Hölderlin und die Urphänomene

Es gibt solche, die sind Dichter, Philosophen, Schauspieler oder Musiker. Und dann gibt es jene, die sehen die Urphänomene. Konvulsionen, ächzend rotierende, mahlende Formen im Urgrund, das Chaos der Veränderung im Gleichbleibenden, Urlaute und Urschreie, eine gleißende, explodierende, explodierend hervortretende Welt, die sie versuchen, in erzene, überrobuste Formen zu bringen, von neuartiger, bizarrer Schönheit, von überweltlicher Stärke, die gleichzeitig unmittelbar sind und naiv und gerade so dem tollpatschig-autoritären Zugriff der Weltmächte sich entziehen, ihn aushöhlen, über ihn triumphieren, in einer alle Welt überschreitenden Totalität: das ist es, was Kafka, van Gogh oder Beethoven tun. Man sollte nicht meinen, die Probleme von Beckett, Malewitsch oder Ustwolskaya wären Dichter-, Maler- oder Musiker-Probleme. Sie stehen im unheilvollen und dem einzig heilbringenden Kontakt zu den Urphänomenen und arbeiten sich an ihnen ab; in verzehrender Unruhe, in der Gelassenheit eines Gottes. Die Urphänomene, in ihrem ätzenden Wirbeln, stoßen ab und ziehen an. – Sie funktionieren überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Sie atmen, wärmen, essen. Sie scheißen, sie ficken. – Die Urphänomene sind sehr tief. Der Rimbaud´sche Seher will nicht nur tief ins Universum blicken, um neue astronomische Objekte ins Gesichtsfeld zu bringen; er will letztendlich die Struktur des Universums erfassen;  er dringt, aus seinem Aufenthalt in der Hölle, zu den Leuchtenden Bildern der Urphänomene vor. Daher ist der Rimbaudsche Seher auch ein Seher der Transzendentalien:  der nicht mehr hintergehbaren Kategorien aller Existenz. Heil dem, der dort ankommt! Die Transzendentalien erscheinen völlig ruhig und klar; die Urphänomene sind die überschnelle Überbewegung, von der Büchner, Lautréamont oder die Dickinson erfasst werden, während sie gleichzeitig das ruhende Auge inmitten dieses Tornados sind. Die Transzendentalien sind eine Kategorie der Philosophie, das mit den Urphänomenen ist eine eher poetische Anschauung. Ich will hier dichterisch sein, und es dichterisch ausdrücken: Es gibt solche, die sind Dichter, Philosophen, Schauspieler oder Musiker. Und dann gibt es jene, die sehen die Urphänomene.

