Adornos Negative Dialektik

Hassen tut ihn niemand, ausser Löwenthal, aber er wird wegen seiner ungeheuren Unaufrichtigkeit, Eitelkeit und Wichtigmacherei verachtet. Das beweist an sich wenig. Aber leider muss ich mich auch zu denen zählen, die ihn in den letzten zwei Monaten gründlicher kennen und verabscheuen gelernt haben.

Friedrich Pollock an Horkheimer über Theodor W. Adorno

Aus irgendwelchen Gründen lieben es viele Leute, sich für unterdrückt zu halten: von den Eltern, von der Familie, von der Schule, vom Bildungswesen, von Sitten, von Traditionen, von den Medien, vom Kapitalismus, vom Patriarchat, von Männern, von Frauen, vom Staat, von der verstaatlichten Industrie, von der Privatwirtschaft, von der Börse, von der Schulmedizin, von Juden, von Arabern, von Einheimischen, von der NATO, von Transsexuellen, von transexkludierenden radikalen FeministInnen (so genannten TERFs) oder von Chilenen. Diese verschiedenen Gründe wären zu untersuchen, wenn sie auch meistens – sowohl auf der Subjekt- wie auf der Objektseite – klar auf der Hand liegen. Ich für meinen Teil kann nicht sagen, dass ich in meinem Leben großartige Unterdrückung erfahren hätte und auch nicht, dass ich da draußen allzu viel unerbittliche, monolithische Mächte wahrnehmen könnte, die die Gesellschaft beherrschten; bei genauerer Betrachtung verlieren sich der Kapitalismus, das Patriarchat oder die Kultur doch eher in etwas Uneindeutiges und Flüchtiges, von unklar begrenztem Wirkungskreis. Die Gesellschaft ist eigentlich ein ziemliches Nebelreich, in dem alles Mögliche auftaucht und wieder verschwindet.  Vielleicht ist es so, dass sich die Leute ihre mentalen Gefängnisse schon auch selbst machen, und das außerdem mit Lust und Verve. Oder sie sind geil darauf triumphieren zu können; von wegen, sie hätten mit diesen klaren Abgrenzungen und Identifizierungen etwas so Tiefes und Unendliches, sich dem erschöpfenden Verständnis ständig Entziehendes wie die Gesellschaft festgestellt und in die Tasche gesteckt. Warum sich z.B. Adorno, obwohl der eigentlich ein Genie war, dauernd unterdrückt gefühlt hat und sich so mehr oder weniger in eine Situation der philosophischen Ausweglosigkeit hineinmanövriert hat, weiß ich nicht. Vielleicht weil er selber von unterdrückendem Temperament war und das dann in die Außenwelt projiziert hat, weil er ja von seiner Innenwelt her nichts anderes kannte. So ist Adorno auch skeptisch gegenüber der Dialektik und überhaupt aller Philosophie und Wissenschaft, die mit Begriffen operiert: denn der Begriff stülpt sich (als etwas gewollt Eindeutiges) einer Sache über und beraubt sie so ihrer Vieldeutigkeit und Autonomie. Der Begriff sei ein Herrschaftsinstrument. Auch wenn z.B. Hegel den Begriff als etwas explizit Dynamisches und dialektisch sich Entwickelndes formuliert, kann Adorno trotzdem in der Hegelschen Philosophie eine Wut zur Einheit bis hin zu einem Größenwahn, den gesamten geschichtlichen Verlauf nach einem Bilde gemäß sehen zu wollen ausmachen (natürlich aber nicht nur das: seine Kritik an Hegel ist keine Totalkritik – meistens ist Adornos Kritik aber eben Totalkritik). Indem Adorno den Begriff quasi als Herrschaftsinstrument identifiziert, stößt er das ausgeglichene Gemüt aber vor den Kopf: denn das ausgeglichene Gemüt wird im Begriff wohl eher ein Erkenntnisinstrument erblicken wollen, das nur irgendwann nachrangig auch ein Herrschaftsinstrument sei. Außerdem wird ihm auffallen, dass