Else Lasker-Schüler und Sappho

„Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Grossstädterin. Aber vielleicht irre ich da gründlich, es gibt viele, die sie lieben, Werfel z. B. spricht von ihr nur mit Begeisterung. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, soviel ich weiss, auch bei uns sammelt man für sie; ich habe 5 K hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben; ich weiss den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.“ So schreibt Franz Kafka an Felice Bauer über Else Lasker-Schüler. Ich bin, wie Kafka oder Beckett, überhaupt nicht gerne kritisch, da sich in der Kritik etwas Herabsetzendes und möglicherweise was Ungerechtes verbirgt. Aber ich kann mir leider nicht helfen, auch nach einer mehrmaligen Lektüre der Liebeslyrik von der Lasker-Schüler ganz ähnlich zu empfinden! Man hat da keine intensiven Bilder (ja, eigentlich überhaupt keine Bilder – allerdings den offenbar ausgeprägten Willen (irrationale, intensive, eben poetische) Bilder zu schaffen); trotz einer gewissen Enge der Motive und Symbolismen nichts Kompaktes, aufgrund auch der Sprunghaftigkeit innerhalb auch der einzelnen, eher kurzen Gedichte – Sprunghaftigkeit und Assoziation, die normalerweise für die gute Öffnung sorgen (des Geistes, des Auges, des Herzens, der Imagination), hier aber nur von einer Verlassenheit in die andere führen; genau gesagt: man spürt in diesen Liebesgedichten irgendwie nichts von einer Liebe; was man vor sich hat, scheint Wortklauberei. Das oftmalige Problem des Expressionismus, dass er eigentlich nur expressiv ist, und sonst nichts (also Ausdruck ohne Inhalt). Nur Narr! Nur Dichter! – Ich geniere mich! Anders als praktisch alle anderen, die gerne kritisch sind und so gern autoritative Urteile fällen im Sinne von einer letztinstanzlichen Beurteilung – aufgrund ihres beschränkten Verstandes und ihrer beschränkten Aufnahmefähigkeit einerseits und ihrer vermaledeiten Eitelkeit andererseits, die dann aus der Not des beschränkten Verständnisses eben auch noch eine Tugend machen will, indem sie ihre beschränkten Verständnisse als letztinstanzlich zementieren will – anders also als das, liebe ich es weder, letztinstanzliche Urteile (noch überhaupt Urteile) zu fällen, und auch nicht, kritisch zu sein. Es befällt mich so große Scham, dass ich mich am liebsten unter dem Bett verkriechen würde, dass meine Anschauungen von der Lyrik der Else Lasker-Schüler so ungünstig ausfallen; vielleicht irre ich mich, ja, ich hoffe sogar, ich irre mich! Kafka räumt ja auch die Möglichkeit ein, dass er sich irren könnte. Klar, wenn sich Kafka nicht fragen würde, ob er sich nicht gründlich irre, wäre er – in seinem gesunden wie in seinem kranken Sinne – nicht Kafka; aber eben weil er Kafka ist, und nicht Werfel und all die anderen, ist seine Auffassung eben vertrauenswürdiger, da Kafka nicht, wie Werfel und Literaten im Allgemeinen, ein Handwerker war, sondern, wie Beckett oder van Gogh oder Pessoa, die Urphänomene gesehen hat. Kafka oder Beckett oder van Gogh wussten auch viel besser, was Liebe ist, so haben sie auch wenig Worte darüber verloren. Das Urteil von Kafka hat Gewicht. Wenn ich mich an die Kafka-Biographien recht erinnere, hat die Lasker-Schüler einmal ihrerseits ein Porträt von den Literaten im Kaffeehaus gezeichnet: Und Kafka war als einziger mit einer Art Heiligenschein versehen! Ach Else, arme, ewig wandernde Jüdin, mit deiner Sehnsucht nach dem neuen Jerusalem! Kann es nicht doch eine Verbindung zwischen uns geben? Ich war ja auch lange eine Säuferin, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt. Mein Geist war dabei aber vollkommen klar und weich wie Diamant. Deswegen ist es gut, dass es ein Sozialsystem gibt, da ich ansonsten schon längst verendet wäre oder von Almosen leben müsste. Ob Literatenzirkel mir 5 K geben würden, weiß ich nicht, da ich keinen angehöre, sondern ein Einzelgänger bin, wie Kafka. Im Elysium werde ich die Else Lasker-Schüler wiedersehen, falls sie dort ist; vielleicht, wahrscheinlich, werde ich mir dann ein genaueres Bild von ihr machen können. Allein von jemandes sprachlichen Ausdruck her ist das nämlich nicht zielführend. Man sollte davon Abstand halten.

