Für Benedetto Groce
Es lässt sich nicht leugnen, dass tief fühlende Herzen und Menschen von großem Verstande durch einfache Begebenheiten am meisten gerührt werden.
Alexandre Dumas

Da liege ich nun, zusammengekrümmt, in einer Embryonalstellung, mit beinahe geschlossenen Augen und schmerverzerrtem Gesicht, in der unheilswolkenschwangeren Einöde, dem Jammertal, Schlangen und Blindscheichen und Frösche und kleines Getier zischt ein wenig um mich, in Misanthropie und Verzweiflung über die Schöpfung gebannt, kann und will mich kaum mehr rühren – jede Regung verheißt eine neue Enttäuschung, einen neuen Schmerz – da geht plötzlich eine Öffnung über mir auf, kommt ein Licht von oben; eine engelsgleiche Gestalt sinkt nieder über mich, mit mildem Gesicht, mariengleich die Arme ausgebreitet und bedeutet mir mit ihrer Aura: No te preocupes … todo está bien…. No te preocupes … todo está bien…. – Fernán Caballero (eigentl. Cecilia Francisca Josefa Böhl de Faber y Larrea, geb. 24. Dezember (!!) 1796 in Mortes (Schweiz), eingegangen in die Verwandlung 7. April 1877 in Sevilla)! Fernán Caballero, Mittlerin und Brückenbauerin zwischen Romantik und Realismus, ist primäre Exponentin des spanischen Sittenromans und wichtige Figur des Sittenromans im 19. Jahrhundert allgemein, in dem sie auch mitunter mit Walter Scott verglichen wird. Darüber hinaus gilt sie auch als wichtige Darstellerin Spaniens und seiner Gebräuche und Gepflogenheiten zur damaligen Zeit. Von sich selbst behauptet sie dabei lediglich: „Meine Absicht war durchaus nicht, Romane zu schreiben … ich suchte vielmehr eine wahre, genaue, echte Vorstellung von Spanien und seiner Gesellschaft zu vermitteln, das innere Leben unseres Volkes zu beschreiben, seine Ansichten, seine Gefühle, seinen Mutterwitz; ich wollte Dinge wieder zu Ansehen bringen, die das unkluge neunzehnte Jahrhundert mit verwegenen schweren Füßen niedergetreten hat, heilige und religiöse Dinge, die religiösen Bräuche und ihre hohe und zarte Bedeutung, die alten reinen spanischen Bräuche, Wesen und Art des nationalen Empfindens, die Bande der Gesellschaft und der Familie, mithin alles, was als Zügel zu bezeichnen ist namentlich für jene lächerlichen Leidenschaften, die man affektiert, ohne sie wahrhaft zu fühlen (denn die große Leidenschaft ist zum Glück selten), die bescheidenen Tugenden. Der Teil, den man als romanhaft bezeichnen könnte, dient lediglich als Rahmen für das ausgedehnte Bild, das zu zeichnen ich mir vorgesetzt habe.“ Ja, ihre Erzählungen streben nicht nach künstlerischem Olymp, sie wollen erbauliche Geschichten sein, die mit Beispielen des Guten und Bösen die Thesen, die ihr am Herzen liegen, beleuchten und zur Darstellung bringen; aus dem Dunkel und der Rätselhaftigkeit der Welt heraus plastische, exemplarische Formen schmieden, die da abbilden, dass das Leben und die Menschen gut sind und einfach und ohne rätselhafte Hintergründigkeit, wenn sie es nur wollen. Das ist das einfache Zentrum und das ist das Herz der Dinge: Ohne große Geistesfähigkeiten besaß die Gräfin das Talent des Herzens; sie fühlte richtig und zart. Ihr ganzer Ehrgeiz beschränkte sich darauf, sich ohne Übermaß zu zerstreuen und zu gefallen, wie der Vogel, der fliegt, ohne es zu wissen, und singt, ohne sich anzustrengen. Das ist eine exemplarische Skizzierung, wie einfach und geradlinig die Caballero den Menschen (wie er sein soll) auffasst und wie er, ihrer Ansicht nach, im Wesentlichen in der Welt anzutreffen ist: Ähnliches kommt nicht selten in Spanien vor, dank der unerschöpflichen Mildtätigkeit seiner Bewohner, die es im Verein mit ihrem edlen Charakter nicht zulässt, Schätze zu sammeln, sondern das, was sie haben, dem, der es bedarf, zu geben. Man frage nur die aus ihren Klöstern vertriebenen Mönche und Nonnen, die Handwerker, die Witwen der Militärs und die dienstlosen