Adorno mit seiner Identifizierung und Feststellung des Begriffs als Herrschaftsinstrument ja vielmehr selbst einen autoritativen Akt begeht – der in erster Linie autoritativ und nur nachrangig erkenntnismotiviert erscheint. Worauf Adorno – im rationalen, nachvollziehbaren Teil seines Unternehmens – aber hinauswill, ist eine Negative Dialektik zu formulieren, in der das Amalgam zwischen Bezeichnung (dem Begriff) und Bezeichnetem (der „Sache selbst“) gelockert wird, und dass sowohl die Offenheit und die Autonomie von Begriff und von der „Sache selbst“ gewährleistet bleibt. Freilich ist allein das ganz gewöhnliche philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisideal. Adorno geht aber darüber hinaus, indem er in diesem Verhältnis ein grundlegendes „Nicht-Identisches“ verankert: also einen durch den Begriff nie einfangbaren „Rest“, der in der „Sache selbst“ liege (oder umgekehrt). Diese Annahme eines ewigen Nicht-Identischen ist aber eben eine Annahme: die wahrscheinlich davon abhängt, ob man von integrativem Gemüt ist oder von einem exkludierenden. Adorno scheint in seiner mannigfachen Kulturkritik immer wieder beim Durchschnittsmenschen ein intellektuelles und emotionales Sensorium voraussetzen zu wollen, das so raffiniert ist wie sein eigenes. Adornos spezifisches Sensorium ist dabei aber eine vorwiegend zersetzende, zerlegende Intelligenz, zu der es als massives, aber plumpes Gegengewicht dann eben einen vagen Utopismus gibt, der sich zwar will, der aber nicht an sich glaubt und der daher kraftvoll ist und kraftlos zugleich. Immer wieder wird bei Adorno das Nicht-Identische beschworen, ohne genau erklärt zu werden. Meistens findet es sich konnotiert mit dem Spontanen, dem Irrationalen, Ursprünglichen, Koboldhaften – das aber dunkel bleibt (und vielleicht von seiner Qualität her gar nicht so gut ist). Es erscheint so vielmehr als etwas Verdrängtes, oder eine gestörte, traumatische, sich der Versprachlichung und Vergegenwärtigung entziehende Urmacht innerhalb von Adorno selbst, die sich nicht durchschaut und dunkel bleiben will (vielleicht daher auch der Hass auf/die Angst vor der Erkenntnis und der Versuch, sie zu delegitimieren als bedrohliche Macht, als Herrschaftsversuch, der von außen kommt, und der invasiv ins Innerste eindringen will). Als „Trauma seines Lebens“ bezeichnet es Adorno, dass er sich als Komponist nicht verwirklichen konnte, weil seine radikalen Kompositionen in seinen jungen Jahren auf Unverständnis innerhalb der damaligen Gesellschaft gestoßen sind (deren Wesen er deswegen fortan diesbezüglich zu analysieren gedachte – und an der sich scheinbar revanchierte, indem er alles, was die Gesellschaft machte, bei ihm selbst auf Unverständnis stoßen ließ). Vielleicht liegt das Trauma ja auch darin, wonach Adorno kein wirklicher Komponist war. – Ein kleiner, unmusikalischer Mensch wie ich kann das nicht beurteilen. Aber wenn er ein wirklicher Komponist gewesen wäre, hätte er das doch durchgehalten. – Adorno spricht immer wieder von der „Verstümmelung“ des modernen Menschen (durch die Herrschaftsverhältnisse, die Aufklärung, die Kultur etc.), aber so umfangreich und immer wieder deplatziert, dass man meint, eine Projektion eines Verstümmelungserlebnisses Adornos in die ganze Welt hinein vor sich zu haben. Wenn Adorno eine eigene Verstümmelung in die Welt hinein projiziert, scheint das schon ein starkes Stück, eine intellektuelle Fahrlässigkeit, ein