Die Feministinnen schreien immer wieder laut auf, wie unterdrückt die Frauen seien und wie schmachvoll verkannt ihre künstlerischen Großtaten. Das ist zwar immer wieder Fall (im Übrigen auch bei Männern), es ist immer wieder aber auch nicht der Fall (zumindest eher nicht dann, wenn eine echte künstlerische Großtat vorliegt). Auch wenn ihr Werk größtenteils verlorengegangen ist, wandert die Sappho durch die Zeiten. Im alten, misogynen Griechenland war sie beliebt, der alte Weiberfeind Platon hat sie als „zehnte Muse“ bezeichnet. Eine mystische Figur, und eine Muse, ist sie bis heute geblieben. Die Lyrik der Sappho ist das erste Beispiel, wo ein literarisches Ich eingeführt wird, das von seinen Gefühlen, Wahrnehmungen, inneren Regungen etc. spricht (wie Frauen das halt tun). Das in einer ungekünstelten Sprache, so dass ihre Poesie den „Charme der absoluten Natürlichkeit“ hat (wie Frauen das halt mal idealerweise haben). Ein unvollkommenes Bild kann man sich davon leider nur machen, wenn man es nicht im Original versteht; außerdem war die Lyrik der damaligen Zeit dafür bestimmt, vorgesungen zu werden, wie Frauen das halt tun, daher fehlt uns diese, möglicherweise wichtige Dimension. Die Dichtung der Sappho habe ich anfänglich auch nicht so gut gefunden, mangelnd an Substanz und an starken, greifbaren Eindrücken, es fehlt an überraschenden Wendungen und spektakulären Einfällen, aber vielleicht wirkt sie gerade deswegen eher langsam und subtiler. Sie hat, bei all der Leichtigkeit, auch etwas Erhabenes und etwas hintergründig lächelnd Unbesiegbares, nicht mehr Transzendierbares, so wie Frauen das eben haben. Ehrfurcht gebietend auch, da es das Werk einer Griechin ist; also einer praktisch Unberührbaren. Es ist uralt, es stammt vom Apex, vom Olymp der Menschheitsgeschichte, überhelle Sonne strahlt von weit oben auf das fröhlich-schaurige Treiben der griechischen Erwachsenen-Kinder, mit ihrer eigentümlichen Allwissenheit kann es keiner aufnehmen (selbst Nietzsche schreibt in seinem späten Buch darüber, wie man mit dem Hammer philosophiert, dass ihm die Art der alten Griechen „zu fremd“ sei); unberührbare, unantastbare Sappho also, entrückte Figur. Hölderlin, den man gerne verehrt, war ein großer Verehrer der Sappho, und große Ähnlichkeiten sind da. Leider scheint die Sappho dagegen abzufallen, da sie die charismatische Verworrenheit und die sich daraus ergebende absorbierende Sogwirkung, die erschreckende Absolutheit, das gleichermaßen bannende wie gebannte Auge der Hölderlinschen Dichtung nicht hat. Die Dichtung von der Sappho ist ja auch keine metaphysische Dichtung, wenngleich der Glanz der flirrenden Sonne, die elysische griechische, ideale Landschaften bescheint, da ist. Die Bilder sind flirrend, aber das optische Instrumentarium ist gut und brauchbar, und man hat da eben die Sonne und die griechischen Landschaften. Man hat da, wie bei Hölderlin, was, was ich noch immer nicht richtig ausdrücken kann: aber man hat in dieser Sprache innere Verstrebungen, die sie höchst dichterisch machen, in dieser Mischung aus freier Rede und erzener Form, die vom Genius zusammengehalten wird, der dann auch die charismatische Grenze ihrer Verständnismöglichkeit ist, von der dann eben die absorbierende Sogwirkung ausgeht. Obwohl ich die Sappho anfänglich nicht so gut gefunden habe, zieht sie mich langsam in ihren Bann (das heißt, möglicherweise, denn es kann ja auch sein, dass diese wachsende Faszination instabil ist). Es ist sehr schade, dass nur sehr wenig von ihr erhalten ist, und das wenige Erhaltene meistens außerdem nur in Fragmenten vorliegt. Ja, schade, denn ich glaube, Gesamtausgaben von der Sappho würde ich schon kennen wollen. Halten wir inne: In unserem Zeitalter und mit unseren Möglichkeiten sind wir gewöhnt, dass die Archive ständig anwachsen, ins Hypertrophe, ins Gigantische. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass in Wirklichkeit auch vieles verloren gegangen ist und für immer der Rekonstruierbarkeit und dem wissenschaftlichen Zugriff entzogen bleiben wird, die Wissenschaft daher auch für immer unvollständig bleiben wird, da sich entscheidende (zum Beispiel erd- oder evolutionsgeschichtliche) Daten im Dunkel der Vergangenheit vollständig verlieren. Sie sind verloren! Nicht mehr existent! Unwiederbringlich! Halten wir feierlich und erschüttert inne! (Zumindest ich fühle mich danach, feierlich und erschüttert angesichts dessen inne zu halten.) Im dreizehnten Jahrhundert bereits vermerkt der Gräzist John Tzetzes in Byzanz: „Der Lauf der Zeit hat die Sappho und ihr Werk zerstört.