Henri-Frédéric Amiel (27. September 1821 in Genf – 11. Mai 1881 ebendort) hatte ein Herz aus Gold, ein Talent aus Silber und die Gravität eines sehr schweren, sehr selten vorkommenden Elementes. Mit so etwas kann der Pöbelhaufen Menschheit immer wieder nichts anfangen, und so erinnert sich heute kaum einer mehr an den armen Amiel. Dabei kann man bei Amiel vieles lernen und vieles sehen, denn Amiel hat in einer höhere, bessere Welt geblickt, und auch die niedere, empirische Welt begriffen; er war eine diesseitige und eine jenseitige Figur. Amiel war der seltsame Fall eines Genies, das weder als Gelehrter noch als Künstler etwas Bleibendes hinterlassen hat (und unter dieser Unzulänglichkeit zeit seines Leben stark gelitten hat). Seine rastlose Produktivität hat sich in der Niederschrift seines (insgesamt 17.000 Seiten umfassenden) Tagebuchs manifestiert, das erst posthum erschienen ist, dann aber für einiges an Wirbel gesorgt hat – neben Hugo von Hoffmansthal waren auch Fernando Pessoa und Friedrich „Manche werden posthum geboren“ Nietzsche unter den Bewunderern; der wirkungsmächtigste Anhänger wurde aber Leo Tolstoi, der die Tagebücher in Russland herausgegeben hat und sie bis zu seinem Tod in seiner unmittelbaren Nähe bei sich hatte, stets griffbereit: hat er sie doch in eine Reihe mit den Werken von Epikur oder Marc Aurel gestellt! Gegenwärtig ist im deutschen Sprachraum nur eine Anthologie von gut 300 Seiten erhältlich. Ich habe sie vor einigen Jahren mal gelesen (ich bin auf Amiel gestoßen, nachdem Pessoa ihn in seinen Aufzeichnungen zum Thema Genie und Wahnsinn kurz einmal als „trauriges Beispiel“ erwähnt hat), und jetzt, nachdem ich mich ein wenig mehr mit Tolstoi konfrontiert habe, noch einmal. Das Genie ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt, es untersucht seinen eigenen Geist – eitel und selbstbezogen ist es deswegen nicht, denn in seinem Geist und in seinen Beschäftigungen mit dem Geist spiegelt sich, hochgradig urtümlich, die Welt; es bedeutet im Wesentlichen eine abnorme Introspektionsfähigkeit in einen Gegenstand, daher ist es introvertiert und unkommunikativ – gleichzeitig aber eben extrem kommunikativ und extravertiert, weltzugewandt. Seine Kommunikation mit der Umwelt ist paradox, und öfters wird es eben darum posthum geboren. Das alles hat man bei Amiel, dessen Unglück es dabei war, offenbar kein Talent zum künstlerischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Ausdruck zu haben; seine Form war die intimste und am schwersten zeitgenössisch vermittelbare: eben das Tagebuch. Das war das Kreuz, das er tragen musste, wie wir alle es irgendwie tun müssen. So mag Amiel noch dazu den Hohn zu spüren bekommen von unkonstruktiven Geistern, die gerne alles herabsetzen, und die Amiel als gescheitert sehen mögen. Soweit ich das beurteilen kann (ich habe ja nur eine Auswahl von gut 300 aus den insgesamt 17.000 Seiten Tagebuch gelesen), ist er das aber eben nicht. Wie ausdifferenziert und analytisch und facettiert die Ausführungen von Amiel immer wieder sind! Bei all der schönen, synthetischen Betrachtung! Herrlich! (Wenngleich man eben sagen kann, das hier der Keim des Konfliktes liegt: der Konflikt zwischen einem kritischen Geist und einem gläubigen Menschen; besser aber eher, man spricht vom Keim einer Dynamik, die sich in der Abarbeitung am Absoluten vollzieht.) Der Herausgeber der