Pessoa

Die Verrückten haben ein klares Gehirn; verwirrt und wahnsinnig ist das Gehirn derer, die nicht verrückt sind.
Das Mysterium des Universums, die Komplexität des Lebens, die Zukunft eines jeden einzelnen (…), all das sind Probleme, die bei wacher Betrachtung in den Wahnsinn führen werden. Nur wenn man sie auf verwirrte Weise betrachtet, bleibt der Geist heil.
Verrücktwerden bedeutet, sich dem Mysterium entgegen zu bewegen, es von weitem zu erblicken. Verrücktwerden bedeutet, dass man zu leben beginnt.
Wer verfügt über die Anschaung des Lebens – des Mysteriums? Die genialen Menschen. Und wer sind sie? Menschen auf dem Weg zum Wahnsinn, unvollständige Verrückte.

Ein Künstler mag wohl vom alltäglichen Menschen etwas Abstand haben; das Genie kann es nicht. Es sollte es auch nicht. Des Künstlers oberstes Ziel ist die Erschaffung des Schönen, des Genies oberstes Ziel ist es, dem Guten weiter zu verhelfen, eine zivilisierte Lebenswelt gegenüber dem Übel zu schaffen.

Die intellektuellen Künstler sind im Allgemeinen extrem moralisch: Anthero (Ausnahme: Goethe). Die mit der Ernsthaftigkeit der Neurasthenie kombinierte Erregbarkeit der Neurasthenie produziert dies.

Es ist eine der merkwürdigsten Illusionen, nach der ein genialer Mensch notwendigerweise einen noblen Charakter haben müsse, und je größer das Genie ist, desto größer müsse auch die Noblesse sein. Es gibt keine zwangsläufige Verbindung zwischen Charakter und Genie…

Der geniale Mensch ist, in dem Verhältnis, wie er wirksam ein Schöpfer ist, unfähig zu irgendeiner anderen sozialen Tätigkeit, die keine Schöpfung beinhaltet. So sollte es sein, zumindest um zu beweisen, dass er ein kompetenter Schöpfer ist.
In dem Verhältnis, wie der geniale Mensch kompetent geboren wird für seinen schöpferischen Auftrag, ist er auch unangepasst hinsichtlich eine großen Anzahl von Dingen im sozialen Leben.

Mystizismus ist die Verwirrung von überlegenen Gehirnen, so wie Dummheit die Verwirrung von geläufigen Gehirnen ist und Idiotie die Verwirrung von minderwertigen Gehirnen.
Des genialen Menschen ewige Unruhe bezüglich der Gründe und Ursprünge der Dinge.

Die Dichter, selbst die einfachsten, müssen selbstverständlich über eine Hypererregbarkeit des Nervensystems verfügen. Nun ist aber ein hypererregbares Gehirn ein anormales Gehirn.

Die Beziehung zwischen dem Genie und der Manie des Zweifels.

Der geniale Mensch muss gleichzeitig mehr träumen und wacher sein als der gewöhnliche Mensch. Die höhere Aktivität seines Denkzentrums bringt ihn dazu, ein größeres Bewusstsein vom Leben zu haben, eine größere Sehnsucht nach Verständnis, eine größere Klarheit der Sicht. Die größere Aktivität von diesen gefährdeten Zentren, die (…) Aktivität der Nerven und die (…) scheiden ihn aber in einer gewissen Weise von der Welt ab, machen aus ihm einen Egoisten und einen Träumer.
Die synthetische Aktivität ist verbunden mit einer mentalen Erregung, ebenso wie die Analyse an eine Depression gebunden ist.

Dies erklärt viel, zum Beispiel, dass sich im Genie gleichzeitig gegenteilige Dinge ereignen wie ein höheres Bewusstsein und Unbewusstsein und Schlafwandlertum. Ohne dass es wie ein Paradox klingen soll, könnten wir vielleicht sogar behaupten – je höher das Bewusstsein, um so geringer das Bewusstsein. Das bedeutet einfach nur – je ausgeprägter die frohlockende Erregung, um so größer die Depression.
Besteht die Erregung ein Leben lang, gehört sie dem Charakter an, wie beim Genie, dann wird auch die Depression ein Leben lang bestehen, dem Charakter angehören. Man sollte daher behaupten, dass im Genie Erregung und Depression immer nebeneinander bestehen zu haben. Das ist ein Gesetz der Natur; also unabwendbar.

