtig ist und was falsch, was angemessen ist und was nicht, was gut ist und was schlecht. Letzteres ist keine Dummheit, sondern ein obstinater Egoismus und eine dementsprechende emotionale Eingeschränktheit – die dann eben auch auf „den Feind“ übertragen wird bzw. das obstinate Feindbild (als etwas radikal und obstinat Egoistisches) konstituiert und aufrechterhält. Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes „Spiegelzeichen“. (218) Der Egoist sieht im Wesentlichen sich selbst in der Welt bzw. projiziert sein Innenleben in die Welt. Auch wenn es ganz groß angekündigt wird, bleibt das eigentlich Positive, das eigentlich Substanzielle eigentümlich vakant und leer. Es ist ihm schwer anzugeben, wovon er eigentlich redet. Also ist sein Reden ein ständiges Kreisen. Das Spektakel ist absolut dogmatisch, und zugleich ist es ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung widrigster Zustand. (71) Debord ist ein eigentümlich offener Geist, der diese Offenheit mit einer radikal geschlossenen Festungsmentalität kombiniert. Sein Hauptthema war, wie authentische Begegnung zwischen Menschen bewerkstelligbar sei – doch wie soll das eben gehen: wenn man in einer Festung haust? In einer Gesellschaft, in der niemand mehr von den anderen anerkannt werden kann, wird jedes Individuum unfähig, seine eigene Realität zu erkennen. Die Ideologie ist zu Hause, die Trennung hat ihre Welt gebaut. (217) Fühlte sich Debord zu wenig anerkannt? Man hat den Eindruck, dass hinter der Entscheidung für eine kommunistische, feministische, antikolonialistische, transaktivistische etc., insgesamt also eine dezidiert herrschaftskritische politische Orientierung ein pathologisches Anerkennungsbedürfnis stecken kann; ein unbedingtes Bedürfnis danach, von „den Mächtigen“ als gleich mächtig oder als noch mächtiger (bzw. als der „eigentlich“ Mächtige) anerkannt zu werden. Da es sich um ein pathologisches Bedürfnis handelt, muss es nicht durch reale (gesellschaftlich vermittelte) Deprivationen provoziert sein (nicht einmal durch reale zwischenmenschlich vermittelte), es mag in diesen aber seine Projektionsfläche finden. In der Regel geht solchen Individuen auch die Empathie für andere ab, so dass sie tatsächlich nicht gut in der Lage sind, andere Menschen und die Gesellschaft insgesamt in ihrer Diversität wahrzunehmen und zu verstehen und ihre eigene Realität zu erkennen. Die Ideologie ist zu Hause, die Trennung hat ihre Welt gebaut. Aufgrund ihrer mangelnden Empathie haben sie auch Schwierigkeiten, anderen Menschen authentisch zu begegnen, und vielleicht weil sie keine Klarheit über sich haben, vermuten sie dieses Unwissen auch bei anderen. Bei den einen und anderen Linken, die frenetisch gegen etablierte Autoritäten anrennen, ist der Wunsch unübersehbar, selbst als Autoritäten anerkannt zu werden. Trotz des Erfolges von Die Gesellschaft des Spektakels hat Guy Debord es abgelehnt, die Rolle einer Autorität einzunehmen. Vielleicht ist das nur eine raffiniertere Eitelkeit, wahrscheinlich aber auch nicht. Das Werk von Guy Debord trägt die Züge eines solitären Denkertums und solitäre Denker lehnen Führungs- oder überhaupt soziale Rollen meistens ab, da sie, sich selbst in andere projizierend, emotional davon ausgehen, dass auch die anderen Menschen selbst denken. Sie merken dann freilich, dass die das (so, in der Form) nicht tun und neigen dann wieder umso mehr dazu, alle anderen deswegen als gehirnamputiert und fremdgesteuert zu verkennen (was sie so, in der Form, nicht sind). Vorher war Guy Debord innerhalb der S.I. eine dominante Figur und ist auch als solche kritisiert worden. Vielleicht hat er sich das zu Herzen genommen. Es ist eventuell schwierig, den Spagat zwischen einem solitären und einem politischen Denkertum zu verwirklichen. Es gibt eine Menge Länder auf der Welt, so Rumsfeld, und eine Menge Menschen. Und jeder ist irgendwie anders und irgendwie für sich. Guy Debord habe ich ja nicht gekannt. Mein Nachbar, W., erinnert sich an die Situationisten als bei bzw. verbunden mit all ihrer Brillanz und historischen Notwendigkeit vielfach einfordernde, größenwahnsinnige und unverschämte Leute. Bei uns in Wien gebe es eine Gruppe von Typen, die nach wie vor auf die Situationisten schwören. Intellektuelle Althippies, die durch ihre Inflexibilität und einen moralischen Rigorismus auffallen – wobei ihre Moralvorstellungen ja insgesamt gut seien. Es ist wahrscheinlich traurig, dass die Welt in einem nur losen Zusammenhang mit diesen Moralvorstellungen steht. Vielleicht war Guy Debord ein trauriger Mensch, und seine Philosophie und Gesellschaftsdiagnose Ausdruck einer elementaren Traurigkeit.