Auch Hölderlin hat die Urphänomene gesehen. Schau, sein halbverrücktes Antlitz im Halbdunkel, gleichzeitig von gleißenden Licht umgeben, das von hinten, aus der Unendlichkeit kommt; sein bannender wie gebannter Blick, der uns anschaut, der durch uns hindurchschaut (da er in die Urphänomene blickt): das ist Hölderlin. Hölderlin und seine Dichtung zu beschreiben ist schwierig. In ihrer charismatischen Verworrenheit, die aber ist eines Gottes. Man hat hier das Höchste und Letzte: die in Stein gemeißelte Rede. Gefroren, eisig, klirrend, ist es die klirrende, eisige Sprache der (Über-) Vernunft, aus den Geisteshöhen, die das Über-Warme, das Schwärmerische, in Bann hält, und gleichzeitig durch es in Bann gehalten wird. Ewiges Ringen. Schau, wie fest die Rede ineinander verstrebt ist, so dass du es krachen hörest beinahe; nein, wirklich!, in ihrem Gebälk, gleichzeitig galoppieren die Eindrücke davon, es fällt links das Dunkle da hinein in das leuchtende Tal, auf den Gipfelhöhen golden leuchtende Tannen, ein Grün wird darüber geworfen, und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen / Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um; es bedeutet die Anwesenheit von Farbe, es bedeutet die Existenz von Präsenz, vom einzelnen Wesen, das in der Unergründlichkeit aufscheint, oder aber vielleicht bedeutet es den Vater Äther. Seliges Land! kein Hügel in dir wächst ohne den Weinstock / Nieder ins schwellende Gras regnet im Herbst das Obst. / Fröhlich baden im Strome den Fuß die glühenden Berge / Kränze von Zweigen und Moos kühlen ihr sonniges Haupt. Er habe, wie Hölderlin schon früh gegenüber Neuffer bemerkt, keine Gaabe dazu, Einzeleindrücke (geschweige denn Handlungen) zu beschreiben: nur den bloßen Totaleindruk – und das stimmt: die Einzeleindrücke, die er aufzählt, hasten an einem vorbei und man hat Schwierigkeiten, bei ihnen zu verweilen; auf irgendeine Weise – oder eben gerade dadurch – wird der Totaleindruk umso zwingender, umso halluzinatorischer. Erschreckende Absolutheit! Phantasmagorische Welt! Die gleichzeitig ehern in sich verstrebt und gefügt ist, andererseits permanent geöffnet ist und einladend. Komm ins Offene, Freundin! Das ist da, wo die Physik und die Metaphysik sich treffen. Geniale Dichtung erkennt man daran, wenn aus der Welt, die präsentiert wird, noch eine andere Welt hindurchscheint beziehungsweise, wenn beide sich rätselhaft durchdringen und gleichzeitig Vordergrund/Motiv und Hintergrund sind (denn Genialität oder Erleuchtetheit/Satori besteht darin, dass man ständig zwischen Motiv und Hintergrund – also dem, was die Welt an sich ausmacht (also, dass Motive in einem Hintergrund erscheinen bzw. Motive den Hintergrund beleuchten) –  wechseln kann bzw. sieht, wie beide sich durchdringen). Steinerne, abfallende Stufen, die er errichtet, die er gleichzeitig wegzieht, als Treppen hinein in den geheimnisvollen Urgrund, den absorbierenden Sog – denn ein solcher geheimnisvoller, absorbierender Sog ist seine ganze Dichtung. Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen. Wenn man im Seinswald an den Stein kommt, mit der uralten, ganz neuen und zukünftigen, in ihn gemeißelten Rede, dann ist Schluss. Man hat hier einen absoluten Markstein, ein Vermessungszeichen des Seins, der Existenz.

Hölderlin kann man in seinem spezifischen Dichten letztlich nicht verstehen und man kann ihn nicht nachahmen: denn er sieht die Urphänomene. Entlang dieser wandernden, nie genau fassbaren Grenze zwischen freier Rede und erzener Form, liegt auch die charismatische Grenze ihrer Verständnismöglichkeit, von der dann aber wieder jene absorbierende Sogwirkung ausgeht. Wie macht Hölderlin das: so zu dichten? Das können nicht einmal wir. Hölderlin hatte aber direkt einen solchen Geist, der ihm natürlich auch selber ein wenig unergründlich war. Diese Mischung von freier Rede und erzener Form ist tatsächlich die verwirrendste, irritierendste Sache der Welt, nicht zuletzt für den Dichter, wenn er noch nicht ausreichend Sicherheit gewonnen hat, selber: denn sie scheint gerade eben das Dichten zu unterlaufen, und es scheint läppisch und blödsinnig zu sein, mit sich selbst nicht in Einklang; ein Bastard aus Klassik und Romantik. Tatsächlich ist es aber die Sprache der Urphänomene selbst, die eben in radikaler Gegensätzlichkeit sichtbar werden, die diese radikale Gegensätzlichkeit von Statik und Dynamik, Wechsel und Identität, Abspaltung und Vereinigung, Bewegung und Ruhe, dieses dynamische Duo sind: Jener Widerstreit zwischen geistigem Gehalt (zwischen der Verwandtschaft aller Teile) und geistiger Form (dem Wechsel aller Teile), zwischen dem Verweilen und Fortstreben des Geistes … jener Widerstreit zwischen dem geistigen ruhigen Gehalt und geistiger wechselnder Form … jener Widerstreit zwischen materiellem Wechsel und materiellem identischem Fortstreben … jener Widerstreit von Individuellem (Materialem), Allgemeinen (Formalem) und Reinem. — Das tiefste Urphänomen ist das Zusammenwirken von Ordnung und Zufall/Chaos: der Chaosmos. Ein jegliches dynamische System ist ein solcher Chaosmos; und damit eine jegliche mögliche Welt. Der Chaosmos ist der Grund aller Welt. Einige die da sind, die den Chaosmos sehen, oder ahnen, oder sich an den Erscheinungen, die er wirft, abarbeiten; einige Geister. Sie sind den Zeitgenossen immer wieder verhasst, da sie sich in nichts Bekanntes und in keine Tradition einordnen lassen und so die Eitelkeit des zeitgenössischen Wissens kränken. Die Urphänomene sind in ihren Erscheinungen eben immer wieder jung, immer wieder grundsätzlich. Für etwas Neues gibt es noch keine akzeptierte Sprache und Namen. Und so bemühen sich diejenigen, die sich an den Urphänomenen abarbeiten, stets eine neue Sprache und neue Namen zu finden. Daran, und am Flackern – am mimentischen Flackern gegenüber den Urphänomenen – ihres Ausdrucks und ihres Geistes sollt ihr sie in Zukunft endlich eindeutig erkennen. Dieses flackernde Sehen, das Sehen des chaosmotischen Flackerns, ist das eines Hölderlinschen Geistes.