deutschsprachigen Anthologie, Ingold, meint (was im Übrigen nicht notwendigerweise ein Vorwurf sein muss), Amiels Entwicklung sei „statisch“ gewesen; er habe sich im Lauf der Zeit und der drei Jahrzehnte, über die hinweg er das Tagebuch geführt hat, eben nicht (wirklich) entwickelt (und wie gesagt, ich kenne das Tagebuch an sich nicht, nur diese kleinodiöse Auswahl; die Beschäftigung über weite Strecken mag vielleicht schon enervierend sein). Wenn aber Amiel mehr oder weniger gleich am Beginn sagt: Für den Geist gibt es Ruhe nur im Absoluten, für das Gefühl nur im Unendlichen, für die Seele nur im Göttlichen. Nichts Endliches ist so wahr, so interessant, so würdig, dass es mich halten könnte. Alles, was besonders ist, ist exklusiv, und was exklusiv ist, stößt mich ab. Nicht exklusiv ist nur das Ganze, in der Vereinigung mit dem Wesen und durch alle Wesen liegt mein Ziel. Im Licht des Absoluten wird dann jeder Gedanke wert, dass man ihm nachgeht, im Unendlichen jede Existenz wert, dass man sie respektiert, im Göttlichen jede Kreatur wert, dass man sie liebt. (18. November 1851) oder Einzig von einem religiösen Standpunkt aus, dem einer aktiven und moralischen, geistigen und innigen Religion, können wir das Leben in seiner vollen Würde, in seiner vollen Kraft erfahren. Sie macht uns unverletzlich und unbesiegbar … Man kann die Erde nur im Namen des Himmels besiegen. Alle Güter sind dem noch zusätzlich geschenkt worden, der nichts als die Weisheit wollte. Wenn man keinen Nutzen sucht, ist man am stärksten, und die Welt liegt dem, den sie nicht verführen kann, zu Füßen. Warum? Weil der Geist Meister der Materie ist und weil die Welt Gott gehört. (27. September 1852) – wenn also Amiel das früh in seinem Leben begriffen hat, was für eine Entwicklung soll noch großartig möglich sein?! Er hat das Absolute und das positive Göttliche begriffen und ist damit in der obersten Kammer der Pyramide angelangt. Von der aus man alle Himmelsrichtungen überblickt. Alles, was man noch tun kann, ist sich in seiner notwendigen Relativität daran abzuarbeiten; sich als Subjekt am Objektiven abzuarbeiten, und daran – notwendigerweise und positiv – zu scheitern, beziehungsweise – und wie es im Leben eben allgemein so ist – mal zu gewinnen, mal zu verlieren (Win some, lose some, it´s all the same to me … That´s the way I like it, baby, I don´t want to live forever (and don´t forget the Joker), sagte der abgeklärteste und harmonischste Mensch des letzten Jahrhunderts; das ist die letzte Einsicht in die Dinge). Amiels Entwicklung bestand darin, sich am Absoluten und am Göttlichen abzuarbeiten, dabei praktisch notwendigerweise festzustellen, dass eine totale und stationäre Aufnahme in und Verschmelzung mit dem Absoluten nicht möglich ist, da von Inkonsistenzen durchzogen. Aber das Heil liegt in der Versöhnung von Glück und Pflicht, in der Verschmelzung des persönlichen Willens mit dem göttlichen Willen, im Glauben, dass dieser höchste Wille von der Liebe gelenkt wird. (6. Dezember 1869) Was aber, wenn dieser Glaube erschüttert wird? (Allgemein: Der höhere Mensch wird das Religiöse und das Heilige begreifen und sich stark von ihm angezogen fühlen; als ein Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters wird es ihm aber schwer fallen, an Religion tatsächlich zu glauben und in ihr eine Geborgenheit zu finden, wie es höheren und extrem