Krieg und Frieden

Krieg und Frieden von Leo Tolstoi habe ich einmal vor langer Zeit, im Alter von ungefähr 4 Jahren versucht zu lesen; bin aber nur bis zu ca. Seite 400 gekommen: dann ist mir dieses Aristokratengeschwätz einfach zu sehr auf die Nerven gegangen und ich habe es daunegehaut. Jetzt, im Exil, ist es mir gelungen, durch das ganze Massiv zu manövrieren, die ganzen 1500 Seiten; dabei glaube ich festzustellen, dass ich in meinen deutlich dünneren (und zumindest in der Hinsicht zugänglicheren) Büchern noch deutlich großflächigere Panoramen ausgebreitet habe, als eben Tolstoi in Krieg und Frieden. Das liegt offensichtlich daran, dass ich deutlich klüger bin als Tolstoi (der gemeinhin als einer der klügsten Schriftsteller gilt) und meine Aussichtsplattform, von der aus ich auf die irdischen (genau gesagt, die insgesamt kosmischen) Verhältnisse blicke, deutlich weiter oben ist. Naja. (Daher auch die Fallhöhe gewaltiger „lol“.) Zumindest aber bin ich mit Sicherheit lustiger. Auf 1500 Seiten Krieg und Frieden habe ich kein einziges Mal gelacht.

Ich kenne wenig von Tolstoi (daher diese Annäherung hier auch nur ein wenig launisch und rhapsodisch); aber ich habe schon mal bemängelt, dass mich seine radikale Immanenz stört. Seine langweiligen, alltäglichen Figuren, mit ihren langweiligen, alltäglichen Konflikten. Kann man sagen: Ja, so ist das Leben halt einmal! (wobei: Dass das Leben dermaßen unspiritualisiert sein soll, ist mir dann in der Praxis auch wieder nicht aufgefallen; allein schon einmal die nächtlichen Konzerte im Dreiraum in der Arena sind deutlich spirituell und entrückt; im gesamten Krieg und Frieden hat man dergleichen überhaupt nicht; nichts, was irgendwie zauberhaft wäre, obwohl man dem Zauberhaften im praktischen Leben doch dauernd begegnet etc.), nun gut, das eine aber ist das Leben, das andere die Kunst. Die Kunst verleiht dem Leben Sinn, interpretiert es, spiritualisiert es. Bei Dostojewski ist keine einzige Figur ein alltäglicher Langeweiler! Die fieberhafte Welt des Dostojewski, seine Figuren, in die sich dauernd etwas schiebt, die dauernd aus sich heraustreten – die sind zwar vielleicht der Realität enthoben, aber sie machen DEN ZUSAMMENHANG sichtbar. Das Band zwischen den Menschen, die inwendige Verflochtenheit der Schöpfung. Fiebernde Welt! Es sollte doch so sein, bei genialer Kunst, dass in der Präsentation und Schilderung einer Welt noch eine andere Welt zum Vorschein kommt, durch sie hindurchschimmert. Das hat man dauernd bei Dostojewski. Bei Tolstoi – ohne dessen Fähigkeiten klein reden zu wollen – hat man das nicht. Ich habe mich auch mit dem Fanatismus des alten Tolstoi für die Bauern nicht sehr genau beschäftigt, aber in dieser Mischung aus Grandiosität und Verschrobenheit scheint durchzuscheinen, dass Tolstoi einfach die Balance zwischen den beiden Welten, also hinsichtlich des spiritualisierten Existenzvollzuges im Hier und Jetzt, nicht eindeutig gefunden hat. Eventuell eine unverschämte Bemerkung. Sollte sie das aber sein, werde ich sie, sobald ich mehr darüber weiß, einfach korrigieren.