Narzissmus. Der Teddie ist der ungeheuerlichste Narziss, den die alte und neue Welt aufzuweisen hat, urteilten über Adorno Menschen, die ihn kannten. In der Tat ist der Narziss, auch bei aller Gebildetheit und Aufmerksamkeit, die er eventuell hat, letztendlich weltlos; die Welt rotiert um ihn, und er hat, mangels Empathie, Schwierigkeiten, die Welt (und „das Andere“) angemessen zu verstehen: er wird ihm seine Herrschaft überstülpen wollen. Wo Adornos Philosophie negativ ist, also in der Herrschaftsanalyse und –kritik, da ist sie stark, nicht eliminierbar und positiv. Wo aber seine Philosophie positiv zu sein versucht, also in der Aufzeigung der Überwindung von Herrschaft und von Befreiung, da ist sie negativ, da herrscht ein Mangel. Befreiung kommt von Subversion von Herrschaft und liegt in einem positiven Imaginären. Mit seiner unerbittlichen Kritik öffnet Adorno einen gigantischen Raum des befreiten Imaginären, das jedoch gleichzeitig vage und dünn bleibt, während dessen sich die Subversion im Selbstzweckhaften zu verirren droht. Bei Adorno hat man das ständige Beschwören eines befreienden Imaginären, ohne dass er dieses Imaginäre selbst denn endlich beschreiben könnte. Freilich stand sein Denken und Schreiben unter dem Eindruck ungeheurer Zivilisationsschocks. Davon abgesehen, wie damit zusammenhängend, war es die Wahrnehmung eines ungeheuren gesamtseelischen Mangels, der als Impetus für das kritische Denken von Adorno und seinen Mitstreitern fungiert hat. Der Legende nach soll es die Wahrnehmung eines Mangels an Eros in der modernen Gesellschaft gewesen sein: eine Unfähigkeit der Menschen, sich auf authentische Weise und liebevoll zu begegnen und Beziehungen zueinander einzugehen jenseits von oberflächlichen; sowie ein Mangel an ästhetischem Sinn. Eventuell also ein Mangel an (so genanntem) <<weiblichem Prinzip>>.  Frauen vermochten auf den privaten Adorno großen Eindruck zu machen, und sein Talent zum Beschwärmen weiblicher Schönheit war, der Legende nach, unerschöpflich. Ich zeige mich hocherfreut, das zu hören! In diesem Punkt seien wir uns ja ganz gleich! Denn auch mich begeistert die Schönheit der Frauen. Die mystische Schönheit der Frauen, in ihrer Autonomie, in ihrer wohltuenden Herrschaft – ist sie nicht letztendlich das Imaginäre selbst? Die Schönheit der Frauen ist unendlich; keine sanftere, samtenere Macht findet sich in der Welt. Dass Adorno aber als Denker die Schönheit der Frauen beschreibt – das wäre mir noch nicht aufgefallen. Noch kurioser, finde ich inmitten seiner penetranten Beschreibungen von Herrschaft und Unterdrückung keine über die Unterdrückung der Frauen! Gerade stelle ich mir vor, wie ab einem gewissen Punkt der Lektüre die geeichten Jungfeministinnen Linda, Olga und Pampa doch unwillkürlich, unbeherrscht mit intensivstem Knall explodieren müssten, in kleinste Teile zersprengend, die mit einer Geschwindigkeit von mindestens fünfhundert Kilometern in der Sekunde Richtung Weltraum schießen. Ja, die Frauen; in ihrer Unergründlichkeit. Und Adorno, in seiner rätselhaften Gründlichkeit der Kritik, deren Grund aber wo liegt?  Vielleicht kann man es anlehnen an ein Bonmot meiner hochgeschätzten Kollegin aus dem intellektuellen Cabaret, Lisa Eckhart: Man habe immer geglaubt, dem (jüdischen) Adorno ginge es immer nur ums Geld (den Kapitalismus). Aber es ging bei ihm ja gar nie ums Geld/den Kapitalismus – es ging bei ihm immer nur um die Weiber.