“ Das hat schon irgendwas Erhabenes und gibt einem zu denken. Da besiegt so mancher die Zeit, indem er was Ewiges macht oder was Ewiges ist, so wie eben die Sappho, und dann kann aber doch der blinde Lauf der Zeit daherkommen, und das effektiv zerstören und annullieren! Da mag sich einer denken: er besiegt die Zeit, und dann besiegt die Zeit ihn! Wird der Kampf zwischen Gut und Böse, vielmehr: der Kampf zwischen den Dimensionen immer unentschieden weitergehen? Ich bin immer wieder nervös und beängstigt, da ich in der realen Welt ganz, ganz klein bin und mein Werk in der realen Welt sinnlos sein könnte und verloren gehen könnte und alles umsonst gewesen sein könnte, die realweltliche Erfahrung suggeriert mir das ja recht stark; gleichzeitig aber auch völlig beruhigt, insofern ich mein Werk weiß als außerhalb von Raum und Zeit, jenseits von Leben und Tod und als mächtiger als alle Welt: denn mein Werk ist der Geist. Stelle ich mir aber eben den Lauf der Zeit vor, einen ächzenden Strom, wie irgendeine mächtige, brutale Hand da rausfährt und an einer anderen Stelle hineingreift und mich und mein Werk rausreißt aus dem Lauf der Zeit und wegwirft, so dass ich vergessen wäre, ausradiert, zerstört, unwiederbringlich; aus dem Lauf der Zeit entfernt und aus der Ewigkeit. – Also, ich muss schon sagen, dass diese Vision als spontane Reaktion ein ironisches Lächeln bei mir hervorruft.

(Der Zusammenhang ergibt sich hier deshalb so, weil ich mir in der ehemaligen Zentralbuchhandlung eben einen Band mit den Gedichten der Sappho und der Liebesgedichten der Lasker-Schüler mitgenommen habe, als Spontankauf. Die Zentralbuchhandlung beim Stephansplatz war eine geistig hochstehende linkslinke Buchhandlung, in die mein seliger Vater immer gegangen ist, wenn wir in Wien waren. Nachher wurde sie dann vom Frick übernommen, blieb aber eine geistig hochstehende, bemerkenswert gut sortierte Filiale – in der übrigens auch meine Bücher verkauft wurden (zunächst erfolgreich, dann nicht mehr erfolgreich; je besser und geistig hochstehender sie eben geworden sind). Seit ein paar Jahren ist sie auch das nicht mehr, sondern es werden dort Restposten und Mängel- und Billigexemplare verscherbelt, allerdings von teilweise geistig hoch- und höchststehender Literatur. Etliche Bücher von/über die christlichen MystikerInnen (über die ich bereits berichtet habe) habe ich von dort (gegenüber ist die Dombuchhandlung, wo es auch Bücher von/über MystikerInnen gibt, allerdings teurere, und im Hinblick auf die islamische Mystik sind sie leider gar nicht gut sortiert; irgendwann werde ich mich zurückziehen in ein Kloster und dort die Mystik studieren (vor allem die frühchristliche finde ich zur Zeit recht interessant)); und jetzt eben auch die von der Else Lasker-Schüler und der Sappho (und dem Petrarca). Das sei doch eine sehr gut sortierte, geistig hochstehende Buchhandlung gewesen, habe ich den Herrn dort gefragt, mit fuchtelnden Händen, als ich mich eines Tages eben verblüfft in der Restpostenbuchhandlung wiedergefunden habe, warum gibt´s die also nicht mehr? Ja leider, hat er gemeint, gute Bücher hat´s da gegeben, viel Philosophie – aber Philosophie und so, das lesen die Leute eben nicht mehr, und so sei es jetzt eben eine Restpostenbuchhandlung. Da habe ich wieder einmal meine Position und meinen Auftrag verstanden: Mein Auftrag ist es, die Leute, die breiten Massen wieder zur Kunst und zur geistig hochstehenden Philosophie zu bringen! (Dass die Leute von der Kunst und von der Philosophie wenig nur mehr wissen wollen, erscheint einleuchtend, da diese seit geraumer Zeit kraftlos sind und defensiv, und nicht mehr wirklich an sich selbst glauben. Also muss man ganz einfach etwas dermaßen Kraftvolles an Kunst und Philosophie in die Welt setzen, dass die Welt erzittert. Wenn China erwacht, erzittert die Erde; das ist heute das Thema; also muss man eben was machen, was den Verstand von ganz China überschreitet und erzittern lässt. Dann wird man die Leute, die breiten Massen, wieder zur Kunst und zur Philosophie bringen. Au ja! So wird das sicher funktionieren!))

