„Gesteht´s! Die Dichter der Orients sind größer als die des Okzidents“, forderte Goethe einst ein. Und meinte damit die drei persischen Großen Hafis, Rumi und Omar Chajjam.
Wie so einiges, was der deutsche Dichterfürst Goethe veröffentlicht hat, war seine letzte und umfangreichste Gedichtsammlung, der „West-östliche Divan“ (in seiner endgültigen Fassung erschienen 1827), kein Bestseller: Über Jahrzehnte hinweg kam sie über ihre erste Auflage nicht hinaus, auch heute erscheint sie selbst für eingeweihte Leser voluminös und nicht leicht zugänglich. Dennoch ist es jenes Werk, welches innerhalb des stets sich wandelnden Zeitgeistes seinen „östlichen“ Elementen ein sicheres Fundament im Westen zu verschaffen wusste: den drei großen persischen Dichtern Omar Chajjam, Dschalaludin Rumi und vor allem Hafis, denen Goethe in diesem Werk seine jauchzende Referenz erweist. Was Goethe wiederum bis heute einen Ehrenplatz als Dichter und vor allem als „Kulturvermittler“ in der persischen Bevölkerung eingetragen hat.
Umgekehrt tun es sich die drei Perser im Westen schwerer: Ihre Namen sind den Gebildeten, wenn überhaupt, dann hauptsächlich vom Hörensagen bekannt, ihre Werke werden zu wenig gelesen, falls Teile aus dem jeweils umfangreichen Gesamtcorpus aktuell überhaupt aufgelegt werden, dann vorrangig über Spezialverlage. Seit ihrer Entdeckung durch westliche Übersetzer zu Goethes Zeiten kämpfen sie sich durch Konjunkturen, in denen das Interesse an ihnen mal stärker ist, mal schwächer, und möglicherweise wären sie ohne den Einsatz Goethes mehr oder weniger gänzlich bei uns in Vergessenheit geraten. Dabei muss jedem, der in ihre Poesie eintaucht, ins Auge springen, dass es sich bei diesen vor vielen Jahrhunderten, zur Zeit der Hochblüte der islamisch-arabischen Kultur verfassten Werken, abgesehen von der Kraft, Schönheit und formalen Stringenz, durch die sie sich auszeichnen, um hochgradig „modernes“ Gedankengut – und sogar auch um „moderne“ Poesie handelt. Was allerdings zu eng bemessen ist: In Wahrheit handelt es sich um Ewigkeitswerte par exellence.
Tatsächlich lassen sich die drei Dichter wie eine Dreifaltigkeit begreifen: Ihre Themen sind dieselben, der Raum, den sie schaffen und in dem sie sich bewegen, ein einheitlicher, allein auf der Ebene der formalen Mittel findet sich von Omar Chajjam ausgehend über Rumi bis hin zu Hafis eine fortlaufende Entwicklung und vor allem Intensivierung. Gleichzeitig erscheint wie kaum in der Literaturgeschichte einer von ihnen wie eine Reinkarnation des anderen, sodass man glaubt, es gleichsam mit einer einzigen Geist-Persönlichkeit zu tun zu haben, die zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert nach unserem Kalender herumwandert: der des tanzenden Derwisches, eines Anhängers des Sufi-Ordens, der über eine ekstatische, mystische Schau zu einer Einheit des Denkens, des Gefühls, der Wahrnehmung und des Lebens, schlechthin also des Seins insgesamt zu gelangen versucht. Denn wenn man die Vielzahl der Thematiken der Poesie dieser drei Dichter und die Gegensätzlichkeiten innerhalb der Weltanschauung und Philosophie, die in ihr enthalten ist, auf einen einheitlichen Nenner herunterbrechen müsste, so ist es das, wohin man letztlich gelangt.