Sie sind uninformiert, was empirische Forschung anlangt, aber schreiben darüber in einer autoritären Sprache, so dass der Leser gezwungen ist, an Ihrer Autorität auf Ihrem ureigensten Gebiet, der Musik zu zweifeln. Sie attackieren andere Leute als Fetischisten, als neurotisch und schlampig, zeigen aber sehr deutlich Ihrerseits solche Züge.

Paul Lazarsfeld an Theodor W. Adorno

Weiber sind zwar schön anzuschauen und sie versinnbildlichen heilige Werte; aber sie sind nicht der Endzweck des Philosophierens und der Dialektik. Wahrlich, ich sage dir, Schwester: der Endzweck der Philosophie ist das Erreichen einer kritisch-analytischen synthetisierenden Beschaulichkeit. Der Endzweck der Philosophie wird über Dialektik und dergleichen erreicht, liegt aber jenseits der Dialektik; in keinem Entweder – Oder, sondern eher in einem Sowohl als Auch. Der Endzweck der Philosophie ist es, zu einem tiefen See zu werden, besser zu einem tiefen Ozean. Adornos Negative Dialektik wirkt irgendwie unbefriedigend, irgendwie artifiziell. Wieso daher nicht besser zum Ozean werden, in dem sich keine harten Sachen stoßen, sondern wenig verbunden, lose, vorbei treiben – dabei aber doch integriert sind gleichermaßen und ein Zusammenhang: gestiftet durch den Ozean. Ozean, du bist eine harmonische Sphäre, ein Symbol der Identität: immer gleich zu dir selbst. Du änderst dich nie, und wenn deine Wellen sich türmen im Zorn, sind sie anderswo ruhig und in tiefstem Frieden. Du bist nicht wie Menschen, die in den Straßen herumlungern um zuzusehen, wie sich zwei Hunde gegenseitig die Gurgel zerbeißen, aber die sich beeilen, nicht zu spät zu kommen wenn eine Beerdigung stattfindet; die am Morgen vernünftig sein mögen und am Abend böse; die heute lachen und morgen weinen. Der Ozean hat kein Nicht-Identisches und ist transzendent gegenüber der Dialektik; der positiven wie der negativen. Die Negative Dialektik, damit sie aufgeht, kann vielleicht weniger als ein rationales Verfahren angegeben werden als durch eine Kunst, also durch ein zweckfreies, aber adäquates Assoziieren. Und der Ozean assoziiert. Der Ozean versammelt, doch zwanglos. Die verschiedenen Fischarten im Ozean haben sich keine Bruderschaft geschworen. Ihrer Art gemäß leben sie in ihren eigenen Habitaten. Die Menschen faseln immer von Bruderschaft, leben aber wie Wilde in ihren Höhlen und kommen kaum von dort heraus, um ihren Nachbarn zu besuchen, der in einer ähnlichen Hütte lebt. Die große, umfassende Familie der Menschen ist eine Utopie, die aus der schlechtesten Logik stammt. Es ist angezeigt, ein See, besser noch ein Ozean zu werden, denn Menschen fühlen sich dauernd gekränkt, wenn nicht zerquetscht, wenn sie selbst nicht an der Macht sind und wenn jemand anderer als sie selbst (auch noch) Macht hat. Das zerstört dann ihren Geist und dann reagieren sie mit ihrem Vernichtungswillen. Von einer Macht, von Herrschaft kann man sich psychologisch nur gekränkt fühlen, wenn man ein Ego hat. Der Ozean hat aber kein Ego und keine kompakte Mitte; er verteilt sich gleichmäßig in sich selbst und nach überall hin. Ozean, du hast dem Menschen vieles gegeben. Du hast dem Menschen bereits dem Wal gegeben. Dennoch gibst du nicht willentlich die tausend Geheimnisse deines traulichen Organismus den hungrigen Augen der Menschen preis: du bist bescheiden. Es lobt der Mensch sich unaufhörlich und um nichtiger Gründe willen. Der Ozean hat keinen Kern und keine Hierarchie, also kein Ich: eher gleicht er einem Selbst; und ein Selbst ist unzerstörbar. Einen Schlag verpassen kann man dem Ozean nicht, denn das ist ein Schlag ins Wasser. Der Mensch sagt: „Ich bin intelligenter als der Ozean!