Da wir in der Intelligenz am meisten wir selbst sind, entspricht es einem Exzess der Intelligenz, nicht so wie andere denken, wonach es sich beim Genie um ein überlegenes Wesen handelt: Um es so zu sagen, es ist hypernormal, und wenn es als krankhaft erscheint, dann eben nur da es hypernormal und notwendigerweise anormal ist.

Das Genie ist eine mentale Anormalität, welches sozial gesunde Resultate erschafft.

Das Werk des Genies ist ein einfaches Werk, immer; je höhere Komplexität es in dieser Einfachheit gibt, desto besser.
Der geniale Mensch ist einfach nur der Schöpfer einer neuen Einfachheit.

(Aus: Fernando Pessoa: Genie und Wahnsinn. Schriften zu einer intellektuellen Biographie)

pessoa

Sonntag, 9. November 2014, 12 Uhr 39. Vor einer Stunde den Rechner aktiviert, das letzte Autopsy-Album angehört („Tourniquets, Hacksaws and Graves“), wie gestern bereits zweimal, dann ein wenig Berichte gelesen und Fotos begutachtet der Orte Neoga sowie Roseville, beide Illinois, weil Kaiserin Willenborg dort herkommt. Beide haben jeweils keine zweitausend Einwohner, ich muss an die Menschheit denken, wenn ich so was höre, interessiere mich, wie Menschen dort leben und ihre Gebäude ausschauen, nie wäre ich wohl mit Neoga sowie Roseville Illinois in Berührung gekommen, ohne die Willenborg, Fenster zur Menschheit. Ich sehe in meinem Kopf bei solchen Gelegenheiten die ewige Nacht, der Hafen, nachdem die Donau eine Biegung macht, eine dumpfe Schiffsirene, so wie ich mir als Kind immer eingebildet habe, sie zu hören, ein dumpfes, anonymes, alles einschließendes Ächzen, das ist mir eine Vergegenwärtigung der Welt, ihrer kompletten Vergangenheit und Zukunft, außerdem aller Wesen, die in ihr leben, ein paar Straßen diesseits des Hafens das Gallanderstüberl in der Gallanderstraße, das geistfeindlichste und eines der gefährlichsten Beisln der Stadt, die Leute, die dort ihre triste Existenz rüberbiegen, sind vom Weltgeist maximal getrennt, vor langer Zeit diesseits des Hafens an der Donau, vor der Stadtwerkstatt, längst in der Nacht, ich unterhalte mich mit einer über Werner Schwab, über seine stilistischen Einfälle, das Schwabische, ich sage, wenn ich schreiben würde, könnte ich das auch; sie sagt, das kannst du doch niemals!, das war Jahre, bevor ich zum Literaturmachen angefangen habe, alles Mögliche andere habe ich aber trotzdem bereits geschrieben, für die Stadtwerkstatt zum Beispiel; Jahre zuvor, mitten in der Nacht, der Holzinger stellt mich zwei Mädchen vor, in der Stadtwerkstatt, sagt, der da ist extrem gescheit, sie haben mir auch zugehört, an das Aussehen der einen kann ich mich noch ganz gut erinnern, sexuell was draus geworden ist, wie fast immer, nichts, vor vielen Jahren, das Strom in der Stadtwerkstadt war damals hässlich und dunkel, auch das ist unwiederbringlich verloren, abgestürzt in der Abgrund der Zeit; ich frage mich, wenn das Universum so mächtig ist, warum gibt es so was wie Vergangenes, auf das wir endgültig keinen Zugriff mehr haben, auf das niemand mehr Zugriff hat, das in einem endgültigen Außerhalb liegt, das frage ich mich mit der Seele des rätselnden Kindes in der geistigen Schwere des außerzeitlichen Genies, und so eben denke ich im Bild der Hafens, der dumpfen Sirene in der ewigen Nacht, das ist mir die Totalität der Welt. – Eine bleiche, scheinbar äußerlich leblose Hülle, ein Hautfetzen, Fernando Pessoa. Er schreibt über sich selbst, stellt seinen Innenraum dar. Schizotyper Mensch. Ein Raum, dessen Grenzen im Unbestimmten liegen, nirgendwo. In einiger Entfernung vom scheinbaren Zentrum eine Art Kästchen, es geht auf, eine Reflexion, eine Empfindung wird artikuliert, ein Rauch steigt auf und löst eine dreifache Metareflexion aus; Pessoa weiß nicht, ob das noch zu ihm gehört. Jede subjektive Empfindung wird in eine Reflexion transformiert, und umgekehrt, Pessoa, in seiner schizotypen Dezentriertheit von sich selbst scheint nichts (bloß) persönlich zu empfinden, und empfindet so die ganze Welt, „weiß ich denn, ob ich fühle, denke, existiere? Nichts weiß ich: Ich kenne nur ein objektives Schema von Farben, Formen und Äußerungen, deren schwankender Spiegel ich bin, zu verkaufen, nutzlos.