Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse ist die letzte Erzählung von Franz Kafka, geschrieben im Vollbesitz der geistigen Kräfte und bei hinfälligem Körper und wird somit zu Recht undoder Unrecht als eine Art Lebensbilanz Kafkas angesehen. Es geht darin, einmal mehr, um das Verhältnis des Künstlers zum menschlichen Kollektiv. Ob Josefine, die Sängerin an sich große Künstlerin oder Dilettantin ist, bleibt ungeklärt; sie selbst empfindet ihren Beitrag als wichtig und bedeutend für das Glück ihres Volkes. Das Volk der Mäuse genießt ihre Kunst, obwohl es „unmusikalisch“ ist und in erster Linie „praktisch veranlagt“ (daher auch die „praktische“ Veranlagung am meisten schätzt) – im Gegensatz zu der eben künstlerisch veranlagten Josefine oder dem (mangels Alternativen) zum Hungerkünstler disponierten Hungerkünstler aus demselben Erzählband. Inwieweit die jeweiligen Lebenssphären von Josefine und denen des Volkes der Mäuse sich überschneiden; ob sie das erheblich tun oder praktisch überhaupt nicht; ob man im Kollektiv zusammenlebt oder einzeln aneinander vorbei; inwieweit das Kollektiv mächtig ist und unsterblich gegenüber dem Einzelnen oder der herausragende Einzelne mächtig und unsterblich ist gegenüber dem Kollektiv – sind Fragen der Perspektive oder, intellektuell betrachtet, verfluchte Rätsel, die niemand lösen kann, und die Größe und transzendente Intelligenz von Franz Kafka besteht eben darin, dass, mit höchster geistiger Klarheit betrachtet, die menschlichen Verhältnisse eben letztendlich permanent unklar erscheinen und vage und ohne rechte Kontur, was dann bisweilen, oder dauernd, Energien freisetzen mag, die man zu Recht undoder Unrecht als irrational bezeichnen kann. Die dahinscheidende Josefine wird aber auf jeden Fall mehr und mehr abbauen und letztendlich „fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder.“ Eine Welle, die von unendlichen Meer ans Land gespült wird und dann wieder, zurückgenommen, sich indifferent in diesem verliert. Das ist der Ausgang zu den Sphären. Und das sei die Geschichte der Josefine, wie auch des Volkes der Mäuse.
In meinen sensationellen, erhellenden Betrachtungen zu Franz Kafka habe ich darüber ruminiert, ob Franz Kafka an einer selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung gelitten haben könnte. Ein endgültiges Urteil aber vermieden, da es Gründe gibt, die dafür sprechen, ebenso wie auch ein paar, die scheinbar dagegen sprechen; insgesamt aber, da das gar nicht angeht, jemanden ohne eingehende Untersuchungen und längere Beobachtungen ein solches Etikett anzuhängen. Bei aller Fragilität war Kafka auch wieder sehr robust, bei aller Unsicherheit und Gehemmtheit war er im Umgang mit anderen auch wieder kraftvoll und authentisch etc. Seine Gehemmtheit gegenüber Frauen (mit der Ausnahme der authentischen und transparenten Dora Diamant) hat Milena Jesenska im Nachhinein als „richtig“ betrachtet, da die Liebe ja auch tatsächlich riskant ist. Wenn man ein radikaler intellektueller und seelischer Außenseiter ist wie Kafka, oder, allgemeiner gefasst, wenn man ein Einzelner ist gegenüber dem Kollektiv, ist (zumindest eine gewisse) Angsterfülltheit und Paranoia gegenüber dem Sozialen berechtigt und nicht notwendigerweise ein Zeichen von Krankheit, sondern eine realistische Vergegenwärtigung seiner, und der allgemeinen, Situation. Wenn man ein Mensch ist, kann man das Dasein unheimlich finden etc. Ob Kafka, seinem Wesen nach, krank war oder extrem gesund, abnormal oder hypernormal, erscheint als ein weiteres verfluchtes Rätsel, das niemand lösen kann.
