Der Telefonanruf

Im Übrigen ruft bei mir, dem Verwalter der Philosophie, dann und wann mitten in der Nacht, meistens so zwischen zwei und drei Uhr früh, einer an und weint dann ins Telefon: Er schäme sich so dafür, dass er die Philosophie (und außerdem das Christentum) verraten habe: denn das wisse er, dass er die Philosophie, und außerdem das Christentum, verraten habe. Aber er sei eben Politiker, außerdem in der falschen Partei; dort wüssten sie nur zu gut, dass der größte gemeinsame Nenner in der Gesellschaft und daher auch die legitime Macht bei der Sozialdemokratie liege, die sie deswegen mit allen Mitteln zu diskreditieren und mental zu destabilisieren versuchten, um den sozialdemokratischen Geist als größten gemeinsamen Nenner aus der Gesellschaft auszutreiben und ihre eigene, illegitime, Macht dauerhafter sichern zu können, das sei der Plan; aber sie wüssten, dass das wohl kaum funktionieren würde, und die Sozialdemokratie eines Tages zurückkommen würde. Davon sei vor allem ihr Chef ganz besessen. Nur durch Schwindel seien sie an die Macht gekommen, durch Verrat an der Philosophie (und am Christentum), und diesen Schwindel versuchten sie, so lange es gehe, aufrecht zu erhalten, durch einen fortwährenden Verrat an der Philosophie. Wofür er sich am meisten schäme, sei aber nicht bloß das ungustiöse, innerhalb von Machtkämpfen aber notwendige taktische Kalkül, sondern die Verbissenheit, aus panischer Angst heraus, mit der sie die Sozialdemokratie mit allen nur möglichen Mittel stets diskreditieren und drangsalieren würden, mit der größtmöglichen und einer überschießenden Gemeinheit, um sie mental und psychologisch zu destabilisieren. Durch Schwindel und durch Verrat an der Philosophie seien sie an die Macht gekommen und würden sich dort verzweifelt versuchen zu halten, und er wisse, dass er diesen Verrat an der Philosophie (und am Christentum) nie wieder gut machen könne; aber sie vom innersten Machtzirkel seiner Partei seien eben jung und wild und wollten halt einfach die Sau rauslassen; er lebe ja nur einmal und wolle wenigstens einmal erlebt haben, wie das ist, wenn man an der Macht ist; er hoffe, wenn der Spuk vorüber sei und sich sein Wesen beruhigt habe, würde er ins Kloster gehen können. Er und Gstöttner und Bonelli wären ja eigentlich eher in sich gekehrte Menschen, denen es mit dem Christentum durchaus irgendwie ernst sei. Der Chef wisse auch Bescheid; vor Jahren habe er bereits verkündet, nicht ewig in der Politik bleiben zu wollen, da „die Politik ein Intrigantenstadl sei, die den Charakter verderbe“ – so hat er das wortwörtlich gesagt –; aber er sei schon zu tief im Malstrom, habe zu tief in den Abgrund geblickt und jetzt blicke nur mehr der Abgrund zu ihm zurück. Der Chef habe herausgefunden, dass nicht das Streben nach Macht sein eigentliches Motiv sei, sondern der Missbrauch von Macht und das boshafte Übertreten von zwischenmenschlichen Anstandsregeln; eine Art Sonnenkönig wolle er sein, mit einer absoluten Mehrheit, aber er wisse, dass er kein Sonnenkönig sein kann, da er zu finster ist und er kein Vereiniger der Gesellschaft sondern ein Spalter der Gesellschaft sei. Der Scharfmacher vom ehemaligen Koalitionspartner schäme sich außerdem auch für seinen Verrat an der Philosophie. Er habe aber während seines Studiums herausgefunden, dass sein ganzes Wesen auf den Verrat an der Philosophie ausgerichtet sei – weswegen er sich vielleicht ursprünglich unbewusst zu ihr hinzugezogen gefühlt habe – und dann das Studium abgebrochen, und sei moralisch überhaupt ganz verstummt, so dass er nicht mehr bei mir anrufen könne; trotz seines lautstarken Rabaukentums lebe er in stiller innerer Verzweiflung etc. – Ich frage mich, wer dieser geheimnisvolle Anrufer wohl ———–

14.11.2020