„Damit ein Kunstwerk wirklich unsterblich ist, muss es vollständig aus den Grenzen des Menschlichen heraustreten: Gesunder Menschenverstand und Logik werden ihm fehlen. – So rückt es in die Nähe des Traums und auch des kindlichen Gemüts.“
„Was im Mittelalter die Künstler auf einen Irrweg führte, als sie die gotische Kunst erfanden, war die Naturbetrachtung; dasselbe Phänomen lässt sich bei allen modernen Künstlern beobachten: bei Dichtern, Malern und Musikern. Ein wirklich in die Tiefe gehendes Werk wird vom Künstler aus den entlegensten Tiefen seines Seins geschöpft; dort plätschert kein Bächlein, singt kein Vogel, raschelt kein Laub; Gotik und Romantik verschwinden; und an ihrem Platz erscheinen die Dimensionen, die Geraden, die Formen der Ewigkeit und des Unendlichen. Dieses Gefühl der Offenbarung lenkte die Baumeister Griechenlands; dasselbe Gefühl schuf die römische Architektur; deshalb glaube ich, dass die griechischen und die römischen Bauten und alle, die, wenn auch leicht abgewandelt, nach deren Prinzipien errichtet wurden, die größte Tiefe in der Kunst erreicht haben.“
„Vor allem ist ein großes Feingefühl nötig. Sich alles auf der Welt als Rätsel vorstellen, nicht nur die großen Fragen, die man sich immer wieder gestellt hat – warum die Welt erschaffen wurde, warum wir geboren werden, leben und sterben -, denn vielleicht liegt in all dem, wie ich schon gesagt habe, kein Sinn. Aber das Rätsel mancher Dinge verstehen, die im Allgemeinen als belanglos betrachtet werden. Das Geheimnis mancher Phänomene im Bereich der Gefühle, der Merkmale eines Volkes spüren, so weit kommen, dass man sich sogar die schöpferischen Genies als Dinge vorstellt, als äußerst merkwürdige Dinge, die wir nach allen Seiten drehen und wenden. Auf der Welt leben wie in einem unermesslichen Museum voller Seltsamkeiten, voller wunderlicher, bunt gescheckter Spielsachen, die immer wieder anders aussehen, die wir manchmal kaputt machen, um zu sehen, was drinnen ist, und enttäuscht merken, dass sie leer sind. – Die unsichtbaren Bande, die ein Volk mit seinen Schöpfungen vereinen. – Zum Beispiel, warum die Häuser in Frankreich auf ihre bestimmte Weise gebaut sind und nicht anders; man kann noch so viel Geschichte zitieren; die Gründe nennen, die zu dem oder zu jenem beigetragen haben, man beschreibt, doch erklärt man nichts, aus dem ewigen Grund, dass es nichts zu erklären gibt und das Rätsel doch immer bleibt.“
„In erster Linie ist es nötig, die Kunst von allem freizumachen, was sie bis jetzt an Bekanntem enthält, jedes Sujet, jede Idee, jeder Gedanke, jedes Symbol muss beiseitegeschoben werden … Den Mut haben, auf alles andere zu verzichten. So wird der Künstler der Zukunft sein; einer, der jeden Tag auf etwas verzichtet; dessen Persönlichkeit jeden Tag reiner und unschuldiger wird … So muss die Malerei der Zukunft sein. Dass mehrere Menschen auf dieser Welt so malen können, ist unmöglich … Doch hier muss ich etwas erklären. Ich habe gesagt, dass es nicht viele solcher Menschen geben wird. Aber ich glaube, dass es trotzdem mehr sein könnten, als sie es jetzt sind. Denn es gibt solche, ich habe schon einige kennengelernt, sie sind mit einer großen Sensibilität begabt, können unbekannte Dinge empfinden, ihnen macht der Anblick eines Menschen oder eines Dings nicht den Eindruck, den er im Allgemeinen macht … Eine solche Empfindung kann uns wohl manchmal gefallen, aber lässt uns nie den eisigen Schauder, die solitäre und tiefe Freude der Offenbarung, der als solche begriffenen seltsamen, sinnlosen Komposition spüren: eine Welt, die niemand kennt, und dessen einzige Bewohner vielleicht wir sind…“
„Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass jedes Ding zwei Aspekte hat: einen geläufigen, den wir fast immer sehen und den die Menschen im Allgemeinen sehen, und einen anderen, den geisterhaften oder metaphysischen, den nur seltene Individuen in Momenten der Hellsichtigkeit und der metaphysischen Abstraktion sehen können, so wie gewisse Körper, die, von einer undurchdringlichen Materie zugedeckt, im Sonnenlicht nicht sichtbar sind und nur mithilfe künstlicher Lichtstrahlen wie etwa der Röntgenstrahlen erscheinen.“