wissenschaftlichen Menschen der Vergangenheit möglich war – das ist tatsächlich ein sehr schwieriger Konflikt, an dem sich im Jahrhundert Amiels ja auch Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Dostojewski oder eben auch Tolstoi abgearbeitet haben.) Solange wir zwischen der Wahrheit und uns auch noch den geringsten Abstand zulassen, sind wir außerhalb von ihr. Das Denken, das Gefühl, das Verlangen, das Bewusstsein des Lebens sind noch nicht ganz das Leben. Wir können aber unseren Frieden und unsere Ruhe nur im Leben und im ewigen Leben finden. Und das ewige Leben ist das göttliche Leben, ist Gott. Göttlich sein, das ist das Ziel des Lebens. (27. Oktober 1853) Jung und naiv, mag man solches denken, glauben, erhoffen. Wenn man aber eben genau diese Bewegung vollzieht, sieht man, dass die Wahrheit nur da liegt, wo zwischen der Wahrheit und einen selbst eben immer ein gewisser Abstand gelassen wird. Da Wahrheit immer wieder relativ oder fraktal ist. Das Absolute beinhaltet notwendigerweise Paradoxa; die absolute Wahrheit hat man dann (am Ehesten) begriffen, wenn man erkennt, dass die Wahrheit fraktal, daher letztendlich unauslotbar ist; dass die absolute Wahrheit unendlich ist, aber eben eine fraktale, unvollständig einsehbare Wahrheit ist. Diese Einsicht ist dann eben das Ruhen in der Ewigkeit und in der völligen Identität mit sich selbst und mit der Wahrheit. Die Weisheit altert nicht, denn sie ist der Ausdruck der Ordnung selber, das heißt des Ewigen. Der Weise allein kann dem Leben und jedem Alter seinen vollen Geschmack abgewinnen, weil er seine Schönheit, seine Würde und seinen Wert fühlt (…) Alle Dinge in Gott sehen, aus seinem Leben eine Reise durch das Ideal zu machen … das ist der bewundernswerte Standpunkt von Marc Aurel (…) Das ewige Leben ist nicht das zukünftige Leben, sondern es ist das Leben in der Ordnung, das Leben in Gott, und die Zeit muss lernen, sich als eine Bewegung der Ewigkeit zu begreifen, als ein Wellengang im Meer des Seins. Das Wesen, das sich als zeitlich bedingt versteht, kann von der Substanz dieser Zeit ein Bewusstsein haben, und diese ist die Ewigkeit. Und mit seinem Bewusstsein sub specie aeterni leben heißt weise sein, wenn man das Ewige personifiziert, ist man religiös. (4. Dezember 1863) Das, was dem gewöhnlichen Verstand als entgegengesetzte Extreme erscheinen mag, muss angenähert und verschmolzen werden, so hören diese auf, widersinnig, widerstreitend und paradox zu sein (in der extremen Zeitlichkeit – dem Augenblick – liegt das Ergreifen der Ewigkeit, in einer höheren Heiterkeit liegt der absolute Ernst etc.); Amiel hat das ja gesehen, dass die wahrhaft ernsthaft erkennenden die am wenigsten ernsthaften sind: Bei meinem scharfen, durchtriebenen, komplexen und chamäleonartigen Geist habe ich das Herz eines Kindes; ich liebe nur entweder die Vollendung oder den Scherz, die zwei entgegengesetzten Extreme. Die wahren Künstler, die wahren Philosophen, die wahren Religiösen verstehen sich kaum auf etwas anderes als die Einfachheit der kleinen Kinder oder die Erhabenheit der Kunstwerke, das heißt, auf die reine Natur oder das reine Ideal. In meiner Armut fühle ich doch gleich. (18. Mai 1862) Mit dem Chamäleon (einem freilich eher, was herkömmliche Standards angeht, unschönen Tier) vergleicht sich Amiel auch an anderen Stellen: Ich fühle mich als Chamäleon, Kaleidoskop, Proteus, aus