(„Aber Tolstoi ist ein Meister des westlichen Romans — Anna Karenina wird von
keinem zweiten auch nur entfernt erreicht — , ganz wie er auch
in seinem Bauernkittel ein Mann der Gesellschaft ist, Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dostojewski ist ein Heiliger, Tolstoi ist nur ein Revolutionär.
Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend“.

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II., S. 235ff)

(Eben und noch einmal: die warme, fiebernde, irritierende, instabile Welt bei Dostojewski (die das Schließen des stabilen Kreises aber immer zumindest andeutet, indem es das höhere moralische Gesetz, das ethische Band zwischen den Menschen als Fluchtpunkt hat) – die kalte und, trotz ihrer gewaltigen Kriegs- und Friedensspektakel völlig unspektakuläre und reizlose und – in ihrer geordnet beschriebenen Weise – anarchische Welt bei Tolstoi (der als Stilist (zumindest in Krieg und Frieden) völlig uninteressant war). Welt ist bekanntlich durchaus eine Frage der Weltwahrnehmung. Kann es sein, dass der epileptische, fiebernde Dostojewski inmitten seiner fahrigen Lebensverhältnisse die dem literarischen Genie eigene Spiritualität und Religiosität im Hier und Jetzt viel besser realisiert hat, und immer vollständig präsent war, als der gefeierte Literatursalonlöwe Tolstoi, der dann, aus Beschämtheit heraus, in seinen späteren Jahren alle Kultur und Kunst, inklusive seiner eigenen, verwirft und die Einfachheit des russischen Bauernlebens feiert, in einer offenbaren Mischung aus Grandiosität und Verrücktheit? Zu untersuchen, zu untersuchen, zu untersuchen!!)

Was mir bei Krieg und Frieden intellektuell gut gefällt, ist die pessimistische Sichtweise auf die Menschheit! „Pierre hatte die unselige Gabe vieler Menschen, und ganz besonders vieler Russen, an die Möglichkeit des Guten und Wahren zu glauben und gleichzeitig die Herrschaft des Bösen und der Lüge im menschlichen Leben allzu deutlich zu sehen, um noch an diesem Leben einen ernsten Anteil nehmen zu können. In seinen Augen gab es kein Arbeitsgebiet, das nicht mit Schlechtigkeit und Trug durchsetzt war. Was er auch zu sein oder zu tun versuchte, überall stießen ihn Schlechtigkeit und Lüge zurück und versperrten ihm alle Wege zu tätiger Mitwirkung. Aber dabei musste er doch leben, musste sich doch auf irgendeine Weise beschäftigen! Es war furchtbar und unerträglich, beständig unter dem Druck dieser unlösbaren Lebensfragen zu stehen, und so überließ er sich den ersten besten Zerstreuungen, um nur diese Lebensfragen zu vergessen.“ JA, dazu möchte ich schon einen wichtigen, treffenden Kommentar abgeben, nämlich – (unleserlich)