“. Das ist möglich. Aber der Ozean löst stärkere Furcht aus beim Menschen, als der Mensch beim Ozean. Der See und auch der Ozean können versaut, eventuell zerstört werden. Damit er nicht durch äußere Einwirkung zum Kippen gebracht werden kann, ist es notwendig, dass der Ozean riesig und allesverdauend ist. Ebenso bleibt es wohl auch notwendig, dass der Ozean trotzdem seine Ufer hat; es was anderes gibt als ihn: die anderen Kreaturen und Ozeane, die Welt. Eine Lemsche Solaris als tatsächlich planetarische Intelligenz ist offensichtlich solipsistisch und irrational und kann sich nicht durchdringen und so ist auch keine eigentliche Kommunikation mit ihr möglich. Je mehr man aber zum Ozean wird, desto weiter rücken die Ufer auseinander und rücken gegeneinander in eine hilflose Ferne, in eine bestenfalls zappelnde und piepsend sich artikulierende Exzentrik. Was aber geht diese Exzentrik den Ozean an? Der Ozean gehört sich erheblich selbst. In seinem Träumen verloren prozessiert sich ewiglich der Ozean. In seinen endlosen Weiten spiegelt sich das Firmament. Und im Firmament drücken sich die kosmischen Gesetze aus. Was ist der Ozean gegen den Äther?, fragt Hölderlin: doch der Ozean spiegelt und imitiert den Äther. Stumm träumt der Ozean und stumm spricht das Firmament zu uns, von den ewigen Gesetzen. Die Kämpfe der Welt, die Kämpfe zwischen Gut und Böse, sie gehen den Ozean weniger an, denn der Ozean ist alt. Die Kämpfe zwischen Gut und Böse, zwischen Ordnung und Unordnung, sie spielen sich im Ozean anders ab, denn der Ozean ist eine andere Ordnung. Lautréamont wollte mit seiner ozeanischen Intelligenz früh durch das Böse hindurch und er wollte durch das Gute hindurch. Leider starb er jung, und seine Legende strebt verflüssigt ins Indefinite, wie der Ozean. Ich grüße dich, alter Ozean! Vielleicht hätte Adorno Lautréamont lesen sollen: aber ob er ihn verstanden hätte? Es gibt hunderte von Leviathanen, erzeugt durch den Menschen. Die harschen Kommandos der Offiziere, das Geschrei der Verwundeten, die Kanonenschüsse: all das ist Getöse, um gerade ein paar Sekunden in der Zeit abzutöten. Schon hat der Ozean es verdaut, denn sein Schlund ist enorm. China wird große Schwierigkeiten haben, Taiwan einzunehmen, denn der Ozean ist fast immer zu rau für eine große Invasionsflotte um ihn so einfach zu überqueren. Ansonsten ist er insgesamt der Stille Ozean. Wellen kräuseln sich an seiner Oberfläche, dort allerdings und da, vielmehr ist der Ozean aber Ruhe. In einer einsamen Region, verloren auf dem Ozean, kommt eine Monsterwelle daher und bringt ein Schiff spurlos zum Verschwinden. Wie Monsterwellen entstehen, hat der Mensch noch nicht ganz geklärt. Und weil er sie sich nicht erklären konnte, hat er lange nicht geglaubt, dass es sie gibt. Die Menschen haben, trotz der Exzellenz ihrer Methoden und unterstützt durch ihre Wissenschaft es nicht geschafft, die Tiefen des Ozeans zu erforschen. Ozean, du hast Tiefen, die die umfangreichsten Sondierungen als unbegehbar anerkennen. Sie bleiben den Fischen vorbehalten, nicht den Menschen. Vielleich, wahrscheinlich, gibt es im Ozean auch ein Bermuda-Dreieck oder ein Kap Hoorn, wo Strömungen in einer