Hölderlin will den Geist begreifen, er will zum Urprinzip des Geistes vordringen und zum Urprinzip der Welt. Worin gründet sich der Geist, worin gründet sich die Welt, und wie schreiten sie voran? Der gute Geist, der Geist der Assoziation, der Konnektivität, der Liebe, sieht gemeinhin ein Ungetheiltes am Anfang. Eine Ur-Theilung findet dann statt, die gleichzeitig ein Abfall vom Ungetheilten ist, wie die Notwendigkeit dafür, dass Prozesse überhaupt stattfinden. Diese Prozesse und Individualitäten verlangen hinwiederum, zu sich selbst zu kommen, und sich, ausdifferenziert, in einem neuen, höheren, himmlischen Ungeteilten wiederzutreffen. Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein. Der Dichter dichtet aus ursprünglich gemeinschaftlicher Seele heraus; einer gemeinschaftlichen Seele eines Volkes, einer gemeinschaftlichen Seele aller Menschheit oder Kreatur; einer gemeinschaftlichen Seele aller Schöpfung. Indem er dichtet, spaltet er sich ein wenig von jener gemeinschaftlichen Seele ab; er individualisiert sich; entfremdet sich dadurch – vor allem eben in seinem hohen Streben – von den anderen: Nur so aber kommt der Mensch zu sich, wird zum Gesetz in sich selbst und ist so fähig, neue Einheit IDEELL zu stiften. Aus dieser tragischen Vereinigung des Unendlichneuen und Endlichalten entwickelt sich dann ein neues Individuelles, indem das Unendlichneue vermittelst dessen, daß es die Gestalt des Endlichalten annahm, sich nun in eigener Gestalt individualisiert. Es ist dann eine neue, höhere Einheit der harmonisch ausgebildeten Einzelwesen, es sei dann endlich Kommunion, es sei dann endlich friedliche Versammlung im Reich der Schöpfung, im Reich der Kreatur möglich. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns … Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein. Schönheit in der Dichtung, Schönheit in der Natur – Die Kunst ist die Blüte, die Vollendung der Natur – ist eine Erscheinungsform, ist ein Hinweis auf Harmonie und auf eine Geborgenheit im Sein: auf eine letztendlich gute Existenz. Es wird nur Eine Schönheit sein; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit.

Hölderlins Dichtung ist die über den einstigen, verlorenen, als auch über den erhofften, (wieder)kommenden „Gott“. Was ist ein Gott? Eine Einheit der Gegensätze, etwas Transzendentales. Ein moralisches Gesetz; eine Ordnung. Eine Entität, die etwas Magisches kann, die genuin schöpferisch ist. Die in sich geborgen ist, und so andere bergen kann (außerdem etwas, das es nicht wirklich gibt). Biographisch mag man dieses Lebensthema so begreifen über das Trauma, wie Hölderlins unbeschwerte Kindheit und Jugend abrupt und brutal mit seinem Eintritt in den Tübinger Stift ein Ende fand und er kasernenhaftem Erziehungsdrill unterworfen wurde. Vom Glück seiner Kindheit fand er sich jäh abgeschnitten. Tot ist nun, die mich erzog und stillte / Tot ist nun die jugendliche Welt / Diese Brust, die einst ein Himmel füllte / Tot und dürftig wie ein Stoppelfeld, dichtete er und lebenslänglich sollte er in dieser Stimmung verharren. Trotzdem er Hegel, Schelling und andere Hoch- und Höchstbegabte im Tübinger Stift kennenlernte, wollte er nichts annehmen von der Sphäre des Alltags; so war sein lebenslängliches Verharren in der Nostalgie nach dem verlorenen Idealen und Paradies eine Art selbstverschuldete Unmündigkeit, eine tatsächlich ab-gespaltene und ab-spaltende Schizophrenie im Hinblick darauf, die Lebenssphären ineinander zu integrieren und so zu versöhnen, an der er litt (und die sich, wenn man so will, schon damals in dieser Form bemerkbar machte). Doch kannt ich euch besser / Als ich je die Menschen gekannt / Ich verstand die Stille des Äthers / Der Menschen Worte verstand ich nie. Hölderlin nahm nicht wirklich am Leben teil; gemäß den Gesetzen des Lebens wurde er bestraft.