„Alle Erzählungen und Schilderungen, die dieser Zeit gelten, sprechen ausnahmslos von nichts anderem als von der selbstlosen Hingabe, der Vaterlandsliebe, der Verzweiflung, dem Leid und Heroismus der Russen. In Wirklichkeit lagen die Dinge ganz anders (…) Die Mehrzahl der Menschen jener Zeit kümmerte sich um den allgemeinen Gang der Dinge überhaupt nicht, sondern ließ sich von persönlichen Gegenwarts- und Augenblicksinteressen leiten. Und gerade damit (fügt Tolstoi hinzu, Amn.) haben diese Menschen damals der Allgemeinheit den denkbar größten Nutzen gebracht … Diejenigen aber, die den allgemeinen Gang der Dinge zu verstehen suchten und mit Heroismus und freiwilliger Selbsthingabe an ihm teilnehmen wollten, waren die nutzlosesten Mitglieder der Gesellschaft;  sie sahen alles verkehrt und alles, was sie für nützlich hielten und daher taten, erwies sich als nutzloser Unfug…“ Ach, die Schilderungen des Jahres 1812! Wie sie in Krieg und Frieden eine der großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte vor Augen führen, allerdings auch, dass auch während großer Katastrophen oder zum Beispiel innerhalb von Diktaturen das allgemeine Leben seinen Gang geht, von aller Autorität unbeeinflusst, unpolitisch, und ebenso gelacht und gescherzt wird, wie geliebt, getrauert und geweint (im losen Zusammenhang damit auch: „… er hatte erkannt, dass es auf der Welt nichts Furchtbares gibt. Er hatte erkannt, dass, wenn es auf der Welt keine Situation gibt, in welcher der Mensch glücklich und vollkommen frei ist, es ebenso wenig eine Situation gibt, in welcher er unglücklich und unfrei ist. Er hatte erkannt, dass es eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit gibt, und dass diese Grenze sehr nahe liegt…“). Wie Tolstoi einen gewahr werden lässt, dass auch die mächtigsten und tatkräftigsten Akteure und Auslöser von weltgeschichtlichen Prozessen dem anonymen, schicksalshaften weltgeschichtlichen Prozess unterworfen bleiben, in ihrer Macht reduziert, ihn nur teilweise beeinflussen und lenken können, hin und wieder auch von ihm zermalmt werden. Gewaltige Ereignisse des Jahres 1812! Ich sollte mehr über 1812 erfahren! In der Bibliothek meines seligen Vaters stand ein Buch, das nur 1812 gewidmet ist, verfasst von dem eminenten sowjetischen Historiker Eugen Tarle. Daneben steht die ebenfalls von Tarle verfasse Biographie über den höchst interessanten Talleyrand. Die Biographie über Talleyrand habe ich gelesen (sogar zweimal!), das Buch über 1812 nicht – also sollte ich das beizeiten tun. Der eigentliche Held und die eigentlich große, überdimensionale Persönlichkeit der gesamten Ereignisse von 1812 sei nicht der tragische Napoleon gewesen (habe ich bei Tolstoi gelernt und höchst interessiert zur Kenntnis genommen), sondern der unprätentiöse, verkannte, (im eigenen Land) geschmähte Kutusow: ein wirklich guter Geist und in sich selbst ruhender Mensch, deswegen aber leider auch dazu angetan, die Frechheit der Menschheit auf sich zu ziehen, während rohe Gewaltmenschen wie Napoleon idealisiert werden: „Für einen Lakaien kann es keinen wirklich großen Menschen geben, weil der Lakai eben seinen Lakaienbegriff von Größe hat.“ Ich sollte also dringend über Kutusow in Erfahrung bringen, ihn studieren und ihm gegebenenfalls ein Denkmal setzen, da mich stille, einfache menschliche Größe zutiefst begeistert und berührt (auf Wikipedia zumindest aber kann ich zunächst mal erfahren, dass die idealisierte Darstellung Kutusows durch Tolstoi „(h)istorisch bedeutsam … eher nicht (ist), da die russisch-patriotischen Elemente im Vordergrund stehen“ (sowie außerdem, dass ihm, zumindest in Russland, eh viele Denkmäler gesetzt worden sind)). Die Lektüre von Krieg und Frieden hat mich außerdem daran erinnert, bald wieder Claude Simon lesen zu wollen, Die Akazie und Die Straße nach Flandern zum Beispiel; eindringliche Bilder vom Krieg hat man bei Simon, der die zwei Weltkriege miterlebt hat (und vor allem eben Bilder, da Simon sehr immersiv und impressionistisch ist). Mit Tschaikowsky kann ich immer wieder eher wenig anfangen, aber der Anfang von der 1812 Ouvertüre – das betende russische Volk in der Kirche angesichts des wütend heranrückenden Napoleon und seiner Horden – gehört zum Besten was es gibt. Der ganze Sinn des Lebens und der eindringlichen Erfahrbarkeit der Existenz liegt da darin!