Ich habe schon dann und wann ruminiert, dass mir die Poesie generell suspekt ist. Die Poesie, die Lyrik ist die höchste Konzentriertheit des sprachlichen Ausdrucks; auch der am höchsten konzentrierte künstlerische Ausdruck der menschlichen Subjektivität. Die menschliche Subjektivität ist aber eher etwas zu Verschrumpeltes, als dass ein höchst konzentrierter Ausdruck ihrer selbst anzunehmenderweise gut gelingen könnte. Ich mache mit mir selber da ja gar keine Ausnahme, denn auch ich bin die meiste Zeit, und so auch jetzt, leer. Es gibt nichts, was mich jetzt dazu verleiten würde, eine Ode an den Himmel zu dichten, an die Vögel, die vorbeifliegen, an die Bäume, die da draußen stehen oder an die Liebe, die ich empfinde. Und das, obwohl ich ein hochpoetischer Mensch bin! Ich glaube also, jemand, der Oden an die Bäume und an den Himmel und an die Liebe dichtet, sich dauernd dazu verleitet fühlt – der lügt (wie es ja auch Nietzsche über die Dichter sagt). Denn es gibt da nichts darüber zu dichten. Aber wie auch immer es sei. – Als ich mit meiner geliebten Liliana neulich am Ende der Welt war, auf einem Boot in den Beagle-Kanälen, haben wir Fotos von uns durch das Fenster gemacht (ich von draußen, sie von drinnen), die dann einen interessanten, mehrmals gespiegelten Ausdruck ergeben haben, sodass die Situation überhaupt nicht leicht dechiffrierbar ist. Wer was wie wo?? Meine geliebte Liliana mag keine Chinesinnen und ist sehr eifersüchtig auf sie und meint, ich hätte ständig was mit Chinesinnen. Also habe ich ihr gesagt, dass jenes Foto die gesamte weibliche Hälfte von China ganz konfus machen werde. Die gesamte weibliche Hälfte von ganz China observiere und studiere nämlich alles, was ich mache und publiziere, und wenn die lasterhaften Chinesinnen jenes unerklärliche Foto sehen würden, wäre die Aufregung und die Konfusion und Bestürztheit in ganz China riesengroß; ??Tsching tsching tsching??? Tsching tsching tsching???!!?? würden sie dann alle, bestürzt und konfus, rufen; ??Tsching tsching tsching??? Tsching tsching tsching???!!?? Wenn ich mir jetzt aber Gedichtbände durchlese (wie jetzt zum Beispiel eben den von Petrarca), und versuche, in die Essenz, in den lodernden Feuerkern, in das künstlerische, nein, das seelische Geheimnis einzudringen, das dort anzunehmenderweise irgendwo verborgen sein muss, listig versteckt – also, ich kann mir auch nicht helfen: Da sitze ich doch immer wieder da, mit konfusem Gesichtsausdruck, und scheine mich zu fragen ?Tsching tsching tsching?? Tsching tsching tsching??? Es kann gut sein, dass manche Dinge eben auch besser ein Geheimnis bleiben.

??Tsching tsching tsching??? Tsching tsching tsching???!!?? Ayayayayyy!!