alle möglichen Arten beweglich und polarisierbar, flüssig, virtuell, folglich latent sogar in meinen Kundgebungen, abwesend sogar in der Erscheinung. (Dezember 1866) Und: Die energische Subjektivität, die sich im Selbstvertrauen äußert, die nicht davor zurückschreckt, etwas Besonderes, etwas Bestimmtes zu sein, und das, ohne sich ihrer subjektiven Illusion bewusst zu sein oder zu schämen, ist mir fremd. Ich bin, wo es um intellektuelle Ordnungen geht, im Wesentlichen objektiv, und es ist meine ausgesprochene Spezialität, dass ich jeden Standpunkt einnehmen, mit jedermanns Augen sehen kann, was heißt, dass ich nicht eingeschlossen bin in irgendeinem individuellen Gefängnis. (18. November 1851) (Das ist als Hinweis auf einen Mangel an Persönlichkeit und eigentlicher, origineller Schaffenskraft bei Amiel ausgelegt worden: eventuell kann das so sein – aber in meiner Armut fühle ich doch gleich.) Dererlei objektive, kaleidoskopartige Existenz – ja, der Wunsch, Kaleidoskop zu werden – scheint freilich irgendwie selten in dieser Welt – oder ist er das? Ich weiß es nicht! Fast jeder (oder zumindest fast jede) scheint das doch zu wollen! Amiel aber auf jeden Fall (mit seiner Stubenhocker-Weisheit, könnte man einwenden, die die Welt nicht kennt, sie sich ganz einfach nach ihrem Wunschbild zurechtmacht, solipsistisch etc.): Die Unparteilichkeit und die Objektivität sind ebenso selten wie die Gerechtigkeit, von der sie zwei besondere Formen sind. Der Eigennutz ist eine unerschöpfliche Quelle angenehmer Illusionen. Die Anzahl der Lebewesen, die die Wahrheit sehen wollen, ist außerordentlich klein (…) Die Menschheit hat schon immer diejenigen hingerichtet oder verfolgt, die ihre eigennützige Ruhe gestört haben. Sie verbessert sich nur wider Willen. Der einzige Fortschritt, den sie will, ist die Vermehrung des Genusses. Alle Fortschritte in Sachen Moral, Gerechtigkeit, Heiligkeit sind ihr durch irgendein edles Ungetüm auferlegt oder abgenötigt worden. Das Opfer, das die Lust der großen Seelen ist, war nie das Gesetz der Gesellschaften (…) Vom Standpunkt des Ideals aus gesehen ist die menschliche Welt traurig und hässlich, wenn man sie aber mit ihren mutmaßlichen Anfängen vergleicht, hat die menschliche Gattung ihre Zeit doch nicht ganz verloren. Daher die drei Arten, die Geschichte in den Blick zu nehmen. Pessimismus, wenn wann vom Ideal ausgeht; Optimismus, wenn man rückblickend betrachtet; Heroismus, wenn man bedenkt, dass jeder Fortschritt eine Flut von Blut oder Tränen kostet (…) Die Fanatiker, die sich aufopfern, sind ein anhaltender Protest gegen den allgemeinen Egoismus. Wir haben nur die sichtbaren Idole gestürzt, aber das ständige Opfer hat noch überall Bestand, und überall leidet die Elite der Generationen für das Heil der Menge. Das ist das strenge, bittere, geheimnisvolle Gesetz der Solidarität. Das gegenseitige Verderben und Gedeihen ist das Schicksal unseres Geschlechtes. (1. März 1869) Ja, das ist der ewige Kampf zwischen Geist und „Materie“, dessen Fortschreiten der Krebsgang ist. (Eine freilich idealistische, unmaterialistische Perspektive, die die eigentlichen (und größtenteils unschuldigen) Schwierigkeiten, in denen sich die materiellen, faktischen Verhältnisse befinden tendenziell verkennt (wenn die diesseitigen Probleme so leicht lösbar wären, würden sie ja gelöst werden: soziale, politische und individuelle