Unabhängig davon weiß ich: Tolstoi war ein begeisterter Leser der Tagebücher von Amiel. Amiel war der seltsame Fall eines Genies, das weder als Gelehrter noch als Künstler etwas Bleibendes hinterlassen hat (und unter dieser Unzulänglichkeit zeit seines Leben stark gelitten hat). Seine rastlose Produktivität hat sich in der Niederschrift seines (insgesamt 17.000 Seiten umfassenden) Tagebuchs manifestiert, das erst posthum erschienen ist (auch Friedrich „Manche werden posthum geboren“ Nietzsche war von Amiel dann sehr angetan). Eine sehr schöne Seele, Amiel, die in eine höhere, bessere Welt geblickt hat und die Dinge im Wesentlichen begriffen hat und von der man einiges lernen kann. Tolstoi hat die Tagebücher von Amiel in eine Reihe mit den Werken von Epikur oder Marc Aurel gestellt und bis zu seinem Tod immer wieder darin gelesen. Amiel ist heute praktisch unbekannt (und aufmerksam auf ihn geworden bin ich auf ihn nur, weil Pessoa in seinem (seinerseits wenig bekannten, und ja auch sehr spezialisierten) Werk Genie und Wahnsinn Amiel an einer Stelle als „trauriges Beispiel“ erwähnt. Was zur Folge hatte, dass ich sofort was von Amiel lesen musste!). Im Deutschen ist zeitgenössisch nur eine einzige Anthologie dieser Tagebücher erhältlich; die, die weiland von Tolstoi selbst  herausgegeben wurde. Der Herausgeber und Übersetzer der deutschen Ausgabe ist ein Universitätsprofessor, von dem ich in Erinnerung habe, dass er sich in seinem Nachwort dauernd an die Brust des schöpferischen Genius Tolstoi geworfen hat (um den es ja auch gar nicht wirklich geht in dem Zusammenhang), den scheinbar unproduktiven Gelehrten Amiel (um den es primär dabei geht) aber dauernd schmäht und abwertet, scheinbar völlig unzugänglich für dessen schönen Geist und seine erhebende Seele. Kurios und kurioser! Wieso ein solches Nachwort? Da hat wohl jemand Mist gebaut, habe ich mir gedacht. (Das ganze habe ich mir jetzt wieder ausgeborgt und gelesen. Naja, jenes Nachwort ist dann doch nicht so geartet, wenngleich eine gewisse Tendenz da schon gegeben ist, glaube ich jetzt feststellen zu können; jetzt ist es Sonntag, 8. Februar 2020, 12 Uhr 03 mittags. Ich werde mich jetzt ein paar Zerstreuungen hingeben, und als nächstes will ich mich wieder zusammennehmen, um Amiel ein Denkmal zu setzen.)

DENKMAL FÜR ROZA SHANINA “ The war correspondent Pyotr Molchanov, who had frequently met Shanina at the front, described her as a person of unusual will with a genuine, bright nature.[22] Shanina described herself as „boundlessly and recklessly talky“ during her college years.[10] She typified her own character as like that of the Romantic poet, painter and writer Mikhail Lermontov, deciding, like him, to act as she saw fit.[7] Shanina dressed modestly and liked to play volleyball.[66] According to Shanina’s sister-in-arms Lidiya Vdovina, Roza used to sing her favourite war song „Oy tumany moi, rastumany“ („O My Mists“) each time she cleaned her weapon.[22] Shanina had a straightforward character[67] and valued courage and the absence of egotism in people.[7] She once told a story when „about half a hundred frenzied fascists with wild cries“ attacked a trench accommodating twelve female snipers, including Shanina: „Some fell from our well-aimed bullets, some we finished with our bayonets, grenades, shovels, and some we took prisoners, having restrained their arms.““ [22] https://en.wikipedia.org/wiki/Roza_Shanina

KW 6, Februar 2020