Omar Chajjam (1048-1131) stammte aus einfachen Verhältnissen und entwickelte sich dabei zu einem der bedeutendsten Gelehrten und Wissenschaftler seiner Zeit. Als Mathematiker fand er eine Lösung kubischer Gleichung über geometrische Methoden, mit der er Descartes vorgriff, und verfasste ein Lehrbuch über Algebra, das lange Zeit gültig war. Als Astronom schuf er einen Kalender, dessen Berechnungsmethode noch heute herangezogen wird. Obwohl kein Arzt, wurde er bei besonders schwierigen Fällen, wo die damalige ärztliche Kunst nicht mehr weiterwusste, herangezogen. Anfeindungen und Denunziationen blieben ihm deshalb selbstredend nicht erspart, doch ebenso reichhaltig wie sein Wissen war seine Persönlichkeit.
Im Alter verfasste er eine Sammlung von Rubijat – vierzeiligen Gedichten – die in ihrer scheinbaren inneren Gegensätzlichkeit kaum zu überbieten ist. Was seinen einfachen Grund darin hat, dass es in ihnen um das Rätsel des Daseins in allen seinen Manifestationen schlechthin geht: das Machen von Plänen und ihre Durchkreuzung durch das Schicksal; die Suche nach Wahrheit, die, konsequent verfolgt, letztendlich unauffindbar ist und daher nur in umfassendem Skeptizismus und in einer Bekenntnis zur Unwissenheit münden kann; der unmittelbare Drang zur Selbstvervollkommnung und deren Hinfälligkeit durch den Tod; die Ehrfurcht vor den Seinsmächten und dem Fatum, kurz: dem Himmelsrad, gepaart mit der Einsicht, dass dieses noch „tausendmal hilfloser“ sei als der Mensch. Angesichts so viel, wie man meinen könnte, desillusioniertem Materialismus jedoch eine tiefe Einsicht in die göttliche Durchwirktheit der Natur – denn Sufi und allgemein ein Mensch, der die höchste Daseinsstufe und Seinsqualität erreicht hat, ist einer, für den Tod und Leben, Leid und Freude, gleich geworden sind, und in der Göttlichkeit aller Qualitäten aufgehen.
Ungeniert transformiert Omar Chajjam den Rahmen seiner dunklen, metaphysischen Grübeleien, die seine Dichtungen zumeist sind, dadurch, indem er stets bekräftigt, dass es eben gerade angesichts der Unlösbarkeit der letzten Probleme des Daseins nichts Besseres gäbe als „den Weinrausch“, beziehungsweise den geistigen wie sinnlichen Genuss des Moments. Etliche Rezensenten haben sich immer wieder darum bemüht, zurechtzurücken, dass die Hochschätzung des Weinrausches, die die Dichtungen von Chajjam wie Rumi und Hafis gleichermaßen durchzieht, Symbol sei für das freie Denken und die mystische Vereinigung mit Gott. Das ist sie natürlich – angesichts der schelmischen Lebensfreude, mit der sie bekräftigt wird, sieht man aber unmittelbar, dass solche Versuche, die Trinklieder dieser drei vollständig zu „vergeistigen“, auf verlorenem Posten stattfinden: Natürlich sind sie bei aller Symbolik auch genauso gemeint, wie es ausgedrückt und gesagt wird.
Dschalaludin Rumi (1207-1273) huldigt in seinen von der Form her meist komplexeren Gedichten nicht allein des Weines und der Sinnesfreuden, sondern auch des mystischen Freundes. Die Begegnungen, Freundschaften und (platonischen?) Liebschaften zu mehreren Sufi-Meistern und der Schmerz über ihren Verlust durch Tod waren die eigentliche Inspirationsgrundlage für den Gelehrten Rumi für seine Dichtung. Anders als bei dem eher düsteren Chajjam steht die Dichtung Rumis ganz im Zeichen der umfassenden Liebe, freilich ebenso auf dem Grund der unlösbaren Welträtsel, die aber durch die von der Liebe geleiteten mystischen Schau in die Persönlichkeit des Suchenden aufgenommen und verinnerlicht werden. Die Liebe zum Freund ist gleichzeitig die Liebe zu Gott beziehungsweise zur Fülle des Daseins, und transzendiert deren Widersprüche. Die Sprache wird bei Rumi vieldeutiger, ausdrucksstärker und symbolhafter – wie eben die Welt selbst. Sein umfangreiches Werk soll Rumi der Legende nach als fröhlicher Poet bei allen möglichen Gelegenheiten geschaffen haben, im Weinhaus sitzend oder durch die Straßen ziehend. Seine Anhänger schrieben es dabei für ihn auf. Durch Neuübersetzungen haben es die Dichtungen und die Lebensphilosophie Rumis gegenwärtig in den USA zu einer hohen Popularität gebracht, 2007 wurde Rumi sogar über BBC als „populärster Poet Amerikas“ bezeichnet.