Probleme sind in der Regel aber eben nicht leicht lösbar (und haben oft die Form von Dilemmata))). Wie konziliant aber von dem milden, allesverstehenden Amiel, dass er den historischen Fortschritt dann doch nicht verkennt! Ein ganz und gar aufrechter Mann! Und so platzt diesem ganz und gar aufrechten Mann an anderer Stelle wieder der Kragen, wenn er eine Weile in die Menschheit und in die Gesellschaft hineinhört, und unschuldig und voller Interesse, versuchtem Wohlwollen und Teilnahme wissen will, was sie zu sagen hat (doch nur, um sie zu verstehen; doch nur, um ihr mit seinen bescheidenen Kräften versuchen zu helfen…): Das Schlimmste ist, dass hinter diesem Geplapper die Eigenliebe steht und dass sich darum diese gewöhnlichen Ahnungslosigkeiten energisch behaupten, dass sich dieses Gegacker für eine Überzeugung hält und dass sich diese Vorurteile als Prinzipien geben (…) Wenn man vor den Menschen Respekt haben will, muss man vergessen, was sie sind, und an das Ideal denken, das sie verleugnen, aber doch in sich tragen… (6. November 1877) An den einen und anderen Stellen äußert er sich sogar noch pessimistischer über die Seelenhaftigkeit der mehrheitlichen Menschheit; ich will das aber gar nicht zitieren, da es mir dann doch aus irgendeinem Grund missfällt (man kann es sich ja denken, wie mieselsüchtig große Denker und Seelen sich dazu äußern könnten; diese sind freilich selten und man trifft sie kaum persönlich im Leben; aber um eine Vorstellung von der Materie zu bekommen, muss man ja nur hören, wie negativ die Menschen selbst über ihre Nachbarn reden). Mir persönlich macht das alles immer wieder sehr viel und gleichzeitig aber auch nichts, aber auch gar nichts aus. Vom Standpunkt des Absoluten, im Auge Gottes, in Gott sind alle Seelen gleichermaßen Seelen, und in Gott werden alle Seelen gleichermaßen bewahrt. Wenn ich in die Welt blicke, sehe ich einen riesigen Diamant, in dem sich alles spiegelt, wenn ich mich bewege, bewege ich mich durch ein unsichtbares, aber ganz reales Feld, wo alles mit allem verbunden ist; für mich sind alle Seelen gleich und in meinem Geist wird alles bewahrt. Der Geist trennt und ist analytisch, die Seele verbindet und ist synthetisch. Der Geist ist aristokratisch, die Güte demokratisch (…) Güte schränkt bewusst den Scharfsinn ein; es ist die Güte, die vor den allzu scharfen elektrischen Strahlen der Hellsicht einen Wandschirm aufrichtet; sie ist es, die sich weigert, die Hässlichkeiten und das Elend des intellektuellen Spitals auszuleuchten (…) Hat nicht Fénelon gesagt: Die schönen Seelen allein kennen die ganze Größe der Güte. (19. Januar 1879) Ja, der Geist trennt und ist analytisch, die Seele verbindet und ist synthetisch. Darüber hinaus aber – und es ist wichtig, diese Bewegung zu vollziehen! – ist der seelenvolle Geist außerdem synthetisch und die geistvolle Seele außerdem analytisch. Das ergibt dann einen Geist-Seele-Gesamtkomplex, der zwar irgendwie paradox ist, dafür aber eben weder vorsätzlich kritisch noch naiv. Das ist dann die Absolutheit des göttlichen Geistes, die notwendigerweise (da sie alles enthält) paradox ist, gleichzeitig jenseits des Paradoxen: meta-paradox, insofern sie mit dem Paradoxen und Anstößigen auf einer höheren Ebene der Ausgeglichenheit operiert. Das ist dann die absolute Freiheit. Doch vermag er diese Befreiung nur zu vollziehen, indem er