Von den Göttern hingegen wurde er belohnt; in einer anderen Sphäre. Durch seine schizophrene Ab-gespaltenheit von den Sphären des Lebens wurde er ein „Wunder der Reinheit“ (Stefan Zweig) – oder eben ein Heiliger. Er lebte und war geborgen in der Sphäre des Transzendentalen. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich noch so weit über sich selbst erheben, als er will. Und: Es ist doch ewig gewiß und zeigt sich überall: je unschuldiger, schöner eine Seele, desto vertrauter mit den andern glücklichen Leben, die man seelenlos nennt. Je größer der Dichter und schöner und unschuldiger die Seele, desto näher dem Transzendentalen ist man, und je näher man dem Transzendentalen ist, desto näher ist man den Urphänomenen, den Transzendentalien hinter den Phänomenen. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre, lehrt dagegen Goethe, der folgerichtig nicht über seinen verschrobenen Werther, seinen neurotischen Tasso und seinen verlorenen, in seiner Genussfähigkeit gestörten Faust hinausgekommen ist; und dann war da seine ständige Angst vor dem „Dämonischen“.

Wahrlich, ich habe das Herz eines Toren!

Chaos, ach Chaos!

Die Menschen der Welt sind hell, so hell:

Ich allein bin wie trübe!

Die Menschen der Welt sind so wissbegierig:

Ich allein bin traurig, so traurig!

Unruhig, ach, als das Meer!

Umhergetrieben, ach, als einer der nirgends weilt!

Die Menschen der Menge haben alle etwas zu tun:

Ich allein bin müßig wie ein Taugenichts!

Ich allein bin anders, als die Menschen:

Denn ich halte wert die spendende Mutter

heißt es im Tao te king. Im Taoismus geht es aber um das Schauen der Urphänomene. Goethe weiters bewunderte Napoleon und sagte von ihm: Er habe in einem Zustand „permanenter Erleuchtung“ gelebt. Na, das gilt dann auch für den Napoleon der abendländischen Dichtung, gilt für Hölderlin. Goethe war Universalmensch, aber An das Göttliche glauben / Die allein, die es selber sind. Die Zeitgenossenschaft kann schwer damit was anfangen: Wer ist in der Lage, in die Sonne zu schauen? Nur zuzeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.

Der Raum des transzendentalen Denkens und Empfindens ist eine Art Halle, durch die einige futuristische Verstrebungen gehen. In diesem Raum bewegt man sich frei, wenngleich man auch durch die ärgerlichen Beschränkungen der empirischen Wirklichkeit läuft. Die Dichter müssen auch / die geistigen weltlich sein. Mit dieser Möglichkeit des Wandelns durch die transzendentale Halle ist aber sonst nichts vergleichbar. Es ist sehr gut; denn es ist die Möglichkeit des Wanderns und Wandelns an sich, und bildet den Phasenraum aller empirischen und realen Wanderungen. Hyper-Ion, der unendlich Wandernde. Mein exzentrischer Freund Clemens singt von der leeren Halle, die er regiert. Man hat bei Hölderlin das „Paradox“, dass er „Weltarmut“ und überweltlichen Reichtum gleichzeitig in sich hat. Seine weltarme Dichtung kreist immer um die gleichen, wenigen verschiedenen Motive. Sie betrachtet gleichzeitig alle Welt heraus von oben. Nächstens dazu mehr.