Über das Leben des größten persischen Dichters, Hafis (um 1320-1379), ist wenig bekannt. Als Dichter und Freigeist damals wie heute hochgeachtet, stand er, wie auch seine Vorgänger, in wechselseitiger Opposition zu den orthodoxen und lebensfeindlichen Theologen und Theokraten seiner und aller folgenden Zeiten (freilich aber hat Ayatollah Khomeini höchstselbst ein Traktat verfasst, in dem er die anzüglicheren und freigeistigeren Elemente in Hafis` Dichtung als „vereinbar mit dem rechten Glauben“ interpretiert – Hafis ist im Iran so hoch geachtet, dass dort angeblich kein Regime der Welt ihn verbieten könnte, ohne eine Revolution heraufzubeschwören). Den grausamen Welteroberer Tamerlan, der ihn persönlich aufsuchte, um Steuern von ihm einzufordern, soll er wiederum durch seine Persönlichkeit und seine Schlagfertigkeit so beeindruckt haben, dass ihm dieser nicht nur die Steuern erließ, sondern ihn mit allen möglichen Ehrengaben überhäufte.
Die Dichtung von Hafis unterscheidet sich thematisch nicht von der Chajjams und Rumis, die Haltung, die er einnimmt, beziehungsweise das Persönlichkeitsmerkmal, das bei ihm die Führung einnimmt, ist das des souveränen, gelassenen Subjekts. Hafis Gedichte sind so wortgeladen und bedeutungsmächtig, dass sie beinahe alle andere Poesie beschämen, ja, tatsächlich nichts ihnen auf Erden gleicht. Die Sprache ist dicht und kompakt und frei von allem Überflüssigen, Symboliken und Sinnschichten werden übereinandergelagert, wenn dabei der innere Sinnzusammenhang eines Gedichtes auf der Strecke bleibt, so im Dienste der höheren philosophischen und poetischen Wahrheit. Shakespeare im Drama, Cervantes oder Gogol in der Romankunst scheinen zumindest potenziell übertreffbar, bei Hafis schafft man es hingegen nicht, sich das vorzustellen. Was man bei ihm hat, ist also tatsächlich die Sprache des Absoluten.
Absolut ist die Sprache wohl auch deshalb, weil Sprache ein Abbild des Denkens ist. Und tatsächlich ist der Dreiheit Hafis, Rumi und Chajjam das gelungen, wofür ansonsten alle Philosophie und Religion, alle Weisen und Wahrheitssucher, Poeten und Literaten bis hin zu den ultimativen Grenzgängern wie Nietzsche, Sokrates oder den Zen-Meistern keine Lösung gefunden haben: das scheinbare Chaos und die scheinbaren Aporien des Daseins in sich widerspruchsfrei in einer absoluten Einheit des Denkens zusammenzufassen und auszudrücken. Daher sind sie so groß. Der Rest bleibt tatsächlich Versuch – löblich oder auch nicht -, Gestammel oder Schweigen.
Einen guten Überblick über die Dichtungen Omar Chajjams, Rumis und Hafis´ bietet der Sammelband „Die schönsten Gediche aus dem klassischen Persien“, übertragen von Cyrus Atabay, erschienen bei C.H. Beck, 3. Aufl. 2009
Artikel erschienen in der Wiener Zeitung am 15. Februar 2013. Die Wiener Zeitung war die gescheiteste österreichische Zeitung, die älteste Tageszeitung der Welt und wurde heute von der Regierung eingestellt.