die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt und den Raum im Geist statt den Geist im Raum sehen lernt. Indem der Geist auf seine Virtualität zurückgeführt wird. Raum ist Streuung, Geist ist Sammlung. Und so ist Gott allgegenwärtig, ohne eine Milliarde Kubikkilometer einzunehmen und auch nicht hundertmal mehr oder hundertmal weniger. Als Gedanke nimmt das Universum nur gerade einen Punkt ein, doch im Zustand der Streuung und Analyse braucht dieser Gedanke alle Weiten des Himmels. (1. Februar 1876) … Die Ausdehnung und die Zeit werden dann zu bloßen Punkten. Ich wohne der Existenz des reinen Geistes bei, und ich sehe mich sub specie aeternitatis. (Wäre der Geist demnach nichts anderes als die Möglichkeit, die Wirklichkeit in die Unendlichkeit der Möglichkeiten aufzulösen? Anders gesagt, wäre der Geist vielleicht die universale Virtualität? Oder das latente Universum? Seine Null wäre der Kein des Unendlichen, die sich in der Mathematik durch das Unendlichkeitszeichen ausdrückt.) (13. Januar 1879) Ja, das sind dann die so genannten letzten Dinge. Die so genannten letzten Dinge sind der absolute Geist. Es gibt hin und wieder Individuen, die den absoluten Geist erreichen, die zu einer Erkenntnisebene vorstoßen, wo sich die Erkenntnisobjekte nur mehr durch Paradoxa beschreiben lassen, und die eventuell diese Paradoxa, eben gerade dadurch, überwinden; und es gibt Individuen, die sich all dem intensiver angenähert haben und damit verschmolzen sind als Amiel – diese aber können und wollen des Amiel nicht entbehren! Amiel ist ein wesentlicher Stein im Mosaik, oder besser gesagt im Hologramm des absoluten Geistes; führt vor, wie sich der absolute Geist selber begreift und prozessiert – und er führt vor, wie man die Dinge ergreift und mit ihnen verschmilzt. Wenn man die Dinge so ergreift, wie Amiel, dann ist man glücklich. Amiel lehrt uns das Glück. Amiel war kein Versager. In einer höheren Dimension, die freilich nicht alle sehen, war er ein geschlossener Kreis, und er hat alles im Leben erreicht.
Das Leben muss gleich der Geburt der Seele sein, der Freisetzung einer höheren Wirklichkeitsschicht (…) Die blinde, gierige, egoistische Natur muss sich in Schönheit und Adel verwandeln. (Dezember 1880) … Seinen eigenen Beitrag zur Vermehrung des Guten in der Welt leisten, dieses bescheidene Ideal ist genug. Zum Sieg des Guten beizutragen ist das gemeinsame Ziel der Weisen und der Engel. Socii Dei sumus, hat Seneca nach Cleanthus wiederholt. (24. April 1869)
(Anm.: Falls man diesen Text jetzt unnötig mäandernd findet, oder gar irgendein Arschloch glaubt, mir deswegen einen Strick drehen zu können, so möchte ich dazu sagen, dass ich mir hier zuerst die Textstellen von Amiel herausgeschrieben habe und sie dann irgendwie zusammengeleimt habe, und das außerdem nicht in ganz linearer Vorgehensweise. Was aber neben der Erinnerung an Amiel und dem Hochhalten seines Bildnisses hier wichtig ist, sind die Ausführungen zum Charakter des absoluten Geistes, die ich dermaßen kompakt vorher gar nicht vor Augen hatte, und die eher zufällig passiert sind. Ich will mir diesen Text, nachdem ich ihn jetzt (19. Februar 2020, 09 Uhr 18 vormittags) fertiggestellt habe, gar nicht mal mehr durchlesen, da ich ihn möglicherweise katastrophal finde. Die meisten anderen Male werde ich ihn aber wohl gut finden und zufrieden mit ihm sein. So ist das immer wieder.)