Hölderlin ist transzendental, weil er das Urgesetz des Lebens und des Geistes begreifen will – und das eben auch kann: denn man kann alles, was man will. Das Leben und der Geist finden statt aus der dynamischen Ur-Theilung vom Ur-Einen. Zwischen Geburt und Tod spielt sich das Leben ab; und spielen sich alle Erscheinungen ab. Die Erscheinungen spielen sich ab in Identität und Nicht-Identität mit sich selbst. Das einzelne Leben ist mit sich selbst identisch und steht ebenso in Wechsel und Wandel. Es ist ein Chaosmos. Der Chaosmos ist wiederum das Urphänomen schlechthin. Das Urphänomen ist der Gegensatz – genauer: das Wechselspiel – von Wandel und Identität (da zwischen beiden allerdings kein echter Gegensatz oder Widerspruch bestehen muss). Am Anfang des Lebens steht das Kind. Das Kind (zumindest in seiner dichterischen Figur) ist nah am Ungetheilten. Es ist geborgen – aber auch einer machtvollen Objektivität, der Außenwelt hilf- und machtlos ausgeliefert. Der Erwachsene, sich im Leben befindliche, ist vom Ungetheilten getrennt, besitzt aber die Gabe der Reflexion und des differenzierenden Denkens, das einerseits fortwährend trennt, aber auch fortwährend auf höherer Stufe vereinigt. Auf den verlorenen primordialen Gott der Kindheit und den abwesenden/verborgenen Gott in der Gegenwart folgt, so die große Hoffnung, der kommende Gott der strahlenden, harmonischen Zukunft; und Ewigkeit. Dieser Gott ist die Vereinigung von beiden, über die differenzierende Zusammenfassung von beiden. Durch die Reflexion über die Reflexion sprengt der Geist, sprengt die Seele die materiale Hyle der sie begrenzenden und umgrenzenden Erscheinung; durch das trennende und vereinigende Differenzieren lässt der Geist die Paradoxien und Aporien der Existenz und seiner selbst unter sich… dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher Empfindung möglich, in einer Empfindung, die darum schön ist, weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes Bewusstsein, bloße Reflexion (…) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie… etc. pp. usw ist, sondern weil sie alles dies zugleich ist und allein sein kann … in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwirkung der genannten Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig, d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig, d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend usw. ist, sondern all dies zugleich ist und allein sein kann. Hier sieht man: der Innenraum des transzendentalen Empfindens ist eine fortwährende Reflektiertheit und Ausdifferenziertheit. Es ist der unendliche Spiegelsaal, wo sich alles in allem spiegelt und man so der Totalität ansichtig wird, aus verschiedenen Blickwinkeln; die Spiegel vermehren die Aussichtspunkte, der subjektive Blick wird vervielfacht und hat so einen potenziellen Blick auf das Ganze … natürlich verliert sich auch so etliches, je nach Blickwinkel, in eine Unbestimmtheit: doch auch das ist Element der Welt. Durch den Innenraum des transzendentalen Empfindens gehen keine Aporien oder Paradoxien sondern eine fortwährende Dynamik des trennenden und verbindenden Ausdifferenzierens. Das ist die seltsamste Sache von der Welt; doch das ist gleichzeitig auch das Stöhnen der Urphänomene und das nicht mehr hintergehbare Transzendental. Der transzendentale Verstand verliert sich an nichts, und besitzt sich so ganz; und ist so Absolut. Mit dem Einen und dem Ungetheilten ist es ja nicht so weit her, und man verliere sich nicht in bloße unproduktive Sehnsucht danach; wichtiger ist das Alles/Absolute: in ihm allein erscheint die Unendlichkeit. Im Zusammenbringen der größten Gegensätze, durch das differenzierendste geistige Vermögen, in ideellem Bestreben, erscheint so eine Epiphanie der statisch-dynamischen Unendlichkeit; in diesem Punkte der Geist in seiner Unendlichkeit fühlbar ist. Und diese, ideell spiritualisierte und rational differenzierte, Epiphanie der Unendlichkeit hat man in der Dichtung Hölderlins.

