Der Metaphysische Nebenraum

„Wir wissen nicht, was der Endzweck der Dinge ist, was die Wechselfälle des Lebens für einen Sinn und für ein Ziel haben sollen, warum die Guten so oft erniedrigt werden und die Schlechten so oft triumphieren. Ja, wir wissen nicht einmal, wieso die Guten so oft triumphieren und die Schlechten so oft erniedrigt werden! So geht es uns, die wir uns vor der Strahlenmauer befinden. Da ist der Raum, in dem wir uns bewegen, in dem die Gesetze der Physik gelten, als ein bräunlicher Nebel legen sich die über alles und hüllen alles ein und verwirren alles. Hinter der Strahlenmauer ist das Reich der Metaphysik. Der metaphysische Nebenraum. Ich frage mich, wie es in dem wohl aussieht. Welche Bewegungen dort mit den sichtbaren Bewegungen und Ereignissen im physikalischen Hauptraum, also dem unserem, korrespondieren. Ich denke mir für einen Moment, ein ganzer Haufen Zwerge – oder so etwas Ähnliches – schuftet dort, mit einem angestrengt gesenktem Haupt und einem angestrengt gesenktem Blick. So auf die Art, lass uns in Ruhe, sprich uns am besten nicht an; wir müssen hier unserer Arbeit nachgehen; wir wissen nicht, wozu wir diese Arbeit machen und was das Ziel unserer Tätigkeit ist, nichts wissen wir; wir wissen auch nicht, ob wir gezwungen sind, unserer Arbeit nachzugehen oder ob wir sie freiwillig machen; vielleicht ist die Antwort auf diese Frage, ob wir unsere Arbeit freiwillig machen oder auch nicht, nicht einmal unterwegs verlorengegangen, im Dickicht der auf der Strecke gebliebenen Antworten auf Fragen, wahrscheinlich existiert diese Frage gar nicht und so auch nicht die Antwort. Wir führen hier Bewegungen aus, die dann die physikalischen und auch die mentalen Bewegungen und Prozesse in eurer Welt sind, darüber hinaus wissen wir nichts. So kann ich mir das vorstellen. Hätte damit dann aber den Verdacht, dass es sich bei dem metaphysischen Nebenraum auch nur um einen Schauplatz handelt, der vom Absoluten abgetrennt ist, so wie der unsere; um ein bloßes Duplikat unseres physikalischen Hauptraumes. Ich nehme jetzt an, ein Zirkel spreizt sich und spannt mit dieser Bewegung die zahllosen Räume auf, die Dimensionen. Im Kreismittelpunkt des Zirkels findet sich die Ewigkeit, die echte, ewige Überschau über die Prozesse. Von dort aus kann es beobachtet werden, wie sich die Ereignisse über das Medium der Zeit verteilen, sich die Dinge formen und verändern, dabei über Ursache und Wirkung miteinander verknüpft sind, wobei gleichzeitig unsere beschränkten kognitiven Fähigkeiten immer weniger in der Lage sind, diese Verknüpfungen zu erkennen, je weitläufiger und somit interessanter sie sind, dabei also das ausmachen, was man unsere Schicksale nennt. Das ist das Reich der Übersicht und der Freiheit. Das mit Gott gleichzusetzen ist. Von dem ich nicht weiß, ob es, ob er existiert. Das mit dem Spalt allerdings weiß ich. Vor uns fällt der Raum ab, in einen Spalt, einen Abgrund hinein. Wenn wir das jetzt einmal aus einem Winkel von neunzig Grad betrachten, sehen wir da also in unserem kognitiven Gesichtsfeld beziehungsweise unserer Wahrnehmung eine abfallende Raumfläche, die einen Spalt bildet, auf der anderen Seite, der Seite des Wahrgenommenen, eine Fläche. Die ist dann der Schleier, hinter dem das Objekt der Wahrnehmung liegt. Man weiß nicht, ob sich irgendwo ganz unten, in den Tiefen, der eine Raum, der abfallende des Subjekts, mit dem anderen Raum, den senkrecht aufschießenden des Objekts vereinigt; wahrscheinlich aber nicht. Der Spalt wird zwar immer enger, doch er bleibt vorhanden, ist strukturell. Es ist der Spalt, der unsere Wahrnehmung von den Objekten der Wahrnehmung beziehungsweise von der Möglichkeit der vollkommen transparenten Selbstwahrnehmung trennt. Der Spalt ist das, was man als Willensfreiheit bezeichnen kann, als die Freiheit der Wahrnehmung, der Spalt ist das Verhältnis, über das sich der Mensch nicht als vollkommen identisch mit sich selbst begreift. Über das die von ihm geschaffenen Institutionen nicht vollkommen identisch sind mit sich selbst. Über das die gesamte von ihm geschaffene Kultur nicht vollkommen identisch mit sich selbst ist. Die allein deswegen geschaffen wurde, weil der Mensch und seine Wahrnehmung und seine Möglichkeiten niemals vollkommen identisch sind mit sich selbst. Also aufgrund des Spalts. Searle weist nach, dass ohne den Spalt, ohne die (Illusion der) Willensfreiheit, ohne die Nicht-Identität des Menschen mit sich selbst, gar keine Kultur und keine Institutionen nötig wären, da wir in jedem Augenblick von selbst wüssten, was wir zu tun hätten. Aufgrund der Möglichkeit zum seltsamen und unproduktiven Denken erwächst also das alles. Der Spalt markiert also das Territorium des seltsamen und unproduktiven Denkens. Ich finde es gut, wie das alles zusammenhängt. Es lebe der Spalt!“

(Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken ‪#‎dermetaphysischenebenraum‬)

 metaphysischernebenraum

„Samuel Beckett cat4

Ich habe hier bereits mehrmals das in mir herumlodernde Interesse bekundet, Literatur zu machen, die so aussieht, als könnte sie von einem anderen Planeten kommen (sehr fremdartig und doch sehr vertraut, da sie tiefer oder zumindest anderswo im Universum angesiedelt ist und von dort aus einen Blickwinkel auf das Sein errichtet), sowie, Literatur zu verfassen, die aus dem „Metaphysischen Nebenraum“ kommen könnte (mit dem Metaphysischen Nebenraum war ein Ort gemeint, in dem die Bewegungen, die wir hier in der Welt, durch den Schleier der Maya wahrnehmen, rein und unverfälscht, skelettartig, stattfinden, als Bewegungen „an sich“). Im Moment weiß ich nicht mehr so ganz, was ich davon halten soll, die Sache ist ja eh in etwa in dem Sinn erledigt, vielleicht überlege ich mir bald was Neues; allerdings verbinde ich die Realisierung einer solchen Art von Literatur unweigerlich mit der von Beckett. Beckett war mir der wichtigste Hirte für all das, was ich nach „Yorick“ in Angriff genommen habe. Ich habe immer gefunden, bei Beckett, wie auch bei Kafka, hat man Literatur, die von einem anderen Planeten kommen könnte, und die gleichsam im Metaphysischen Nebenraum stattfindet, an einem anderen Ort, an dem die konkreten Bewegungen in der Welt abstrakt stattfinden. Sam, das Weltauge, das auf die Existenz blickt und der Mund von Nicht-Ich, der seufzt. Die Sprache hat bei ihm das höchste Niveau. Runter durch die Wortfläche, sage ich mir immer, sich vertiefen, damit man eine Etage tiefer fällt, eine Wortfläche und eine Sinnschicht tiefer, bis man schließlich an der letzten Stufe anlangt vor dem lodernden Feuerkern, oder aber dem Urschlamm der reinen Existenz, die dann nicht mehr ausgesagt werden können.cat6

Die Geschichten, die Hamm im „Endspiel“ zu erzählen trachtet, oder „Ein Stück Monolog“ sind solche letzten Texte, die als Signifikanten als Signifikat nur mehr den Urschlamm haben, „Der Namenlose“ wiederum die letzte Stufe in eine höhere Welt; „Wie es ist“ taucht dann wieder aus dem Urschlamm auf. Alle seine Werke seien ein Versuch gewesen, das Dasein darzustellen, hat Beckett einmal gemeint, wobei sein Eindruck war, „nur an der Oberfläche gekratzt zu haben“, „Wie es ist“ hat er als seinen wohl gelungensten Versuch angesehen. Was mich ganz unabhängig von dieser Offenbarung, die ja nicht überraschend kommt, seitdem ich es mit der Literatur probiere, brennend interessiert, ist ja genau dasselbe, eben Formen zu finden, das Dasein darzustellen, und dabei neue Bezirke zu erforschen, neue Formen aufzuwerfen aus dem Urschlamm, einfach so, weil ich davon besessen bin, Probleme zu lösen, die ansonsten kaum wen in dieser Intensität interessieren. – Man kann über Beckett nicht schließen, ohne etwas über seinen Charakter gesagt zu haben“ (etc.)