„Das Wort „metaphysisch“ führt zu einem Haufen von Missverständnissen, besonders in jenen Köpfen, die an Verstopfung leiden und die, denen die gesunde Anstrengung des Schaffens fremd ist, von Plagiaten und Allgemeinplätzen leben und ihre chronische Galle jedes Mal ausspucken, wenn ihnen was unterkommt, das den Kreis ihrer intellektuellen Fähigkeiten sprengt … Doch sehe ich selbst in dem Wort „metaphysisch“ gar nichts Düsteres; es ist die Ruhe und die sinnlose Schönheit der Materie, die mir „metaphysisch“ erscheint, und umso metaphysischer erscheinen mir die Gegenstände, die durch die Klarheit ihrer Farben und die Genauigkeit ihrer Maße jeder Wirrnis und Verworrenheit genau entgegengesetzt sind … Die geisterhafte Evokation der Gegenstände, die von der universalen Blödheit als belangloses Zeug abgetan wird.“
„Der dumme, das heißt der unmetaphysische Mensch fühlt sich instinktiv von der Masse, der Höhe, von einer Art wagnerianischer Architektur angezogen. Ein Zeichen von Naivität, es handelt sich um Leute, die keine Ahnung davon haben, wie schrecklich Linien und Winkel sein können; sie werden vom Unendlichen angezogen, und genau darin kommt ihre beschränkte Psyche zum Vorschein, die in demselben engen Kreis eingeschlossen ist wie die weibliche und die kindliche. Wir aber, die wir die Zeichen des metaphysischen Alphabets kennen, wissen, wie viele Freuden und wie viele Schmerzen in einer Arkadenreihe, einer Straßenecke oder auch in einem Zimmer, in einer Tischplatte, zwischen den Seitenwänden einer Schachtel stecken.“
„Gewöhnlich suchen die Leute, wenn sie mit Kindern ins Theater gehen, Vorstellungen ohne intellektuellen Anspruch aus, die den Bedürfnissen der Kinder entgegenkommen; diese Bedürfnisse sind, was das Theater betrifft, natürlich und spontan und werden nicht durch Moden oder Snobismus suggeriert. Die Kinder lassen sich von diesen zwei Faktoren nicht hinters Licht führen, die leider eine gewisse Kategorie von Erwachsenen beeinflussen… (Die Angst, nicht über die neuesten Suchten des Snobismus auf dem Laufenden zu sein, die Angst, nicht intelligent genug zu sein oder sogar dumm dazustehen, diese entsetzliche Angst bringt heute den Geschmack und die Bedürfnisse vieler Menschen zum Schweigen, sodass sie gefügig alle Blödheiten akzeptieren, die ihnen der Snobismus aufdrängen will.)“
„Auf der Bühne sah man alte Propheten, die eine Reihe von Sprüngen machten, und ihre Anstrengungen wurden von Tangomusik begleitet. Wir geben zu, die Wirkung war zumindest komisch. Was mich aber an dem Abend am meisten beeindruckte, war das Publikum, das gleichgültig dieser Beleidigung des gesunden Menschenverstandes beiwohnte. „Wenn wir so weitermachen“, dachte ich, „werden wir auch noch das bisschen Logik verlieren, das wir uns durch jahrtausendelange Mühen haben aneignen können, das befürchte ich. Wir werden unseren gesunden Menschenverstand und unsere Logik verlieren, und diesmal gibt es im Ernst kein Zurück.“ Dann dachte ich traurig darüber nach, dass wir wieder von vorne würden anfangen müssen.“
„Trotzdem ist es vergeblich, nach der Art einiger Phantasten und gewisser Utopisten zu glauben, sie könne die Menschheit erlösen oder regenerieren; sie könne der Menschheit einen neuen „Sinn“ für ihr Leben, eine neue „Religion“ geben. Die Menschheit ist und bleibt das, was sie immer gewesen ist. Sie nimmt diese Kunst an und wieder sie immer mehr annehmen; der Tag wird kommen, an dem sie sich diese Kunst im Museum ansehen und studieren wird; eines Tages wird sie unbefangen und natürlich über diese Kunst sprechen … Was das Verständnis betrifft, das beunruhigt und heute, aber morgen nicht mehr. Verstanden oder nicht verstanden zu werden ist ein heutiges Problem. Eines Tages wird für die Menschen auch von unseren Werken der Aspekt des Wahnsinns weichen, das heißt jenes Wahnsinns, den sie sehen; der große Wahnsinn nämlich, der nicht allen erscheint, wird aber immer bleiben und weiterhin hinter dem unerbittlichen Wandschirm der Materie seine Gesten machen und seine Zeichen geben.“
„Trotzdem ist es etwas Schönes und auch Erholsames, in der weiten Domäne der materiellen Vervollkommnungen immer zu suchen, ohne Unterlass zu suchen. Die Suche ist körperlich anstrengend, aber die Art Anstrengung bringt unserem Geist die Entspannung, die der Künstler so notwendig braucht wie Nahrung und Schlaf. Ohne diese Entspannungen können wir gleich unsere Pinsel zerbrechen und uns der reinen Meditation, der kosmischen Träumerei hingeben, was der erlesenste Rausch ist, aber auch der gefährlichste.“
„Das Genie kann nur von einem Genie erklärt werden – eine Wahrheit, die auf Baudelaire, den Opiumsüchtigen, zurückgeht.“
(Giorgio de Chirico: Das Geheimnis der Arkade. Erinnerungen und Reflexionen. Bonn, 2011)