Die Sphäre des Transzendentalen ist die Sphäre des ewigen Anfangs; die Welt, die Schöpfung erscheinen in der Sphäre des Transzendentalen ewig neu. Daher das Gefühl des transzendentalen Dichters, des transzendentalen Menschen, des Schauers der Urphänomene, stets und immer erst noch „am Anfang“ von allem zu sein. Auch Hölderlin begreift sich als immer „erst am Anfang“ und seine Dichtung als „Versuche“. Seine transzendentale Poesie entsteht eben transzendental, also aus der Bedingung der Möglichkeit für etwas, für das Gedicht, heraus. Seine Poesie ist so poetisch, dass sie eben auch die Bedingung ihrer Möglichkeit in sich enthält; dieser ihr Charakter kommt in ihr stets zum Ausdruck. „Poesie“ bedeutet: Erschaffung, Hervorbringung, Entbergung; und Hölderlins Poesie ist totalpoetisch. Oh ja!, letztendlich drückt Hölderlin das genuin Poetische in der Poesie aus: das ist es, was sie so eigentümlich besonders macht. Transzendentales, die Urphänomene, die Bedingungen der Möglichkeit von etwas, steht im Zusammenhang mit einem Vermögen. Hölderlin, genau genommen, drückt, in seiner Dichtung und Poesie, das poetische Vermögen aus. Das poetische Vermögen, das zur Erschaffung der dichterischen Welt, ist tatsächlich ein einerseits primordialer und uranfänglicher als auch ein ewig kommender Gott. Auch wenn er im Moment nicht anwesend oder verborgen sein sollte, ist er gerade dadurch stets präsent und wirkt; übt seine Sogwirkung aus. Das Vermögen/der vergangene Gott ist vor dem bewussten Anfang von einer Schöpfung, ist anfänglich: sein Grund ist rätselhaft und er scheint zu verschwimmen (tatsächlich ist er eben transzendental und daher nicht mehr hintergehbar). Was das Vermögen will, ist, genau genommen und korrekt empfunden, eine Transformation einleiten, um so fortwährende Schöpfung gebären zu können, und letztendlich eine große, himmlische Einheit unter dem Signum seiner eigenen Göttlichkeit stiften zu können. Hölderlin dichtet aus dem Geist heraus. Er frägt sich: was ist der Geist? Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Geist? (Antwort: ein Vermögen zum Geist) Und was tut schließlich der Geist? Er erschafft. Und er kann sich Dinge vorstellen, die es in der realen Welt nicht gibt; die in der empirischen Realität so nicht vorkommen, wie zum Beispiel Punkte, Kreise und Unendlichkeiten: oder eben Poesie und das Gedicht. Damit erhebt sich der Geist über die empirische Realität und vermag diese ideell zu ordnen und zu manipulieren, zu adjustieren, in ihr zu wirken. Das Ideelle ist das Vermögen, über das Reelle hinauszugehen und es zu beherrschen. Es ist daher gleichsam inhärent, dass Hölderlins Dichtung ideell ist und das Ideelle auf so eigentümlich glühende Weise evoziert. Der Geist, in seinem ideellen Vermögen, ist poetisch. Der Geist ist der Gott in uns. In der größten Kunst geht es darum, dass der Geist sich selbst begegnet und vor sich selbst tritt, versucht, sich selbst zu erkennen. In seinem rätselhaften, Formen werfenden Vermögen. Hölderlins Kunst hat das erreicht. O die Poeten haben recht, es ist nichts so klein und wenig, woran man sich nicht begeistern könnte. Hölderlin dichtet aus dem Geist heraus, er hat den rechten, den anschlussfähigen Geist und ist folgerichtig begeistert. „Begeistert ist, wer Geist hat“ (so der phonetisch fast identische Philosoph Paul Häberlin): – Es ist erfreulich, wenn gleiches sich zu gleichem gesellt, aber es ist göttlich, wenn ein großer Mensch die kleineren zu sich aufzieht. Für Stefan Zweig war Hölderlins eigentlicher Genius die Begeisterung, die unsichtbare Schwinge. In seiner Begeistertheit lässt er eine permanent begeisternde Welt erscheinen. Daher seine ewige Frische. (Vgl. zu diesem Abschnitt Bothe: Hölderlin zur Einführung im Junius Verlag) 