Gesundheit und Krankheit, Wahnsinn und Luzidität, verzerrte Wahrnehmung und Schärfe der Einsicht können natürlich auch gemeinsam bestehen, oder sich gegenseitig bedingen oder aufeinander verweisen; und eine Persönlichkeitsstörung bedeutet, dass man weder tatsächlich verrückt ist, aber auch gar nicht normal, sondern man ist (hinsichtlich gewisser Emotionen und seiner Möglichkeiten, sie zu regulieren) partiell verrückt bzw. eingeschränkt. Nehmen wir Kafkas seltsamstes Vermächtnis her: Seine Aufforderung an seinen Freund Brod sein Werk und seinen Nachlass nach seinem Tod zu vernichten, um „in gesteigerter Erlösung vergessen zu sein wie alle seine Brüder“. Der immensen Bedeutung und des immensen Wertes seines Werkes war sich Kafka durchaus bewusst, und von Brod wie von allen anderen, auf deren Urteil grundsätzlich Verlass war, wurde er in seinem Genie permanent bestätigt und bekniet. „Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar“, vertraut er seinem Tagebuch 1913 an. Ja, warum also will er sie denn dann begraben, nachdem er sie aus sich so triumphierend befreit hat? Also hat man auch versucht, das Testament von Kafka als eine Art Trick anzusehen, mit dem Kafka sich und seinem Werk vielleicht eine Art bizarre Absolution verschaffen wollte (insofern Brod Kafka zeit seines Lebens sehr deutlich gemacht hat, dass er einem solchen letzten Willen, Kafkas Nachlass zu vernichten keineswegs Folge leisten werde sondern im Gegenteil alles daran setzen werde, es zu veröffentlichen). Allerdings ein sehr umständlicher Trick, der Freund Brod zudem notwendigerweise ins Unrecht setzt, egal was er tut, und auch ein Trick, der nach hinten losgehen hätte können, wenn Brod den Nachlass eben tatsächlich vernichtet hätte. Außerdem hat Kafka einiges von seinem Werk vor seinem Tod tatsächlich verbrannt, von dem Brod gemeint hat, es wären alles andere als Kleinigkeiten gewesen; der Verdacht ist insgesamt der, dass Kafka seinen letzten Willen auch genauso gemeint hat, wie er ihn formuliert hat. Ein wahnsinniger letzter Wille also! Wenn man keine rationale Erklärung für ein menschliches Verhalten findet, kann man letztendlich eben auch davon ausgehen, dass es irrational oder wahnsinnig ist. Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeiten sind von einem emotionalen Wahn besessen, sich minderwertig zu fühlen und dem Kollektiv nicht angehören zu dürfen, bei gleichzeitiger möglicher intellektueller Einsicht, dass das tatsächlich gar nicht der Fall sein muss. Ein narzisstischer Kerl wie Trump „weiß“ auch, dass er kein Superheld mit übernatürlichen Fähigkeiten ist (wenn er das tatsächlich glauben würde, wäre er ja tatsächlich verrückt und ein Fall für die Klapse), aber er schwelgt permanent in Phantasien, wo er etwas dergleichen ist. Alles andere als eine permanente, hypertrophe Selbstaufwertung ist für den pathologischen Narzissten emotional unerträglich. Und alles andere als eine permanente, hypertrophe Selbstabwertung ist für den Selbstunsicher-vermeidenden emotional unerträglich, auch wenn er gleichzeitig bei durchaus klarem Verstand ist und sich der Irrationalität seiner Emotionen auch durchaus bewusst sein mag. So betrachtet scheint Kafka recht definitiv an einer selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung gelitten zu haben.
Aufgrund seine Genies war Kafka in der Lage, seine Krankheit in eine große Gesundheit zu transformieren; seine Situation der ängstlichen Verlassenheit in die Darstellung einer menschlichen Grundsituation von höchster Allgemeingültigkeit zu reflektieren, aus seiner Konfusion über das diffuse Dasein zu einer Vision zu gelangen, die man in einer solchen Exaktheit in der Literatur des 20. Jahrhunderts sonst nur bei Beckett hat etc. Und schon beschleicht mich die Ahnung, dass sein letztes literarisches Wort, das vom Eingehen von Josefine in die gesteigerte Erlöstheit des Vergessens nach ihrem Tod, etwas in Wirklichkeit sehr Angenehmes und Natürliches hat. Was als übergeschnappter Kontrapunkt gegenüber dem offensichtlich sehr ausgeprägten Geltungsbedürfnis so einiger Leute erscheinen mag, die sich auf den Friedhöfen sündteure und protzige Grabanlagen hinbauen lassen, obwohl sie keinesfalls prominent waren, und auch eine komische Verneinung gegenüber dem natürlichen und unschuldigen Wunsch des Menschen, im Leben eine Rolle gespielt zu haben, kann man das auch als die unmittelbare Einsicht in die Natur des ewigen Friedens ansehen. Nach seinem Tod, in gesteigerter Erlösung, nicht „unsterblich“ werden, sondern in die Vergessenheit eingehen! Was für ein (wunderbar) Ding. Man hat seine Schulden abbezahlt und ist eins mit dem Gesetz des Universums, dem der Zunahme der Entropie. Der Ozean spült neue Kräuselungen, für einen Moment, ans Land, die wieder indifferent in ihn zurückgenommen werden, man geht heim in den Ozean; bis auch schließlich der Ozean verdampft, aufgrund des Todes der Sonne. Vollständig unterschreiben kann ich diese Vision nicht, denn es befördert das Glück der Menschheit nicht, wenn man nichts getan hat, wofür man nach seinem Dahinscheiden in Erinnerung bleibt, aber schon verliert sich auch das Festhalten an dieser Vision wieder ein wenig, etwas anderes tritt vor meinen Geist, eine Kuh! nein, ein Schwein!; einstweilen geht das Leben eben noch weiter, zumindest meines.