raffinierten Weise zusammenkommen und alles mit sich reißen und hinein in ihre Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit – oder die vielleicht sogar Tore zu einer außerirdischen Welt sind. Auch mit diesen Tricks konfrontiert uns der Ozean. Über den Ozean passiert vieles, er ist riesiger Raum, eine plane Homogenität auf der sich umso heterogenere Dinge ereignen können. Eine Homogenität, die Begegnungsraum für Heterogenes ist. Riesiger, endloser Ozean! Tausend Seemeilen vor Neuseeland treiben da zum Beispiel braune, scheinbar körnige Schlieren im Wasser, die zunehmend größer und häufiger werden und in denen felsenartige Dinge auftauchen. Ein Bimssteinfloß!  Bimssteinflöße im Meer entstehen aus submariner vulkanischer Aktivität, durch Unterwasser-Vulkanausbrüche. Der verlorene Bimssteinfloß vor Neuseeland hat eine Ausdehnung von sechsundzwanzigtausend Quadratkilometern und damit fast die Größe von Belgien. Somit fällt er im Ozean trotzdem kaum auf. Weiter in seinem Zentrum ballt sich der Bimsstein gar zu einem schwimmenden Felsteppich, einer schwimmenden Felslandschaft, die sich zuweilen wellenartig auftürmt. Wenn ein Bimssteinfloß schließlich auf einen Hafen trifft, verstopft er dort alles. Schiffe, die durch Bimssteinflöße manövrieren, fahren durch diesen wie durch Sandpapier, und sollten daher möglichst schnell von dort weg. Die Bimssteine selber fungieren als Biotope. Im Laufe ihrer Reise können Bimssteine zu einem Zuhause für mehr als achtzig verschiedene Arten von Meereslebewesen werden, allen voran Muscheln und Schalentieren und Krebsen; sie können auch ganze Mikromilieus beherbergen. Wenn die Bimssteine an Land gespült werden, bringen sie diese Lebewesen mit sich. Damit spielen Bimssteinflöße eine wichtige Rolle in der Ausbreitung von Lebensformen über die Weltmeere hinweg. Solche Dinge können passieren und können einem begegnen, in den Weiten und Tiefen des Ozeans. Der Ozean enthält auch Steinwüsten. Ich grüße dich, alter Ozean! :: In einer verlassenen Region, die von Seeleuten aufgrund der dortigen trägen Strömungen und der häufigen Flaute gemieden wird, trifft die einsame Seefahrerin Britta unerwartet auf einen Müllwirbel, der in keiner Karte verzeichnet ist. So segelt sie durch ein riesiges Meer von Dreck, Ablagerungen aus alten Fischernetzen, Plastikflaschen, Plastikenten, Legosteinen, Mobiltelefonen, Kondomen, Kugelschreibern, Microbeads, Schwimmreifen oder Computern; über Seemeilen hinweg. Jedes Mal, wenn Britta an Deck geht, treibt eine neue Müllinsel an ihr vorbei, einmal bestehen sie aus Zahnbürsten und Feuerzeugen, dann aus Fußbällen, dann aus Sexpuppen, dann aus Kajaks. Teilweise ist dieser Müll bis zu fünfzig Jahre alt. Wie Müllwirbel entstehen und wie sie sich bewegen ist der Forschung noch weitgehend unbekannt. Da Meere aber Strömungswirbel aufweisen, ist es zu erwarten, dass der Zivilisationsmüll, der in den Meeren landet, von diesen Wirbeln angezogen und angesaugt wird. Der größte marine Müllwirbel, der Great Pacific Garbage Patch, treibt tief im Stillen Ozean zwischen Hawaii und Kalifornien und hat die dreifache Größe von Frankreich. Er ist, genau genommen, eine Müllgalaxie. Auch insofern er von geringer Dichte ist und weniger aus schwimmenden Müllinseln, sondern hauptsächlich aus einer erhöhten Anhäufung von Mikroplastik besteht. Da der Great Pacific Garbage Patch zu weit draußen im Ozean schwimmt, will keine Nation die