Zuweilen regte noch sich eine Geisteskraft in mir. Aber freilich nur zerstörend! Hölderlins entgrenzte und ihm weseneigentümlichste späte Lyrik entsteht in den Jahren vor seinem definitiven geistigen Zusammenbruch im Jahr 1806. Gleichzeitig zur weiter fortschreitenden Verbesserung seiner dichterischen Fähigkeiten und der Vertiefung/Erhellung seiner Vision wirft der Wahnsinn abermals seine leuchtenden Schatten voraus. Gedichte wie Patmos oder die Friedensfeier sind nicht mehr normal; in der zweiten Fassung von Der Einzige scheint geradezu zäsurhaft eine manische Zerrüttung stattzufinden. Hölderlins Wahnsinn – und so tritt er auch in den „Hymnischen Entwürfen“ der späten Lyrik zutage (in Wirklichkeit aber von Anbeginn seiner galoppierenden Lyrik an) – ist eine Art schizophrene Ideenflucht, ähnlich seinem stundenlangen freien Fantasieren am Klavier, dem er sich in jenen Jahrzehnten hingibt. Synästhetische Eingebungen und Ideen, Eindrücke, die jedoch von keiner Vernunft mehr zusammengehalten werden und bei denen er rasch den Faden wieder verliert. Zustand eines kleinen Kindes, in sein fantastisches, fasziniertes Spiel verloren, jedoch mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne – gleichzeitig ein alter Mann, der sich beschwörend erinnert seines Ideenzusammenhangs, ein alternder Geist, der seine Vision immer wieder vorbeiziehen lässt und sie vertieft, und der ihre Zeichen immer wieder hochwirft. So lebt er tatsächlich dahin, in einem Zustand der reinen Poesie und der phantasmatischen und phantasmagorischen Schöpfung, die durch keine kalten Ratio mehr gebremst, allerdings auch von keiner warmen Ratio mehr in ihren eigenen Zusammenhang gebracht wird. Wieder ein Hybrid aus singulären, überlegenen Fähigkeiten und Mangel an einfachen, alltäglichen Fähigkeiten, in einer neuen, erweiterten und vertieften Umkreisung. Als Kranker wohnt er die letzten Jahrzehnte in einem Turm am Neckar, unter der Obhut eines Bewunderers, des Schreinermeisters Ernst Friedrich Zimmer. Besucher empfängt und bewirtet er in umständlichem, feierlichem Zeremoniell und indem er sie fortwährend „Euer Gnaden“ oder „Euer Hochwohlgeboren“ tituliert. Der Ärmste scheint sich zu schämen, für den Verlust seiner Geisteskräfte, sein im Sand verlaufenes Leben und dass er von der Fürsorge und der Aufmerksamkeit anderer abhängig ist. Gleichzeitig scheint er aber zu ahnen, dass die Annäherung an das Göttliche und an das Unbegreifbare, Über-alles-Hinausgehende, das er verwaltet und das er sieht, nur durch zeremonielle Förmlichkeit geschehen kann und durch ehrehrbietendes Ritual. (Oder aber, dass man Menschen nicht genug ehren, oder ihnen nicht genug schmeicheln kann – Nun vesteh ich den Menschen erst, da ich fern von ihm / und in Einsamkeit lebe.) Sein halbverrückter und bannender Blick ist noch verrückter geworden, und noch bannender; sein Antlitz verliert sich auf der einen Seite immer mehr ins Dunkel, tritt in dieses zurück, und erscheint auf der anderen Seite immer mehr in gleißendem Licht, das von ferne kommt, und rätselhaft ist, das die Dinge übererkennbar macht und sie für unser beschränktes Erkenntnisvermögen bestenfalls in immer fernerer Zukunft fassbar. Das ist die späte Lyrik von Hölderlin.