Beamten. Ei, scheint sie uns zuzurufen, ihr verachtet die plumpen spanischen Kirchen und sprecht von der Unwissenheit und Rohheit des spanischen Volkes – bemerkt ihr denn nicht die täglichen Beweise, die es von Uneigennützigkeit, Opfersinn, gutem Verstand und Urteil und edlem Stolz gibt, und wie das Früchte einer langen christlichen Erziehung sind? Ursprung und Ende allen Glücks auf Erden? Was wollt ihr mit euren aufrührerischen politischen Hasspredigten, mit denen ihr euch an die Armen richtet, im Sinne der Beförderung von „Fortschritt“ und „Humanität“, mit denen ihr die Menschen entzweit – wisst ihr denn nichts von der heiligen Freudigkeit, der Resignation im eigenen Zustand, der Harmonie, die ausfüllt, wenn nur jeder seinen Platz gut ausfüllt und in einem harmonischen Verhältnis zu ihm ruht wie die goldene Kugel? Er kümmerte sich weder um Politik noch um irgendetwas anders, außer seiner Kirche und seinem Hause. Die Welt war für ihn ein Chaos, das er nicht weiter begrenzte: er wusste bloß, dass der Engländer, der Franzose und Indien vorhanden seien. Wie gut wusste er, wenn das Essen gut oder der Wein schlecht war! Welche herrliche Ruhe fühlte er in seinem Bett! Wie angenehm war die Tätigkeit des Tages! Gott lieben und ihm dienen, den Nächsten lieben und ihm helfen, und „gelobt sei die Jungfrau“. Das war seine Devise. So entsteht große Ordnung und Herrlichkeit – das sagt schon Konfuzius. Die Philosophie und die Geistigkeit, die niemals weiß, was sie will, wonach sie überhaupt sucht – kann sie je jene Quelle kristallklaren Wassers aufwiegen, die fortwährend in jenen quillt, die vom Katechismus leben und zu sterben gelernt haben? Ha, traurige Philosophie, die du die Wimpern über deinen Büchern versengst und den Verstand mit deinen Haarspaltereien zerrüttest, nach dem Stein der Weisen suchend, dies ist die Wahrheit und das Glück, das du niemals findest! Was bist du im Vergleich zu dieser Geistesruhe, dieser Seelenreinheit, die nichts sucht und alles findet? Der wahre Schatz liegt in der einfachen Tugend, die unüberbietbar und unhintergehbar ist: Maria war vernichtet. Ihr Stolz, der kühn gegen jede Überlegenheit kämpfte, der dem Ansehen adliger Geburt, der Rivalität der Künstler, der Macht der Autorität und selbst den Vorzügen des Genies trotzte, beugte sich wie ein Rohr vor der Größe und der Erhabenheit der Tugend. Die höchste mentale Repräsentation der Tugend ist die Religion, und die hervorragendste von allen Religionen ist der Katholizismus. Fernán Caballero ist streng katholisch, und von der Struktur her finde ich den Katholizismus ja auch sehr gut: Die Hierarchie und die Tiefengestaffeltheit des Seins, die er andeutet; ein warmes, allerdings auch entrücktes Licht flackert da in der Finsternis, vor uns, tiefer im Sein; es verheißt und Wärme, es verheißt und die Möglichkeit von Behausung und Herd im winterlichen, einsamen Dunkel; gleichzeitig ist diese göttliche Instanz eine, die deutlich über uns steht, und uns letztendlich fremd und unnahbar entrückt ist, uns übergeordnet und wo das Glück darin liegt, dass wir gegen sie immer im Unrecht sind! Das ist wahre Frommheit und der große Geist und das große Herz sind katholisch und fromm. Wie ordinär und distanzlos dagegen der Protestantismus, dem das Pathos der Distanz (gegenüber dem hierarchischen Tiefsinn des Seins) fehlt, und der heillose Verwirrung in die Welt bringt, wie den Kapitalismus, der dann zu allem Überfluss auch noch den Kommunismus in die Welt bringt! Wie war die Caballero dagegen doch gesund skeptisch gegenüber ausländischer Neuerungssucht, Modernisierungswahn und Kosmopolitismus, ob dass ihr so vollendete Schilderungen und Skizzen gelingen wie diese: Diese neue Sprecherin war nicht lange erst von Madrid angekommen, wo ein bedeutender Prozess ihres Vaters Anwesenheit erheischt hatte. Sie kam