Verantwortung und die Kosten auf sich nehmen, ihn abzutragen. Umweltschützerinnen wollen deshalb, dass dem Great Pacific Garbage Patch der Status einer eigenen Nation zuerkannt wird, auf dass andere Nationen gemäß der UN-Charta sich in die Pflicht genommen finden, dieser bei ihren Umweltproblemen zu helfen. Als Nation heißt der Great Pacific Garbage Patch Trash Isles. Trash Isles hat einen eigenen Pass und eine eigene Währung, den Debris. :: Trotzig zieht anderswo The World ihre Schneise durch das Weltmeer. The World ist ein spezielles Wohnkreuzfahrtschiff für sehr Reiche, die sich dort für einige Millionen eigene Apartments erwerben können; eine schwimmende Gated Community für Geldadelige, die so der Welt entfliehen wollen. Oder eben ganz in ihrer eigenen und ganz in der übrigen anderen Welt gleichzeitig leben wollen: die namensgebende und identitätsstiftende Idee von The World ist es, dass man „die Welt bereisen kann, ohne wegzufahren“. The World ist immer irgendwo und folgt mit ihren Millionärinnen und Milliardären keiner festgelegten Route; das jeweils nächste Reiseziel wird „gemeinschaftlich“ ad hoc festgelegt. So zieht sie solitär ihre Bahnen. Es scheint, The World segelt immer am Horizont, ist ihr eigener Horizont, ein wandelnder, segelnder Horizont des Gesellschaftlichen, an dem die Zeichen und die Sinnhorizonte in ihrer Bedeutung verschwimmen und gleichzeitig erstarrt, erstarrend einem entgegentreten. Sie hat etwas Endzeitliches. Beobachter wollen dort einerseits eine gelöste Atmosphäre feststellen, in der sie „privilegierte Menschen zum ersten Mal erkennbar glücklich“ erleben; anderen fällt eine „tiefe Finsternis“ auf, von der das ganze Schiff durchzogen sei. The World, so bewirbt sie sich selbst,sei Vollendung und Destillat der Kunst, reich zu sein. :: In den Tiefen der polaren Grenzregionen schwimmen, in surrealer Langsamkeit, die Eishaie. Eishaie gehören zur Gattung der Schlafhaie; sediert wirkend bewegen sie sich träge mit höchstens einem Kilometer pro Stunde durch ihren extremen, energiearmen Lebensraum. Ächzend archaische Kreaturen, sind sie eine ungewöhnliche Begegnung, und wenig ist der Forschung bislang über die Lebensweise dieser unzugänglichen Tiere bekannt. Eishaie können offenbar bis zu acht Meter lang und vierhundert Jahre alt werden oder noch mehr; wohl aufgrund ihres stark verlangsamten Stoffwechsels. Damit sind sie die langlebigsten Wirbeltiere der Erde. Sie wachsen im Laufe ihres Lebens in sehr verzögertem Tempo und gelangen erst in einem Alter von mindestens hundertdreißig Jahren zur Geschlechtsreife. In der extremen, extrem exzentrischen Lebenswelt der Eishaie gehen die Uhren anders; und ist der Raum anders, ganz zu schweigen von den Licht-, ganz zu schweigen von den Druckverhältnissen, und den Temperaturen sowie der umgebenden Fauna. Man nimmt an, die schwunglosen Eishaie ernähren sich von Robben, die sie im Schlaf überraschen. Man hat aber auch schon Knochen von Eisbären in den Mägen von Eishaien gefunden. Mühsam ernährt der Eisbär andere, am kalten Polar. – All diese Möglichkeiten liegen innerhalb des Ozeans – und all diese Möglichkeiten liegen innerhalb des Geistes! Warum hat Adorno solche Schwierigkeiten, das zu erkennen – und die Welt damit geistig zu vereinigen? Wir wissen es nicht: es liegt auf dem Grunde seines Ozeans. Vielleicht war Adorno zu gesellschaftsorientiert. Nichts wirklich Authentisches mag dabei vielleicht rauskommen. Einzig solitäre Denkerinnen wie Montaigne, Kierkegaard oder Nietzsche sind für Adorno in der Lage, sich jenseits von Dialektik und Negativer Dialektik zu bewegen, und ein Wissen zu begründen, das kein Herrschaftswissen sei. Dabei sind solche Denkerinnen, genau genommen, keine echten Philosophen und, noch genauer genommen, gar keine Wesen der Gesellschaft; sie nehmen an den Ritualen der Gesellschaft gar nicht teil. Daher können (und wollen) sie in der Gesellschaft keine Herrschaft ausüben, und wenn doch, dann (wie im Fall von Montaigne (allerdings eventuell nicht im Fall von Kierkegaard oder Nietzsche!)) eine gute. Ich habe keine Herrschaftsansprüche gegen Kierkegaard, Hegel oder Nietzsche. Aber mein rastloses Erkenntnisinteresse beunruhigen sie. Alle geistigen Erscheinungen beunruhigen mein Erkenntnisinteresse. Ich muss durch diese Erscheinungen jeweils hindurch um sie, in ihrer Widerspiegelung durch mich, in meiner Vergegenwärtigung ihrer, zu pazifizieren. So studiere ich diese geistigen Erscheinungen möglichst genau und schreibe möglichst endgültige Texte über sie. Damit verschnüre ich diese beunruhigenden geistigen Erscheinungen zu Paketen und versenke sie auf den Grund meines Ozeans. Dort sollten sie mich, zumindest für eine ganze Weile, nicht mehr beunruhigen und nicht mehr stören. Irgendwann werden sie womöglich vereinzelt wieder hochkommen – dann verschnüre und versenke ich sie erneut. Alter Ozean, diese Ausführungen zu Adorno und seiner Negativen Dialektik sind dagegen einstweilen eher nur beiläufig, nur ein intelligentes Experiment. Überhaupt werden in den Tiefen des Ozeans nur Experimente durchgeführt; nichts was Anspruch auf endgültige Wahrheit erhebt. Adorno hat kaum angegeben, was endgültige Wahrheit eigentlich ist. So etwas wie endgültige philosophische Wahrheit kann man sich aber als etwas vorstellen, was über mehrere Dimensionen erscheint. Die endgültige philosophische Wahrheit ist etwas klar Abgegrenztes, das dabei von einem Saum des Experimentellen, des Traumhaften und Unbestimmten umgeben ist; einerseits ein klar begrenztes Territorium ihm gegenüber errichtet, andererseits in diesen abfällt, sich eventuell sogar in diesen flüchtet. Die Dialektik der Aufklärung war, in ihrer Paradoxie, ein Wahrheitsereignis. In ihr hat man dieses Kompakte und Bestimmende, die Komplexität Reduzierende auch; genauso wie das Irreale, das Fliehende, das Glimmende aus dem höheren Raum, das durch die allgegenwärtigen morschen Ritzen der neuzeitlichen Industriewelt ebenso unsicher und verklärt und sich mit sich selbst nicht identisch fühlend wie wütend und protestierend zu uns Gegenwärtigen und Zukünftigen hinein scheint. Das Reale und das Imaginäre bei der Dialektik der Aufklärung hat man auch in ihrer Sprache. Die Sprache der Wahrheit streng bestimmend und lockernd zugleich. Die Sprache der Wahrheit ist fest und robust. In der Sprache der Wahrheit werden die Schrauben angezogen. In einer anderen Dimension der Konstruktion werden sie gelockert. Die Sprache der Wahrheit errichtet strenge und undurchdringliche Verstrebungen aus Graphen. Nach hinten galoppiert sie auf einer experimentellen Fluchtlinie davon. Die Negative Dialektik ist ein ähnliches Unterfangen, aber man muss sie in höheren Dimensionen betrachten, dann realisiert sich ihr eigentlicher Sinn. Ich grüße dich, alter Ozean!

Veröffentlicht am 11. September 2022, Adornos hundertneunzehntem Geburtstag