Die Sagen, die der Erde sich entfernen / Vom Geiste, der gewesen ist und wiederkehret / Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen / Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret. Es fällt mir kein Dichter ein, bei dem es nach der späten Lyrik noch eine späteste gäbe; außer eben Hölderlin, entsprechend seiner exzentrischen Bahn, seiner hyperbolischen. Die spätesten Gedichte Hölderlins sind (wie immer) weder sinnlos noch völlig sinnvoll. Er kehrt zu einer ganz einfachen, gebundenen Form zurück; von der eleganten Rhythmik ist nichts mehr zu merken, steif und scheinbar zaghaft wird die Botschaft in ungelenke deutsche, fast Kinderreime gesperrt, ohne echtes Vertrauen mehr in sich selbst, könnte man meinen. Oder aber in berechtigter Zurückhaltung in der Mitteilung der gewaltigen Vision. Die letzte Station der exzentrischen Bahn, die letzte Umkreisung des gleichzeitigen Kind-und-Alt-Werdens in der Schau des Göttlichen scheint erreicht. Hölderlin ist nun gleichzeitig am Anfang stehendes Kind, und am Ende – genauer gesagt, aus transzendenter, transzendentaler Position heraus – auf alle Geschichte, in die uralte Verwirrung blickender Alter, die nichts wirklich Uraltes und Verwirrendes mehr an sich hat. Es ist der Gleichmut des Entstehens und Hervortretens (weniger übrigens des Vergehens und Absterbens) im Wandel der Jahreszeiten, den er betrachtet. Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten / Wie eine Pracht, wo Feste sich verbreiten / Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele / So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele. Er drückt sich über diverse literarische Alter Ego aus und auf seiner Uhr, in seinem Kalender, in seinem geistigen Erfassen, sind es alle Zeiten des Tages und der Ereignisse gleichzeitig; Mit Untertänigkeit, Scardanelli datiert er seine spätesten Gedichte auf d. 24. April 1839, Den 24. März 1671 oder d. 9ten März 1940: Der Mensch verwundert sich, daß sein Bemühn gelinget / Was er mit Tugend schafft, und was er hoch vollbringet / Es steht mit der Vergangenheit in prächtigem Geleite. In spätester Zeit wird alles vergangen sein, in seiner spätesten Zukunft wird der transzendentale Geist alles erfasst haben. Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen, wird er zu berichten wissen, in seinem anfänglichen Impetus, in seinem Abschlussbericht. Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren. Als Zeichengitter stehen die spätesten Gedichte ein wenig in der Höhe über uns, mit einem großen Auge blicken sie starr und unverwandt, bannend wie gebannt hinter uns in die Geschichte, blicken sie in die Welt, als das total erkennende, daher empirisch fast aufgelöste Subjekt im transzendentalen Raum, in der transzendentalen Zeit. Ähnlich wie die Dionysos-Dithyramben von Nietzsche sind sie letztgültige Botschaften, vollständig in Bewegung, vollständig zur Ruhe gekommen. Anders als diese, die orgiastisch sind, sind sie aber auch ein wenig (altersweisere) Zeichen des Verschwindens, des Verblassens; so wie auch die Endlichkeit verblassen wird, und so wie auch die Ewigkeit verblassen wird, dereinst. Es sind, eben, Botschaften aus der spätesten Zukunft, die das transzendentale Vermögen verstandesmäßig erreichen kann: Im Begreifen der transzendentalen Paradoxien, im Schauen der Urphänomene. Der Erde Rund mit Felsen ausgezieret / Ist wie die Wolke nicht, die abends sich verlieret / Es zeiget sich mit einem goldnen Tage / Und die Vollkommenheit ist ohne Klage.

Indes ihr noch die Leichenfackel hält … bricht schon herein die neue beßre Welt… Am 7. Juni 1843 ist Hölderlin gestorben. Zeit seines Lebens hatte er einen kleinen Kreis von Bewunderern. Nach 1848 wurde er im Wesentlichen ignoriert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, darunter der transzendentale Bruder im Geist, Friedrich Nietzsche. Ein Menschenalter sollte es noch dauern, bis dass er wieder, und mit breiterer Wirkung, ins Bewusstsein trat; freilich auch in das der unguten Deutschnationalen. Heute hat er seine populärste Zeit wohl wieder hinter sich. Doch das ist eventuell gut. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Denn sein Zeichen, um dessen Deutung wir uns fortwährend, bis ans Ende der Zeiten bemühen werden, wird eben bleiben. Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnet, sein Buchstab / Tötet, aber es macht Geister lebendig der Geist. In Stein gemeißelt, von unendlich robuster innerer Verstrebung, und dahingehend autonom, wie seine Gedichte, ist er Teil der Geschichte; mehr noch: der Textur des Seins. Er hat die Matrix gesehen. Wer die Matrix sieht, ist jenseits von Leben und Tod. Genau gesagt, ist lebendig, denn er ist lebendiger Geist, und macht eben fortwährend lebendig den Geist. Wer die Urphänomene sieht, steht eben auch am Urquell. Begeben wir uns also zum Urquell. Dort werden wir Hölderlin immer wieder treffen.

Sterblich bin ich zwar geboren / Dennoch hat Unsterblichkeit / Meine Seele sich geschworen / Und die hält, was sie gebeut

Addendum März 2023: Beim Verfassen dieser Betrachtung habe ich gar nicht gewusst, dass es eigentlich Goethe war – der hier so sehr in die Schranken gewiesen wird – der eigentlich mit den „Urphänomenen“ dahergekommen ist und sich mit ihnen verbunden gefühlt hat. Haha, naja. Das mit den Urphänomenen hat sich als Vision bei mir aufgetan, als versucht habe, jemanden wie Kafka mit jemanden wie Else Lasker-Schüler zu vergleichen. Die Probleme von Kafka scheinen keine bloßen Dichter- bzw. Kunstprobleme (was immer das auch, genau genommen, sein soll). Die Konvulsionen von Kafka sind die Konvulsionen der Urphänomene, deren Medium jemand wie Kafka ist – so hat es sich in mir aufgetan. Das ist das Urphänomen hinter meinem Ding mit den Urphänomenen.