vollständig modernisiert und so durchdrungen von dem, was man ausländischen guten Ton zu nennen pflegt, von dieser Reise zurück, dass sie unausstehlich lächerlich geworden war. Ihre fortwährende Beschäftigung war Lesen, aber sie las fast nur französische Romane. Mit der Mode trieb sie eine Art Kultus, war eine leidenschaftliche Musikfreundin und verachtete alles, was spanisch war. Ei, der Nationalismus ist unbesiegbar, denn die Nation, das Heimatliche, ist das Seelenhafte, das das Individuum nährt und trägt und ihm Schutz bietet, es aufnimmt und doch niemals, außer durch dessen eigenes Verschulden, aus seinem schützenden Schoß entlässt; daher solle man erst gar nicht versuchen, gegen den Nationalismus anzukämpfen, denn er reflektiert eben auf die Formen, in die wir Menschen geworfen sind, so bringt das Ankämpfen gegen ihn notgedrungenermaßen Unheil: Und die aufgeklärte Dame, genährt mit weinerlichen Romanen und Gedichten, heiratete den großen Gauner, der, wie wir später erfuhren, schon zweimal verheiratet war. Nach Verlauf einiger Monate und nach dem er alles Geld, das sie ihm zugebracht, vertan hatte, verließ er sie in Valencia, von wo der unglückliche Vater sie abholte und entehrt, weder verheiratet, noch Witwe, noch ledig, zurückbrachte. Da seht ihr lieben Kinder, wohin die törichte und falsche Ausländerei führt. Großes Mitgefühl hat sie mit dem Leid von Tieren, und sie lässt keine Gelegenheit außer Acht, um gegen Grausamkeiten gegen Tiere zu protestieren. Die Orte, die sie schildert, die Dörfer, die ländlichen Häuser, die Weinlauben, die Gässchen, die Kirchen, alles das schließt ihre Sehnsucht, ihre Zärtlichkeit gleichsam in die Arme – und, ach!, sind ihre Worte immer einfach und sprechen in so einfacher Weise das aus, was jeder um sich gewahr werden kann, nicht ohne immer wieder von einer elementaren Verwunderung, und von Schmerz und Reue ergriffen zu werden: Der spanische Nationalcharakter ist der Feind alles erkünstelten Wesens, er verlangt daher weder, noch erkennt er an, was man in anderen Ländern guten Ton nennt. In Spanien besteht der gute Ton in der Natürlichkeit, denn was hier natürlich ist, ist zugleich auch elegant. (In ihren späteren Werken nimmt nichtsdestotrotz das Gewicht der sittlichen Aussage und Demonstration ein wenig Überhand, und sie treten uns nicht mehr mit demselben primitivistischen Charme und jener Simplizität entgegen, aber das ist wohl bei der fortlaufenden ethischen Intensivierung unvermeidlich, denn auf dem Grunde des Bechers des katholischen Prinzips wartet der heilige Ernst.) Oh, Fernán Caballero! Nährende, tragende, bergende Mutter! Sancta simplicitas, die Einfalt der Sitten, die Reinheit und Selbstidentität und –genügsamkeit der Tugend! In meiner Embryonalstellung liege ich da, im Jammertal, außerhalb des Schoßes der Großen Mutter – das kommt davon, wenn man sich von ihr entfernt; wie dann der Intellektuelle lebenslänglich geneigt ist zu trauern, ob all der intellektuellen Differenzierungen, innerhalb derer er lebt, mithilfe er sich erweitert, ohne jemals glücklich zu sein! Denn das, was jenseits von Differenziertheit und Raffinesse liegt, ist die selbstgenügsame Einfachheit und die monolithische, monotheistische Solidität der harmonischen Sphäre, die die Caballero so anmutig, und darin scheinbar ohne irgendeine Anstrengung oder Vortäuschung in ihren Werken da werden lässt. Natürlich muss man, um all das völlig ernst nehmen zu können, auch ein wenig dumm sein. Diese Dummheit gilt es in sich aufzunehmen. Selig sind die Armen im Geiste. Dererlei spricht die engelhafte Figur über mir, haucht ihren göttlichen Odem über mich und kühlt mich: die heute beinahe vergessene Fernán Caballero! Wir sehen und im neuen Jerusalem!
(Anm.: Fernán Caballero habe ich in Poesie und Nichtpoesie von Benedetto Groce getroffen, dem ich dafür dankbar bin.)