Was haben wir gestern im Seminar von Manfred und mit den Studentinnen uns erarbeitet über die Neunte Sinfonie von Mahler (die mir im Übrigen immer am besten gefallen hat, und dem Kurt Holzinger auch)? Sie ist die Abschiedssinfonie und ist, laut Adorno, „das erste Werk der neuen Musik“. Aber bei Mahler hat man von Anfang an eine Musik, die inhärent schräg ist. Bei Mahler hat man das Gefühl einer Musik und eines künstlerischen Ausdrucks, der scheinbar dauernd neben sich selbst steht. So gesehen hat man bei Mahler über die Zeit hinweg eigentlich keine künstlerische Entwicklung, eher eine Vertiefung und ein Ausloten dessen, was innerhalb einer solcherart begrenzten Arena möglich ist. Damit läuft Mahler dem Antisemitismus geradezu in die Arme, der behauptet: die Juden hätten keine echten Gefühle und keinen höheren, edlen Sinn; deswegen gelinge ihnen der echte künstlerische Ausdruck nicht, höchstes ein Imitat vom echten künstlerischen Ausdruck. Umgekehrt gilt klarerweise: Gustav Mahler, der lange vielfach (antisemitisch) Geschmähte und Unverstandene, macht die Musik und die Sinfonik der Moderne, d.h.: der Ausdifferenzierung der Lebenssphären, die nicht mehr einheitlich abgerundet werden können. In den Sinfonien von Beethoven hat man da eine große Ausdifferenzierung und ein ständiges Arbeiten und Vorwärtsschreiten; bei Mahler, vor allem im ersten Satz der Neunten Sinfonie, wird das Arbeiten und Fortschreiten manisch und multidimensional; da greifen die Zahnräder ineinander und schnaufen die Kolben: eine ganze Fabrik arbeitet da (in ihrer teilweisen Kakophonie). Man scheint da mit einer Technik und einem Arbeiten konfrontiert zu sein, das das menschliche Maß bereits überschreitet und sich ein eigenes Territorium errichtet, vom Menschen nicht mehr ganz beherrschbar ist. Moderne eben. Was hätte der titanische Abrunder Beethoven zur Zeit Mahlers gemacht? Was würde er heute machen, in unserer zynischen Zeit? Aber bei Mahler hat man ja grundsätzlich das Gefühl einer Musik und eines künstlerischen Ausdrucks, der scheinbar dauernd neben sich selbst steht. Während man das bei Beethoven genau nicht hat. Unabhängig vom biographischen Hintergrund (die Todesahnung Mahlers und der Wunsch nach der Vereinigung mit seiner verstorbenen Tochter im Jenseits) erscheint der letzte Satz der Neunten (Abschieds)Sinfonie als eine schräge Elegie. So vielleicht als wie wenn es letztendlich eine Elegie über die mangelnde Gravität und die Bedeutungslosigkeit von Elegie, den subjektiven Charakter von Elegie ist. So als ob Gefühle etwas höchst Bedeutsames für uns seien, das aber kosmisch bedeutungslos ist, vom Kosmos verhöhnt werden würde; genau gesagt, auch das nicht: denn eine Abwesenheit kann ja nicht verhöhnen. Auf einer Metaebene ist da Hohn: dass man in ein solches Verhältnis eingelassen ist und es begreift. Das eröffnet Raum für Trennung, Spaltung, Ironie, oder eben auch Hohn. Und bei Mahler hat man diese Trennung und die Abarbeitung entlang des Spektrums von Ironie bis Hohn grundsätzlich. Wie es einem letztlich vorkommt, hat man bei Mahler ein reichhaltiges und differenziertes Gefühlsleben, das aber auf einen nihilistischen und depressiven Intellekt trifft, einen beinahe zynischen und sarkastischen, obwohl er das durchaus nicht ist. Einen skeptischen Intellekt, der die Gefühle subvertiert. Das ist, zeitenunabhängig, vielleicht der Schlüssel zu Mahler. Beethoven, der Einzigartigste, hatte ebenso ein reichhaltiges, differenziertes Gefühlsleben, aber (so gesehen vielleicht) einen Intellekt, der mehr – genau gesagt: alle – Register ziehen konnte. In der obersten Instanz war es ein strenger und herrischer Intellekt; aber das ist wahrscheinlich notwendig, wenn er integrativ und alles zusammenfassend sein soll und hohe Formen aufrichtend, die mit sich selbst identisch sind. Wenn sich das Charisma von Beethoven auf einen Punkt und einen einzigen Begriff bringen ließe, dann liegt es wahrscheinlich in seiner übernatürlichen Folgerichtigkeit (deswegen scheint seine Achte Sinfonie so zu stören, wenngleich sie sich, zumindest als intellektuelle Raffinesse, ja großartig einreiht zwischen die Siebte und die Neunte). Die heutige Zeit ist kulturell die einer negativen gekrümmten Raumzeit, bei der alles ins Unendliche, Offene und Indefinite schießt und nicht mehr zu sich selbst zurückgeführt werden kann, und bei der gewisse romantische Naivitäten, wie zu Lebzeiten Beethovens, nicht mehr möglich scheinen. Wie soll man eine negativ gekrümmte Raumzeit titanisch bezwingen und zu einer Einheit zusammenführen? Allerdings ist auch eine negativ gekrümmte Raumzeit einheitlich und logisch, nur die Anschauung davon ist schwieriger. Ich nehme an, Beethoven hätte auch die negativ gekrümmte Kultur beherrscht, denn in einer solchen negativ gekrümmten kreativen Raumzeit hat er ja immer schon wesentlich gelebt. Beethoven hat auch vom Menschen nicht beherrschbare Kräfte wie das Schicksal (Fünfte Sinfonie), die Natur (Sechste) und die Freundschaft/die Diversität der Millionen (Neunte) gebändigt. Er hat Napoleon verworfen (Dritte Sinfonie). Dieser Taube hat die Unendlichkeit gehört, hat Victor Hugo über Beethoven gesagt.




9. November 2022