“ Das violette Licht, die milchigweiße Suppe, schwarzer Regen, der gegen die blöde Materie aufschlägt, wenn er Atem holt, wird das schnelle Gelb kurz über die Dunkelheit triumphiert haben, Pferdegetrappel, das Verrinnen der Zeit, dynamische Gefrorenheit des Augenblicks, gläsern scheint Pessoa mit der Welt verbunden; diese schönen Lichter sind keine eitle und uninspirierte Beschreibungswut, all das ist eine Beschreibung der Seele Pessoas. Es ist schön, dass man sich, als Schizotyper, scheinbar nicht selbst gehört, ohne abgegrenztes Selbst ist, als Geist wiederum direkt in die Welt reicht; ja, wenn ich mir das recht überlege, wahrscheinlich sogar tatsächlich die Welt ist, denn in welcher Instanz verkörpert sich die Welt schon, wird auf einen Punkt gebracht, als in der genialen Kreativität und dem Innenraum, in dem früher oder später alles passiert? Blasser Kerl, scheinbar unbeteiligt an allem, zu keinen großen äußerlichen Gefühlsregungen fähig, gerade einmal schaut er durch die Scheibe; legt man die Maßstäbe der Menschenwelt an, scheint er kaum eine Existenzberechtigung zu haben, ein geduldeter Mitläufer, das kenne ich von mir; die Starken machen sich die Welt, die Menschen der Tat; legt man die Maßstäbe dieser Menschen an, scheint Pessoa kaum ein Leben und kein Innenleben zu haben, so wie sie. Seine Rache ist dann, dafür der offene Raum zu sein. Eines von Pessoas Problemen ist, dass er sich für einen Romantiker hält, obwohl er ein Klassiker sein will. Das kenne ich, so habe ich mir das ja auch immer so eingebildet, und habe mich, und zwar ganz ernsthaft, mit diesem Problem herumgeschlagen, mit dem sich wahrscheinlich kein anderer in der Stadt herumschlägt. Die Lösung dieses Problems, lange nach dem Verschwinden der objektiven, klassischen Ideale, besteht freilich darin, seine subjektive, romantische Kunst mit einem solchen Wahrheitsgehalt anzureichern, dass sie klassisch wird. Es betrübt Pessoa, zu erkennen, dass er durchaus besser schreibt als viele der Besten, dann aber nur zum Verfassen von „Fragmenten“ in der Lage ist, nicht einmal ein Roman mag ihm gelingen – doch wie soll ein Omega wie Pessoa seinen Geist schon in Form eines Romans zur Geltung bringen, in die Form eines Romans verpacken? Es interessiere ihn nicht, Kunst zu machen, was ihn interessiere, sei vielschichtig und filigran zu empfinden, und seine Empfindungen präzise zu beobachten und aufzuzeichnen. Veröffentlicht hat er zu Lebzeiten wenig. Jahrzehnte nach seinem Tod werden seine Aufzeichnungen dann als „Das Buch der Unruhe“ herausgegeben. Seitdem gilt er als der größte Dichter Portugals. – Viele Jahre zuvor, als Kind, wie weiter draußen in der Wildnis die Eisenbahnbrücke war, über die Traun, habe ich mir die Totalität der Welt über die Reisenden in den nachts dann und wann vorbeirauschenden Zügen versucht begreiflich zu machen, die alle einen rätselhaften Kosmos, einen Blickwinkel auf die Welt, die nur über das Über-Mosaik, dem Herausquellen eines zusätzlichen Elementes in der Matrix, fassbar erscheint, in sich zu tragen behaupteten. Es ist gut, wenn man eine solche Neugierde empfindet, wenn man die Welt, und die Menschen, grundsätzlich als Geheimnis, Mysterium, Abgrund, sich vorzustellen versucht, die alle einen Schatz in sich tragen. Das ist die gute, und die ethische Haltung. Vor einiger Zeit gab es da mal auf Facebook ein Mem: „I´ve always wondered what it´d look like reading other people´s minds. Then I got a Facebook account, and now I´m over it.“ Anders eben Leute wie Pessoa.

Dazu unter einer Nachbemerkung zu Dostojewski noch genauer.

Aus dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken