Cogito und Satori (Descartes vs der Zen-Buddhismus)

Vor langer Zeit sagte Descartes: „Ich denke, also bin ich“. Das ist der Beginn der Philosophie. Aber was, wenn du nicht denkst? Das ist der Beginn der Zen-Übung.

Seung Sahn

… Im Osten haben die Menschen sehr, sehr fragmentarische Egos, und sie halten es für leicht, sich hinzugeben … Ein Fingerschnippen, und sie sind bereit, sich hinzugeben – aber ihre Hingabe geht nie sehr tief … Genau das Gegenteil ist im Westen der Fall. Die Leute, die aus dem Westen kommen, haben sehr starke und entwickelte Egos … Der bloße Gedanke an Hingabe wirkt abstoßend, erniedrigend auf sie. Aber das Paradox ist, dass wenn sich ein westlicher Mensch, Mann oder Frau, hingibt, die Hingabe wirklich tief geht …

Bhagwan

Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form, schreibt Karl Marx 1843 an Arnold Ruge, tief verstrickt in die Auseinandersetzung mit Hegel. Wenn wir aber davon ausgehen, dass auch die Vernunft sich im Lauf der Zeit verändern oder gar verbessern mag, so müsste auch die heutige Vernunft revidierbar sein. Wenn wir mit Hegel und Marx annehmen, dass sich die Vernunft dialektisch entwickelt, bedeutet das, dass sie sich fortwährend ausdifferenziert, also im Wesentlichen umfangreicher wird und gleichzeitig filigraner. Wenn wir mit Marx und Hegel annehmen, dass verschiedene historische Formationen und Epochen, oder aber Kulturräume, die von Geographie, Flora, Fauna, Klima, Nachbarschaftsverhältnissen, Produktionsverhältnissen und Wirtschaftsformen usw. – also einer materialistischen Basis – geprägt werden und die Menschen unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen ermöglichen, unterschiedliche Vernunfttypen ausprägen, so finden wir grundsätzlich verschiedene Pfade, die die Entwicklung der Vernunft in der Welt überhaupt nehmen kann. All diese verschiedenen Vernunfttypen können sich gegenseitig befruchten und sich aneinander erweitern, breitere Horizonte eröffnen. Und das ist es, was alle wollen. Dauernd werde ich angesprochen: Yorick, dein Geist ist allmächtig, und deine Vernunft herrscht über die vier Himmelsrichtungen. Wie ist, nach all den Jahren der Dürre, eine solche philosophische Haltung möglich, die beherrscht? Du sprichst vom „totalen Denken“ und vom „absoluten Geist in der absoluten Form“. Du behauptest, dein Geist bringe „östliches“ und „westliches“ Denken zusammen. Sag uns, wie mag das sein? Als der Buddha gebeten wurde, seine Lehre darzutun, hat er gemeint: Ich würde lieber die Wahrheit nicht erklären, sondern direkt ins Nirwana eingehen. Da der Buddha aber auch Bodhisattva ist, sprich einer, der Erleuchtung erlangt hat und ins Nirwana eingegangen ist, der aber trotzdem noch auf der Erde wandelt, um auch andere Menschen näher an die Erleuchtung zu führen und ihnen den Weg dorthin zu erläutern, hat er sich eben doch umfangreich dazu geäußert. So will auch ich versuchen zu erklären: Was ist das Denken, das über alle vier Himmelsrichtungen herrscht und in den Kosmos hinausreicht; und warum scheint es gleichsam das „westliche“ als auch das „östliche“ Denken zu einer höheren Einheit zusammenzuführen?

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Während als Begründer des Zen-Buddhismus eine mythische Figur namens Bodhidharma gilt, von der nicht vollständig klar ist, ob sie der Legende nach im 6. Jahrhundert n. Chr. überhaupt existiert hat, gilt als Begründer der modernen westlichen Philosophie Descartes, der in der frühen Neuzeit tatsächlich gelebt hat. Von ihm stammt der Ausspruch Cogito, ergo sumIch denke, also bin ich – von dem z.B. Lichtenberg meint, es sei der größte Gedanke, den je ein Mensch gehabt habe. Descartes war Mathematiker und Wissenschaftler, also ein um Exaktheit und Wahrheit ringender Mensch. Ich hatte eben stets eine außerordentlich große Begierde, das Wahre vom Falschen unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen, und in meinem Leben sicher zu gehen, berichtet er über sich in seiner essenziellen Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Vom Status her eine Art Kavalier, also ein gesellschaftlich weitgehend ungebundener Mann, war er auch Soldat und weitgereist: ein europäischer Kosmopolit. Da zu seiner Zeit noch keine vergleichbare Einheitskultur herrschte wie heute, konnte er erleben, wie teilweise bloß von Stadt zu Stadt sich Ansichten, Sitten, Gebräuche usw. radikal voneinander unterschieden und sich schroff voneinander abzugrenzen vermochten. Und überall schienen sie nicht weniger begründet und zumindest in sich konsistent als anderswo. Auch in seiner umfassenden Ausbildung in den Wissenschaften – die ebenfalls damals viel chaotischer waren als heute – glaubte er zu erleben, wie er sich darin nicht der Wahrheit und Klarheit annähere, sondern sich mehr und mehr von ihr entferne, je tiefer er darin eindringe. Ich bin von Kindheit an für die Wissenschaften erzogen worden, und da man mich glauben machte, dass durch sie eine klare und sichere Erkenntnis alles dessen, was dem Leben frommt, zu erreichen sei, so hatte ich eine außerordentlich große Begierde, sie mir anzueignen. Doch wie ich den ganzen Studiengang durchlaufen hatte, an dessen Ende man gewöhnlich in die Reihe der Gelehrten aufgenommen wird, änderte ich vollständig meine Ansicht. Denn ich befand mich in einem Gedränge so vieler Zweifel und Irrtümer, dass ich von meiner Lernbegierde keinen anderen Nutzen gehabt zu haben schien, als dass ich mehr und mehr meine Unwissenheit einsah (…) Aber ich hatte schon auf der Schule erfahren, dass man sich nichts zu Sonderbares und Unglaubliches ersinnen könnte, das nicht irgendein Philosoph behauptet hätte; dann hatte ich auf meinen Reisen wiederholt eingesehen, dass die Leute, die eine der unsrigen ganz entgegengesetzten Gesinnungsweise haben, darum nicht alle Barbaren oder Wilde sind; sondern dass viele ebenso sehr oder mehr noch als wir die Vernunft gebrauchen; ich hatte beachtet, wie ein und derselbe Mensch mit demselben Geist, von Kindheit an unter Franzosen oder Deutschen erzogen, ein ganz anderer wird, als er sein würde, wenn er stets unter Chinesen oder Kannibalen gelebt hätte… (ebenda) So stellte sich für ihn die Frage: Wie kann man ermitteln, welche dieser Ansichten denn nun tatsächlich wahr seien? Kann man dafür eine Methode angeben, ein Verfahren? Denn dass zumindest irgendwas wahr sein müsse, setzte Descartes voraus; er war kein Nihilist, sondern ein gleichzeitig vom Christentum als auch von den Wissenschaften und der Mathematik geprägter Mensch. Und ich werde euch hierin nicht allzu eitel erscheinen, wenn ihr bedenkt, dass es von jeder Sache nur eine Wahrheit gibt und dass, wer diese Wahrheit auch findet, von der Sache so viel weiß als man überhaupt wissen kann, wie zum Beispiel ein Kind, welches Arithmetik gelernt hat, wenn es regelrecht eine Addition macht, sicher sein kann, in betreff der gesuchten Summe alles gefunden zu haben, was der menschliche Geist nur finden kann; denn die Methode, welche uns die wahre Ordnung befolgen und alles, was in Frage kommt, genau aufzählen lässt, begreift zuletzt alles in sich, was den Regeln der Arithmetik Sicherheit gibt. (ebenda) Wenn diverse Instanzen die Wahrheit verkünden, diese Wahrheiten sich aber noch dazu voneinander unterscheiden oder sich widersprechen, sollte man zunächst einmal bezweifeln, ob ihre Postulate tatsächlich wahr sind oder wahr sein können. Das festzustellen ist über empirische Überprüfung möglich (oder, in weiterer Folge, auch über das wissenschaftliche Experiment), oder über logisches Schlussfolgern. Eventuell stehen beide Methoden nicht zur Verfügung, oder sie konfligieren miteinander: was dann? Descartes`große Innovation war es, das Zweifeln so weit zu treiben, bis dass man auf irgendeine Gewissheit mit absolut sicherer Grundlage stoßen musste. In seinen Gedankenexperimenten ist Descartes dabei sehr radikal. Er räumt zum Beispiel ein, dass alle Empirie eine Täuschung sein könnte (und wir ja auch in einem solipsistischen Traum oder, zeitgenössisch ausgedrückt, in einer Matrix oder einer Simulation leben könnten, oder aber in einer Welt, die von einem uns täuschenden und betrügenden Gott gelenkt wird), oder dass auch die Gesetze der Logik von Gott willkürlich geschaffen und geändert werden könnten; vor allem aber, dass man mit logischen Kniffen alles Mögliche beweisen könne, wenn man nur findig genug sei, und dass logische Wahrheiten abstrakte Wahrheiten seien, die deswegen noch nicht empirische Wahrheiten sein müssen; denn … obwohl die Logik wirklich sehr viele wahre und gute Vorschriften enthält, so sind doch so viele andere schädliche und überflüssige damit vermischt, dass es fast ebenso schwierig ist, jene davon abzusondern, wie eine Diana oder Minerva aus einem noch ganz formlosen Marmorblock hervorgehen zu lassen. (ebenda) Dermaßen grübelnd und nachdenkend, scheinbar hoffnungslos, kommt Descartes darauf, dass: zumindest nicht bezweifelt werden könne, dass er (nach)denke. Auch kein satanischer Täuschergott könne ihn darin täuschen. Alsbald aber machte ich die Beobachtung, dass, während ich so denken wollte, alles sei falsch, doch notwendigerweise ich, der das dachte, irgendetwas sein müsse, und da ich bemerke, dass diese Wahrheit „ich denke, also bin ich“ … so fest und sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, anschauen. (ebenda) Das ist dann sein Heureka! vom Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich. Weil er sich als denkend erlebe, müsse er auch existieren: und so viel ist gewiss. Descartes`revolutionäre Geste in der Philosophie war, dass er nicht bei bequemen Gewissheiten stehen geblieben ist, oder aber Gewissheiten postuliert hat, die inhaltlich nicht klar waren (Platon zum Beispiel nahm die „Ideen“ als Transzendentalien an, gab aber selber zu, nicht zu wissen, was diese Ideen denn eigentlich seien), sondern dass sein Ringen – nicht um Moral, Schönheit, „Wahrheit“ oder Geschlossenheit, sondern – um Gewissheit so intensiv war, dass er zu einer unumstößlichen Gewissheit tatsächlich vorgestoßen ist, und damit ein Ideal angegeben hat, wie man, mit den Mitteln der Vernunft, zu sicheren Grundlagen kommen kann, auf deren Basis man dann weitere Annahmen treffen kann, beziehungsweise, dass so etwas, mit den Mitteln der Vernunft, tatsächlich möglich sei. Zwar hat das Cogito, ergo sum im Lauf der Zeit einiges an Kritik und an „Dekonstruktion“ einstecken müssen, die aber insgesamt überspitzt erscheint und weniger plausibel als das, was sie kritisiert. Einigermaßen statuarisch steht das Cogito nach wie vor da und triumphiert, zumindest relativ zu seinen Rivalen. Als positive Methoden, wie man zu gesicherten bzw. absicherbaren Erkenntnissen kommen könne, gibt Descartes weiter die Deduktion und die Intuition an. Unter „Deduktion“ kann analytisches Denken und Beweisführung gesehen werden: das Zerlegen von Problemen in handhabbare Teilprobleme, die lösen und sich Klarheit und Gewissheit darüber verschaffen, soweit es möglich ist, und dann die nächste Schlussfolgerung wagen; falls auf diesem Weg keine Klarheit möglich sei, müsse das Problem unbeantwortet stehengelassen werden (Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen – auch davon abgesehen war Descartes mit seinem Gestus vom intensiven, ikonoklastischen Skeptizismus Wittgenstein an und für sich recht verwandt). Deduktion stellt fest, dass aus etwas Gegebenen etwas anderes notwendigerweise folgt. Descartes gab als Vorbild für die deduktive Methode die Beweisführung in der Geometrie an, die er nicht nur auf Fragen der Philosophie, sondern auf alle Wissenschaften übertragen wollte. Dann die Intuition: Unter Intuition verstehe ich nicht das schwankende Zeugnis der sinnlichen Wahrnehmung oder das trügerische Urteil der verkehrt verbindenden Einbildungskraft, sondern ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das, was wir erkennen, gar kein Zweifel zurückbleibt, oder, was dasselbe ist: eines reinen und aufmerksamen Geistes unbezweifelbares Begreifen, welches allein dem Lichte der Vernunft entspringt, und das, weil einfacher, deshalb zuverlässiger ist als selbst die Deduktion, die doch auch, wie oben angemerkt, vom Menschen nicht verkehrt gemacht werden kann. So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, dass er existiert, dass er denkt, dass ein Dreieck von nur drei Linien, dass die Kugel von einer einzigen Oberfläche begrenzt ist und Ähnliches, weit mehr als die meisten gewahr werden, weil sie es verschmähen, ihr Denken so leichten Sachen zuzuwenden. (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft 3.5) Von der revolutionären Erkenntnis Ich denke, also bin ich aus, scheint sich Descartes aber, so mühevoll endlich dorthin gelangt, dann aber bei dem, was er daraus folgert, auf Abwege zu begeben, und sein eigenes Ideal nach absoluter Gewissheit bzw. deduktiver Folgerichtigkeit zu hintergehen. Descartes postuliert bzw. deduziert dann, dass es einen Gott gehen müsse, dass dieser Gott vollkommen, daher allgütig, daher kein „Täuschergott“ sein könne (nichts folgt, genau genommen, aus dem Vorhergehenden); er postuliert/deduziert, dass Körper und Geist unterschiedliche „Substanzen“ seien und begründet daher einen Dualismus zwischen ihnen (auch wenn er sich in seiner letzten Schrift über Die Leidenschaften der Seele davon dann wieder zu entfernen scheint), Tiere sind für ihn vernunftlos und daher „Automaten“. Ein witziger Franzose hat zu all dem gemeint: Descartes hat zuerst alles bezweifelt, um dann alles zu glauben. Tatsächlich sind Descartes´vielfältige Behauptungen keine bloßen Glaubensartikel, sondern theorieimmanent (er muss zum Beispiel einen gütigen Gott, der uns wahre Erkenntnisse ermöglicht annehmen, denn sonst ist es tatsächlich nicht gewiss, dass wir nicht auch in einer Täuschung leben; um die Einheit des Cogito zu wahren, muss Denken für ihn zu einer (unteilbaren) Substanz werden u. dergl.). Allerdings sind sie zudem ersichtlich auch Glaubensartikel, und viel mehr noch ein Hinweis, dass auch die „Deduktion“ keine sichere Methode ist, sondern man alles Mögliche deduzieren kann, wenn man will, was das Deduzieren dann zum Spekulieren werden lässt (ohne es sich einzugestehen). So betrachtet, erscheinen auch viele logische Beweise – wie eben zum Beispiel die diversen (in der Regel auf Logik beruhenden) Gottesbeweise (die eben auch Descartes führen will) – als mit den Mitteln der Logik dann wieder angreifbar: so dass sie zu logischen Argumenten herabsinken, die einem subjektiv annehmbar erscheinen mögen, oder auch nicht, aber eben keine – tatsächliche Gewissheit verschaffende – Beweise mehr zu sein für sich in Anspruch nehmen können. Sowohl Descartes als auch Spinoza gehen davon aus – oder erhoffen sich als Ideal – dass sich die more geometrico, die Methode der Geometrie, auf die Philosophie (und die Wissenschaften im Allgemeinen) übertragen lässt. In der Geometrie und Mathematik werden quantitative Größen zueinander ins Verhältnis gesetzt, die für sich eindeutig bestimmbar und voneinander abgrenzbar sind. Daher lassen sich dann auch eindeutige Ergebnisse erzielen oder Beweise erstellen. Denken, Gott, Vernunft, Vollkommenheit, Seele usw., mit denen schon Descartes als Philosoph operiert, sind aber Qualitäten, und daher nicht eindeutig bestimmbar, und daher ist auch nichts eindeutig aus ihnen ableitbar. Nichtsdestotrotz lässt sich verallgemeinern, dass Descartes den Imperativ aufstellt nach größtmöglicher Skepsis, Analyse und Exaktheit nicht allein in Philosophie und Wissenschaft, sondern in der Weltbewältigung an sich. Es ist also ein Ideal der Rationalität. Damit grenzt sich Descartes ab von der Mythologie und vom (religiösen) Glauben, von denen die Philosophie bis dahin durchtränkt, bisweilen ununterscheidbar dazu war. Descartes stellt nicht mehr die Frage Was ist das Sein?, die die Philosophie vor ihm dominierte, und streng genommen auch nicht die Frage Was ist wahr? Descartes nimmt das Sein zunächst als gegeben an, und er nimmt es als erkennbar und entschlüsselbar an. Die letzte „Wahrheit“ über das Sein könne unerreichbar sein; wichtig ist aber, dass wir uns gesicherte Erkenntnis über das Sein verschaffen können (auch wenn diese partiell bleibt). Sein Fluchtpunkt ist also nicht Wahrheit, sondern Gewissheit. Die Wahrheit möge „da draußen“ in der Welt liegen, die Gewissheit liegt aber im Subjekt. Und das ist eben die große Verschiebung, die Descartes vollzieht – und mit der er die moderne westliche Philosophie einleitet. Das Zentrum des Philosophierens ist nicht mehr das Sein, sondern das Subjekt, dass sich Gewissheit über das Sein – und über sich selbst – verschaffen will. Das Tor dazu, dass Philosophie nicht nur Ontologie, sondern auch Epistemologie zu sein hat, wird damit aufgestoßen. Descartes ist Rationalist, er nimmt an, dass die Formen, mit den wir die Welt vernünftig erkennen können, in der Vernunft selbst liegen (im Gegensatz zu den philosophischen Empiristen, die meinen, alles beruhe zunächst auf sinnlicher Erkenntnis, aus der sich dann irgendwie so was wie Vernunft entwickle). Trotz seines scheinbar nagenden Skeptizismus ist Descartes optimistisch und vernunft- und fortschrittsgläubig, darin den Geist des Aufklärungszeitalters vorwegnehmend. Wie auch die Aufklärer glaubt Descartes, dass das Fortschreiten der Vernunft auch das Fortschreiten der Moral befördert. Was bei Descartes implizit angelegt ist, wird dann von Kant in seiner „Kopernikanischen Wende“ explizit vollzogen: die Inthronisation des (vernunftbegabten) Subjekts als Zentrum, von dem das Philosophieren ausgeht (und das über die spezifischen Formen seiner Vernunft die Philosophie prägt), inklusive aller aufklärerischen und anti-religiösen Konnotationen (deren letztere allerdings auch Kant in seiner Philosophie von der praktischen Vernunft erheblich und über Gebühr abmildert – auch Kant setzt Gott wieder ein, wo er ihn eigentlich zuvor bereits theoretisch ausgetrieben hatte). Alle Fortsetzung, die da folgt, scheint darin bis heute darin schon enthalten. Die Geschichte der Moderne erscheint als die Geschichte eines zur Vernunft begabten Subjekts in einer zur Vernunft bestimmten Wirklichkeit. Es ist die Geschichte einer Entfaltung, einer progressiven Dynamik, mit allen zahllosen Verästelungen, Verkettungen – und auch gewaltigen Irrungen – in die wir bis heute eingelassen sind. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit diesem Denken erlangte der Westen im Laufe der Moderne die Hegemonie über die Welt.

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Als Beginn der Neuzeit gilt die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492. Kolumbus wollte einen neuen Seeweg nach Indien finden, um die islamische Welt, die bis dahin weitgehend den Welthandel beherrscht hatte, darin auszustechen. Es dauerte, bis er schließlich bei der spanischen Krone einen Geldgeber für dieses waghalsige Unterfangen fand – bei vielen anderen europäischen Fürsten hatte er zuvor kein Glück gehabt. Darin zeigt sich bereits eine Qualität, die auch für das „westliche Denken“ konstitutiv ist bzw. werden sollte. Inmitten der europäischen Kleinstaaterei und ihrer Rivalitäten standen ihm mehr Freiheiten zur Verfügung. Wenn einem Denker, Erfinder, Unternehmer u. dergl. an einem Ort in Europa kein Glück beschieden war oder er auf kein Verständnis stieß, konnte er es an einem anderen versuchen. In der islamischen Welt oder in China hingegen herrschten die Fürsten absolut. Auch gab es in Europa eine Trennung zwischen Kirche und Staat, und damit auch der Lebenssphären. Wissenschaft, Philosophie, Wirtschaft, Politik waren abgesonderte, „weltliche“ Lebensbereiche, in die die Religion nur teilweise hineinreichte. In der islamischen Welt oder in China gab es etwas Vergleichbares nicht, und der Islam sowie das Gottkaisertum Chinas sehen sich als Denkrahmen, die alles umfassen und in sich integrieren. Für eine tatsächliche Unabhängigkeit der Lebensbereiche bleibt daher kein Platz. Auch in der islamischen Welt gab es ein goldenes Zeitalter der Wissenschaften, und viele Erfindungen Europas wurden bekanntlich schon vorher in China gemacht. Auch hatte China zeitweilig eine riesige Flotte, die ihm eine weltumspannende maritime Expansion ermöglicht hätte. Allerdings stand China immer vor dem Problem, sein riesiges Reich im Inneren zusammenzuhalten und setzte daher immer wieder auf einen autoritären Konservatismus, der das Denken wieder lahmlegte und eine Entwicklung der Produktivkräfte verhinderte. Die kulturelle Hochblüte in der arabischen Welt fand durch die Stürme zunächst der Mongolen und dann durch Tamerlan ein Ende, aber auch dadurch, dass sich die Wissenschaften nicht als eigenständige Sphäre etablieren konnten. Es fanden sich keine Zwerge, die sich auf die Schultern von Riesen wie Avicenna oder Averroes setzen, und ihr Denken weiterentwickelten. In Europa hingegen kam es in den Jahrhunderten des Übergangs zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit zur fruchtbaren Epoche der Renaissance, in der die Antike wiederentdeckt wurde: hauptsächlich in der Kunst, aber auch darin, dass in der griechischen Antike die Fundamente für die Philosophie, die Wissenschaften, die Medizin oder die Mathematik gelegt wurden – sowie außerdem für eine welthistorisch beispiellose Freiheit und Ungebundenheit im Denken, die die antiken Denker auszeichnete. Bereits im 11. und 12. Jahrhundert wurden in Europa Grundlage für eine Etablierung der Wissenschaften als eigenständiger Lebenssphäre gelegt – und für ihre Institutionalisierung in den Universitäten, als deren erste Ende des 11. Jahrhunderts die Universität von Bologna gegründet wurde (es folgten die Universitäten von Paris und von Oxford, und dann – als Konkurrenzunternehmen zu Bologna – von Padua). Als überdimensionale, symbolhafte Gestalt der damaligen Zeit gilt das Universalgenie Peter Abaelard. Das Zeitalter der Scholastik setzte ein. Das Erkenntnisideal der Scholastik bestand darin, eine Sache von möglichst allen Seiten, „dialektisch“ zu betrachten; auch im tatsächlichen Sinn von Rede und Gegenrede (die damalige Praxis sah auch vor, dass der Gegen-Redner zunächst einmal die Argumente seines Kontrahenten zusammenfassen und wiederholen musste, um zu demonstrieren, dass er sie überhaupt verstanden hatte und so im weiteren Verlauf nicht am Gegenstand vorbeigeredet wurde). Allerdings ist ein solcher „dialektischer“ Erkenntnisprozess fortwährend offen. Wenn sich im Aussortieren das beste (und/oder gelehrteste) Argument durchsetzt, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass ein noch besseres Argument daherkommt. Die „innerste Wahrheit“ einer Sache hat man dadurch nicht erfasst, und man hat auch keine schlussendliche Gewissheit über den Gegenstand. Descartes will nun aber eine eindeutige Methode angeben, wie man sich Gewissheit über einen Gegenstand verschaffen könnte. Gelehrtem Wissen gegenüber, das nicht anhand einer solche Methode ermittelt wurde, ist er skeptisch. Und so bringt Descartes auch in seinem ganzen Habitus, und der Art sich auszudrücken, frischen Wind in den Wissenschafts- und Philosophiebetrieb seiner Zeit. Seine Abhandlungen sind kurz, und ohne viel gelehrten Ballast. Er drückt sich in der galanten Art des Gentleman-Amateurs aus. Mit diesen knappen Schriften jedoch löst er die ganze Scholastik ab und stellt das Denken auf eine neue Grundlage. Sein Ziel ist, überhaupt eine Methode zu finden, von der alle Wissenschaft auszugehen habe, um auf sicherer Grundlage zu ruhen – ähnlich, wie es auch Francis Bacon versuchte, der jedoch nicht dieselbe geistige Intensität der skeptischen Grundhaltung wie Descartes vorbringt. Das ist natürlich nicht gelungen, denn die Wissenschaften haben sich im weiteren Verlauf ausdifferenziert. (Was heute so vermessen erscheint, war es zu Descartes`Zeiten noch nicht: Damals erschien er tatsächlich, zumindest theoretisch, noch möglich, dass ein Mensch allein eine Grundlage und ein einheitliches Prinzip für alle Wissenschaften ermitteln könnte.) Die Entwicklung der Wissenschaften verlief jedoch notwendigerweise nah an der Cartesischen Methode und ihrem Erkenntnisideal. Galilei und Newton etablierten die Sichtweise, dass die Natur Gesetzen gehorche, die sich mathematisch beschreiben lassen (gleichzeitig stieß Newton das mechanistische Weltbild von Descartes u.a. vom Thron, indem er nachwies, das Dinge nicht mechanisch aufeinander wirkten, sondern über rätselhafte „Kräfte“, wie eben die Schwerkraft – das aber berührt nicht den Kern von Descartes`Innovation). Die neuzeitliche Wissenschaft und Physik beruht auf der Metaphysik, dass die Welt erkennbar sei, dass ein Verfahren zur Ermittlung gesicherter Erkenntnis angebbar sei, und dass die Wahrheit über eine Sache eine eindeutige sei. Damit wird das vernunftbegabte Subjekt, dass sich solcherart seiner Vernunft bedient, zu einem bedeutenden Akteur in der Welt, während ein Gott in dem Hintergrund tritt. Mehr und mehr wird das Subjekt zum Zentrum der Welt und – dann eben endgültig bei Kant – zum Zentrum der Philosophie. Indem das Subjekt Dinge und Zusammenhänge eindeutig erkennen kann, kann es Dinge und Zusammenhänge schließlich auch konstruieren und manipulieren, beherrschend in die Welt eingreifen. Während das Barockzeitalter ein heroisches Zeitalter der Wissenschaften war, hat sich, im Zusammenhang auch damit, über Jahrhunderte hinweg der Kapitalismus entwickelt, und im Zusammenhang mit ihm der Industriekapitalismus. Die gleichsam statische feudale Welt wurde durch eine tatsächlich dynamische Neuzeit abgelöst. Mithilfe der Maschine, ihrer industriellen Herstellung und ihrem Zweck, sie als umfassendes Produktionsmittel einzusetzen, wird das menschliche Subjekt zu einem gottähnlichen Manipulator. Was der Mensch nachbauen, konstruieren kann, das versteht er (wenn auch nicht notwendigerweise bis in dessen „innerste Wahrheit“ hinein), über das hat er sich Gewissheit verschafft. Diese Maschinenbauer-, Konstrukteurs- und Ingenieursintelligenz der Neuzeit geht recht deutlich auf Descartes zurück. Damit ist die Brücke zwischen der unmittelbaren Moderne, und einem einsamen Denker am Anbeginn der Neuzeit, zu Descartes eindeutig geschlagen.

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Kein Triumph aber ohne Niederlagen. Auf Karl Marx geht die Sichtweise zurück, dass der Kapitalismus, bzw. Produktionsverhältnisse im Allgemeinen, keine Mächte sind, die das (vernünftige) Subjekt beherrscht; eher ist es umgekehrt: Und die Produktionsverhältnisse sind es, die nicht nur die menschlichen Verhältnisse, sondern auch die Entwicklung der Vernunft selbst determinieren. Schon bei Hegel ist die Entwicklung der Vernunft bzw. des vernünftigen Subjekts dialektisch in einen welthistorischen Verlauf eingebunden; an die Stelle des Subjekts tritt bei Hegel genau genommen der „Geist“ (in seinen Erscheinungsformen subjektiver, objektiver und absoluter Geist). Die Aufklärung hätte – wie bereits Descartes – in etwa angenommen, Vernunft sei etwas Eindeutiges – gemäß Descartes ein „natürliches Licht“ im Menschen – das es freizulegen und zu emanzipieren gelte, so gesehen wird die Vernunft nun aber selbst zu etwas Mehrdeutigerem und Differenzierterem (wenngleich solche Verständnisse, zumindest aus heutiger Sicht, immer noch innerhalb der Aufklärung liegen, und ihren Rahmen eher erweitern als sprengen). Im 20. Jahrhundert kommt eine nachdenklichere Haltung über die Technik hinzu. Sie scheint zu einer Macht geworden zu sein, die der Mensch nicht mehr kontrollieren kann; sogar in dem Sinn, dass sie dem Menschen eine Vernunft aufoktroyiert, die nicht notwendigerweise die „seine“ ist. Die Maschinenbauer-Vernunft von Descartes scheint sich gegen Descartes bzw. gegen das vernünftige Subjekt selbst zu richten, oder aber ihm gegenüber als eine verdunkelnde Macht entgegenzutreten, von der sich der Mensch mithilfe dieser Vernunft eigentlich befreien wollte. Die Weltkriege und vor allem die Nazi-Herrschaft und der Holocaust werden zu schrecklichen Illustrationen, wie Archaisches, längst überwunden Geglaubtes, gemeinsam mit neuzeitlicher Technik und Rationalität nicht nur wiederkehren kann, sondern vielmehr in seiner Destruktivität noch potenziert werden kann, oder aber: vielleicht gerade dadurch begünstigt werden kann. Mit der Atombombe verliert die Wissenschaft symbolträchtig „ihre Unschuld“. Die Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernkraft werden deutlich, ebenso wie die Übernutzung der Umwelt und die „Grenzen des Wachstums“. So scheint die einstmals so hoffnungsfrohe Cartesische Vernunft, von der all das scheinbar seinen Ausgang nahm, nicht nur an ihre Grenzen zu stoßen, sondern auch an dunkle Wiedergänger und unheimliche Doppelgänger. Horkheimer spricht von ihr als einer „instrumentellen Vernunft“, die zu einem Herrschaftsinstrument geworden sei; die „Dialektik der Aufklärung“ versucht, die emanzipatorischen Potenziale der Aufklärung mit ihren unterdrückenden oder gar destruktiven ins Verhältnis zu setzen, bleibt aber – zumindest im Gestus der „Kritischen Theorie“ – gleichsam in einer depressiven dialektischen Endlosschleife hängen (aus der heraus nur mehr eine „Negative Dialektik“ helfen würde, die aber prekär und unspezifisch und gleichsam nur punktuell wirksam scheint). Heidegger sieht in all dem ein verhängnisvolles „Seinsgeschick“ (setzt mit seiner Kritik an der „Seinsvergessenheit“ der westlichen Philosophie aber bereits bei Platon an). Umgekehrt machen sich im Kalten Krieg, und vor allem der McCarthy-Zeit, die Geisteswissenschaften und die Philosophie (linker) politischer und subversiver Konnotationen verdächtig. Entnervt von all dem politischen und bildungsmäßigen Ballast, den die Philosophie wiederum auf sich geladen zu haben schien, machte sich vor allem in der angloamerikanischen Welt eine Neuorientierung in der Philosophie breit, die durchaus an den Cartesianischen Gestus anklingt: die Wende zur analytischen Philosophie. Diese Denktradition geht wiederum auf Kontinentaleuropa zurück, konkret vornehmlich auf den „Wiener Kreis“ der Zwischenkriegszeit. Dessen Vertreter wollte die Philosophie abermals von allem „scholastischen“ Ballast reinigen, und in der Philosophie nur Begriffe und Methoden zulassen, die denen der strengen Wissenschaften und der Logik entsprachen. Auch kam es zu einem „linguistic turn“ in der Philosophie. Untersuchungsgegenstand der Philosophie wurden nicht mehr „die Vernunft“ oder „die Erkenntnis“, sondern das Medium, in dem sich Vernunft und Erkenntnis und deren Mitteilung äußern: die Sprache. Wittgenstein, als das symbolkräftige Genie dieser Bewegung(en), hat mit seinem Tractatus die Grenzen dieses neuen Terrains abgesteckt, wie auch über sie hinausgedacht. Er erkannte die Gefahr eines Substanzverlustes einer Philosophie, die die großen Fragen nach Gott, Gut und Böse, Sinn des Lebens u. dergl. der Mystik zurechnete, um sich stattdessen als „reine Wissenschaft“ und Logik zu betreiben. Da analytische Philosophie aber auch Sinn macht, wird sie bis heute betrieben. Sie feiert Erfolge in der Klärung vieler philosophischer Fragen, die jedoch die Aura nicht vermeiden können, zu bloßen „technischen“ Problemen herabzusinken. Der „linguistic turn“ seinerseits führte schließlich dazu, die Sprache so zu verabsolutieren, wie seine Proponenten es ursprünglich bei philosophischen Kategorien wie „Erkenntnis“ kritisiert hatten. Wittgenstein entwickelte in der Einsamkeit eine Spätphilosophie, die Sprache nicht mehr als eine Art ideale Struktur sah, sondern als eine Art Wildwuchs, der sich aus der sozialen Praxis ergibt und der Notwendigkeit der (spontanen) zwischenmenschlichen Verständigung. Er schaffte ein neues Verständnis von Kategorien, um deren eindeutige Bestimmung man stets erfolgslos gerungen hatte (in dem Glauben, es ginge nicht anders) als Begriffsfelder, deren Aspekte über bloße „Familienähnlichkeiten“ (lose) zusammengehalten werden; und er transformierte die Sichtweise auf einen (einheitlichen und einheitlich sinnstiftenden) Diskurs der Vernunft hin in „Sprachspiele“. Unabhängig davon begann auch der Strukturalismus soziale Praxen als über „Strukturen“  geregelt zu begreifen: deren innerste Logik also nicht eine „Vernunft“ sei, sondern eine (über differentielle Elemente bestimmte) „Struktur“, aus der die Vernunft eher als ein kontingentes Epiphänomen emporsteige, als dass es umgekehrt der Fall sei. Auch wenn der Poststrukturalismus keine so rigide Sichtweise mehr pflegte, feierte der dann die Vielfalt von Vernunfttypen, die sich aus vielfältigen historischen Praxen heraus ergäben. Anstelle von Subjekt, Vernunft oder Geist werden nunmehr überhaupt „Strukturen“, „Dispositive“ oder Diskursformationen zu den dynamischen und/oder bestimmenden Elementen in Geschichte und Philosophie. Eine „Dialektik der Aufklärung“ ist gar nicht mehr möglich, wenn die Geschichte und die Geschichte der Vernunft mehr oder weniger als eine Abfolge von Kontingenzen betrachtet wird; vielmehr wird dadurch (bei dem bekanntesten Vertreter dieser Denke, Michel Foucault) das Tor zum Nihilismus aufgestoßen. Diese Art von Denken wurde schließlich als „postmodern“ bezeichnet. Obwohl die Proponenten der Postmoderne vorwiegend Franzosen waren (es gab aber auch ausländische Ableger, wie den US-Amerikaner Richard Rorty), hatten sie für ihren Landsmann Descartes nicht so viel übrig. Der vielleicht integralste Denker der „Postmoderne“, Gilles Deleuze, war auch kein Rationalist, sondern hatte immer eine Vorliebe für empiristische Philosophen. Die Postmoderne ist ein – ei! – farbenprächtiges und charismatisches Phänomen. Allerdings erscheint sie auch als instabil und schwach, als nichts, was auf eigenen Beinen stehen könnte, ein wenig parasitär. Wie subversiv ihre Absichten aber auch immer gewesen sein mögen: Heute begreift man sie vielleicht eher als eine notwendige Ausdifferenzierung der aufklärerischen Vernunft, inklusive ihrer fortlaufenden Selbstbefragung. Der neueste Schrei scheint, nach dem Abdanken der Postmoderne, eine „Metamoderne“ zu sein. Aber am Anfang der philosophischen Moderne steht ja eben der Meta-Philosoph Descartes! Ist er das Alpha und das Omega des modernen Zeitalters? Kann das moderne Zeitalter überhaupt noch ein Ende haben, oder hat es die letzten Dinge eben angestoßen, über die eigentlich nichts mehr hinausgehen kann? Wie auch immer; Cartesius mag sich ob all dem schon eine Flasche Wein aufmachen und sich zuprosten: Mit einem Worte: wenn es in der Welt ein Werk gibt, das von keinem anderen so gut vollendet werden kann als von dem, der es begonnen hat, so ist es das Werk, an welchem ich arbeite. (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs)

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Der Buddhismus wurde im 5. oder 6. Jahrhundert v.u.Z. in Indien entwickelt, als sein Begründer gilt der Prinz Siddharta Gautama. Bei seinen Ausfahrten aus seinem Palast sah er, wie in der realen Welt weitgehend Elend, Armut, Krankheit, Tod, Verwirrung herrscht. Und auch der eigene Reichtum und die eigene Stellung macht einem vor alldem nicht gefeit. Der Aristokrat wollte herausfinden, was eigentlich die Wurzel allen weltlichen Leidens sei, verließ seinen Palast und unterwarf sich jahrelang strenger Askese. Schließlich erlangte er Erleuchtung; genau gesagt, sein Wissen erwachte, dass hinter allem Leiden Wollen und Begehren stecke, das letztendlich unerfüllt bleiben muss. Wer aber nicht begehre, könne nicht leiden, da er in seinen Erwartungen ja nicht enttäuscht werden kann. Eine wohl praktische menschenunmögliche Aufgabe, das Begehren vollständig abzutöten. Wer diesen Zustand aber erreicht, geht ins Nirwana ein, eine Art Nichts (in dem es eben kein Begehren mehr gibt). Es handelt sich dann, in diesem Idealfall, um einen vollkommen transformierten Menschen, der dann das Ideal des Buddhismus ist. Ansonsten ist der Buddhismus, wie jede Religion oder Weisheitslehre, dazu da, eine Anschauung und Begrifflichkeiten zu bieten, Ideale aufzustellen, an denen sich Menschen orientieren können und zu denen sie sich mehr oder weniger mimetisch verhalten können, um sich und anderen das Leben zu erleichtern. Buddha bedeutet „der Erwachte“, und den Rest seines Lebens brachte „der höchste und heiligste Buddha“ Gautama damit zu, seine Lehre zu systematisieren und die Strukturen zu ihrer Weitergabe zu schaffen. Das umfasste die Stiftung von Mönchs- und, für die damalige Zeit ungewöhnlich, Nonnenklöstern. Der Buddhismus wurde zu einer Religion, auch wenn er die vielleicht ungewöhnlichste Religion ist. Er kennt keine Gottheiten. Nietzsche bezeichnete den Buddhismus als keine Religion, sondern als eine „Seelen-Diätetik“. Grundlegend ist der Buddhismus eine Weisheitslehre, und eine Weisheitslehre ist tolerant gegenüber den Menschen und verpflichtet sie zu nichts. Es obliegt der Weisheit jedes Einzelnen, ob er sie annimmt oder nicht. Allerdings geht der Buddhismus in seiner Lebensbewältigungs-Weisheit viel tiefer als bloße Weisheitslehren, denn er ist umfassend spirituell und zielt auf eine radikale spirituelle Transformation ab, eine vollkommene, nicht nur partielle und beliebige Lebensveränderung. Zudem ist der Buddhismus als Religion und Religionsgemeinschaft organisiert, mit Strukturen, Institutionen, diversen Regeln und Ritualen. Religion bedeutet: gehorsame Befolgung von Regeln, und in diesem ganz ursprünglichen Sinn ist der Buddhismus Religion. Gleichzeitig ist er auch ein philosophisches System, ein logisches System, und auch eine Metaphysik, und in all diesen Aspekten unabschließbar interpretierbar. Seine Wahrheit ist, gegenüber den theistischen Religionen, keine von einer transzendenten Instanz offenbarte Wahrheit, sondern eine Wahrheit, auf die der Mensch – der „erwachte“ Mensch –, wenngleich nach einer transzendenten Anstrengung, selber kommt. Im Zusammenhang mit all dem begannen schon bald nach dem Tod des historischen Buddha die üblichen Meinungsverschiedenheiten, wie seine Lehre richtig zu interpretieren sei. Um sich zu verbreiten, musste sie auch auf Lokalkolorite und Machtverhältnisse (wie z.B. dem Patriarchat) Rücksicht nehmen und Konzessionen an diese machen. Der Buddhismus spaltete sich in mehrere Richtungen (bzw. „Fahrzeuge“) auf. Sein hohes theoretisches Appeal produzierte theoretische Streitereien bis hin zu Haarspaltereien unter seinen Anhängern. All diese Divergenzen provozierten dann wieder Reformbewegungen. Aus einem solchen Reformgeist ging im 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr., also beinahe ein Jahrtausend nach dem Erscheinen des historischen Buddha, dann der Zen-Buddhismus hervor. Als dessen Begründer gilt ein legendärer indischer Mönch namens Bodhidharma, der nach China übersetzte (daher die charakteristische Frage Was ist der Sinn, dass Bodhidharma aus dem Westen gekommen ist? als chiffrenhafte Frage nach dem Sinn und der Essenz des Zen-Buddhismus). Bodhidharma wollte zu einer reinen Ursprünglichkeit des Buddhismus zurückfinden. Er lehnte den ganzen Pomp, mit dem der Buddhismus betrieben wurde, ab, und versuchte auch Herrschergestalten von der Falschheit dessen zu überzeugen. Als ihm das nicht gelang, verbrachte er der Legende nach neun Jahre meditierend vor einer Wand, bis dass er seinerseits zu einer neuen Art von Erleuchtung durchgedrungen war. Seine Art von Buddhismus war allerdings eine viel vergeistigtere Art von Buddhismus, sein Ziel ist es, durch eine rein geistige Durchdringung das wahre Wesen der Welt zu erkennen, und die diesseitige Welt damit zu überwinden. Freilich hat auch die dafür als notwendig erachtete Meditation den Charakter einer Askese und auch der Lebensweg des wahren Zen-Suchenden ist streng und hart – ohne deswegen letztendlich Erfolg zu versprechen. Deswegen heißt es eben „Zen“-Buddhismus, denn Zen bedeutet (auf Japanisch) „Meditation“ oder „meditative Versenkung“. In China nahm dieser sich so entwickelnde Zweig auch Einflüsse des Taoismus auf, und die „Leere“ als zentrale Kategorie des Zen hat viel mit dem „Tao“ gemein. Um das Jahr 1000 gelangte diese Strömung auch nach Japan. In Japan hat der Zen-Buddhismus die Kultur am deutlichsten geprägt. Viele japanische Kunstformen wie das Haiku-Gedicht, das Tee-Zeremoniell, das No-Theater, die japanische Tuschezeichnung und Kalligraphie, die Gartenkunst, die Kunst der Bogenschießens und allgemein die japanische Tradition des hohen Niveaus und der Genauigkeit und Beachtung des Details in der japanischen Kunstfertigkeit haben ihre Wurzeln im Zen-Buddhismus. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Zen-Buddhismus, vorwiegend über seine japanische Tradition, auch im Westen (zunächst unter Gebildeten) bekannt, und im Zuge der „spirituellen Öffnung“ im Windschatten der Hippiezeit auch vergleichsweise populär. Seine Weisheiten haben auch Eingang gefunden in die Management-Literatur und allgemein ist die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Zen-Buddhismus auf dem einen und anderen Niveau in der westlichen Welt kaum mehr überschaubar. Im Allgemeinen wird der Zen-Buddhismus vom westlichen Durchschnittsmenschen wohl als etwas sympathisch Rätselhaftes angesehen und als verbunden mit einer Friedlichkeit und Gelassenheit, von der der westliche Mensch vielleicht selber gerne mehr hätte. Gleichzeitig scheint er sich damit auch mit einer Paradoxie konfrontiert zu fühlen, auf die er sich eher nicht einlassen will und gegenüber der er sich machtlos fühlt.

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Zen versucht zur „reinen“, „letzten“, „ursprünglichen“ Wirklichkeit vorzudringen. Wie kann man das tun? Indem man die Wahrnehmung schärft und sie subtiler macht und sie hinterfrägt. Indem man die Wahrnehmung und das Selbst-Welt-Verhältnis meditiert. Im Geiste der Lehre Buddhas betrachtet sind Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, zunächst leidvoll miteinander verbunden. Das Subjekt hat ein Verlangen nach dem Objekt, das Objekt provoziert ein Verlangen im Subjekt und erscheint – auch innerhalb der Grenzen der herkömmlichen Wahrnehmung – dem Subjekt nicht rein, als „das, was es ist“ (sondern eben unter der Wahrnehmung des Subjekts). So gesehen üben sowohl das Subjekt und das Objekt der Wahrnehmung eine diskriminierende Wirkung aufeinander aus. Gleichzeitig wird in der Meditation erkannt, dass das Objekt ja nur erscheint, weil das Subjekt es anschaut, und dass weiters das Objekt in einer diskriminieren Weise erscheint, weil es der diskriminierenden Wahrnehmung des Subjekts unterworfen ist. Auch das Subjekt diskriminiert sich über seine Wahrnehmung selbst. Wenn es sich sagt: Ich denke, also bin ich, setzt es sich gleichzeitig als ein Objekt, das denkt, bzw. als ein Subjekt-als-Objekt. Genau genommen könnte man aber auch aus dem Descartesschen Gogito, ergo sum, also aus der Wahrnehmung, dass Denken stattfindet, eigentlich nur folgern: Es gibt Gedanken (und nicht: Es existiert ein Ich, dass diese Gedanken hat). In der meditativen Versenkung des Zen versucht das Ich seine Wahrnehmung so subtil zu machen, dass es sich als Ich, das wahrnimmt (und denkt) ausschaltet. Es nimmt sich dann selbst als reinen Geist wahr. In diesem Geist erscheinen dann alle Dinge. Alle Reiche der Existenz und alle Seinszustände sind nichts anderes als Manifestationen deines eigenen Geistes – haben der Mond, der sich im Wasser spiegelt, oder die Bilder, die der Spiegel reflektiert, einen Ursprung und ein Ende? (Shitou) Nicht nur werden alle Phänomene zu Erscheinungen im eigenen Geist, auch und vor allem wird diese Geist-Welt-Struktur überhaupt ontologisiert: der „Urgrund“ der Welt wird zu einem ursprünglichen Geist, in dem dann die Phänomene sich manifestieren. Der Meister sagt zu mir: Alle Buddhas und alle Lebewesen sind nichts als der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist weder grün noch gelb, hat weder Form noch Erscheinung. Er gehört nicht zu der Kategorie von Dingen, die existieren oder nicht existieren. Auch kann man nicht in Ausdrücken wie alt und neu von ihm denken. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, denn er überschreitet alle Grenzen, Maße, Namen, Zeichen und Vergleiche. Du siehst ihn stets vor dir, doch sobald du über ihn nachdenkst, verfällst du dem Irrtum. Er gleicht der unbegrenzten Leere, die weder zu ergründen noch zu bemessen ist.  Der Eine Geist allein ist Buddha, und es gibt keinen Unterschied zwischen Buddha und den Lebewesen, nur dass diese an Formen festhalten und im Außen die Buddhaschaft suchen, setzen kraftvoll die legendären Aussprüche und Ansprachen des Zen-Meister Huang-po ein. Hinausgehend über das empirische Wahrnehmen (im Sinne der Weltvergewisserung im Geiste Descartes`), das Subjekt und Objekt trennt und gegeneinander feststellt, strebt der Zen-Buddhismus ein allgemeines, über-individuelles Wahrnehmen, Sehen an, eine Art transzendentale Subjektivität, die gleichzeitig die transzendentale Struktur der Welt ist. In der Perspektive von Zen erscheint die Welt dann als ein Netz von Beziehungen, in der Subjekt und Objekt und die Objekte untereinander aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig konstituieren: der Begriff für diese Weltsicht lautet pratityassmutpada. Ausgehend davon, dass Subjekt und Objekt sich spiegeln und in der Wahrnehmung aufeinander verweisen, begreift der Zen-Buddhismus alle Dinge als voneinander abhängig und als gegenseitig sich konstituierend. Sie erscheinen überhaupt nur als Kombination vergänglicher Faktoren. Zugrundeliegende Gesetze gibt es nicht, eine „Wirklichkeit an sich“ existiert nicht. Die Erscheinungen existieren einzig und allein in Abhängigkeit von anderen, ihrerseits abhängigen Erscheinungen. Anstelle der substantia tritt die relatio. Das bedeutet auch, dass an die Stelle einer Substanz (als einer grundlegenden Kategorie der abendländischen Philosophie), mit der man etwas Unveränderliches und Selbstständiges, positiv Seiendes assoziiert, die einer Abwesenheit einer solchen Substanz tritt: die einer „Leere“. Im Taoismus ist diese universelle „Leere“ eine Art schöpferische Leere, eine Art ontisches Potenzial, aus dem positives Sein hervorgeht. Das wäre im Zen dann der Eine Geist (der eben Buddha ist). Es gibt allerdings keine Regeln, warum und wieso etwas erscheint, eher ist es ein kontingentes Werden und Vergehen von Phänomenen, die sich zufällig wechselwirkend konstituieren und wieder vernichten. Ein Logos liegt dieser Welt nicht zugrunde. Insofern die Dinge auch allein im Geist erscheinen, könnte man meinen, es fehlt ihnen auch daher an eigentlicher Solidität. Zum einen können uns die Dinge, so betrachtet, nichts anhaben. Zum anderen könnte man sich fragen, was sie uns dann überhaupt angehen. Man würde nicht nur negative Bezugsmöglichkeiten verlieren, sondern auch positive. Zen aber versucht gleichsam, aus dem Negativen Positives, und aus dem Positiven Negatives zu machen. So dass sich dann gleichsam ergibt als Grundhaltung eine engagierte Indifferenz. Alle Dinge sind von Grund auf leer, es gibt nichts, woran man festhalten könnte. Sie sind wie dahinziehende Wolken, die nicht anders können, als sich irgendwann zu zerstreuen. Wenn du die grundlegende Leere der fundamentalen Existenz erkennst, dann ist es, als würde Feuer ausbrechen. Sprich darüber nicht mit Unwissenden – sie könnten deinen Körper in Stücke schlagen. (Baozhi) Zen bedeutet gleichsam eine Begeistertheit über diese Leere, die gleichzeitig in aller Gelassenheit sich vollzieht. Auch das Ich existiert aus der Satori-Perspektive nicht mehr, und auch kein eigentliches Selbst mehr: es gibt nur mehr ein überindividuelles SEHEN. Der Erleuchtete ist NIEMAND, der eben aus einer Leere heraus spricht, oder besser: schweigt. Im Inneren nichts, was zu erlangen wäre / Draußen nichts, wonach zu streben wäre.  (Zen Sand 8.41) Haben wir uns von unserer leeren Persönlichkeit und allen Dingen befreit, sind wir unabhängig und ohne Verhaftungen und verfolgen nur das eine Ziel, uns von allen Befleckungen zu reinigen und die Menschen zu erbauen, ohne dass sie es merken, dann bildet dies unsere eigene Praxis und kann gleichzeitig auch anderen helfen. Und es kann den Pfad der Erleuchtung schmücken. (Bodhidharma) Das ist alles keine Kleinigkeit. Kannst du das aushalten? Man kann es beinahe nicht aushalten: Das Verhalten der transzendenten Menschen ähnelt einem lodernden Feuer, einem wütenden Brand – du wirst dich ihm nicht nähern können. Es ist nicht erzwungen, es ist einfach von selbst so. (Lian An) „Von selbst“ und durch sich selbst ist etwas, wenn sich aus seiner eigenen Wirkfähigkeit konstituiert und sich in seiner eigenen Wirkfähigkeit erhält. Erleuchtete Wesen sind frei von allen Fesseln, und ihr Geist ist unendlich wirkfähig. (Baozhi) Der transzendentale Geist (und die transzendentale Subjektivität) wird überhaupt gleich mit seiner Wirkfähigkeit, wird zum reinen, unkontaminierten Potenzial. Der unermessliche Ozean lässt die Fische frei herumspringen, der grenzenlose Himmel lässt die Vögel frei fliegen. (Dasui) Diese Unermesslichkeit des Ozeans ist der Geist des Erleuchteten, der damit gleicht dem Geist und der Struktur der Welt. Erst in der Unermesslichkeit der Leere nämlich kann die Fülle des gesamten Seins in Erscheinung treten. Wenn du die universelle Leerheit erkannt hast, kannst du spontan alle Dinge durchdringen: Sie umfasst die ganze Welt und alles darüber hinaus und enthält in sich alle Seinszustände. (Fenyang) Begehren, welches auszulöschen der Buddhismus ja von Grund auf anstrebt, scheint dann kaum mehr noch nötig zu sein. Wenn man die Welt mehr als nur beherrscht, sondern mit ihr gleichsam zur Deckung gekommen ist, was sollte dann noch zu wünschen sein? Wenn du eines Tages erkennen wirst, dass der ursprüngliche Geist leer ist, dann wird die Fülle der Wirklichkeit, wie sie ist, nichts zu wünschen übriglassen. (Baozhi) Grundsätzlich versteht Zen die eigentliche Wirklichkeit als einen Urgrund der „uranfänglichen Geistes“ und als ein Gewebe von Dingen, die sich über diesem Urgrund entspannen. Diese Dinge sind einerseits voneinander abgegrenzt, andererseits gehen sie gleichsam ineinander über und haben keine klaren Grenzen. Die Dinge spiegeln sich ineinander, fließen ineinander, verweisen aufeinander und sind füreinander da. Die Wirklichkeit ist gleichsam ewig im Fluss, erscheint jedoch gleichzeitig auf der Stufe der höchsten Erleuchtung als „unendliches Juwelengeflecht, die einander erleuchten und widerspiegeln.“ Derartige Bilder und Empfindungen („unendliches Juwelengeflecht“) sind dabei in der mystischen Tradition allgemein und kommen kulturübergreifend vor. Wenn man mit gütigem, mildem Gesicht auf die Welt blickt, kann man auf das mit der Welt als unendlichem Juwelengeflecht schon kommen. Davon unterscheiden sich freilich Erlebnisse echter Mystiker(innen). Diese berichten von einem Zustand, so als wie wenn sie tatsächlich in eine jenseitige Welt, oder in das paradiesische Leben nach dem Tod geblickt hätten. Da dies einer diesseitigen Welt mit ihren Beschränkungen nicht entspricht, waren diese Erlebnisse auch einmalig und von kurzer Dauer. Solchermaßen erleuchtet, wandeln diese Mystiker(innen) dann als Heilige in dieser Welt, um ihre Anschauungen zu verkünden, hoffend, dass sie schließlich wieder eins werden mit der höheren Welt, die sie geschaut haben. Dem entspricht im Buddhismus die Figur des Bodhisattva. Der Bodhisattva hat die Erleuchtung erlebt, und lebt nunmehr eigentlich im Nirwana. Er wandelt auf der Erde, um anderen zu helfen, die Erleuchtung zu erlangen. Diese Erleuchtetheit jedoch ist ein dauerhafter Zustand. Diese Erleuchtetheit ist Satori.

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Plötzlich verlieren die Hände ihren Halt, der Boden unter ihren Füßen schwankt, und sie sind verloren: Das ist die Krönung ihres lebenslangen Studiums. Zum ersten Mal in ihrem Leben nehmen sie unabhängig und frei wahr, wie eine einsame Lampe zum ersten Mal in ihrem Leben sind sie wahrhaft im Besitz all ihrer Kräfte. Sie sind wir die Berge, wie könnte Angst vor Leben und Tod sie jetzt noch erschüttern? (Ying`an) Das beschreibt den Durchbruch zum Satori, der Erleuchtung im Zen. Uns interessiert, wie man die Welt aus der Perspektive des Satori sieht; das ist das große Geheimnis, hinter das alle kommen wollen. Das „unendliche Juwelengeflecht“ auf jeden Fall ist nur eine Erscheinungsform, die die totale Wirklichkeit dann annehmen mag. Und im Allgemeinen wird von den Zen-Meisterinnen nicht auf dieses Bild zurückgegriffen, wenn sie das Satori zu erläutern versuchen. Satori bedeutet weniger eine konkrete, bildhafte Vorstellung, die man von der Wirklichkeit haben kann, als eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu betrachten, Satori ist epistemologisch. Sagen wir, Satori bedeutet eine Flexibilität des Geistes, eine mentale Flexibilität, die der so genannte alltägliche Geist nicht hat (da er von „Anhaftungen“ geprägt und beschwert ist, während der Satori-Geist diese hinter sich gelassen hat). Der Satori-Geist imitiert den Einen Geist, der die Welt durchdringt, und der Buddha ist. Immer wieder wird auf Metaphern des offenen oder leeren Raumes zurückgegriffen, um diesen Geist zu beschreiben: In letzter Konsequenz ist jedes Anhaften an Objekten leer und nichtig, suche nichts anderes als den klaren, offenen Raum des Geistes. Es gibt nicht ein einziges Ding, das erlangt werden könnte, in Heiterkeit und Spontaneität trittst du vor das Allerletzte. (Baozhi) Ebenso: Gib alles Anhaften an Körper und Geist auf, bis du einen Zustand großer Ruhe erlangst – so. als würdest du über einem zehn Meilen hohen Kliff alles loslassen – du bist wie der offene Raum. (Huaitang) Oder: Wenn du deinen Geist erkennst und bis an den Ursprung vordringst, ist es, als würde Raum mit Raum verschmelzen. (Dadu) Schließlich: Willst du wissen, was mein Körper ist? Mein Körper ist die ganze Erde. Willst du wissen, was mein Geist ist? Mein Geist ist der Raum selbst. Willst du wissen, was ich sehe? Ich sehe, dass es nichts zu sehen gibt. Willst du wissen, was ich höre? Ich höre das Ungehörte. (Sixin) Es ist sicherlich gut, wenn der Geist dem Raum selbst gleicht. Der Raum selbst ist offen und er ist reine Dimensionalität, in dem Dinge sinnvoll passieren können. Ansonsten legt der Raum nichts fest. Der Raum ist auch schmerzfrei und ist zu grundlegend, als dass er durch irgendwas kontaminiert werden könnte. Der Körper fühlender Wesen ist dem kosmischen Raum gleich, wo könnte da Leiden seinen Platz haben? (Baozhi) Was tut nun aber der Raum? Er ermöglicht den Phänomenen Erscheinung und Versammlung und Vereinigung, genauso wie er die Phänomene voneinander trennt bzw. getrennt voneinander in Erscheinung treten lässt.  Es ist eine grundlegende Tatsache, es ist die Grundstruktur der phänomenalen Welt, dass die Dinge einerseits aufeinander verweisen oder gar vereinigt sind, andererseits, und wesentlich, aber auch voneinander getrennt. In dieser Getrenntheit verwirklichen sie, jedes für sich, ihre Autonomie und ihre Würde, und es ist eine wahrhaftige Herrlichkeit, dass jedes Ding auch das Recht hat, von den anderen Dingen in Ruhe gelassen zu werden und ganz dort zu verweilen, wo es ihm beliebt. Blau ist nicht gelb, lang ist nicht kurz. Alle Dinge befinden sich jedes für sich an ihrem eigenen Platz. Mich betrifft das alles nicht. (Shobogenso Sambyakusoku 14) Wer aber ist stark genug, das auszuhalten, und allen Dingen ihre Würde zu lassen, anstatt sofort zu versuchen, in sie hineinzupfuschen? Eben nur der Erwachte, eben nur der Buddha. Der Buddhaverstand begreift auch, wie die Dinge – und zwar ganz buchstäblich – eins und dasselbe sind, da vom Standpunkt der absoluten Wirklichkeit gesehen aus kontingent sind. Wolken und Mond sind ein und dasselbe / Berge und Täler sind jeweils verschieden / Tausendfältiges Glück! Tausendfältiges Glück! / Dass sie eins sind und dass sie zwei sind! (Wu-men-guan) Das könnte zu einer Tat Tvam Asi – Ethik („Das bist du“-Ethik) einladen, von wegen, dass man in allen leidenden Kreaturen letztendlich selber steckt, man daher mit ihnen Mitleid haben muss. Tut es einerseits, tut es aber nicht ganz, oder verhindert, sich in so was zu verlieren: denn die Dinge sind ja auch voneinander getrennt (und: „Das hier bist nicht du, und auch nicht ich“). Aus der Perspektive des Satori wird das Leid (und daher die Notwendigkeit des Mitleids) aber sowieso überwunden, indem eben alle Phänomenalität – auch die eigene – als „leer“ betrachtet wird. Auch der Geist imitiert diese Leere, imitiert dieses Nichts. Das Nichts ist wohl die letzte und ursprünglichste aller Kategorien. Während das Seiende durch etwas bedingt und abgeleitet scheint, scheint das Nichts und die Leere durch nichts bedingt. Zwar kann man, wie eben in der Tradition des westlichen Denkens, von einer „Substanz“ ausgehen, die ebenfalls unhinterfragbar in dieser Welt positiv vorhanden ist. Aber eine solche positive Substanz wäre etwas gleichsam Herrschendes, ein herrschendes Prinzip. Das Nichts und die Leere hingegen erscheinen nicht herrschend. Die Leere ist es vielmehr, in der die Dinge Raum und Möglichkeit finden, sich frei zu entfalten. Die Haltung des Zen, und der Geist des Satori, erfreuen sich grundsätzlich an dieser Stille der Leere. Die Natur der Dinge ist grundlegende, immerwährende Stille; offen und klar, ohne Grenzen und Begrenzungen. (Baozhi) Sie erfreuen sich daran, wenn aus dieser Leere des Urgrundes die Dinge in Erscheinung treten: ursprünglich und offen. Satori ermöglicht vor allem das schöpferische Gewahrwerden der Dinge in diesem Augenblick und Zustand. Es ist ein delikater Augenblick und ein delikater Zustand. Die Zen-Wahrnehmung nimmt Dinge dauernd in diesem delikaten Augenblick und Zustand wahr. Damit ermöglicht sie eine Art Über-Phänomenologie, innerhalb derer die Dinge nicht durch den rationalen Verstand einseitig beleuchtet und diskriminiert in Erscheinung treten, sondern vom Standpunkt eines Meta-Verstandes aus aus allen möglichen Blickwinkeln heraus gleichzeitig gesehen werden. Zeit spielt tatsächlich wenig Rolle mehr in dieser transzendentalen Perspektive, da auch das zeitliche Fortschreiten und Sichentwickeln der Dinge in der Augenblickswahrnehmung des Satori kondensiert ist. Vergisst du Bewegung und Stille und verweilst du in gelassener Heiterkeit, dann verschmilzt du spontan mit der Wirklichkeit, wie sie ist. (Baozhi) Somit ist man also in einer transzendentalen Ewigkeit angelangt, genauer in einem Reich, in dem auch die Zeit flexibel und fluid ist, und in der es, wenn nötig, jeder Zeitpunkt des Tages gleichzeitig ist. In der Dämmerung verkündet der Hahn den Tagesanbruch / Um Mitternacht verbreitet die Sonne ihren hellen Schein. (Zen Sand 10.150) Wie erlangt man gleichzeitig eine solche Intimität wie auch einen solchen Abstand zu den Phänomenen? Indem man sie bejaht, oder indem man sie verneint? Oder indem man ihnen gegenüber indifferent ist? Nun ja, natürlich indem man sie bejaht und verneint gleichzeitig. Dies ist die grundsätzliche Haltung des Zen. Wo Verleugnung und Bejahung der Sinne unaufhaltsam sich durchdringen / Sogar Buddhas und Patriarchen flehen da um ihr Leben. (Wu-men-guan) Bejahung und Verneinung, die sich durchdringen, ermöglichen drittens Abstand und Indifferenz. Das Satori ist kein Zustand der Verzücktheit und Entrücktheit. Vielmehr ist es einer der Beruhigtheit. Satori wird oftmals beschrieben als eine erhöhte Anschauung der Wirklichkeit, so wie wenn man die Wirklichkeit aus einem leicht erhöhten Winkel gegenüber der Alltagswahrnehmung wahrnehmen würde. Was aber hat man davon? Man hat davon, dass man erkennt, dass „Samsara und Nirwana nicht verschieden sind.“ Der rechte Weg und der Irrweg sind eins. Wenn wir über vollkommenes Wissen verfügen, erkennen wir, dass sich das Gewöhnliche und das Weise auf demselben Weg befinden. Verblendung und Erleuchtung sind ursprünglich nicht verschieden; Nirwana und Samsara sind eine einzige Soheit. (Baozhi) Das Satori ist gleichzeitig transzendent und immanent. Es verweist nicht darauf, dass die Erleuchtung und die Erlösung von Leid in einer jenseitigen, transzendenten Welt liegen, sondern in der diesseitigen Welt, die aber aus einer transzendenten, genau gesagt transzendentalen Perspektive aus betrachtet wird. Die Möglichkeit dieser transzendentalen Perspektive des Satori liegt aber in der Welt des Samsara selbst. Sobald es so etwas wie „Nirwana“ gibt, gibt es auch „Geburt und Tod“. (Baizhang) Leiden ist nichts anderes als Erleuchtung. Ohne Denken gibt es keine Objekte. Samsara ist nicht verschieden von Nirwana. Begierde und Zorn sind wie Flammen, wie Schatten. (Baozhi) Die phänomenale Unruhe in der diesseitigen Welt der Erscheinung und die absolute Ruhe in der transzendentalen Welt des Geistes sind nur zwei Aspekte derselben Wirklichkeit, und  Verblendung und Erleuchtung existieren im Grunde nicht, die Buddhas haben diese Begriffe nur als heilsame Hilfsmittel eingeführt, nachdem sie die Erleuchtung verwirklicht hatten. (Pu´an) Damit ist Satori und ist die Zen-Übung tatsächlich „nichts weiter“ als eine extrem meditative Versenkung in den totalen Charakter der Wirklichkeit – und dessen Imitation. Deswegen lautet ein Running Gag unter den Zen-Meistern auch: Durch die Erleuchtung habe ich wahrlich nichts dazugewonnen. Sowie, dass das Satori sehr einfach zu verwirklichen ist. Und äußerst schwierig. In der Sprache von Heidegger wird im Satori sowohl die Getrenntheit als auch die Einheit von diesseitiger und jenseitiger Welt, von Samsara und Nirwana, verwunden, unter sich gelassen. Boddhisattvas, die sich im Anfangsstadium befinden, erkennen zuerst, dass alles leer ist. Danach erkennen sie, dass alles nicht leer ist … Die Praxis der Bodhisattvas verwirklicht sich in der Leere. Wenn Anfänger Leere sehen, dann ist es ein Sehen der Leere; es ist nicht wirkliche Leere. Die den Weg gehen und wirkliche Leere verwirklichen, sehen weder Leere noch Nichtleere, sie haben keine Ansichten. (Daoxin) Oder, wie man es in der Sprache des Westens ausdrücken könnte: Zuletzt wird der Geist wie ein Ozean bei ruhigem Wasser: Windstöße diskursiver Gedanken fahren gelegentlich über seine Oberfläche, doch in der Tiefe gerät er nie aus der Ruhe. So kann man einen Bewusstseinszustand erreichen, den man „klares Bewusstsein“ nennt. In ihm ist der Geist vollkommen luzide, ohne ständig in diskursive Gedanken verwickelt zu werden. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.65)

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Es gibt … zwei Luftströmungen in der Welt: den Ostwind und den Westwind. Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Entweder der Ostwind übertrifft den Westwind, oder der Westwind übertrifft den Ostwind.“ Ich glaube, die Besonderheit der gegenwärtigen Lage besteht darin, dass der Ostwind über den Westwind die Oberhand gewonnen hat… vermutete Mao Zedong im Jahr 1957. Nun ja, die letzten Jahrhunderte zumindest hat der Westwind deutlich den Ostwind übertroffen. Das westliche Denken war erfolgreicher als das östliche. Warum sich also mit dem Zen-Buddhismus abgeben? Was er im Hinblick auf die menschliche Lebensbewältigung sagt und in Bezug auf Wahrheiten, die den Menschen subjektiv betreffen, ist sicher sehr sophisticated und wahrscheinlich nicht mehr überschreitbar. Da ist er wohl bei recht endgültigen Wahrheiten angelangt. Allerdings ontologisiert er diese Weisheiten, hält sie für die Welt selbst, und so wird seine Philosophie zweifelhaft. Vielleicht gibt es eine tiefere Wahrheit in der Physik, wonach alle Dinge, inklusive der Naturgesetze, emergente Phänomene sind, die aus einem rätselhaften Urgrund ursprünglich aufsteigen. Das wäre dann aber nur ein zufälliger Triumph für den Zen-Buddhismus, der zunächst einmal kein Weltbild offeriert, das mit den Wissenschaften in Verbindung steht, oder zum Betreiben der Wissenschaften (von sich aus, ohne äußeren Anstoß) einladen würde. Im Wesentlichen kennt der (Zen) Buddhismus (und das östliche Denken im Allgemeinen) eine chaotische Ontologie, in der er dann eine transzendente Harmonie hineininterpretieren will; er hat keine Vorstellung von einem Logos, der die Welt regiert, und den man anzapfen kann. In Japan begreift der Shintoismus die Ereignisse in der Welt als das jeweilige Ergebnis eines Ringens zwischen Göttern oder Geistern, also als etwas, im Wesentlichen, Zufälliges. Auch in diesem Weltbild gibt es keine eigentliche Stabilität, sondern nur „ewigen Wandel“, dem man sich fatalistisch unterwirft. Der Zen-Buddhismus versucht, auf eine tieferliegende Wahrheit draufzukommen, indem er seine Wahrnehmung subtiler macht, anstatt dass er dem Alltagsverstand, so wie Descartes, einfach vertraut. Er versucht, sich in eine „Verwandtschaft“ mit den Dingen zu setzen, anstatt dass er versucht, sie produktiv und zu seinem Zweck industriell zu manipulieren. Er ist eine kontemplative, passive Weltsicht. Er begreift die Dinge als wechselseitig voneinander abhängig, nicht aber über kausale Verhältnisse, oder eben Gesetzmäßigkeiten. Es herrscht im Osten eine Kreislauf-Zeitauffassung, oder aber, wie im (Zen) Buddhismus, gar keine wirkliche Zeitauffassung. Das Erbe der griechischen Antike, und mit ihm Logik, Dialektik, Beweisverfahren, kritische Methode, drang nicht in den Osten vor und blieb unbekannt. Chinesische Intellektuelle stellten zwar ähnliche Verfahren zur Wahrheitsermittlung an, wie die Intellektuellen im Westen, indem sie Für und Wider einer Sache betrachteten und gegeneinander abwogen, Vergleiche und Analogien anstellten und Vorgänger zitierten. Aber das Konzept der Beweisführung kannten sie nicht. Auch der Zen-Buddhismus beruht auf intuitiven Weisheiten, und nicht auf Beweisen. So wurden im Osten zwar Leistungen des Wissens erbracht, die aber voneinander isoliert blieben, und keine Wissenschaft an sich begründeten, inklusive wissenschaftlicher Methoden. Auch Erfindungen wurden, vor allem in China, gemacht, doch sie wurden nicht als Produktivkräfte nutzbar gemacht, und es entstand aus ihnen heraus kein abstraktes Verständnis für Technologie oder Industrie an sich. Übermäßig war vor allem in China und in Japan das Leben durch Riten und Zeremonien geregelt. Diese, gemeinsam mit einem ausgeprägten Ahnenkult, führten zu einer Überbewertung des Alten und des Althergebrachten. Sowohl China als auch Japan haben immer unter großem Druck gestanden, sich eine einheitliche Kultur zu schaffen und überzustülpen, um als politische Gebilde bestehen zu können. Den Konfuzianismus interessierten Familie, soziale Ordnung und (traditionelle) Erziehung als Bausteine eines wohlgeordneten Staats- und Gemeinwesens, nicht aber Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik. All das begünstigt einen oppressiven Konservatismus. Und die Vorstellungen von Harmonie und Einheit unterbinden den lebhaften Streit, und daher auch die produktive Auseinandersetzung zwischen Gelehrten, die für Europa typisch wurde, im Osten aber fremd blieb. Es heißt, Konservative seien glücklicher als progressive Menschen. Das halten sich die Buddhisten ja auch zugute. Erstaunlicherweise ist selbst heute, trotz all dem Habitus der Bescheidenheit und der Ich-losigkeit, bei Verfechtern der Weisheit aus dem Osten einiges an Hochmut und Selbstzufriedenheit im Spiel, wenn sie die Überlegenheit ihrer Weisheit darin sehen, dass sie „glücklicher“ und „weiser“ mache und eine integrale Weltsicht anbiete – während sich der „westliche Mensch“ unglücklich dauernd abhetze. Aus diesem Grund sind die meisten vom Verstand beherrschten Menschen neurotisch, Opfer von logischer Verwirrung und seelischer Spannung. (Suzuki: Leben aus Zen, Bern, Barth Verlag 1987, S.74) Ziel (des Buddhismus) war nie, die äußere Welt durch physikalische Einwirkung zu verändern, sondern durch die Schaffung besserer Menschen, indem man ihnen ermöglicht, ein inneres Wissen zu entfalten. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.135) Dabei wird auch immer wieder so getan, als ob die „Physik“ des Buddhismus richtig oder zur „westlichen“ gleichwertig wäre, also so als ob die Welt tatsächlich ein Geflecht von Wechselwirkungen usw. wäre (anstatt etwas kausal und durch Naturgesetze verbundenes). Robert Pirsig kommen auch moralische Zweifel an einer Weltsicht, die behauptet, dass alle harte Wirklichkeit „illusorisch“ sei. Als er einen östlichen Philosophieprofessor fragte, ob auch die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki illusorisch gewesen seien, und dieser „ja“ sagte, begann er, Weisheit woanders zu suchen, wie er in Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten berichtet. Wenn Bodhidharma lehrt: Alles Existierende ist leer, es gibt nichts, worauf wir hoffen könnten. Segnungen und Flüche folgen einander auf dem Fuße. Das Leben in der Welt ist wie ein Haus, das in Flammen steht, jede körperliche Existenz bringt Schmerz mit sich – wer könnte da in Frieden leben? So kann man eben den Schluss daraus ziehen, dass auch das, was uns zu schmerzen scheint, keine eigentliche Realität und Beständigkeit hat. Wenn wir diesen Punkt verstehen, dann lösen wir uns von allem Sein, dann hören wir auf zu denken und suchen nichts mehr. Die Schrift sagt: „Suchen ist Schmerz, Nichtsuchen ist Heil“. Nicht zu suchen ist die Praxis des Weges, also spricht man von der Praxis des Nichtsuchens, so Bodhidharma weiter. Und so könnte man universell zufrieden sein. Überall reichen die Lebensverhältnisse aus, um mit seinem Los zufrieden zu sein / Keinen Groll hegen, wenn die eigenen Fertigkeiten nicht wie die anderer Leute sind. (Hong-shi) Was aber, wenn das in der Praxis dann weniger zu einer lebensweisen Abgeklärtheit führt, sondern eher in eine stupide intellektuelle, emotionale und moralische Indolenz, an der sich ja auch (nicht nur) Bhagwan stößt? Speziell der Zen-Buddhismus bildet sich was darauf ein, nicht diskursiv zu sein, und nicht in Begriffen zu operieren, vielmehr ihnen grundsätzlich zu misstrauen. Das ursprüngliche, reine, strahlende Weltall ist weder viereckig noch rund, weder groß noch klein. Es ist ohne Unterscheidungen wie lang und kurz, ist jenseits von Bindung und Bewegung, von Unwissenheit und Erleuchtung. Du musst ganz klar sehen, dass es da wirklich nichts gibt – keine Menschen, keine Buddhas. Die großen kosmischen Systeme, zahllos wie Sand, sie alle sind nur wie Luftblasen. Alle Weisheit und alle Heiligkeit sind nur wie ein Blitzstrahl. Sie alle haben nicht die Wirklichkeit des Geistes… (Huang-po) Zwar wurde der Zen-Buddhismus ins Leben gerufen aus einer Frustration heraus über die theoretisierenden Haarspaltereien unter den buddhistischen Gelehrten. Doch übersieht er dabei, dass Begriffe, Kategorien, Theorien usw. essenzielle Instrumente sind, um die Wirklichkeit zu bewältigen. Die Auflösung der Subjektivität ist nicht nur philosophisch problematisch (wieso sollte die Welt eine universelle Struktur des subjektlosen, überindividuellen „Sehens“ sein, wo Sehen doch so deutlich auf einen subjektiven, in Raum und Zeit verorteten Standpunkt hinweist, von dem aus gesehen wird; wenn sich Dinge wechselseitig konstituieren, muss ja doch irgendwo ein Ursprung dafür verortbar sein; kann man tatsächlich davon ausgehen, dass mit dem Beginn meiner Wahrnehmung bei der Geburt und ihrem Ende beim Tod die Welt beginnt und endet, so wie das der Zen-Buddhismus in etwa tut, oder aber zumindest den Subjektivismus der menschlichen Erfahrung in die Vorstellung, wie die Welt an sich funktioniert überträgt, usw.). Sie ist auch problematisch, weil sie den Menschen an und für sich herabsetzt, ihn als bloßes Element innerhalb der Natur sieht, und nicht als herausragendes. Das alles ist freilich dem geschuldet, dass der Zen-Buddhismus in einem weit vorwissenschaftlichen, vielfach von einer animistischen Religiosität geprägten Zeitalter und in dementsprechenden Kulturräumen entwickelt wurde. Aber so hat eben auch der Zen-Buddhismus, trotz seiner zahlreichen hervorragenden Eigenschaften, einen problematischen Ballast. Wie alle Systeme neigt er dazu, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzusinken. Der Zen-Buddhismus ist ein sehr intelligenter Trick, um sich einen metaphysischen Lebensvollzug zu ermöglichen. Aber es kann sein, dass der Zen-Buddhismus, berauscht von seiner Intelligenz, auf seine eigenen Tricks reinfällt. Aber wie schwierig es ist, zur wahren Erleuchtung zu gelangen, wusste ja niemand besser als die Zen-Meister selbst. Oh, und sei gewissenhaft. Sei gewissenhaft! Von Tausenden oder Zehntausenden, die den Versuch machen, dieses Tor zu durchschreiten, gelingt es vielleicht vieren oder fünfen. Achtest du nicht auf meine Warnungen, dann wird mit Sicherheit ein Unglück folgen. (Huang-po)

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Das Reine Land ist nur Geist; es gibt kein Land außerhalb des Geistes. In diesem Land, das nur Geist ist, gibt es keinen Osten im Osten und keinen Westen im Westen – alle Himmelsrichtungen sind darin eingeschlossen. (Weizi) Was nun ist das Denken, das alle vier Himmelsrichtungen beherrscht? Na, es ist das westliche Denken. Allerdings ist seine Herrschaft leger und lose, viele Dinge entgehen dem westlichen Denken in der Welt, was wir aber wollen ist eine entschlossene und totale Herrschaft, den Griff einer eisernen Hand. Sowohl das westliche Denken als auch das östliche Denken sind voll mit guten Eigenschaften. Daher wollen wir das westliche Denken mit dem östlichen Denken überkreuzen; mit dem westlichen Denken gehen wir in die Breite, mit dem östlichen Denken gehen wir in die Tiefe. Mit dem östlichen Denken begreifen wir den Raum, mit dem westlichen Denken meistern wir die Zeit und den Fortschritt in der Zeit. Das westliche Denken, könnte man meinen, ist flach. Es verlangt scheinbar nach keiner Kultivierung des „inneren“ Menschen, es bringt nicht notwendigerweise „Weisheit“ mit sich und „Seelenruhe“. Es ist effizient, da es ein eindeutiges Denken ist. Befreites Denken aber ist vieldeutig, und kann mit einer Vielzahl von beweglichen Objekten operieren. Natürlich sind diese Behauptungen („unkultiviert“, „weisheitslos“ etc.) ein wenig ungerechtfertigt gegenüber dem westlichen Denken. Wir machen das hier auch hauptsächlich, damit wir einfacher Unterscheidungen treffen können (abermals: die Buddhas haben diese Begriffe nur als heilsame Hilfsmittel eingeführt, nachdem sie die Erleuchtung verwirklicht hatten.)

Das westliche Denken ist nicht unbedingt ein fühlendes Denken (es herrscht tatsächlich eine scheinbare Trennung von Körper und Geist wie bei Descartes). Damit gehen ihm gewisse Dimensionen und Zugänge vielleicht, wahrscheinlich ab. Das Denken des Zen ist im Vergleich dazu eher ein Weltgefühl. Descartes` Ausspruch “Cogito, ergo sum” hieße nach Bankei: “Sento (oder percipio), ergo sum”, und wenn dieses “sum” in seinem tiefsten Sinn erfasst wird, haben wir das Ungeborene. (Suzuki: Leben aus Zen, Bern, Barth Verlag 1987, S.145) Was allerdings ist Denken genau, und was Fühlen? Wo hört das eine auf, und beginnt das andere? Man weiß, das ist nicht klar, und wahrscheinlich gibt es auch kein universelles Modell, beides voneinander in jeder Person abzugrenzen. Mein eigenes Bedürfnis, in die Welt einzudringen und die „Tiefenstruktur der Wirklichkeit“ anzuschauen, geht auch mit einem Gefühl einher, die Wahrnehmung penetrierend zu machen und mich in was hineinzustürzen – es sind körperliche Sensationen, die da in mir (mit)arbeiten. Es zieht mit etwas in meinem Körper in die „Tiefenstruktur der Wirklichkeit“ hinein. Dass die Welt ganz einfach über gefühlloses analytisches Begriffszergliedern durchdringbar wäre, auf das komme ich zunächst einmal nicht.

Analog vielleicht dazu gilt das Wissen des Ostens als synthetisch und holistisch, das des Westens als analytisch; der Westen beachtet die Details, während der Osten das Ganze beachtet. Das könnte man auf einen Unterschied im Weltgefühl zurückführen. Im Osten sind die Gesellschaften kollektivistisch, im Westen sind sie individualistisch. Es ist sicher gut, wenn man sowohl analytisch als auch synthetisch denken kann. Wenn man sowohl das Ganze vor Augen hat, allerdings auch die Details dazu ausarbeiten kann, so dass das Ganze dann auch funktioniert. Es ist die grundsätzliche menschliche Verfasstheit, sowohl ein Individual- als auch ein Kollektivwesen zu sein. Und es ist die grundsätzliche Aufgabe im Leben, beide Aspekte sinnvoll zusammenzubringen: das ist die Moral von der Lebensgeschichte. Der Mensch sollte sowohl entlang seiner Achse als Individualwesen erfüllt aufgehen, als auch entlang der, wo er Kollektivwesen ist. „Gut zu sich selbst und zu anderen sein“, gilt allgemein als der Sinn der Existenz. So gesehen, gilt es also, im „Osten“ aufzugehen, als auch im „Westen“.

Allerdings ist der Zen-Buddhismus keine Gefühlsduselei oder Romantik. Er beruht eher auf intuitiven Einsichten, auf einem intuitiven Stürzen ins Dasein hinein. Stets betont der Zen-Buddhismus, er misstraue dem begrifflichen und rationalen Denken. Er fasst das als Hindernisse, um zur letzten Wirklichkeit vorzudringen – die für ihn ja nicht durch einen Logos bestimmt ist und eine Vernunft oder Gesetzmäßigkeiten, die vernünftig erfassbar sind. Vernunft und Begriffe sind daher für ihn Instrumente, die in der Welt von Menschen erzeugt werden, daher keine letztgültigen Wirklichkeiten. Die Methode des Koan ist im Zen-Buddhismus dazu da, um die Vertrautheiten des rationalen und begrifflichen Denkens aufzulösen. Das Koan ist ein Sinnspruch oder eine Anekdote, die mit rationalem Denken nicht aufzulösen ist. Neben der Meditation ist das Koan die zentrale Methode, um zum Satori zu gelangen, zur Erkenntnis der letzten Schicht der Wirklichkeit. Wenn man aber an den Enden der Welt anlangt, wird man nun tatsächlich (auch im westlichen Denken) auf Zustände und Zusammenhänge treffen, die nur mehr über Paradoxien oder als Aporien beschreibbar sind. Man trifft da auf eine Leere, die gleichzeitig eine Fülle ist; ein Leben, das gleichzeitig Tod ist; ein Nichts, das gleichzeitig Potenzial ist; ein Sein, das gleichzeitig ein Werden ist usw. Kurz: die Enden der Welt und die Grenzmarkierungen des Denkens lassen sich auf keine eindeutigen Begriffe bringen. Das westliche Denken hat das immer versucht und hat damit Begriffsfetischismen in die Welt gesetzt und sich im Abarbeiten dieser Begriffe (wie Substanz. Seele, Anfang und Ende, Gott usw.) möglicherweise (jahrhundertelang) auf (natürlich auch produktive) Abwege begeben. Begriffe sind eindeutig, aber Phänomene sind oft nicht eindeutig. Das Koan ermöglicht nun eine Art dynamisches Verständnis von der Welt, in dem auch die Gegenstände des Denkens ineinander übergehen. Weil Paradoxien und Aporien in der Welt sind, baut Satori das Paradox gleich in sich selber ein. Genau gesagt: es beherrscht das Paradox und die Aporie, indem es sie von einer Metaebene aus betrachtet. Dem bedeutenden Menschen ist, wie man sagt, nichts Menschliches fremd. Der Zen-Meister überbietet das dann noch einmal, indem er selber zusätzlich noch paradox wird, und daher unendlich dynamisch. So ist er gleichzeitig in ständiger Rotation als auch in ständiger Ruhe. Sein Verhalten ähnelt einem lodernden Feuer, einem wütenden Brand u. dergl.

Damit ist der Zen-Mensch komplex, er führt aber diese Komplexität in eine große Einfachheit über. Umgekehrt erfreut er sich an der Komplexität, die er auch im Einfachsten erblickt. Komplexität stiftet unter gewöhnlichen Menschen Verwirrung. Der Zen-Mensch stiftet (so wie auch der westliche Philosoph!) Verwirrung, um eine neue Einfachheit zu ermöglichen. Der alte Zhao-zhou! Der alte Zhao-zhou! / Unruhe in den Zen-Klöstern zu stiften – noch im hohen Alter hört er nicht damit auf! (Hong-zhi) Komplexitätsmanagement ist eine große Sache im Westen. Mit dem westlichen Denken kann man zunächst komplizierte Probleme lösen. Kompliziert, das heißt: etwas ist schwierig, aber (theoretisch) lösbar. Komplexität hingegen ist ein (quasi) dynamisches Zusammenspiel von Faktoren, die sich ständig gegeneinander verschieben und neu aufeinander ausrichten. Eine Komplexität ist nicht „lösbar“. Man kann versuchen, sie zu bemeistern, ihre Bemeisterung ist eine Art Management und eine Kunst. Das Problematischste beim Management von Komplexität sind immer wieder Verhärtungen des Denkens bzw. der persönlichen Haltung; die Vorstellung, ein komplexes System habe so oder so zu funktionieren, oder sich so oder so zu verhalten, wenn man auf eine bestimmte Weise in es eingreift. Starre Vorstellungen oder ein starres Ego sind aber nichts, was das östliche Denken begünstigt. Während die Intelligenz des Westens technisch und abstrakt ist, ist die des Ostens eine situative Intelligenz. Die richtige Haltung, um den Weg zu praktizieren, besteht im vollkommenen, spontanen Sichfügen. (Minghen) Die westliche Intelligenz betont heute selber immer wieder, dass sie der „Komplexität“ der heutigen Gesellschaft und Welt nicht mehr gewachsen sei, und sie nicht mehr total verstehe. Ich bin dafür, dass man einfach selber so komplex wird, dass die eigene Komplexität die der ganzen Welt übersteigt. Wie kann man das tun? Wohl indem man östliches Denken und westliches Denken überkreuzt. Nur wer vollkommen frei ist von Begriffen, kann einen Körper von unendlicher Ausdehnung haben. (Huang-po) Was aber ist die Komplexität gegen die Unendlichkeit? Nun ja, die Komplexität ist unabschließbar: also ist die Unendlichkeit der einzig adäquate geistige Raum, um Komplexität zu prozessieren.

Nicht-begrifflich ist das Zen-Denken auch, weil es durchaus irgendwie bildhaft ist und auf einer Art Anschauung (und nicht: Analyse) der Welt beruht (auch wenn es „keine Anschauungen mehr haben“ als letztes Ziel kennt). Damit ist man dann gleichsam beim Ästhetischen. „Satori“, ein Anschauen einer tieferen Wirklichkeit, wenn nicht sogar der „ultimativen“ Wirklichkeit, scheint sich auch in gelungener Kunst aufzutun: welche Anschauungen liefert, wofür die Philosophie Begriffe liefert. Die Dramen von Beckett, die Gemälde von Velazquez, Vermeer oder Mondrian, die Filme von Tarkowski oder Antonioni: Machen sie nicht den Eindruck, als blicke man mithilfe ihrer aus einer Art Satori-Perspektive auf die Welt? Sie scheinen das Ergebnis einer gewaltigen, gleichsam meditativ-intellektuellen Versenkungsleistung, jemand hat sich durch die Welt durchgetunnelt und schleudert Zeichen empor, die er am Urgrund gesehen. Und er kennt die Verbundenheit und den Sinn aller Zeichen. Ein durchdringendes, integrales Weltgefühl, eine totale Weltanschauung kommt darin zum Ausdruck.

Umgekehrt sind die Texte der Zen-Meister, die Erleuchtung erfahren haben, große Kunst und Literatur, eine wahrhaft poetische Literatur und Prosa. Zwar behauptet der Zen-Buddhismus stets, „nicht begrifflich“ und nicht diskursiv zu sein. Aber in Wahrheit ist er in seinen Lehren sehr beredt. Es ist allerdings tatsächlich eine Prosa und auch eine Lyrik, die fundamental von der uns bekannten verschieden ist. Keine überflüssigen Reden gibt es, die Bezeichnungen sind fest, gleichzeitig scheinen sie aber auch ewig dynamisch. Sie sind somit tatsächlich poetisch (das bedeutet: aus dem Nichts und ursprünglich hervorgebracht). Die Sprache des Zen-Buddhismus hat eine große, nicht mehr hintergehbare Gewalt über sich. Es ist aber keine angestrengte Gewalt, sondern gleicht eher einer Konsequenz, die in sich selbst liegt. Oder eben einer Satori-Sprache.

Überhaupt die Wahrnehmung des genuinen Poeten, des Genies: Das Genie sitzt vor der Wand, wo sich die Erscheinungen abspielen, kausal als auch akausal, verbindlich und unverbindlich, und erfreut sich an diesem halb zweckhaften, halb zwecklosen Spiel. Es hat dann Einsichten, die scheinbar „aus der Tiefe“ stammen. Mit bloßer „Kreativität“ oder „Originalität“ ist das nicht zu beschreiben, denn über dergleichen verfügen andere auch. Das Genie ist darüber hinaus profund und penetrierend. Auch das Genie scheint über Satori zu verfügen. Das Genie verfügt über eine außergewöhnliche Flexibilität und Fluidität des Geistes: so wie es eben das Satori bewirkt. Das Genie scheint in eine Art zusätzliche Dimension zu blicken: und daher in eine Über-Phänomalität. Die Phänomene werden in dieser Phänomenologie auch nicht diskriminiert wahrgenommen, sondern in ihrer Reinheit, Ganzheit, Ursprünglichkeit und Verwobenheit miteinander. Wie Schopenhauer sagt, verfügt das Genie über eine reine, objektive Anschauung der Dinge, die dabei nicht dem Willen unterworfen ist: so wie eben im Satori auch nicht. Auch das Genie ist der Gegenbegriff zu einem verdinglichenden, seinen Gegenstand vereinnahmenden Denken. (Freilich hängt am Genie auch noch ein Mensch dran, der vom Temperament dann dazu ganz verschieden sein mag, aber das betrifft nicht den Geist und die Grunddisposition des Genies.)

Das westliche Denken kann keine Sinnfragen lösen, sondern setzt, in seiner eigentlichen Konsequenz, das Subjekt auf den Thron der Welt. Das Subjekt braucht, so gesehen, keine rätselhaften Sinnfragen mehr beantworten, denn es selbst ist ja der höchste Sinn weit und breit. Aller anderer Sinn in der Welt ist bestenfalls gegenüber zu seinem eigenen ein minderwertiger, eigentlich ein Infra-Sinn. Trotzdem ist auch ein solches Subjekt in Zusammenhänge eingebettet, deren Sinn sich ihm kaum erschließt, die rätselhaft sind, die älter sind und überdauernder als das Subjekt. Die Basis für eine Metaphysik ist nach wie vor gegeben: also hinsichtlich der Frage, welchen „Sinn“ das Subjekt in Relation zum Objektiven hat, und gegenüber sich selbst bzw. umgekehrt. Und so scheint der westliche Mensch idealtypisch auf einer ständigen Sinnsuche, auch mit dem Mittel seiner westlichen Wissenschaft. Die Wissenschaft ist im Wesentlichen analytisch und hat daher die Neigung, sich in der unerschöpflichen Komplexität der Erscheinungen zu verlieren… während Zen Prinzipien formulieren will, die allem Wissen zugrunde liegen. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.246) (wenngleich Descartes das ja auch wollte). Das Zen-Wissen hingegen ist ein vollständiges metaphysisches Wissen.

Das westliche Denken setzt, entlang seiner Denkbahn, das Subjekt in das Zentrum der Welt. Doch das östliche Denken und das Satori ergreift die transzendentale Subjektivität, in der Ursprünglichkeit seiner Wahrnehmung. Die transzendentale Subjektivität in der westlichen Philosophie bedeutet die Bedingung der Möglichkeit, das wahrnehmende Subjektivität sein kann; es ist eine Reflexion, ein Bewusstsein über das Bewusstsein.  

Mit dem westlichen Denken ermächtigt sich das Subjekt selbst, setzt Kräfte in die Welt und multipliziert und potenziert diese. Darauf kann es sich schon was einbilden (und sich mächtig fühlen). Aber über das Satori kommt man mit der ganzen Grundstruktur der Wirklichkeit zur Deckung: das ist dann jenseits von Machtgefühl, sogar von Freiheitsgefühl (man hat dann sowohl in Bezug auf ein Machtgefühl oder ein Freiheitsgefühl keine Ansichten mehr).

Mit dem westlichen Denken kann man kausale Ketten bilden und ein wenig, dafür effektiv in die Zukunft sehen. Allerdings reichen die kausalen Ketten nur über zwei, drei Ecken, dann ist ihre Kraft erschöpft bzw. diffundiert. Mit dem Satori hingegen sieht man nicht über zwei, drei Ecken, sondern man sieht den ganzen Schaltplan. Man kann zwar, über das Satori allein, keine Kausalketten bilden, aber es überrascht einen nichts mehr, was in der Zukunft oder um die nächste Ecke passiert. Über das Satori sieht man den Phasenraum, eine abstrakte Dimension, in der alle möglichen Zustände eines dynamischen Systems abgebildet sind. Mit dem westlichen Denken berechnet man. Aber mit der Flexibilität und Anhaftungslosigkeit des östlichen Denkens berechnet man den Zustand der Welt mit jedem Augenblick neu.

Die Zen-Wahrnehmung betrachtet die Wirklichkeit als ein „Feld“, in dem die Dinge miteinander verbunden sind. Gleichzeitig erfreut es sich über das ursprüngliche Aufsteigen der Phänomene aus dem Urgrund der Leere (diesem Moment, diese Augenblicksverfassheit festzuhalten und zum Ausdruck zu bringen ist das große Ziel vor allem in der japanischen Kunst: der Tuschezeichnung, dem Haiku-Gedicht, dem No-Theater). Die Grundstruktur der Welt ist: ein Motiv erscheint vor einem Hintergrund. Inwieweit verweist das Motiv und der Hintergrund aufeinander, inwieweit sind sie vielleicht auch recht verschieden? Artikuliert das Motiv den Hintergrund, oder umgekehrt? Vielleicht ist es so, dass das „westliche“, analytische Denken das Motiv in den Blick nimmt, während das „östliche“, synthetische Denken eher den Hintergrund betrachtet. Damit sind sowohl das östliche als auch das westliche Denken „diskriminierende“ Sichtweisen, denn sie diskriminieren entweder Motiv oder Hintergrund. Mit dem Satori könnte man lernen, sehr flexibel ständig zwischen Motiv und Hintergrund zu switchen und so eine große geistige (und persönliche) Flexibilität und Fluidität zu verwirklichen. Mit dem westlichen Denken könnte man begreifen, dass der Hintergrund keine „Leere“ oder ein kontingentes Geflecht von Phänomenen ist, sondern Sinn hat, ein rationaler Verweisungszusammenhang ist, der Ausdruck eines Logos. Ein solches Denken sollte dann fähig sein, die Unendlichkeit zu sehen. Diese Unendlichkeit wird dann keine zen-buddhistische Leere sein, sondern, im Geist der Wissenschaften und des Fortschreitens in der Zeit, eine Art fraktale Geometrie. Man blickt so gleichermaßen an Anfang und Ende der Zeit, fasziniert sich aber doch an den innerzeitlichen Prozessen und berechnet sie. Ist eine größere Vervollkommnung möglich? Kannst du das übertreffen, kann überhaupt der Buddha das übertreffen?

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Gewaltige Wogen folgen aufeinander, gischtspeiende Brecher überfluten den Himmel. Wer ist im Besitz der strahlenden Perle, die die Ozeane zu beruhigen vermag? (Yijing) Wie sich mittlerweile auftut, haben die Menschen im Osten und die Menschen im Westen verschiedenen Hirnstrukturen. Diese Hirnstrukturen haben sich durch jahrhundertelange Enkulturation jeweils ausgebildet. Die Zen-Übung arbeitet schließlich auch auf eine Änderung der Hirnstruktur hin. Was gleichzeitig leicht sein mag, aber, und vor allem eben auch schwierig. Die Hirnströme bei Meditierenden laufen anders; die von Menschen, die in der Meditation sehr geübt sind, sogar ganz anders als die von herkömmlichen Menschen. Wollen wir nicht alle das Superhirn erreichen, die Superintelligenz? Wenn aber westliches und östliches Denken zusammenkommen, so entsteht sicherlich das totale Denken. An die Stelle des logischen oder des dialektischen Denkens, des rechnenden Denkens oder des kritischen Denkens oder des rhizomatischen oder des besinnlichen Denkens – anstelle des „westlichen“ und des „östlichen“ Denkens – will ich also das TOTALE DENKEN setzen, das all das zusammendenkt. Es ist überhaupt Denken, Sinnlichkeit und Fühlen gleichermaßen. Die Wirklichkeit ist eine Totalität, also muss auch das Denken total werden, um der Wirklichkeit angemessen begegnen zu können.

Das Bewusstsein dieses Denkens, die Wahrnehmung dieses Denkens, wird das Einheits-Bewusstsein sein, eine totale, dichte, halluzinatorisch-luzide Sicht auf die Wirklichkeit, eine demokratische, nicht-diskriminierende Sicht auf die Wirklichkeit, das auch das Paradox und die Aporie verwunden hat. Es ist Denken und Meta-Denken zugleich, und es ist eine Luzidität, die gleichzeitig in diese Welt blickt, als auch in alle möglichen anderen. Die Metaphysik und die Sphäre des Idealen reichen in diese physische und physikalische Welt sowieso herein. Warum also nicht so total denken, dass es real und ideal ist, physikalisch und metaphysikalisch? Das eine ist der Wirklichkeitssinn, das andere der Möglichkeitssinn. In einer platten Sprache ist das eine Intelligenz, das andere die Kreativität. Im totalen Denken treffen sie sich in einer einheitlichen Sphäre.

Die Intelligenz nimmt Dinge ernst. Die Kreativität erlaubt ein Spiel, das ein wenig unernst ist. Das Geheimnis des totalen Denkens ist, dass es alle Dinge ernst nimmt. Und gleichzeitig kein Ding vollständig ernst nimmt. Es ermöglicht Statik und Dynamik gleichermaßen. Statik und Dynamik, statische und dynamische Zusammenhänge, sind die Grundstruktur, die Koordinatenachsen der Welt. Damit hat das totale Denken auch in der Hinsicht die Welt im Kopf.

Oh ja, ganze Universen entstehen vor dem geistigen Auge des totalen Denkens, und — aber das totale Denken weiß sich auch zu beschränken. Es ist nicht allein großer – und legitimer – Bombast, sondern gleichzeitig auch was sehr Kleines und Feines; ein Geheimnis. Während alle Welt lärmt und schreit – und vor allem: rasselt! – hockt das totale Denken bescheiden in einer Ecke; wie alles Denken vollzieht es sich zunächst heimlich und schweigend. Anstatt enervierend zu rasseln arbeitet das totale Denken sich selbst lieber genau und detailliert aus und präsentiert eine fein säuberliche Arbeit. Alle Dinge auf der Welt sind groß und klein zugleich, also ist auch das totale Denken groß und klein zugleich: damit imitiert es die Verhältnisse in der Welt.

In diesen Rätseln spreche ich es nun aus: die Botschaft vom totalen Denken, das alle vier Himmelsrichtungen beherrscht. Ich habe hier aber auch eine genaue Betriebsanleitung dafür endlich detailliert dargetan. Die ganze Sache ist so klar wie der Tag.

Lichtscheues Gesindel, das lieber auf seinen kriminellen, krummen Pfaden wandert, mag die Helle des Tages, und des totalen Denkens und des Einheits-Bewusstseins, wahrscheinlich meiden. Entkommen tut es ihm aber nicht.

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Westen und Osten sind dabei übrigens nicht alle vier Himmelsrichtungen. Es erscheint mir notwendig, auch das „nördliche“ und das „südliche“ Denken zu reflektieren. Während aber das westliche Denken Philosophie und Physik ist und das östliche eine Metaphysik, scheint es mir entlang der anderen beiden Himmelsrichtungen ein mythologisches (oder religiöses) Denken zu sein. Mythologisches Denken ist, in der einen oder anderen Form, überall in der Welt vorhanden, auch in den so genannten aufgeklärten Vernunftgesellschaften. Mythologisches Denken ist allerdings weder philosophisch noch physikalisch noch metaphysikalisch und scheint als nicht in solche Sprachen übersetzbar. Es erscheint als Pathologie des Subjekts, das sich viel zu wichtig nimmt, und keine eigentlichen, verbindlichen, rationalen Objektivitätsansprüche neben sich gelten lassen will. Aber wir müssen es trotzdem beachten und ernst nehmen, vor allem in einer Zeit, wo auch die aufgeklärten Vernunftgesellschaften (angeblich) anfälliger werden für Irrationalismen und Mythologien. Ich freue mich, dass ich diese nunmehr jahrelange Arbeit am „westlichen“ Denken und „östlichen“ Denken und wie sich beides vereinigen lässt, mit diesem Stück jetzt scheinbar endlich fertig systematisiert habe. Die nächsten paar Jahre werde ich mich also unter anderem dem mythologischen Denken widmen, und vor allem, wie bestimmte Kulturräume bestimmte Vernunfttypen hervorbringen.

Gedanken zu Pascal

Atheismus ist das Zeichen eines starken Geistes – aber nur bis zu einem gewissen Grade.

Gedanke 69

Es ist wahr, dass es Qual bereitet, wenn man in die Frömmigkeit eingeht. Aber die Qual kommt nicht aus der Frömmigkeit, die in uns zu entstehen beginnt, sondern aus der Gottlosigkeit, die noch in uns ist.

Gedanke 764

1 Schau, ein gähnender, weiter Schlund tut sich auf: das ist der Abgrund der Existenz. Sturmumweht, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen kämpft sich der Wanderer mühevoll den Weg durch die ewige späte Dämmerung, während es rings um ihn saust und braust. Im späten November hofft er, in das bescheidene Zentrum von all dem vorzustoßen, eine kleine Hütte, in der das Licht brennt und in der es ein wenig warm ist. Doch der Weg ist weit und von ringsumher scheinen Gespenster zu pfeifen. Jetzt wieder eine Böe – die Wanderin duckt sich und zieht die Mütze tiefer ins Gesicht. Gegen die Brandung ruft sie verzweifelt, doch entschlossen: „Wunden erlitt ich im Kampf für die Freiheit unseres Landes, dies Auge verlor ich im Kampfe für euch; gebet mir einen Führer, der mich zu meinen Kindern führe, denn zerhaunes Kniegelenk trägt den schwachen Leib nicht mehr.“ Und tatsächlich — aber was stammle ich da daher? Bin ich denn der einzige, der die Existenz kennt, das heißt, eine schwache, laienhafte Vorstellung davon hat? Lassen wir doch denjenigen beredt sein, welcher in den Abgrund der Existenz viel tiefer geblickt, und der sich viel eloquenter auszudrücken weiß!

2 Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich in einem Winkel dieser unermesslichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und jener, die mir folgt. Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann. (Gedanke 1) Der aber, der das so sagt, ist Blaise Pascal.

3 Die Existenz ist einerseits absolut, andererseits relativ, entwickelt sich über die Kontingenz, kommt aus der Nicht-Existenz und verschwindet in der Nicht-Existenz. Sie ist instabil, bedroht und relativ. Wir stellen uns aber vor: eine Mauer des Absoluten, an der die relative Existenz sinnvoll anschlägt und eine sinnvolle Begrenzung findet. Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das verschlungen ist in die Ewigkeit, die ihm vorausging und die ihm folgt, den geringen Raum, den ich ausfülle, und selbst den, den ich sehe, der in der grenzenlosen Unendlichkeit der Räume versinkt, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, dann erschrecke ich und wundere mich, dass ich mich hier sehe und nicht dort, warum jetzt und nicht irgendwann. Wer hat mich dahin gestellt? Durch wessen Befehl und Führung sind dieser Ort und diese Zeit für mich bestimmt worden? Memoria hospitits unius diei praetereunitis. (Gedanke 14) Dieses Absolute mag da sein: Gott. Dieses Absolute mag da sein: die Religion.

4 Das ist unser wahrer Zustand. In ihm sind wir unfähig, sicher zu wissen und absolut nichts zu wissen. Wir treiben über einen weiten Mitten-Raum dahin, stets unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen getrieben. Wo immer wir an eine Grenze zu geraten und festen Fuß zu fassen vermeinen, gerät sie in Bewegung und entgleitet uns; wenn wir ihr folgen, entzieht sie sich unserem Griff, entschwindet uns, in ewiger Flucht vor uns. Nichts bleibt vor uns stehen. Das ist der Zustand, der uns natürlich ist und trotzdem zu unseren Neigungen im größten Widerspruch steht; wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf. (Gedanke 315)

5 Religion bedeutet: „Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt in der Befolgung der Regeln und Zeichen“. Nehmen wir an, das was außer uns liegt, was älter ist als wir, was die Metaphysik unserer Existenz anlangt, sind Regeln und Wahrheiten; ist eine (von uns unabhängige) Ordnung. Dann verleiht das unserer Existenz eine grundlegende Solidität. Das tut die Religion und tut der religiöse Existenzialismus, deren Prototyp Pascal ist.

6 Beim nicht-religiösen Existenzialismus hingegen ist der Mensch mit dem Nichts konfrontiert und der Abwesenheit von höherer Wahrheit; das andere zur Existenz ist also nicht Gott oder die Wahrheit, oder das Ideal, sondern das Nichts, oder das Chaos, die Instabilität, die Unzuverlässigkeit. Das eröffnet gewisse Perspektiven und Flexibilitäten, die der religiöse Existenzialismus so nicht (zumindest nicht unmittelbar) hat.

7 Aber auch wenn Gott tot sei, ist es doch der nicht-religiöse Existenzialismus, dem vergleichsweise das Überzeitliche und die Gravität zu fehlen scheinen (Sartre als Erscheinung des Zeitgeistes der 1950er Jahre zB). Er scheint eine dünne Suppe und löst sich schnell auf, ist schnell gegessen. Seine avantgardistischen Weisheiten von damals sind heute längst Trivialitäten. So verliert er seine Konsistenz. Betrachte im Gegensatz dazu, wie fest der Mensch bei Kierkegaard angespannt ist, beinahe bis zum Zerreißen! Diese Spannung hält bis heute an, und wird auch nie nachlassen. Denn bei Kierkegaard und seinem religiösen Existenzialismus ist die relative menschliche Existenz nicht an das nihilistische Nichts gebunden, sondern an das absolute Alles, an die Instanz Gott. So zittern diese Stahlseile in der Ewigkeit. Die Erregung über diese Spannung zwingt mich, die Feder niederzulegen. Ich vermerke nur noch schnell: Der Prototyp des religiösen Existenzialismus aber ist Pascal.

8 Neulich stoße ich auf einen linken, subversiven Theorieversuch. Linke, subversive Theorieversuche, fällt mir auf, leugnen immer wieder gerne, dass es tatsächliche Wahrheit und Verbindlichkeit gäbe. In einem naseweisen Gestus entlarven die linken, subversiven Frevler alles, was solide und von offenbar höchster Materialität ist, als „Konstruktion“, die im Rahmen von „Praktiken“ etabliert werde, und hinter denen, in der eigentlichen Instanz, ein bloßer Willensakt, eine bloße Willkür der „Macht“ und „Herrschaft“ stecke. Aber das sei eine Täuschung und in Wirklichkeit lösten sich diese Materialitäten gleichsam in Luft auf. Und die linke, subversive Theorie kämpft gegen die etablierte „Macht“ an, um sie zu stürzen, und dann, wie sie meint, einen unendlichen Raum der spielerischen Möglichkeiten zu eröffnen, wie Dinge und Verhältnisse sein können bzw. wie sie ausgestaltet werden können. Ihre Haltung, nirgendwo Wahrheit zu vermuten, steht damit im Zusammenhang, dass sie das, was etabliert ist und was „herrscht“, delegitimieren will, ihm den Boden – sogar den metaphysischen Boden – unter den Füßen wegziehen will. Wenn die linken, subversiven Theoretikerinnen, die Lenins, dann aber selbst an der Macht sind – und das ist es ja, was sie gemeinhin wollen – , was sagen sie dann plötzlich? Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist! Dann heißt es plötzlich nicht mehr: Eine andere Welt ist möglich! ach was, viele andere Welten sind möglich! Oder: Das „System“ – in dem Fall das kommunistische System – kann ganz einfach durch ein anderes System ersetzt werden! Nein, so spielerisch geht es dann auf einmal nicht mehr zu. Dann beginnt ein neues Zeitalter doktrinärer Wahrheiten.

9 Will also sagen: Ohne die Vorstellung von Wahrheiten und von Verbindlichkeiten, von Idealen usw. kommen wir doch schwer aus. Ich selber bin ja extrem subversiv und rufe zur Revolution auf. Ich mag die Radikalität und ich schaue gerne diversen Arschlöchern zu, wie sie alles durcheinanderwerfen und die Stühle fliegen lassen. Aber ich habe auch eine ausgeprägte Ehrfurcht in mir und ein natürliches religiöses Sentiment. Ich verstehe die Ideale und ich verstehe das Heilige. Und so erblicke ich im Universum eine große Ordnung, der ich mich ehrfürchtig unterwerfe, oder eigentlich nur: die ich ehrfürchtig anschaue, und der ich positiv gestimmt und vertrauensvoll entgegentrete. Chaos und Revolution mag ich nur auslösen, um einen unbefriedigenden Zustand in eine neue Harmonie hin zu überführen. Ganz offensichtlich ist auch das Weltall eine Ordnung (und daher eine dahintersteckende Wahrheit). Ganz offensichtlich ist auch das Weltall ein Raum mit Freiheitsgraden und ein Ort des Chaos. Es ist ein Chaosmos. Ich bin grundsätzlich mit dieser Welt zufrieden, so wie sie ist. Und so mag ich sowohl die Ordnung, die ich spiritualisiere, und die Freiheit, die mir natürlich erscheint. Andere, wie zum Beispiel Pascal, waren mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden, und so lehnen sie entweder das eine oder das andere ab. Ich glaube nicht, dass das richtig ist.

10 Die kürzlich verstorbene russische Komponistin Sofia Gubaidulina meinte: Ich bin überzeugt, dass die Kunst Hauptwurzeln hat, ob heidnisch oder ob es irgendwelche anderen Konfessionen betrifft, und zwar auf einer Dimension, die uns verbindet. Mit Vollkommenheit, absoluter Wahrheit, die unerreichbar ist, aber immer existiert. Wahrheit ist etwas nicht bloß logisch oder rational Erfassbares, sondern auch etwas Spirituelles. Wenn man sich eingehend mit Dingen, die Hand und Fuß haben sollen, beschäftigt, so wie die Gubaidulina, gelangt man in einen spirituellen Raum, in einen intuitiven Raum, wo das Verhältnis zur Wahrheit spiritualisiert wird. Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott, meinte Werner Heisenberg, der Entdecker der Unschärferelation.

11 Es gibt einen langen, seltsamen Kampf, wenn die Gewalt die Wahrheit zu unterdrücken sucht. Doch alle Anstrengungen der Gewalt können die Wahrheit nicht schwächen und dienen nur dazu, ihren Glanz zu erhöhen. Alles Licht der Wahrheit vermag der Gewalt keinen Einhalt zu tun, es reizt sie nur noch mehr in ihrem Zorn. Wenn Macht gegen Macht kämpft, dann vernichtet die stärkere die schwächere; wenn Rede gegen Rede steht, dann wird die wahrheitsgetreue und überzeugende die zuschande machen, die nur Eitelkeit und Lüge ist. Gewalt und Wahrheit aber vermögen nichts gegeneinander. Jedoch ist daraus nicht zu folgern, sie seien einander ebenbürtig. Es besteht vielmehr zwischen ihnen die große Verschiedenheit, dass die Gewalt nur begrenzte Dauer hat, da Gottes Ordnung ihre Wirkungen zum Ruhme der angegriffenen Wahrheit lenkt, während die Wahrheit ewig währt und schließlich den Sieg über ihre Feinde davonträgt, weil sie wie Gott selber ewig und allmächtig ist. (Zwölfter Brief an die Provinz)

12 Man meint, und verzweifelt gemeinhin: Wahrheit und Moral seien in „der Welt“ machtlos und richten dort beide nichts aus. Tatsächlich ist die Sphäre der Wahrheit und der Moral eine andere als die ganz unmittelbare Welt der Taten: sie bildet eine Welt des Ideals! Allerdings ist diese Sphäre der Ideale von der realen Welt gar nicht abgehoben, sondern wirkt, genauer betrachtet, überall in diese Welt hinein. Menschen fällen dauernd moralische Urteile und versuchen sich moralisch in dieser Welt zu orientieren. Die sozialen Medien der Neuzeit werden gemeinhin oft als „Ort der Selbstdarstellung“ begriffen. Was aber tatsächlich den breitesten Raum auf Facebook einnimmt, sind jedoch ständige, endlose Diskussionen der Teilnehmenden darüber, was richtig ist und was falsch. Ein endloser, lebhafter Austausch wo permanent beurteilt wird, wie etwas zu sein habe und wie man etwas machen solle, und wie nicht: das ist der eigentliche Hauptgesprächsstoff in der Menschenwelt. So gesehen ist diese nüchtern-rationale, gleichsam nihilistische Welt von der Sphäre der Ideale hochgradig durchzogen, durchtränkt, überschwemmt. Mach etwas, was aus der Art fällt, und die Sintflut kommt über dich.

13 Allerdings ist es nicht so, dass sich die Mächte der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Ausgleichs usw. in dieser Welt dann tatsächlich so einfach durchsetzen. Vielfach tun sie das nicht. Die meisten Gesellschaften versuchen, anders als die unsere, nicht, ihre Vergangenheit eingehend zu bewältigen, sondern sind auf die Sauereien ihrer Vorfahren auch noch stolz! Kämpfe für Wahrheit, Gerechtigkeit usw. sind meistens mit ständigen Rückschlägen verbunden. Um sich Mut zu machen, kann man die Wahrheit als etwas Transzendentes sehen, letztendlich überhaupt als etwas Eschatologisches (dem Theologen Karl Barth zufolge ist Wahrheit grundsätzlich etwas, was im Eschatologischen aufgeht; ich muss mich mit diesem Gedanken näher vertraut machen). Grundsätzlich weisen Wahrheit und das Ideal u. dergl., neben aller Diesseitigkeit, auch auf etwas Transzendentes und Eschatologisches hin, haben solche Qualitäten und Dimensionen, zu denen sie wiederum den Zugang eröffnen. Ansonsten bleiben Wahrheit und Gerechtigkeit einfach Ergebnisse aus dem Kampf zweier oder mehrerer Instanzen, bei der sich die stärkste durchsetzt. Des einen Freude ist des andere Leid usw. Wahrheit und Gerechtigkeit beziehen sich aber darauf, wie etwas, allgemein betrachtet am besten zu sein hätte, und verlangt nach Entschädigung derer, die bei der Suche danach (oder aufgrund niederer Motive) unter die Räder geraten. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden die Wahrheit als Glaubensbesitz der Menschen bewahrt, während der falsche Frieden den Irrtum als Besitz menschlicher Leichtgläubigkeit erhält. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden von der Wahrheit untrennbar ist, dass er in den Augen Gottes niemals durch jene Streitigkeiten wird, die ihn in den Augen der Menschen immer dann zu unterbrechen scheinen, wenn Gottes Gebot befiehlt, seine Wahrheit gegen ungerechte Angriffe zu verteidigen, und dass das, was für die Menschen Frieden wäre, für Gott ein Krieg ist. (Zweite Schrift der Pfarrer von Paris)

14 In ihrer absoluten, totalitären Verfassung tritt uns die Wahrheit in ihrer transzendenten, eschatologischen Form als Religion gegenüber. In der christlichen Religion ist Gott die absolute Achse und Instanz, die alle Wahrheit beinhaltet. Und der man selbst, in all seiner Relativität, gegenübertritt. Wenn es eine Wahrheit gibt, und so empfinden die meisten von uns, dann wird man auch selber sich an diese Wahrheit anschmiegen wollen. Man wird auch selber „wahr“ sein wollen. (In der Hospiz bedauern angeblich viele Menschen, dass sie ihr Leben nicht nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse, ihnen entsprechend gelebt hätten, sondern sich zu sehr an anderen und anderem orientiert hätten. Das scheint ein verbreitetes Bedauern unter den Menschen.) Die christliche Religion ist der ultimative Appell an das Individuum, „wahr“ zu werden und in Wahrheit aufzugehen.

15 Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, dass ich beim Verlassen dieser Welt für immer entweder in ein Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche von diesen beiden Bedingungen für ewig mein Los sein muss. Das ist mein Zustand: voll der Schwachheit und Ungewissheit. (Gedanke 1) Der erzürnte Gott will aber besänftigt sein. Er lässt sich offenbar nur so besänftigen, wenn man seine strenge Wahrheit anerkennt.

16 Zur Wahrheit ist der Mensch dem Vermuten von Pascal nach aber gar nicht geboren: Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Er will nicht, dass man ihm die Wahrheit sage, er vermeidet es, sie den anderen zu sagen, und alle diese Neigungen, die von der Vernunft und von der Gerechtigkeit so weit entfernt sind, haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen. (Gedanke 770)

17 In einer Weise imitiert Pascal durchwegs das, von dem er sich, in seinem postulierten Elend doch „unendlich“ weit entfernt fühlt: einen erzürnten Gott. Denn Pascal sucht das Seelenheil, und ist erbost, wie wenig Bedeutung dem Seelenheil in der Menschenwelt zugemessen werde: Die Unsterblichkeit der Seele ist von so gewaltiger Bedeutung für uns, berührt und so tief, dass man jedes Gefühl verloren haben muss, wenn es einem gleichgültig sein kann, zu wissen, was es damit auf sich hat. (Gedanke 1)

18 (Was aber ist eigentlich das Seelenheil? Trotzdem Pascal die Frage nach dem Seelenheil dauernd umkreist, ist er nicht sonderlich beredt darüber, worin das Seelenheil eigentlich besteht. Zumindest besteht das Seelenheil in einer Unzerstörbarkeit der Seele, die „erlöst“ ist. Damit wird das Seelenheil aber eigentlich eine negativ bestimmte Qualität: ewige Abwesenheit vom und Befreiung vom Elend. Der größte Wunsch wird winzig klein gegen den, gesund zu sein, singt das Kind. Und ein Seelenheil von solcher Qualität ist also der Wunsch eines Kranken nach Gesundheit. Da die Frage nach dem Seelenheil, wie Pascal selbst sagt, eine so wichtige ist, stellt sie sich in der Form: was kann Seelenheil noch alles sein?)

19 Der Sinn der Religion ist, wie Pascal ja selber sagt, dass der Mensch von seiner falschen, egoischen Wurzel sich emanzipiert, und sich für die Wahrheit, die in Gott und in seinem Gesetz liegt, öffnet. Kierkegaard hat postuliert, das Ziel des Lebens sei „durchsichtig zu werden in Gott“. Was hat er damit gemeint? Tja, das hat er nicht näher erläutert. Nimm aber den Menschen her, so wie er im Allgemeinen ist. Also blockiert, intransparent und neurotisch. Sich selbst im Weg stehend. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre richtet sich gegen solche Blockaden und Lebenslügen. Allerdings bleibt sein existenzialistischer Mensch, der sein Leben selbst entwirft, irgendwie schwach und blass, und schon als Jüngling habe ich nicht verstanden, was an ihm so heroisch sein soll, wie Sartre das immer (freilich noch zu einer anderen Zeit) beschwört. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre kennt, wie oben gesagt, ansonsten nur das Nichts. Der existenzialistische Mensch gemäß Kierkegaard kennt als andere Instanz aber das absolut Absolute. Das verleiht ihm eine solche Spannkraft. „Durchsichtig werden in Gott“ bedeutet so, transparent zu werden gegenüber der absoluten Instanz, der man dann furchtlos entgegentritt (auch wenn Pascal ziemliche Angst vor dem absoluten Gott hat, und Kierkegaard in Furcht und Zittern lebt, sein Lebensvollzug könnte, gegenüber der absoluten Instanz dann vielleicht doch nicht ganz der richtige sein). Es macht also schon Sinn, und es hat viel mehr Gravität als der nicht-religiös existenzialistische Lebensentwurf, „durchsichtig in Gott“ zu werden; also so durchsichtig, dass man vor der Gesamtheit des Absoluten bestehen kann.

20 Nicht allein kennen wir Gott nur durch Jesus Christus, sondern wir erkennen auch uns selbst nur durch Jesus Christus. Wir erkennen das Leben, den Tod nur durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus wissen wir nicht, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch was wir selbst sind. So erkennen wir nichts ohne die Schrift, deren Gegenstand nur Jesus Christus ist, sondern wir sehen nur Dunkelheit und Verwirrung, in der Natur Gottes und in unserer eigenen Natur. (Gedanke 570) Es macht schon einen gewissen Sinn, Jesus Christus zur Heuristik zu wählen. Aufgrund der ubiquitären Natur Gottes ist das auch gar nicht so schwierig. Seine unendliche Liebe, Barmherzigkeit und Gnade nimmt ja leicht alles auf und schnell kann man sich damit arrangieren.

21 Ist die Aufnahme von Religion und von Jesus Christus also etwas Leichtes oder etwas Schweres? Darüber sind sich die Religiösen uneinig. Pascal war erbost über die Möglichkeit, es als etwas Leichtes zu betrachten, und seine frühen religiösen Schriften, die Briefe an die Provinz, verdammen den Laxismus bestimmter Teile der Kirche. Damit ist gemeint: Um die Menschen besser zu erreichen, wie sie eben sind, kann es sich für religiöse Instanzen empfehlen, volkstümlich und ein wenig nachlässig, nicht allzu streng in der Auslegung ihrer Gesetze und der praktischen Beurteilung menschlicher Handlungen zu sein. Ein solches Vorgehen empfehlen damals die menschenkennenden Jesuiten; sehr zum Missfallen der rigorosen Jansenisten, denen Pascal angehört. Die Idee dahinter mag praktikabel sein, und hat eine rationale Basis. Allerdings hat sich die Bastion des Glaubens und der höheren Wahrheit, die Kirche, aber auch immer wieder als erfindungsreich erwiesen, wenn es darum geht, selbst Kapitalverbrechen und Mord und Totschlag zu legitimieren und sich damit zu arrangieren. Pascal aber zieht grundsätzlich gegen jeden Laxismus zu Felde.

22 Wenn man Jesus Christus in sich aufnimmt, schneidet es einem wohl von diversen Lebensmöglichkeiten ab. Aber es eröffnet einem neue. Ich glaube, es kann schon ziemlich gut wirken, wenn man sich mit Jesus Christus als in der Wahrheit wähnt, und das Leben und den Tod und Gott durch Jesus Christus erkennt. Andere nehmen Drogen, um der Wirklichkeit zu entfliehen, oder sie zu übersteigern. Aber wenn man in Jesus Christus ist, muss einem das eine Luzidität eröffnen, die wahrscheinlich besser ist als Drogen usw. (Untersuchungen und die unmittelbare Evidenz zeigen natürlich das Gegenteil: Religiöse Menschen sind meistens nicht luzide, religiöse Menschen sind, sobald eine Sache Dinge ihres Glaubens berührt, meistens nicht aufrichtig, sondern passen die Interpretation ihrer Wahrnehmungen einfach an ihr Glaubenssystem an. (Kein Wunder freilich, wenn sie sich dann dauernd als „Sünder“ usw. vorkommen und ein schlechtes Gewissen haben.) Andererseits mag das den Status der Religion als logischer, rationaler Wahrheit betreffen, den sie hintanstellen. Aber religiöse Menschen betrachten ihre Religion eben primär als eine moralische Wahrheit, die ist ihnen die wichtigere Wahrheit, und die verteidigen sie dann gegen Angriffe, die von der logischen Wahrheit kommen. Umgekehrt können sich die Verteidiger von rationalen und logischen Wahrheiten auch gegen die Ansprüche moralischer Wahrheiten stemmen und sich darüber hinwegsetzen. Uns interessieren hier Möglichkeiten, wie man in der totalen Wahrheit leben kann.)

23 Wie kann man aber Gott gegenüber in der Wahrheit oder durchsichtig sein? In Entweder – Oder lässt sich Kierkegaard aus über Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben. Zwar meint Kierkegaard das ein wenig anders, aber ich finde einfach die Vorstellung gut, wonach es eine Instanz gäbe, die uns intellektuell und moralisch so weit überlegen ist, dass wir gegen sie immer nur im Unrecht sein können! Nichtsdestotrotz sei es unser Auftrag, trotzdem immer so Recht zu haben zu versuchen, wie uns das bei bestem Wissen und Gewissen möglich ist. Dann ist man gerettet und man ist durchsichtig in dieser Instanz. Wie will man „durchsichtiger in Gott“ sein, als darin, dass man gegen ihn immer Unrecht hat, das erkennt und das vor allen Dingen auch noch bejaht? Es wird so auch Gott dadurch durchsichtig für sich selbst. Es wird ihm klar: er hat ein Mangelwesen geschaffen. Als Gott kann er das auch nicht anders, sonst hätte er ja einen zweiten Gott geschaffen. Das zeigt ihm dann, in seiner Absolutheit, eine notwendige Relativität seiner selbst auf, und das ist unendlich lustig. Das hält die Sache ewig in Bewegung. Man kann mit dem Absoluten nicht auf Augenhöhe sein. Aber man kann eine Metaebene gegenüber dem Absoluten errichten, und sich so auf eine paradoxe Augenhöhe dazu begeben, sich ihm mimetisch annähern, ihm gleichsam auf der Nase rumtanzen. Wenn wir uns freuen darüber, dass wir gegenüber einer absoluten Instanz immer unrecht haben, errichten wir eine solches Plateau. Und das Absolute und das Relative sahen so beide, dass es gut war, und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Unsere absolute Verfassung ist: dass wir gegen Gott immer im Unrecht sind. Bejahen wir das also, und der ewige Bund mit dem Absoluten ist besiegelt.

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24 Wir wünschen die Wahrheit und finden in uns nur Ungewissheit. Wir suchen das Glück und finden nur Unglück und Tod. (Gedanke 193) Dabei gelang es Blaise Pascal doch, das von ihm als so allgegenwärtig beschworene Chaos der Welt handhabbarer zu machen, indem er (gemeinsam mit Fermat) die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte. Seine Berechnungsmethode vom Pascalschen Dreieck war von einer solchen intuitiven Genialität, dass selbst Fermat die Spucke weggeblieben ist. Bereits als Zwölfjähriger leitete Blaise die Sätze des Euklid – welche zu den größten Leistungen des deduktiven Denkens zählen – eigenständig her; im Alter vom 16 Jahren erschütterte er die französische Gelehrtenrepublik mit einer Abhandlung über Kegelschnitte. Mit 19 Jahren konstruierte er eine Rechenmaschine. Später befasste er sich Hydrostatik, mit dem Nachweis des Vakuums, mit der Berechnung von Zykloiden und lieferte mit seiner Arbeit über den Sinus des Viertelkreises entscheidende Hinweise für Gottfried Wilhelm Leibniz bei der Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Er befasste sich, unabhängig davon, auch mit Fragen der Didaktik und Pädagogik.

25 Dieses eines der fähigsten Hirne aller Zeiten steckte aber in einem hinfälligen Körper. Bereits als Kind litt Pascal an Episoden schwerer Krankheit, was sich sein Leben über fortsetzte. Die letzten Lebensjahre verbrachte er zunehmend in Siechtum. Er starb im Alter von nur 39 Jahren an einer Art Verfaulung der inneren Organe. Lebenslänglich hatte er an Kopfschmerzen gelitten. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass auch sein Hirn läsioniert war.

26 Ursprünglich war die Familie Pascal nicht übertrieben religiös gewesen. Die Bekanntschaft mit dem Jansenismus, einer christlichen Reformbewegung, die Rigorismus, Weltabkehr und Askese predigte, machte jedoch Vater wie Kinder zu religiösen Eiferern. Pascals hochtalentierte Schwester Jacqueline wurde gar eine ungemein glaubensstarke Ordensfrau und Nonne, im Kloster von Port-Royal, dem Zentrum der Jansenisten. Pascal interpretierte seinerseits seine körperlichen Leiden als göttliche Zeichen und hatte schließlich ein religiöses Erweckungserlebnis, nach dem für ihn nichts mehr so war wie vorher. Im Rahmen dieses außernatürlichen Erlebnisses empfand er eine abstrakte Begegnung mit dem göttlichen Licht und eine große Euphorie. Die Worte, die er dabei niederschrieb, trug er immer eingenäht in seine Kleidung mit sich, wo sie nach seinem Tod schließlich gefunden wurden. Wie für solche Erlebnisse charakteristisch, beschreiben sie einen Zustand ungeteilten großen Glücks und einer Art Einigkeit mit Gott, so als wäre man aller weltlicher Zustände und ihrer ständigen Fluktuationen enthoben und würde bereits in das ungeteilte jenseitige Paradies blicken. Das muss ein sehr außergewöhnliches Erlebnis sein. Ich würde das auch gerne kennen oder Näheres darüber wissen.

27 Die glaubensstarken und eifernden Jansenisten wurden allerdings sowohl der weltlichen Autorität als auch der etablierten Kirche bald ein Dorn im Auge. Zunehmend waren sie der politischen Verfolgung ausgesetzt, in der bald mit harten Bandagen gekämpft wurde. Das betraf auch Pascals Schwester und die Menschen von Port-Royal. Erbost darüber verfasste Pascal anonym seine Briefe an die Provinz, in denen der Jansenismus gegenüber dem Jesuitentum und gegenüber dem Laxismus verteidigt wurde. Die Briefe, die aufgrund ihrer hohen literarischen Qualität mit Leistungen aus der Antike verglichen wurden, erregten großes Aufsehen, wurden aber bald verboten und erschienen schließlich illegal, wodurch sich Pascal aber freilich noch weniger in seinen Überzeugungen beirren ließ.

28 Eine weitere wundersame Geschichte: Pascals kleine Nichte Marguerite litt an einem hartnäckigen Augenleiden. Nachdem alle medizinischen Versuche fehlschlugen, verschwand das Leiden plötzlich nach der Berührung mit einer religiösen Reliquie in Port-Royal – ein Wunder, das Pascal in seinem Glauben ein weiteres Mal bestärkte. Und darin, eine apologetische Schrift auf das Christentum in Angriff zu nehmen, die uns, aufgrund seines vorzeitigen Todes, eben als die Gedanken erhalten geblieben ist. Seine zunehmend extrem asketische Lebensweise und seine Selbstkasteiungen, seine mutwillige Selbstauferlegung von Schmerzen und Unbequemlichkeiten haben seinen Tod wohl noch zusätzlich beschleunigt. Der diesseitigen Welt abhanden gekommen ist Pascal aber schon viel früher. Das Erwachsenenleben des mathematisch-wissenschaftlichen Wunderkindes bestand in fortschreitender religiöser Entrücktheit, die allerdings ebenso geniale Formen warf, wie eben die Gedanken.

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29 Existenz bedeutet: spielen, singen, tanzen. Existenz bedeutet auch: behindert sein beim Spielen, Singen, Tanzen. Man ist in der Existenz mit Widerständen konfrontiert, oder aber die Existenz ist ihr eigener Widerstand und Widerspruch. Existenz bedeutet, wenn man darüber nachdenkt, oder sie versucht ins Philosophische zu heben: Sorge um die Existenz. Die Existenzphilosophen haben eine sehr nachdenkliche, verhaltene Sicht auf die Existenz. Nackte Existenz ist unbehaust, gefährdet, mit der Nicht-Existenz, von der sie doppelt begrenzt wird, scheinbar qualitativ identisch. Singen, spielen, tanzen wollten wir, doch hier kommen die Existenzphilosophen und schweres Wetter zieht auf. Und da kommt schon der schwerste von den Existenzphilosophen, der, der die ganze Existenzphilosophie gleichsam erfunden hat; Pascal. Scheiße, wir konnten unsere Sache nicht rechtzeitig packen und unser Picknick rechtzeitig verstauen; jetzt steht er da, eine zerklüftete, furchtbare Gestalt mit dem Wanderstab, und belehrt uns, und wir können seiner Belehrung nicht mehr entkommen: Man braucht keine besonders erhobene Seele zu haben, um zu begreifen, dass es hier keine wahrhafte und ausdauernde Befriedigung gibt, dass alle unsere Freuden nur Eitelkeit sind, dass unsere Leiden ohne Ende sind, und dass uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jahren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht oder unglücklich zu sein. Es gibt nichts Wirklicheres als das, und nichts Schrecklicheres. (Gedanke 1) Krach!, jetzt hat es gedonnert. Wir schaffen es, uns davonzumachen, er kommt uns langsam nach und wir hören ihn gleichsam aufzählen: Der Zustand des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Unruhe. (Gedanke 194) Vielleicht vernehmen wir die Worte nicht nur und nehmen sie uns sogar zu Herzen, einstweilen verlieren sie sich hinter uns, so wie der Existenzphilosoph, seine Worte vermählen sich schließlich mit dem Wind und werden ununterscheidbar mit dessen Pfeifen. Wir haben uns wirkungsvoll in unsere Trivialität zurückgeflüchtet.

30 Pascals Vorstellung von der Existenz ist aber nicht allein depressiv. Was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. Das Ende der Dinge und ihr Anfang sind in einem undurchdringlichen Geheimnis unüberwindlich für ihn verborgen. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen ist, wie die Unendlichkeit, von der er verschlungen ist. (Gedanke 313) So gesehen begreift Pascal den Menschen aber als aufgespannt zwischen dem Unendlichen und Absoluten und dem Nichts; er oszilliert, wie er es selber zur Philosophie erhebt, zwischen den beiden Polen: Größe – Elend.

31 Wenn man die ganze Natur des Menschen verstanden hat, und dann bewirken will, dass unsere Religion wahr sei, muss man zeigen können, dass sie unsere Natur erkannt hat. Sie muss unserer Größe und unsere Niedrigkeit erkannt haben und den Grund für diese wie für jene. Wer hat sie erkannt außer dem Christentum? (Gedanke 235)

32 Die wahre Religion müsste die Größe und das Elend lehren, müsste den Menschen dazu bringen, sich selbst zu achten und zu verachten, zu hassen und zu lieben. (Gedanke 234)

33 Die Größe des Menschen ist groß darin, dass er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt sein Elend nicht. (Gedanke 123) Der Mensch ist klarerweise groß, indem er erkennen und denken kann; womit er letztendlich auch Gott, sein eigenes Elend, und die Möglichkeiten der Befreiung aus dem eigenen Elend zu erkennen vermag. Über dem Menschen stehen die Engel, die Gott zwar besser zu erkennen vermögen, dafür aber die Freiheiten des Menschen nicht haben. Ansonsten ist der Mensch, indem er erkennen und denken kann, sogar dem ganzen riesigen, aber gedankenlosen Weltall überlegen: Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. … Aber wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt, und kennt die Überlegenheit, die das Weltall über ihn hat; das Weltall weiß nichts davon. (Gedanke 128)

34 Das Weltall und der Mensch. Dass so wunderbare Wesen wie wir Menschen von Gott abstammen müssten, und eine spezielle Beziehung zu Gott hätten, rührt als Vorstellung auch daher, dass wir sonst keine vergleichbare Spezies im Weltall kennen. Das kann dem religiösen Empfinden schon Auftrieb geben und selbst dem rationalen Menschen einen religiösen Schauer über den Rücken jagen. Wenn wir keine andere dementsprechende Spezies kennen, mit der wir uns vergleichen können, müssen wir uns ja mit Gott vergleichen, beziehungsweise uns zu einem Gott ins Verhältnis setzen.

35 Das Fermi-Paradoxon: Wenn es im Weltall zahlreiche außerirdische Zivilisationen gibt (wie man aufgrund der schrecklichen Größe des Weltalls ja annehmen würde), warum sind wir dann noch nicht auf sie gestoßen? Heute nimmt man an, dass einfaches Leben im Weltall vielleicht nicht so selten ist; es könnte sogar auf dem Mars vorkommen. Komplexes, eukaryotisches Leben beruhe dann aber offenbar auf einem viel größeren Glücksfall, der, relativ gesehen zumindest, nicht oft stattfinde. Intelligentes Leben sei dann noch viel seltener. Und Leben, das zu Kultur- und Technikleistungen imstande ist, also eben außerirdische Zivilisationen, das Seltenste überhaupt. Lawrence hat berechnet, die nächstgelegene außerirdische Zivilisation würde, bei der statistischen Verteilung, die sich daraus ergibt, zumindest 50 Millionen Lichtjahre von uns entfernt leben. Zum Vergleich: die berühmte Andromeda Galaxie ist 2 Millionen Lichtjahre weit weg. Die nächstgelegene außerirdische Zivilisation wäre im Vergleich dazu also zum Beispiel auf der anderen Seite des Virgo Galaxienhaufens beheimatet. Damit erklärt sich das Fermi-Paradoxon damit, dass Zivilisationen im Universum viel zu weit auseinander wären, um gegenseitig Signale voneinander zu erkennen, geschweige denn miteinander kommunizieren zu können. (Andere, wie Lovelock oder Lane, sind noch pessimistischer und betrachten hinreichend intelligentes Leben als dermaßen unwahrscheinlich, dass wir wahrscheinlich das einzige Beispiel dafür im ganzen Universum seien.)

36 Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich. (Gedanke 314)

37 Die Geheimnisse des Universums und der Physik sind noch nicht entschlüsselt, und die Technologie ist noch primitiv. Dennoch sieht es so aus, dass interstellare Reisen und das Kolonialisieren von anderen außerirdischen Welten schwierig bis unmöglich sein dürften. Es ist uns nicht bekannt, wie man die Lichtgeschwindigkeit überschreiten könnte. Und auch unterhalb der Lichtgeschwindigkeit wären hinreichende Raumfahrzeuge riesig und teuer und würden für ihre Reisen Unmengen an Energie benötigen, was insgesamt an Kosten die Wirtschaftsleistung unserer gesamten derzeitigen Weltwirtschaft um ein Vielfaches überschreiten würde. Um gar mit Überlichtgeschwindigkeit reisen zu können (so dass es sich auch tatsächlich lohnt), wäre negative Energie nötig. Ein Feld von negativer Energie würde sich allerdings kausal abtrennen von der übrigen Raumzeit und wäre kein guter Aufenthalt; das Innere von Schwarzen Löchern entspricht einem Feld von negativer Energie, und dort will man nicht hin. Um ein exotisches Feld aufrechtzuerhalten (auch, wenn die Möglichkeit überhaupt nur theoretisch dazu besteht), das den Raum krümmt, oder einen WARP-Antrieb ermöglicht, wäre wohl eine extreme Energiemenge notwendig. Eine Reise durch den Raum könnte die Energie eines ganzen Sterns verschlingen. Ähnlich wie die Menschheit auf der Erde hätte eine intergalaktische Raumfahrer-Zivilisation in ihrem Hunger nach Energie und nach Ressourcen wohl eine Spur der Verwüstung durch das Weltall gezogen. Wären allerdings Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit möglich, hätte eine solche Zivilisation innerhalb von nur einigen Tausend Jahren, oder eventuell einer Viertelmillion Jahre, das ganze Universum besucht. Das angenommen, stellt sich wieder die Frage: Wo sind sie also?

38 Es gibt also offenbar (noch) keine intergalaktischen Raumfahrer-Zivilisationen (auch wenn der Kosmos, so gesehen, noch jung ist, und es sie in der Zukunft geben könnte. So gesehen sind Zivilisationen im Universum nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit getrennt). Das macht uns Menschen schon zu einem sehr herausragenden Qualitätsphänomen im Universum. Mit der riesigen quantitativen Ausdehnung des Weltalls können wir nicht mithalten, und die macht uns irrelevant. Aber qualitativ sind wir vielleicht das bedeutendste Vorkommnis im Universum. Ein Wunder sind wir deswegen nicht, denn wenn unter Abermilliarden von Abermilliarden von Abermilliarden von möglichen Fällen der tatsächliche Fall ein oder ein paar Mal auftritt, ist das eher eine prosaische zufällige Fluktuation, mit der sich das ganze Mysterium erklärt. Aber zu etwas unglaublich Großem im Universum macht uns das schon; da hat Pascal schon recht. Zu etwas Gottähnlichem. Aber auch zu etwas von Gott reichlich Verschiedenem. Und Elendem.

39 Der Mensch ist ganz offensichtlich dazu geschaffen, um zu denken. Darin liegt seine ganze Würde begründet und dies macht all sein Verdienst aus, und seine ganze Pflicht besteht darin, in rechter Weise zu denken. Die Ordnung des Gedankens erfordert es nun, bei sich selbst, bei seinem Schöpfer und bei seinem Ziel zu beginnen. Doch woran denkt die Welt? Niemals daran! Vielmehr ans Tanzen, ans Lautenspiel, an Gesang, an Versedrechseln, an Reiterspiele, usw., und daran, sich zu prügeln, sich zum König zu machen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was es bedeutet, König zu sein und Mensch zu sein. (Gedanke 130)

40 Wo viel Licht, da auch viel Schatten. Während die Größe des Menschen darin besteht, denken und erkennen zu können, liegt für Pascal dessen Elend darin, dass er es meistens nicht tut. Da die Menschen den Tod, das Elend und die Unwissenheit nicht besiegen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, darauf verfallen, gar nicht daran zu denken. (Gedanke 176)

41 All diesem Elend zum Trotz will (der Mensch) glücklich sein und nichts als glücklich, und ist außerstande, es nicht zu wollen; aber wie wird er das anfangen? Um es richtig zu machen, müsste er sich unsterblich machen, da er es aber nicht kann, ist er darauf verfallen, sich des Gedankens daran zu enthalten. (Gedanke 175) Daher strebt der Mensch also Zerstreuung an, der Pascal viele seiner Gedanken widmet.

42 Auffällig umfangreich stellt Pascal Betrachtungen an über die Hohlheit und die Nichtigkeit der menschlichen Alltagsexistenz. Die Menschen beschäftigen sich damit, einem Ball oder einem Hasen nachzulaufen. Das ist sogar das Vergnügen der Könige. (Gedanke 185) Und überhaupt: Eitelkeit: Spiel, Jagd, Besuche, Theater, falsche Fortdauer des Namens (Gedanke 139) Das ist deswegen so, weil der Mensch im Allgemeinen innerlich leer sei. Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. (Gedanke 192)

43 Auch das Streben nach Wahrheit sei in erster Linie ein Spiel: Man liebt es, bei Disputen den Streit der Meinungen zu beobachten, aber ganz und gar nicht, die gefundene Wahrheit zu betrachten… (Gedanke 184). Und wenn nicht gespielt wird, wenn da keine Möglichkeiten zur Zerstreuung sind, macht sich Langeweile breit im menschlichen Herzen. So läuft das gesamte Leben ab: Man strebt nach Ruhe, indem man einige Hindernisse bekämpft. Und wenn man diese dann überwunden hat, dann wird die Ruhe aufgrund der Langeweile, die aus ihr erwächst, unerträglich. (Gedanke 181)

44 Überhaupt: die Eitelkeit, die Pascal hinter allem sieht. Wenn die Welt ein Nichts ist, aber aufgeblasen, ist sie naheliegenderweise eitel, denn Eitelkeit ist ja aufgeblasenes Nichts. Die Eitelkeit ist so tief im Herzen des Menschen verankert, dass … (Gedanke 147) Pascal immer wieder darauf zurückkommt, die diesseitige Welt sei, in der Hauptsache, „eitel“. Einem Menschen, der sich für das Jenseitige entscheidet, mag das vielleicht so scheinen. Eventuell weil mit Eitelkeit konnotiert ist: Vergeblichkeit, Substanzlosigkeit, Vergänglichkeit. Er vergewissert sich (moralisch), dass die jenseitige Welt die substanzielle ist, die diesseitige aber nicht (schließlich ist die unmittelbare Evidenz ja dazu gegenteilig). Er spricht sich so Mut zu. Trotzdem ist es ein wenig eigenartig, wo (ein so neugieriger und scheinbar gut in sich fundierter Mensch wie) Pascal überall Eitelkeit ausmacht (Neugierde ist nur Eitelkeit. Meistens will man nur etwas erfahren, um davon zu sprechen. (Gedanke 142)).

45 Ich aber will mir das so nicht vorstellen, also, dass die Welt Eitelkeit sei (inwieweit mich das wohl entlarvt?, denn: Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selbst sehr eitel. (Gedanke 192)) Ich glaube zwar, dass der Narzissmus eine wichtige Rolle spielt in dieser Menschenwelt (und auch in der Tierwelt), aber keine so ausschließliche. Man tut Sachen aus einer Leidenschaft heraus oder aus einem Interesse, oder aus bloßem Überlebenszwang. Das Resultat mag man dann narzisstisch besetzen, überhaupt wird man zunächst einmal harmlos stolz und voll der Freude sein, weil man da was zusammengebracht hat. Dann mag die Eitelkeit dazukommen. Aber die Grundlage für das Resultat ist dann eben doch eine andere als die Eitelkeit (nämlich ein tatsächliches Interesse an der Sache), und mit dem jeweiligen Resultat unmittelbarer verwandte.

46 Eventuell war Pascal also sehr eitel! Man könnte meinen, sein angestrengtes Asketentum sei sehr eitel (eine eitle Flucht vor der eigenen Eitelkeit, mit der man unzufrieden ist). Könnte so ein weiser, über den Dingen schwebender Mensch wie Pascal in Wahrheit sehr eitel sein? Man mag es sich ja kaum vorstellen können. Pascal aber zumindest bekennt: Ich sehe in meinen Abgrund des Stolzes, der Neugierde, der Begehrlichkeit. Es gibt keine Beziehung zwischen mir und Gott, noch zwischen mir und Jesus Christus, dem Gerechten. (Gedanke 612)

47 Aber Pascal, alter Motherfucker! Du bist doch ein ganz famoses Haus! Zeig den schönen Frauen in den leichten Kleidern doch, was für ein großer, sensibler Mensch du bist, voll der seelischen Qualitäten und zu großen Höhenflügen imstande und bereit! Das sagt man auch dem Emil, und dem Erwin, und dem Erich doch spontan immer wieder, wenn sie in verdrießliche Stimmung kommen und in ihr Bier weinen. Um sie aufzumuntern, und damit sie sich ihrer Kräfte und Qualitäten besinnen, die man bei ihnen dann doch immer als grundsätzlich vorhanden annimmt. Also würde man doch das erst recht einem wie Pascal zurufen. Aber in Wahrheit: Fremde Herzen kennt man nicht, fremde Herzen bleiben fremd, groß immer wieder die Enttäuschung, wenn zwei, die geglaubt haben, einen Herzens zu sein und voller Ideale desselben Weges zu ziehen, schließlich draufkommen: die Motive des anderen sind ja eigentlich doch ganz verschiedene, obwohl man sie immer als mit seinen eigenen gleich oder zumindest ähnlich vermutet hatte. In Wirklichkeit kennt sein Herz jeder selbst am besten. Und so wie sein Herz ist, wird er das Herz auch bei anderen vermuten. Was vermutet Pascal? Wie ist das Herz des Menschen hohl und voll von Gestank. (Gedanke 180)

48 Auf jeden Fall ist Pascals inneres Bild von der Existenz reichlich bipolar; manisch-depressiv. Dem Göttlichen will er sich absolut verschreiben. Die Euphorie dafür kennt er (oder tut er das wirklich? Handelt er nicht eher aus einem inneren Zwang heraus, den er dann leidenschaftlich besetzt?). Das Weltliche verwirft er; und selbst unter die ungeheure Vielfalt des Weltlichen, dem Glanz und dem Elend und dem ganzen Dazwischen, das das Weltliche aufweist, zieht er einen einzigen Strich und markiert dazu: Elend.

49 Widerspruch, Selbstverachtung, sterben für nichts, Hass auf unser Dasein. (Gedanke 141) … murmelt Pascal bei sich.

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50 Immer wieder wird versucht, die religiösen Asketen und ihre Leistungen zu verweltlichen, indem man vermutet, sie würden allein ihre Not zu einer Tugend machen. Auch Aldous Huxley sieht in Pascal einen kranken Menschen, unfähig Leidenschaften zu empfinden, und so versuche er sie eben auch theoretisch zu annullieren (und seine Leidenschaftslosigkeit zu legitimieren), im Rahmen seiner düsteren asketischen Religiosität.

51 Pascal selbst war schon zu Lebzeiten mit solchen Ansichten über derartige Masken der Frömmigkeit vertraut. Im Neunten Brief an die Provinz zitiert er aus einem Werk des Pater Le Moyne, einen der Kasuisten, die er darin bekämpft: „Ich leugne nicht, dass es Fromme gibt, die aufgrund ihrer Veranlagung bleich und melancholisch sind, die Stille und Zurückgezogenheit lieben, die nur Trägheit in den Adern haben und aschgrau im Gesicht sind … Ein solcher Tor hat keine Augen für die Schönheiten der Kunst und der Natur. Er würde glauben, eine unbequeme Last auf sich zu laden, wenn er sich irgendein Vergnügen gönnte. An den Festtagen zieht er sich unter die Toten zurück. Er gefällt sich mehr in einem Baumstamm oder in einer Höhle als in einem Palast oder auf einem Thron. Gegen Schmach und Beleidigungen ist er so unempfindlich, als hätte er die Augen und Ohren einer Statue. Ehre und Ruhm sind Götzen, die er nicht kennt und denen er keinen Weihrauch opfert. Ein schönes Weib ist für ihn ein Schreckgespenst. Und die stolzen, königlichen Gesichter der Frauen, die lieblichen Tyrannen, die überall Sklaven finden, freiwillig und ohne Ketten, üben auf seine Augen keine stärkere Wirkung aus als die Sonne auf die einer Nachteule.“ (dies zitiert Pascal aus dem Werk Les Peintures morales, ou les Passions sont representées par Tableaux, par Charactéres, et par Questiones nouvelles et curieuses des besagten Paters aus dem Jahre 1640) Pascal mieselsüchtig an seinen imaginären Adressaten im Brief: Ich kann Ihnen versichern, … wenn Sie mir nicht gesagt hätten, dass diese Schilderung von dem Pater Le Moyne stammt, so würde ich geglaubt haben, irgendein Gottloser wollte mit ihr die Heiligen ins Lächerliche ziehen. Denn wenn dieser Tor nicht das Bild eines Menschen ist, der sich von allem losgelöst hat, dem zu entsagen uns das Evangelium verpflichtet, dann bekenne ich, dass ich nichts davon verstehe. Pascal ist wohl nicht entgangen, dass er selbst mit dem religiösen Asketen, der aus seiner Not eine Tugend machen will, zumindest äußerlich identisch ist. In das Innere eines Menschen kann man freilich nicht hineinsehen. Man sieht nur seine Zeichen, die Zeichen, die er aussendet. Und Pascal sendet Zeichen aus, die ihn für unbeschwertere Geister verdächtig wirken lassen.

52 (Anschließen will ich mich denen nicht unbedingt – ich glaube ja immer nur an das Beste und an das Aufrichtige im Menschen – aber das, was sie sagen, erwähnen…)

53 Huxley meint, während Nietzsche seine Krankheiten habe überwinden wollen, und sich in einen leidenschaftlichen Vitalismus hineingesteigert habe, der tatsächlich eine großen Lehre für die Menschheit und für verdrossene Individuen ist, habe Pascal sich leidenschaftlich gegen die Leidenschaften gerichtet und sein Siechtum zu einer religiösen Tugend, verbunden mit ultimativem Erlösungsglauben gemacht. Nietzsche hat später im Antichrist, etwas einseitig, das Christentum als ein Phänomen der décadence begriffen, der Lebensabtötung. Aber Nietzsche hatte ja immer wieder Pascal im Blick.

54 Pascal äußert sich an etlichen Stellen in den Gedanken auch negativ über Montaigne. Natürlich muss der mit seiner sehr diesseitsorientieren Essayistik ein Affront und ein Gegenmodell zum Pascalschen Entwurf über die Existenz sein. Also versucht Pascal sich davon abzugrenzen, um seine Positionen abzustecken. Aber vielleicht waren Pascal auch die lebensprallen Schilderungen und die lebenspralle Einstellung bei Montaigne zuwider, und er reagiert mit Ressentiment darauf.

55 Goethe äußerte sich im Hinblick auf Pascal: Wir müssen einmal sagen: Voltaire, Hume, La Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule, haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet, als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.

56 Und Voltaire: … wenn ich London oder Paris betrachte, sehe ich keinen Grund, in die Verzweiflung zu geraten, von der Pascal spricht; ich sehe eine Stadt, die in nichts an eine verlassene Insel erinnert, sondern bevölkert, reich und gesittet ist, wo die Menschen glücklich sind, soweit die Natur das mit sich bringt. Wer ist der kluge Mann, der bereit sein wird, sich zu hängen, weil er Gott nicht gegenüberzutreten weiß und das Geheimnis der Dreieinigkeit nicht zu lösen vermag? … Warum uns Angst machen vor unserem Wesen? Unsere Existenz ist nicht so unglücklich, wie man es uns glauben machen will. Die Welt als einen Kerker anzusehen und alle Menschen als Verbrecher, die man henken wird, ist die Idee eines Fanatikers.

57 Aber man kann in Voltaire auch einen zynischen Börsenspekulanten sehen, der zu oberflächlich war, um die Metaphysik von Leibniz zu begreifen. Und in Goethe einen ständig in die Irre gegangenen Unbehausten, der Eckermann im hohen Alter nichts anderes zu gestehen vermochte, als dass er in seinem Leben vielleicht ein paar glückliche Wochen allein verbracht habe. Das Glück ist weder außer uns, noch in uns; es ist in Gott, und sowohl außer und als auch in uns. (Gedanke 205)

58 (Heine hat vermutet, dass der verdrossene Goethe, der kaum je einen Augenblick auffordern wollte: Verweile doch, du bist so schön, ihn deshalb so frostig aufgenommen habe, weil er, Heine, im Gegensatz zu Goethe im Wesentlichen heiter und unbeschwert sei, und Goethe das registriert und eifersüchtig darauf reagiert habe.)

59 Auch wenn er sich von den Vorbildern seiner Jugend Schopenhauer und Wagner später emanzipiert hat, bewahrte der Antichrist Friedrich Nietzsche eine lebenslängliche Bewunderung für Pascal. Warum eigentlich? Wahrscheinlich, weil er in Pascal einen aphoristischen Metaphysiker und Erkunder der Existenz sah, der der Existenz unverwandt ins Auge blickte und darin ähnlich Depressives sah wie Zarathustra. Diese „Ehrlichkeit“ hat Nietzsche imponiert, er betrachtete Pascal als eine „starke Natur“, eine Art Herren- und Übermensch, die er so attraktiv fand – nur sei das Christentum stark genug gewesen, „selbst eine solche Natur wie Pascal“ zugrunde zu richten. Weswegen Nietzsche dem Christentum den Krieg erklärte. Auch Nietzsche fühlte sich dauernd von der Existenz „geschwächt“ und in seinen „Instinkten“ in die Irre geleitet von: den unteren Schichten der Gesellschaft, der Demokratie, dem Sozialismus, dem Bildungswesen, der deutschen Küche, Alkohol, Frauen, dem Parsifal und eben dem Christentum. Nietzsche war auch, wie Pascal, ein physiologisch kranker Mensch. Als Gegenmodell dazu hat er sich aber in seinen Vitalismus und seinen Kult vom Übermenschen reingesteigert, als Methoden, über die nackte Existenz zu triumphieren. Nietzsche wollte ewig wiederkehren, Pascal wollte sterben.

60 War Pascal in seinem Glaubenseifer also in etwa verrückt? Oder war er einfach nur sensibler, ist dadurch in Bereiche vorgedrungen, die weltlichen Naturen wie Goethe oder Voltaire verschlossen bleiben, von jemanden wie Nietzsche allerdings erahnt werden?

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61 Religion ist (in dieser Hinsicht) gut, denn sie bedeutet eine größere Sensibilität im Empfinden der Existenz und eine größere moralische Ernsthaftigkeit. Mit gefällt eine Sensibilität – eine metaphysische Sensibilität – für das Umgebende, und mir gefällt eine moralische Ernsthaftigkeit. Daher gefallen mir auch, in gewisser Weise, religiöse Menschen. Niemand ist so glücklich, so tugendhaft, so liebenswert wie ein wahrer Christ. (Gedanke 94) Zumindest gefallen mir religiöse Menschen, unter gewissen Vorbehalten, aus der Ferne bzw. in wohldosiertem Abstand wenigstens; eben deswegen. Religion ist ein Mittel, ein Aufruf, für den Menschen, sich über das bloße Mittelmaß zu erheben: und das ist gut, das ist konstruktiv (auch wenn sie praktisch dann wieder neue Grundlagen und Selbstverständnisse für saturierte Mittelmäßigkeit schafft und zulässt -> daher dann auch Pascals Kampf gegen die Laxheit). Dann noch eben die scheinbare Fröhlichkeit und Lebensfreude, die Entspanntheit der religiösen Menschen (auch wenn sie womöglich hauptsächlich aus einer Unfähigkeit stammen mag, sich tatsächlich Sorgen/Gedanken zu machen). Usw.

62 Ich habe also durchaus ein Sensorium für die Erhabenheit der Religion, und das Positive, das sie in einem bewirken kann. Dabei frage ich mich aber natürlich schon, wie religiöse Menschen all diese Sachen, die sie glauben, tatsächlich ernst nehmen können. Doch: Das Herz hat seine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. (Gedanke 89)

63 Es ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht der Verstand. Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand. (Gedanke 90) Pascal weiß also selber, dass der Glaube eine letztendlich rational nicht verhandelbare Angelegenheit des Gefühls ist. Dennoch nannte ihn Nietzsche anerkennend „den einzig logischen Christen“. Das ist kein Widerspruch, man kann ja auch logisch sein im Umgang mit seinen Gefühlen.

64 Etwas, das logisch ist, bei der Gelegenheit angemerkt, ist aber freilich noch nicht schon allein deswegen wirklich. Das Logische ist nicht so weitreichend, wie man glauben mag. Idealerweise bedeutet Logik, dass man aus Annahmen einen eindeutigen und richtigen Schluss ziehen kann. Ein logischer Schluss ist dabei außerdem nicht notwendigerweise ein logischer Beweis; sondern zunächst einmal nur Basis für ein logisches Argument. So genannte Gottesbeweise (in die hinein Pascal sich aber nicht versteigt), basieren meistens auf Logik. Allerdings lassen sich gegen alle Gottesbeweise auch logische Gegenargumente einbringen; es gibt keinen Gottesbeweis, der dagegen gefeit ist. Das reduziert die Gottesbeweise dann zu logischen Argumenten, die nahelegen könnten, dass (so etwas wie) Gott existiert. Während die logischen Gegenargumente eine solche Annahme hauptsächlich entkräften. Ob man dann eher zum theistischen Argument neigt oder zum atheistischen, ist dann wieder eine Sache des Glaubens. Wir erkennen die Wahrheit nicht mit der Vernunft allein, sondern auch mit dem Herzen… (Gedanke 334) Bewiesen ist dadurch aber eben nichts.

65 Außerdem bedeutet Logik: Man zieht einen logisch richtigen Schluss aus bestimmten Annahmen. Das heißt aber nicht, dass die Annahmen richtig sind, oder umfassend gelten. Pascal hat lauter eigenwillige Annahmen über die Existenz (aus denen heraus er allerdings nichts beweisen will: so dumm ist er nicht). Allerdings stellt er auch die Annahme zur Disposition, Gott könnte gar nicht existieren. Das ist dann der Gegenstand der berühmten Pascalschen Wette. Der zufolge könne man durch die Annahme, dass Gott existiert, nur gewinnen, während man, bei Richtigkeit der Annahme, dass Gott nicht existiert, zwar nicht verliert, aber auch kein ewiges Seelenheil gewinnt. Gottes Existenz anzunehmen, sei also relativ zu anderen Optionen das Lohnendste.

66 Hmm.

67 Indem Religion eine Sache des Herzens und des Gefühls ist, haben religiöse Stimmungen aber ihren Sitz im Gehirn. Zwillingsstudien legen nahe, dass unsere Affinität für Religion zu 50 Prozent genetisch bedingt ist. Frühe Prägungen durch das Umfeld verankern unsere Disposition zur Religiosität in unseren Hirnkreisläufen wie die Muttersprache. Die genetischen Anlagen spielen eine wichtige Rolle darin, ob wir uns später im Leben leicht von der Religion lösen können oder an ihr festhalten. Vor über 20 Jahren postulierte der amerikanische Genetiker Dean Hamer die Existenz eines „Gottes-Gens“, bei dem Variationen darüber entscheiden, wie anfällig für Spiritualität und Religion man sei. Es handle sich um den vesikulären Monoamintransporter (VMAT2), der den Zufluss der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin, Histamin und Noradrenalin erleichtere; Neurotransmittern also, die entscheidend auf unseren Gefühlshaushalt wirken, und deren Anwesenheit oder Abwesenheit Euphorie oder Depression begünstigt. Bis heute ist die VMAT2-These, beziehungsweise dass für etwas so Komplexes wie religiöse Sentiments ein einziges Gen verantwortlich gemacht werden könne, aber umstritten.

68 Gehirnscans und bildgebende Verfahren ermöglichen ihrerseits ständig neue Einsichten, wie bestimmte Gefühle und Dispositionen mit bestimmten Regionen im Hirn in Verbindung stehen. Genauso Langzeitstudien mit Menschen, die Gehirnschädigungen erlitten haben. Tumore oder Verletzungen im Gehirn mögen Menschen gravierend verändern, auch im Hinblick auf ihre Religiosität, die nach einem solchen Erlebnis signifikant zunehmen oder abnehmen mag. Vor wenigen Jahren haben Forschungen ergeben, dass insbesondere das Periaquäduktale Grau mit religiösen Stimmungen in Verbindung steht. Selbst im Periaquäduktalen Grau gebe es sowohl hemmende als auch fördernde Areale: Verletzungen bestimmter Areale führten zu einer Abnahme an religiöser Empfindsamkeit, während sie diese bei anderen Teilarealen verstärke. Die Areale im Periaquäduktalen Grau, die für Hyperreligiosität verantwortlich sind, stünden auch in Verbindung mit Halluzinationen und einer gestörten Körperwahrnehmung. Das Periaquäduktale Grau ist dabei eine evolutionär sehr alte Hirnregion und sitzt im Stammhirn. Das legt nahe, dass Religiosität und Spiritualität bei uns in fundamentalen neurologischen Prozessen involviert sind, und „tief in unsere neurologische Matrix eingeschrieben“. Gott ist also, so gesehen, nicht tot.

69 Untersuchungen mit gläubigen Mormonen zeigen auf, dass in religiösen Zuständen der Nucleus accumbens aktiviert wird, ein Belohnungszentrum in Hirn, das Glücksgefühle auslöst. Auch das Zentrum für die Aufmerksamkeit und der mediale präfrontale Cortex werden bei spirituellen Empfindungen aktiv. Dieses Hirnareal ist unter anderem für Bewertungen, die Einschätzung von Situationen und moralische Überlegungen zuständig. Bei Menschen, die meditieren, feuern Neuronen anders als herkömmlich, und lange Übung im Meditieren kann die Hirnstruktur verändern. Die Meditationspraxis verstärkt Verknüpfungen von Hirnarealen, die für Wahrnehmung und Selbstkontrolle zuständig sind und hemmt das Angstzentrum. Das „ganzheitliche Erleben“, das mit Spiritualität in Verbindung steht, mag seine Grundlage in der besseren Vernetzung von Hirnregionen haben. Interessant also, was weitere Forschungen erbringen werden. Inwieweit sich Religion – und alles Mögliche andere auch – auf ein bloßes „Gehirnphänomen“ reduzieren lasse, ist natürlich eine andere Frage. Die derweil auch unterschiedliche Antworten zulässt. Wir sind unser Gehirn lautet ein Buchtitel des Hirnforschers Dirk Swaab. Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert hingegen heißt ein Buch des Philosophen Markus Gabriel. (Descartes`Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn des Neurologen Antonio Damasio plädiert hingegen dafür, Denken und Fühlen als nicht voneinander getrennt, sondern als eine Einheit zu begreifen, beziehungsweise als eine Wechselwirkung. Das allerdings eben wusste auch schon Pascal.)

70 Die Wissenschaft, so darf man erwarten, wird aber schon das Nötige richten und besorgen.

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71 Eben gerade genieße ich eine sehr spezielle Lektüre: den Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz mit den Jesuiten in China zwischen 1689 und 1714. Der große Universalgelehrte, der wohl noch ein wenig gescheiter war als sogar Pascal, hatte auch ein leidenschaftliches Interesse an China, und er korrespondiert mit den Patres in China über Pflanzen, Mineralien, Metalle und Erden in China, darüber, wie man in China Häute und Papier bearbeitet, wie die Chinesen astronomische Berechnungen anstellen, wie sie Blattgold auf Seide auftragen, wie sie im Schiffsbau zusammengefaltete Segel herstellen und welche Vorrichtungen sie da gegen Windstöße kennen. Im I Ging glaubt Leibniz einen Universalschlüssel für menschliches Wissen zu erkennen, ähnlich zu seiner eigenen Hoffnung, man könne aus der Mathematik eine Art Universalsprache extrahieren; nur dass dieses Wissen bereits vor unvordenklichen Zeiten aus der Traufe gehoben wurde (von einer Art mythischen Gestalt namens Fuxi, einer Art östlicher Hermes Trismegistos). Und die Patres antworten sehr genau und detailliert, es ist eine Konversation auf höchstem Niveau, die noch heute über hunderte von Seiten hinweg von Anfang bis Ende lesenswert ist. Ebenso enthusiastisch wie über die Entdeckungen in China steigert sich Leibniz mit seinen Gesprächspartnern in die Hoffnung und Zuversicht hinein, das Christentum nach China bringen zu können, den Kaiser von China zum Christentum bekehren zu können und im Gefolge ganz China zu christianisieren. Man kann sich das heute wahrlich nur mehr schwer vorstellen, beziehungsweise sich da hineinversetzen: was für eine bedeutende, allumfassende und unhinterfragte Rolle und welchen Zauber die Religion selbst über die erlauchtesten Geister früherer Zeiten ausgeübt hat, die kaum irgendetwas als dringlicher erachteten, als diese ihre Religion der ganzen Welt überzustülpen. Andererseits, wie soll es angesichts eines dermaßen integralen Systems, wie es die christliche Religion damals war, die alles Denken und alle Lebensbereiche vereinheitlicht hat, auch anders sein? Es war eine Grundheuristik, es war die Matrix der Welt; und aus der Matrix kann man bekanntlich kaum ausbrechen. Aufgrund der Fortschritte in der Wissenschaft und in der Philosophie ist diese Einheit der Sphären zerbrochen, und die Wissenschaftler und Philosophen sind heute im Allgemeinen nicht mehr so, und von solchen Hoffnungen und Zuversichten getrieben, wie es Leibniz und Pascal damals waren. Aber es ist durchaus naheliegend, dass sie damals so waren; auch wenn man sich in so was nicht mehr ganz hineinversetzen kann. Heute betrachtet sich nach wie vor der Islam als ein derartig integrales, alle Lebensbereiche vereinheitlichendes System, und heute hat man Angst, dass der Islam sich über das ganze Abendland überstülpen will. Heute wollen die Chinesen die ganze Welt sinisieren. (Wie beruhigend also zu sehen, wie solche Hoffnungen schon damals eine völlige Fehleinschätzung waren.)

72 Was für tapfere, gleichsam heroische Menschen der Wissenschaft und der Pflege des interkulturellen Austauschs das waren, die uns im Briefwechsel von Leibniz mit den Jesuiten in China entgegentreten! Hättest du das gewagt, im Jahr 1692 einen morschen Kahn nach China zu besteigen, und umständlich die sieben Weltmeere befahren, um dort dann dem furchtbaren chinesischen Kaiser gegenüberzutreten (vorher müsstest du zudem noch Chinesisch lernen)? Großes, wohltuendes Vertrauen flößen solche Zeugnisse einem ein, in die Menschheit, in die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft! Was die Menschheit alles imstande ist, auf sich zu nehmen, um sich besser kennenzulernen und Wissen zu vertiefen! (Pascal hingegen hat für sich … entdeckt, dass das ganze Unglück der Menschen aus einer einzigen Ursache kommt: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können. (Gedanke 178)) Pascal wurde von seinem wissenschaftsbegeisterten Vater früh in die Wissenschaften eingeführt, tat sich selber als Knabe darin hervor, gelangte in den höchst elitären wissenschaftlichen Zirkel rund um Père Mersenne, korrespondierte mit Fermat (der Briefwechsel ist, zum großen Unglück für die Mathematik, leider verschollen) usw. Wie aber äußert sich Pascal über dieses hochedle und von solch einem Drang zur Konstruktivität angetriebenen Wesen, den Menschen? Alle Menschen hassen einander von Natur. Man hat, soweit man dazu imstande war, die Begehrlichkeit ausgenützt, um sie dem öffentlichen Wohle dienstbar zu machen: aber damit täuscht man nur ein falsches Bild der Liebe vor, denn im Grunde ist das nur Hass. (Gedanke 245)

73 Gegen die schreiben, welche die Wissenschaften zu sehr vertiefen. Descartes. (Gedanke 64)

74 Descartes und Pascal waren Zeitgenossen. Der ältere Descartes war als Mathematiker, Wissenschaftler und Philosoph eine fix etablierte, unhintergehbare Größe in der intellektuellen Szene seiner Zeit. Auf den Jungstar Pascal blickte er mit (zumindest verstohlener) Neugier, aber scheinbar auch mit einem gewissen Argwohn und vielleicht mit Eifersucht. Descartes hat Pascal nur zweimal kurz hintereinander aufgesucht, da lag Pascal krank im Bett. Er wollte dabei vor allem die Frage nach dem Vakuum diskutieren, über die er und Pascal gegensätzlicher Meinung waren. Pascal hat sich zu dem Zeitpunkt dafür aber nicht mehr so sehr interessiert. Er empfand das Gespräch mit Descartes nachträglich als limitiert.

75 Descartes gilt als der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Seine Intervention ist die Postulierung des klar analytischen, deduktiven Denkens als alleiniger Methode, um zu wahrheitsfähigen Aussagen zu kommen. Seine andere Intervention ist die Skepsis. Sich der zweifelhaften Natur von fast allem, was ihn umgibt und dennoch allgemein als „wahr“ angenommen wird, will Descartes skeptisch alles in Zweifel ziehen, ob es denn tatsächlich wahr sein könne, und es einer umfassenden, radikalen Überprüfung unterziehen. Damit stößt Descartes an und für sich vor in eine Philosophie ohne religiös-metaphysischen Überbau und ohne Gott (auch wenn er diesen, über scheinbar klare logische Argumente, sofort wieder einführt, wie alles Mögliche andere auch. Ein Landsmann hat über Descartes witzig geurteilt: Er hat zuerst alles bezweifelt, um schließlich alles zu glauben. Der Kern von Descartes Intervention liegt aber eben tiefer und ist allgemein brauchbarer). Auf jeden Fall ist mit Descartes die Frage der Philosophie nicht mehr: Was ist die Struktur des Seins? Sondern: Was kann ich wissen, worüber kann ich mir tatsächliche Klarheit verschaffen? Das Zentrum der Philosophie wird also das autonome Subjekt. Unumstößliche Gewissheiten strebte die Philosophie zwar immer schon an, neu war aber die denkerische Radikalität, die man diesbezüglich bei Descartes hatte. Heute scheint der Gestus von Descartes schon lange nicht mehr radikal, sondern vielmehr banal. Auch wenn wahrscheinlich trotzdem kaum ein Mensch so wie Descartes nach wie vor denkt. Aber in seiner ursprünglichen Originalität war er vielleicht ähnlich radikal wie das Philosophieren von Wittgenstein.

76 Wittgenstein wird als lausiger Volksschullehrer beschrieben, für einen solchen Job naheliegenderweise kaum geeignet. Aber er hat seine Schulkinder nicht nur geschlagen, sondern konnte ihnen auch ungewöhnlich nahe sein und hat sich über das gewöhnliche Maß hinaus um sie gekümmert. Als bei einer Wanderung durch den Wald ein Junge ängstlich wurde, gesellte sich Wittgenstein zu ihm und sagte: Hast du Angst? Dann musst du nur ganz fest an Gott denken.

77 Wittgenstein ist so charismatisch, weil er ein durch und durch existenzieller, von der Frage nach dem Sinn der Existenz scheinbar gebeutelter Denker scheint. Er war auch moralisch kompromisslos, und hatte, trotz seiner weltlichen Natur, ein religiös erhobenes moralisches Empfinden. Immer wieder hat sich Wittgenstein in seinem Leben mit seinen „Sünden“ beschäftigt, und wollte sie abtun. Als er sich Jahrzehnte danach an ein Mädchen erinnerte, das er als Lehrer besonders hart geschlagen hatte (weswegen er dann auch seinen Posten verloren hatte), fuhr er beim nächsten Mal, als er in Wien war, im tiefsten Winter über den Wechsel nach Niederösterreich (damals eine Reise von vier Stunden), um sich bei der mittlerweile Erwachsenen in aller Form zu entschuldigen und bei ihr Abbitte zu leisten. Mit einem teilnahmslosen Ja, ja… winkte die ihn ab. Daraufhin fuhr Wittgenstein im tiefsten Winter wieder vier Stunden zurück über den Wechsel nach Wien. Als er seinen Posten als Volksschullehrer angetreten hatte, schrieb Wittgenstein an Russell über seine neue Erfahrung: Auch wenn Menschen überall schlecht seien, komme es ihm so vor, als wie sie bei ihm in Niederösterreich am schlimmsten wären. Russell hielt dagegen, die Niederösterreicher und ihre Kinder seien wohl auch nicht schlimmer als die Menschen anderswo. Unterhaltung zwischen erlauchtesten Geistern.

78 Wittgenstein verfügt über ein einzigartiges Charisma, denn er war eine Art Heiliger, eine religiöse Figur in einem modernen Zeitalter. Das Verlangen danach, die Wahrheit herauszufinden, und festzustellen, was richtig ist und was falsch, war bei ihm so stark ausgeprägt, und so rücksichtslos seiner eigenen Person und seinen eigenen weltlichen Interessen gegenüber, dass es eben religiös wurde. Wenn einem Wahrheit so stark beschäftigt, wird die Wahrheit etwas Heiliges. Je mehr man sich der Wahrheit annähert – und desto luzider man sie erkennt – desto mystischer wird sie (weil sie sich ja immer wieder entzieht) und man lebt in einem Raum des mystischen Ahnens. Das ganze Leben ist eine geistige Suche und wird somit also spiritualisiert. Religion bedeutet eben sorgfältige Beachtung, Unterwerfung unter ein höheres Prinzip. Und dieses höhere Prinzip, die absolute Instanz ist für den Wahrheitssucher eben die Wahrheit. Rene Girard geht davon aus, dass tiefsinnige Schriftsteller Erfahrungen machen, die er in eine Klasse mit den religiösen Erfahrungen stellen will. Klar, wenn man sich so intensiv mit der Menschheit beschäftigt, sich introspektiv und empathisch, sympathetisch in sie vertieft, und nach einer Lösung sucht für die Probleme der Menschheit und das Menschheitsproblem, gerät man in diesen selben religiösen Raum. Einstein formuliert eine „kosmische Religiosität“: eine Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Universums, als der übergeordneten, absoluten Instanz.

79 Bei Wittgenstein waren die intellektuelle Existenz und die ethische Existenz unmittelbar verbunden, und in diesem Amalgam haben sie sich diese Pole gegenseitig intensiviert. Sein Problem war, wie man aus logischen Sätzen ethische Sätze gewinnen könne; und er erachtete das als unmöglich. Es handle sich um verschiedene Sphären. Das religiöse Empfinden verbindet aber urtümlich Seinsaussagen mit Sollensaussagen, empfindet das Dasein als etwas Normatives, die grundsätzliche, logisch ablesbare Ordnung der Welt als eine profund ethische. Wittgenstein sagt im Tractatus: der Sinn lasse sich nicht aussagen, der Sinn zeige sich. Der hochethische Wittgenstein hat keine moralphilosophischen Aussagen gemacht. Aber er hat die Moral aufgezeigt, indem er kraftvoll ethisch gelebt hat. Er hat seine moralphilosophischen Aussagen gemacht, aufgezeigt, durch seinen praktischen Lebensvollzug.

80 Das rätselhafte Charisma, eigentlich müsste man sagen, die hypnotische Wirkung, die Wittgenstein auf andere Intellektuelle ausübt, beruht (neben dem Rätselhaften an sich, das man bei jedem Charisma hat) auf der extremen Entschlossenheit und Prägnanz, dem scheinbaren Gestus übermenschlicher Kraft und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, mit der sich Wittgenstein auf eine oder in eine Sache stürzt, um deren Wahrheit zu bestimmen oder deren Qualität festzustellen. Sowie gleichzeitig, dass er sich von einer Sache zu lösen weiß, wenn die Wahrheit woanders zu liegen scheint. Er orientiert sich tatsächlich an rein abstrakten Qualitäten, wie dem Wahren, Guten, Schönen, und nicht an Gegenständen, in denen er diese Qualitäten letztendlich reinprojizieren würde. Mit dieser ungeheuren Flexibilität imitiert Wittgenstein scheinbar die Fluidität des Geistes Gottes. Er ergreift die Dinge ernsthaft, und ist ernsthaft genug, sie wieder loszulassen und sie nicht zu verabsolutieren und zu verdinglichen. Er kann sich in eine Richtung bewegen und in eine beliebige andere auch, und schlägt vor allen Dingen dauernd unvorhersehbare Haken; allerdings nicht aus einer Laune heraus, sondern je nachdem, wie sich die Gedanken in aller Stringenz entwickeln. Denken heißt, einer Hexenlinie folgen. (Deleuze/Guattari) Wittgenstein errichtet eine Metaebene über die Philosophie und über das Denken: und das ist das rätselhafte Charisma Wittgensteins. Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr heraufgestiegen ist.), lautet der vorletzte Satz 6.54 aus dem Tractatus, unmittelbar vor dem unergründlichen Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wittgenstein ist kein systemerstellender) Philosoph, sondern ein (alle Systeme reflektierender) Meta-Philosoph. Damit hat Wittgenstein dann wahrscheinlich den transzendentalen Intellekt, über den nichts mehr hinausgehen kann. Und das ist dann eben das rätselhafte Charisma von Wittgenstein.

81 Sich über die Philosophie lustig machen, das heißt in Wahrheit philosophieren. (Gedanke 702)

82 (Soll man versuchen, Gedanken 702 auch auf die Religion anzuwenden? Das ergibt dann eine Meta-Religiosität. Dem Absoluten kann man sich nicht gleichberechtigt nähern. Auf der Metaebene kann man aber mit ihm tanzen und sich mimetisch zu ihm verhalten. Das ist die Hoffnung. Das Erbauliche in dem Gedanken, dass man gegen Gott immer unrecht hat. Und das muss einen praktisch nicht verzweifeln lassen. Denn es ist ja nur eine gedankliche Wahrheit.)

83 Wahrscheinlich ist das die Art und Weise, wie man leben soll; der Lebensvollzug auf der höchsten Stufe. Das scheint kaum einem einzuleuchten, und Wittgensteins Leben gilt, aufgrund seiner ständigen Hin- und Hergebeuteltheit, als exemplarisch unglücklich. Wittgensteins letzte Worte auf dem Totenbett aber waren: Sagen Sie allen, ich hatte ein wundervolles Leben.

84 Descartes begründet einen Optimismus. In seiner Welt wird es Licht, es wird eine Methode angegeben, wie die Welt eindeutig begreifbar und beherrschbar werden kann, und dieses Licht liegt im Menschen selbst. In seiner Schrift über Die Leidenschaften der Seele betrachtet Descartes auch Gefühle in einer gleichsam mechanischen Art und Gefühlsregungen als deduktive Ableitungen (etwas, das man, ebenso irritierend, später dann auch bei Spinoza wiederfinden sollte, der ebenfalls glaubte, in der deduktiven Methode nach dem Vorbild der Geometrie alles bestimmen zu können). Das unterscheidet sich dann doch sehr von der zerklüfteten, sturmumwitterten Landschaft, die man bei Pascal hat, der Atmosphäre, wo aus dem Halbdunkel Teile eines Antlitzes mit einem halbverrückten Grinsen einem entgegenragen. Bei Pascal hat man ein Klima der Instabilität und der Irrationalität, wenn über die Leidenschaften und über das Sein des Menschen gesprochen wird. Das für immer unbeherrschbar bleibt, außer man flüchtet sich absolut zu Gott. Skeptizismus diesbezüglich ist die Sache von Pascal nicht, nur eben der unbedingte Glaube (inmitten eines irdischen Umfeldes, das aber nicht zu einem wohldosierten Skeptizismus einlädt, sondern pathologisch unzuverlässig ist). Was auch immer Descartes für die Philosophie geleistet hat, die lebensechtere Darstellung des Lebens und des Literarischen und Poetischen im Leben, ist viel eher die Sache und das Verdienst Pascals. Pascal war ein Schriftsteller des Lebens. Während Descartes also der Begründer der modernen Philosophie ist, so ist Pascal gleichsam der Begründer der Existenzphilosophie.

85 Ich habe lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften verbracht, und die geringe Möglichkeit der Mitteilung, die man darin haben kann, hat sie mir verleidet. Als ich mit dem Studium des Menschen begann, habe ich gesehen, dass diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht gemäß sind, und dass ich mich durch mein Eindringen in sie über meinen Zustand mehr getäuscht habe als die anderen, indem sie nichts davon wussten. Ich habe es den anderen verziehen, dass sie wenig davon wussten. Aber ich habe geglaubt, wenigstens beim Studium des Menschen sehr viele Gefährten zu finden, und geglaubt, dass dies das wahre, dem Menschen gemäße Studium sei. Ich habe mich getäuscht: Es gibt derer, die den Menschen erforschen, noch weniger, als derer, welche die Geometrie studieren. (Gedanke 209)

86 Ein gutes Mittel, gegen das Gefühl, einsam und ungeborgen zu sein, ist sicherlich die Religion.

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87 Unsere ganze Würde besteht im Denken. Daraus muss unser Stolz kommen, nicht aus Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: das ist das Prinzip der Moral. (Gedanke 128)

88 Was der Kern von Religion sei – falls eine solch fetischistische Vorstellung einem so weitläufigen Phänomen überhaupt angemessen sein kann – mag jeder unterschiedlich beantworten. Andrea betrachtet sie als eine Nebelgranate im Klassenkampf. Fjell aus Norwegen möchte hingegen, Odins Raben folgend, um die Welt segeln und Thors Hammer auf England niedersausen lassen, um es besser ausrauben zu können. Gottfried Wilhelm delektiert sich an Zahlenmystik. Bei Muhammad wirkt die Religion als ein süßer und willkommener Verstärker auf seine angeborene Paranoia, während das Dorf von Razia, einer Rohingya in Burma, gerade niedergebrannt wird, weil sich ihre kulturellen Codes zu stark von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, oder dem, was die Militärjunta als solche in dem Vielvölkerreich etablieren will. Gott bewahre einem daher vor allzu vereinheitlichenden Vorstellungen über die Religion(en). Im Maße man mehr Geist hat, findet man mehr Originalität unter den Menschen. Die gewöhnlichen Leute finden keinen Unterschied unter den Menschen. (Gedanke 707)

89 Sehen wir also, betrachten wir das wir das aber so, ohne es als allzu verbindlich zu postulieren: der Kern der Religion ist das Gute und die Suche nach dem Guten. Wissenschaft und Politik sind Erklärung und Handhabung der Welt, so wie sie ist; Religion beschreibt die Welt so, wie sie sein sollte. Während der Mensch, wie es religiöse Menschen immer wieder betonen, sündig und egoistisch geboren sei, könne er durch seine Hinwendung zum Nebenmenschen, und zur Gesamtheit der Nebenmenschen, sich zum Guten hinwenden. Wir werden … geboren, wir werden also ungerecht geboren, denn alles strebt zu sich selbst. Das ist gegen alle Ordnung: man muss zum Allgemeinen streben, und der Hang zu sich selbst ist der Anfang aller Unordnung … Wenn die Mitglieder der natürlichen und politischen Gemeinschaften das Wohl der Gesamtheit erstreben, so müssen die Gemeinschaften selbst eine andere, allgemeinere Gesamtheit anstreben, deren Mitglieder sie sind. Man muss also das Allgemeine erstreben. Wir werden also ungerecht und entartet geboren. (Gedanke 87)

90 Der gute Mensch ist also der, der sich nicht fragt: Wie kann diese Sache für mich nützlich sein?, sondern: Wie kann diese Sache allgemein von Nutzen sein? Glück hat dann derjenige, bei dem das Zweitere als natürlicher Reflex so angelegt ist. Sein Ich ist dann so strukturiert, dass er natürlich auf das Allgemeine bezogen empfindet und reflektiert. Es muss das dann nur noch kultivieren, aber eigentlich nichts mehr überwinden. Er muss sein Ich nicht hassen, so wie es Pascal dauernd vorschlägt: Das Ich ist hassenswert… (Gedanke 587) Sie wollen nur Gott dienen, sie wollen nur sich selbst hassen. (Gedanke 45) Um es nicht falsch zu verstehen: Pascal und seine Familie haben so viele altruistische Unternehmungen geleitet und sich für den Nächsten aufgeopfert, dass ich mich am liebsten schamvoll in einer kleinen Ecke verkriechen möchte, angesichts meiner diesbezüglich kleinen Verdienste. Aber/also warum kommt dann bei ihm, und bei diversen Heiligen, immer wieder die Proklamation des Selbsthasses und die Aufforderung dazu? Leiden sie, dysfunktional, an Angstzuständen oder an einem grausamen Über-Ich? Dramatisieren sie ihren Glaubenskampf? Oder sind sie eben tatsächlich so sündig und ichbezogen, dass diese Selbstablehnung nicht von ungefähr kommt? Die Jansenisten berufen sich auf den eigentlichen Kirchenvater Augustinus. Kenne ich nur oberflächlich, aber so wie es scheint, hatte Augustinus enorm viel Böses in sich, für das er sich geschämt hat („mein sündhafter Charakter“ usw.) und daher rigorose Praxen gegen das Böse aufstellen wollte, die aber naturgemäß, in einem so einen Fall, ebenfalls vom Bösen durchzogen sind. Da Leute in ihren Schwächen und in ihren Neurosen nicht allein sein wollen, wollen sie ihre Schwächen und Neurosen in der ganzen Welt sehen und eine neurotische Weltsicht etablieren und für alle verpflichtend machen. Augustinus wurde zum Kirchenvater. Da das ein Phänomen von enormer Tragweite ist, werde ich also auch Augustinus näher studieren müssen.

91 Die eineinhalbjährige Giovanna Milagros nimmt gerne alles Mögliche an sich, und wirft es dann außerdem immer wieder in einem hohen Bogen von sich weg, sobald sie es hat. Ihr Geschrei, wenn sie etwas nicht sofort bekommt oder sie sonstwas irritiert, erschüttert Haus und Hof. Süßes Obst hat sie gern. Immer wenn ich eine Pera oder eine Ciruela esse, kommt sie her, und will ein Stück, sobald sie dieses verzehrt noch eines, bis wir beide die Frucht ganz aufgegessen haben. Aber sie gibt auch immer wieder gerne Sachen her. Kleine Kinder sind so, dass sie ihre Sachen bereits früh mit anderen teilen wollen. Dem kann man jetzt mit einer dieser Psychologien des Verdachts begegnen: das würden die Kinder nur machen, um sich einen späteren Vorteil zu sichern; oder anzugeben; oder sich dem anderen, durch eine herablassende Geste der Gabe, überlegen und monarchisch fühlen zu können. Aber nehmen wir an, dergleichen steckt nicht dahinter, sondern solches Verhalten ist rein und ursprünglich. Dann können wir also davon ausgehen, dass Menschen bereits von Anfang an nicht bloß egoistisch sind, sondern auch eine prosoziale Natur haben. So gesehen ist die vollkommene Verzweiflung über die menschliche Natur, so wie man sie bei Pascal hat, unangemessen.

92 Überhaupt: warum verzweifelt einer? Weil er keinen Ausweg mehr hat. Prüfen wir diesen Punkt und sagen wir: Gott ist, oder er ist nicht. Aber welcher Seite werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann hier nichts entscheiden: es ist ein unendliches Chaos, das uns trennt. Wir spielen am äußersten Ende dieses unendlichen Chaos ein Spiel … (Gedanke 83)

93 Chaos, Chaos! Parteiische Menschen sehen außerhalb ihrer Partei nur das Chaos, und können kaum anders. Das gilt insbesondere für Parteien mit eschatologischem Anspruch. Zwar mögen Kommunisten mit ihrer Partei sehr unzufrieden sein. Aber was sollen sie tun? Außerhalb ihrer Partei und ihrer Weltanschauung können sie gemeinhin nur Chaos erblicken, vor dem sie sich erschreckt abwenden. Wenn man die Dinge im Außen näher studiert, wird man draufkommen, dass sie meistens so chaotisch nicht sind, sondern sogar vielleicht logischer und intuitiver als die eigenen Glaubensartikel. So bezwingt man das Chaos, schiebt es etwas weiter zurück. Es ist das Problem dichotomischer Weltanschauungen, dass sie nur sich und das Chaos sehen können. Betrachten wir die Wirklichkeit hingegen so, wie sie ist: also als teilweise göttlich-geordnet und sinnvoll; als teilweise chaotisch und des Sinnes entbehrend. Seitdem ich diese Physik und Metaphysik vom Chaosmos pflege, bin ich gesund, und kann zwischen meinem Auge und dem Auge Gottes kaum mehr unterscheiden, denn ich sehe somit das was alle sehen wollen, was aber kaum einem zu sehen gelingt: das Große Ganze, das ganze Große Spiel. Hallelujah.

94 Mit der Erschließung des Chaosmos ist die Existenz einerseits völlig enträtselt und sind ihre Zumutungen daher vollständig überwunden. Andererseits ist die Geometrie vom chaosmotischen Weltbild fraktal: man stößt auf immer wieder neue Manifestationen von Ordnung und Chaos, so dass man ständig auf Trab gehalten wird. Langeweile im Pascalschen Sinn kommt keine mehr auf. Man ist in Stasis, man ist in Bewegung. Man ist das ruhende Auge im Tornado. Deswegen verkünde ich gerne die Religion vom Chaosmos.

95 Das Böse ist leicht und es gibt unendlich viel Formen des Bösen; das Gute ist beinahe einförmig. (Gedanke 684) Das Böse ist simpler als das Gute. Denn das Böse ist direkt und will eindeutig was. Destruktivität kann ein einfaches Ziel benennen, Konstruktivität geht immer über jedes eindeutige Ziel hinaus, will ständig neue Häuser bauen. Das Böse mag kompliziert sein, voller Winkelgänge, es liebt den Hinterhalt und das Arbeiten im Verborgenen, wie aber genauso den frontalen Angriff, das Böse ist labyrinthartig. Das Gute hingegen ist komplex, und das heißt: in seinen möglichen Erscheinungsformen niemals völlig vorhersehbar und erklärbar. (Allerdings ist es mit sich selbst identisch und daher, bei aller Komplexität, einförmig.) Das Gute wächst über sich hinaus. Der Teufel ist als Widersacher gedacht. Raffiniert ist er, und er kann eine Vielfalt von Erscheinungen annehmen. Aber das Göttliche sind unendliche Räume, in denen er letztendlich herumirrt, und aus denen er nie herauskommt. Solange es Sein gibt und nicht Nichts, triumphiert das Gute, denn wo das Nichts einförmig ist, kann das Sein unendlich viele Formen annehmen. Und wenn schließlich das Nichts triumphiert, mag man es auch als gut ansehen; als vielleicht sogar noch besser. Es war Pascal, der Angst vor dem Tod als Nichts hatte. Schopenhauer hingegen fand das Eingehen in das Nichts als die beste Sache von der Welt. Vielleicht hat man von diesem Sein und seiner verwirrenden Vielfalt irgendwann einmal genug.

96 Wer gut ist, wird erlöst und kommt zu Gott in den Himmel; wer böse ist, wird verdammt und fährt zum Teufel und zur Hölle. Was aber ist der Himmel, und was die Hölle? Über den Himmel hat sich Pascal kaum ausgelassen. Er spricht hauptsächlich von „ewiger Seligkeit“ und dem Seelenheil. Die Hölle sind für ihn gleichsam die irdischen Verhältnisse selbst. Damit ist seine Vorstellung vom Himmel gleichsam negativ bestimmt, und beinahe als eine unterschiedslose Euphorie, weil Gott da ist, und die Lebenswelt nicht mehr da ist. Im Paradies auf jeden Fall sind die Seelen in ewiger Kommunion mit Christus, der wiederum für die All-Kommunion sorgt. Der positive Inhalt des Lebens ist es, gute Beziehungen herzustellen; zu dem, was uns umgibt und zu uns selbst. Im Paradies leben unsere Seelen dann nur mehr in guten Beziehungen, in der All-Kommunion. Es gibt keine schlechten Beziehungen mehr. Das also ist das Paradies.

97 Man fragt sich: Kann das für so viele Menschen überhaupt etwas sein, streitsüchtig und zänkisch, wie sie sind; für die „gute Beziehungen herstellen“ in der Praxis bedeutet: ihre Neurosen zu pflegen und zu bestärken, und sich dadurch von der All-Kommunion eben gerade abwenden? Was sollen solche Seelen im Himmel also überhaupt anfangen? Laut dem Geisterseher Emmanuel Swedenborg steht die Einrichtung der Hölle nicht im Gegensatz zur angenommenen großen Barmherzigkeit Gottes, sondern ist vielmehr ein Beispiel seiner Gnade. Himmel und Hölle seien so Welten, in denen man emotional lebt, wie man es schon auf Erden getan hat; etwas anderes würde man auch gar nicht verstehen. Die große Liebe und Barmherzigkeit Gottes würde die für die Hölle Bestimmten schnell geradezu erdrücken. In der Hölle hingegen können sie sich streiten, neurotisch sein usw., und für jede Pathologie hat die Vorsehung wohlweislich einen eigenen Höllenkreis eingerichtet. Das Paradies ist aber All-Kommunion auf der Basis guter Beziehungen.

98 Was ist der große Sinn, was ist die wirkliche Erfüllung im Leben? Man könnte annehmen, jemand wie David Bowie müsste das wissen. Ruhm, Talent, Genie, Kunst, Musik, eine großartige Stimme, Geld, Modebewusstsein, ästhetischer Sinn, Schönheit, eine markante Physiognomie, Charisma, Sex-Appeal, Bisexualität, Bekanntschaften, Drogen, Party, Exzesse, Bildung, Familie, Ruhe, all das ist diesem seltenen Menschen zugeflogen. Und er hat sich nie lächerlich gemacht, sondern immer eine gute Haltung bewahrt, auch wenn er schwächere Alben herausgebracht hat, oder Kunst, die nicht so gut war. Er hat in dieser Welt alles – und noch dazu überreichlich – erreicht, was man wohl erreichen kann. Wie aber würde er sein Leben leben, wenn er es nochmals könnte? Er würde es spiritueller leben, so darauf seine Antwort, als eine Art Mönch, dabei ein Mönch, der trotzdem viel Gitarre spielt. Die Reichen, die sich in dieser Welt alles leisten können, bekommen später im Leben dann immer wieder Sehnsucht nach den Künstlern, umgeben sich gerne mit denen, weil ihnen das mysteriöse Künstlerische, als eigentlicher Modus der menschlichen „Selbstverwirklichung“, noch fehlt im Leben, und sie es gerne hätten. Die Künstler, die alles erreicht haben, wollen schließlich Mönch werden… die Spiritualität, die geistvoll-empathische gute Beziehung zu allem und zu uns selbst, ist der Malstrom, der uns alle, bewusst oder unbewusst, verschlingt und in dem das Chaos und das Rätsel der Existenz schließlich an ihr Ende stoßen.

100 Mit Einem Wort, ein Heiliger sein, und damit ist Alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge, welche, im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so schön, dass sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig, als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswert, als nur das Laster. Die Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig. – Das ist der letzte Aphorismus, mit der Nummer 300, aus dem Handorakel und Kunst der Weltklugheit, der Strich, den es unter das Leben zieht und die Summe, die es darunter setzt, von Baltasar Gracián, einem Zeitgenossen Pascals. Gracián war ein spanischer Jesuit und hatte nicht das tiefe Empfinden Pascals. Aber Weltklugheit, die hatte er. Ich werde wieder einmal Gracián lesen müssen.

*

101 Pascals Mutter Antoinette starb kurz nach der Geburt des dritten Kindes, Jacqueline. Blaise war damals drei Jahre alt. Antoinette Begon stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die in den Amtsadel strebte, dem Pascals Vater in zweiter Generation angehörte. Wenn Schopenhauer recht hat, dass man die Intelligenz von der Mutter erbt, das Temperament vom Vater, was muss Antoinette Begon dann wohl für eine Frau gewesen sein?

102 Pascals vorzüglicher Vater, Étienne, war Steuerrichter und ein hochgebildeter Mensch, der mit den größten französischen Gelehrten auf vertrautem Fuße stand. Angesichts der Talente, die sich bei allen drei Kindern schon früh bemerkbar machten, gab er seine Stellung auf und widmete sich ganz der Erziehung seiner Kinder. Sanft und verständnisvoll – nach den Empfehlungen Michel de Montaignes – wurden Gilberte, Blaise und Jacqueline mit den Wissenschaften vertraut gemacht, in denen sich Blaise auf dem Gebiet der Mathematik schon als Knabe eigenständig hervortat. Auch auf Ètienne selbst geht eine mathematische Innovation zurück, die Pascalsche Schnecke. Aufgrund eines Verdachts einer Verschwörung fiel Ètienne dann beim Regime in Ungnade. Diesbezüglich rehabilitierten ihn die Talente seiner Tochter Jacqueline, die als Wunderkind die Königin höchstselbst nachhaltig zu bezaubern wusste und somit den Bann, der über ihre Familie verhängt war, zu lösen vermochte. Ètienne wurde daraufhin zu einem hohen Steuerbeamten ernannt. Bei den umständlichen Berechnungen ging ihm Blaise zur Hand, der deswegen eine Rechenmaschine erfand und konstruieren ließ, um die Arbeit zu erleichtern. Man kann also sagen, dass sich Étiennes Investitionen in seine Kinder ausgezahlt haben. Als er sich im fortgeschrittenen Alter das Bein brach, wurde er von jansenistischen Brüdern gepflegt. Er schloss sich dem Jansenismus an, und seine Kinder folgten ihm darin. Incipit tragoedia. Einige Jahre darauf starb Étienne im Alter von 63 Jahren.

103 Die Frau seines Lebens war für Blaise Pascal seine höchstbegabte Schwester Jacqueline. Von Kindesbeinen an waren die beiden eng verbunden. Jacquelines Begabung war zunächst eine poetische. Mit ihren spontanen Dichtungen setzte sie die Königin höchstselbst so sehr in Erstaunen und Entzücken, dass sie eine Begnadigung ihres Vaters erwirkte, der beim Regime in Ungnade gefallen war. Die Königin Anna von Österreich wollte das Wunderkind ständig um sich haben. (Ich habe in einer Pascal-Biographie einige Stellen aus ihren Gedichten gelesen. Sie haben sich mir aber nicht erschlossen. Aber das ist bei Gedichten bei mir selten der Fall. Ob es tatsächlich große Poesie war und nicht nur (außergewöhnliche) Talentproben, weiß ich nicht. Wenn es aber große Poesie gewesen wäre, wäre sie ja wohl diesbezüglich bekannt. Ich muss das bei einer Gelegenheit noch einmal genauer studieren, wenn ich kann.) Als junge Erwachsene bekannte sich Jacqueline zum Jansenismus und hängte die Dichtung allerdings an den Nagel (also, bevor sie als Dichterin noch tatsächlich reifen konnte). Sie schwor, sehr zum Verdruss ihres Bruders, nach dem Tod des Vaters in das Konvent von Port-Royal einzutreten, und tat das dann auch. Blaise, der es ohne sie schwer aushielt, siedelte sich daraufhin in ihrer Nähe an. Als Ordensfrau verfasste sie Werke über die Kindeserziehung und auch biographische und autobiographische Texte. Zunehmend gerieten die Jansenisten und ihre spirituelle Hochburg Port-Royal unter politischen Druck, dem die glaubensfesten Jansenisten lange standhalten konnten. Trotzdem erwies sich der Druck seitens der Regierung als übermächtig und schließlich mussten die Nonnen von Port-Royal, und auch Jacqueline, eine aufoktroyierte Erklärung unterzeichnen, in der sie sich von ihren Ansichten distanzierten. Um ihren religiösen Lebensinhalt betrogen starb Jacqueline wenig später am Tag ihres 36. Geburtstages. Der Verlust seiner geliebten Schwester hat Pascal noch schwächer und lebensmüder gemacht, als er es schon war. Im Jahr darauf bereits sollte er ihr folgen.

104 Gilberte war das unbegabteste und einfältigste unter den Pascal-Geschwistern. Das bedeutet aber, dass sie dennoch deutlich intelligenter war als das, was einem im täglichen Leben unter einem „intelligenten Menschen“ allgemein begegnet. Sie sprach mehrere Sprachen und war sehr gebildet. Ihr Leben verlief, nach äußeren Umständen gemessen, auch glücklicher als die ihrer beiden Geschwister. Sie heiratete und brachte sechs Kinder zur Welt. Auch sie war religiös, aber nicht in einer so morbiden Weise wie die beiden genialen Geschwister. Ihr verdanken wir die ersten Biographien von Blaise und Jacqueline, und sie brachte Pascals Gedanken heraus. Sie starb im Alter von 67 Jahren, nachdem sie ihr späteres Leben in selbstgewählter Einsamkeit zugebracht hat.

105 Marguerite Périer war Pascals Nichte, die als Kind durch die Berührung mit einer religiösen Reliquie von einem hartnäckigen Augenleiden geheilt wurde, und die durch dieses Wunder den Anstoß für die Verfassung der Gedanken gegeben hatte. Immer wieder, wenn ich im Museum Bilder betrachte aus längst vergangenen Zeiten, mit Menschen, die alle schon lange gestorben sind, werde ich nachdenklich und frage mich vor allem bei den Kindern, wie ihr späteres Leben, das dennoch schon lang vorbei ist, den langen ruhigen Fluss vollständig entlang gezogen ist und sich endlich ins Meer verlaufen und aufgelöst hat, wohl verlaufen ist. Erwachsene faszinieren mich weniger, weil die bereits was geworden sind. Kinder aber sind noch Potenzial, sie werden erst was. Und damit sind sie mir näher. Vor zum Beispiel das Gemälde Blick aus einem Torbogen auf Prag von Karl Postl, ermalt um das Jahr 1800, frage ich mich, was wohl aus dem kleinen Jungen geworden ist, der im Bild links die Mauer hochzuklettern versucht? Oder aus dem kaum sichtbaren Mädchen am Arm ihrer Mutter in der Bildmitte, in der sich der Blick auf Prag öffnet? Vielleicht ist der eine in den Himmel, die andere zur Hölle gefahren. Warum aber, und was haben sie in ihrem Leben angestellt, zu was sind sie möglicherweise vom Schicksal gezwungen worden, was erfolgte aus freiem Entschluss? Über so etwas sinniere ich bei der Betrachtung von alten Bildern gerne nach. Marguerite aber wurde ebenfalls Nonne und bekam im Laufe ihres Lebens immer wieder Probleme im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jansenisten. Sie widmete sich Werken der Nächstenliebe und verfasste Erinnerungen an ihren Onkel Blaise und an ihre Mutter Gilberte. Ihre eigenen Memoiren sind bis heute verschollen. Wenn sie auftauchen, werde ich sie irgendwann einmal lesen. Sie starb im biblischen Alter von 87 Jahren. Die Geschichte von ihrem Augenleiden und dessen wundersamer Heilung berührt und mystifiziert mich. Ich will diese Gedanken zu Pascal daher der zehnjährigen Marguerite Périer widmen.

106 Eine der großen infrastrukturellen Errungenschaften, auch wenn man sie heute beinahe übersieht, ist, neben der Kanalisation, der Müllabfuhr und der Chlorung von Trinkwasser das öffentliche Verkehrssystem. Was hat man davon, wenn man in einer Stadt lebt, aber Kilometer weit weg vom Zentrum? Früher ist man aus seinem Viertel kaum rausgekommen. Was für beengte, kleinkarierte Lebensverhältnisse also. Und auch wenn man heute die elfjährige Amantlé und ihre Schwester, die zwölfjährige Aissatou aus dem Dorf in Sambia fragt, was der weiteste Punkt ist, wo sie im Leben hingekommen, dann werden sie zur Antwort geben: bis zur Straßenkreuzung. Oder: bis zum Brunnen vor dem Tor. Die (nicht nur heutige sondern) historische Unterentwicklung von Afrika liegt vor allem darin begründet, dass der Kontinent schlecht erschließbar und verkehrsmäßig verbunden ist. Das gilt für den Landweg als auch für den Flussweg, denn afrikanische Flüsse sind, aufgrund ihrer ständigen Stromschnellen und Wasserfälle, über weitere Strecken schlecht passierbar. So kann ein Kontinent aber nicht gut zusammenwachsen und Handel und Austausch betreiben. Und so bleibt ein Kontinent auch ethnisch, kulturell und sprachlich stark fraktioniert (so wie es selbst Frankreich bis ins 20. Jahrhundert hinein geblieben ist; der Konservatismus von de Gaulle – so wie der von Adenauer in Deutschland – hatte seine tiefere Wurzel in der Sorge darin, die Nation mental zusammenzuhalten). Das erhöht dann das Potenzial für Rivalitäten zwischen Gruppen, für Bürgerkriege, Sezessionskriege usw., wie man sie in Afrika so überreichlich hat. Das öffentliche Verkehrssystem ermöglicht also insgesamt eine erhebliche Erweiterung des Erfahrungshorizonts und damit der Lebensqualität, wenn nicht der Allgemeinbildung. Es müsste eben auch zur Pazifizierung der Gesellschaft beitragen. In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Pascal, trotz seines Siechtums und seiner religiösen Weltabkehr, dem Aufbau von etwas, was damals noch völlig neu war: eben dem eines öffentlichen Verkehrssystems, in dem Fall von Kutschen, die zu festgelegten Uhrzeiten zwischen festgelegten Stationen in der Stadt kursieren sollten. Die Adeligen und die oberen Schichten waren dagegen, da das einfache Volk damit in etwa auf dieselbe Stufe gehoben wurde wie sie selbst. Heute sind die oberen Schichten nicht mehr so, ihr dementsprechendes Verhalten hat sich nur in andere Bereiche verlagert. Aber die gehen mich nichts an. Pascal hat aber so ein weiteres Mal – und ein letztes Mal im Leben – dazu angestoßen, einen neuen Bereich überhaupt aufzumachen, eben den des öffentlichen Verkehrswesens. Pascal sah darin ein echt christliches Unternehmen: den weniger Begüterten die Zirkulation und einige Annehmlichkeiten des Lebens zu ermöglichen. Ich selber habe kein Auto und keinen Führerschein, sondern verlasse mich ebenfalls auf den öffentlichen Verkehr. Hier in Wien haben wir, erwiesenermaßen, eines der besten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt. Und die Wiener Linien haben sogar einen guten Humor in ihrer Eigenwerbung und Selbstdarstellung. Ein sympathisches Unternehmen, ein tüchtiges Unternehmen. Der Urvater davon war also Blaise Pascal, auch wenn er die praktische Lebenswelt so sehr verworfen hat und nichts mit ihr zu tun haben wollte. Vor allem deswegen bin ich ihm sicher sehr dankbar.

19. März – 28. März 2025  

R.I.P. Benedikt XVI.

Gut finde ich am Katholizismus, dass er eine hierarchische Tiefengestaffeltheit der Welt andeutet, eine übergeordnete Instanz eines Gesetzes, das einerseits beschützt und Behausung bietet und anziehend wirkt, andererseits aber unnahbar ist, unkommunikativ, selbstgenügsam und deutlich von uns getrennt, von anderer, höherer Qualität. Das Erbauliche des Gedankens, dass wir gegen Gott immer unrecht haben, wie Kierkegaard das schon empfindet. Laut Pseudo-Dionysius ist Gott ein dunkles Licht. Anders gesagt, ist es die gleichzeitige Deutlichkeit wie Rätselhaftigkeit der moralischen Gesetze, die älter sind als wir und uns übergeordnet. Um diese radikale, inkommensurable, autonome Objektivität angemessen zu verstehen und zu würdigen und mit ihr koexistieren zu können, braucht es wahrscheinlich eine radikale, inkommensurable, autonome Subjektivität, wie schon Kierkegaard sie hatte und der das menschliche Maß wenig begegnen kann, sonst verfällt sie ins Rigorose. Ratzinger hatte diese radikale Subjektivität eben nicht; der Argentinier ist näher an ihr dran. Kierkegaard hat seine Subjektivität hauptsächlich in Gedanken ausgelebt, war weltabgewandt und nie in Argentinien. Außerdem war er eitel und selbstbezogen und hat Nebensächlichkeiten seines Lebens, wie die Lösung seiner Verlobung mit Regine, zu gigantischer Bedeutung aufgebläht bzw. sich selbst z.B. als “Verführer” quasi satanischen Zuschnitts. So ist auch er dem Rigorismus verfallen. Die Gegengewichte zum moralischen und intellektuellen Rigorismus – die guten und die schlechten – liegen glücklicherweise überall in der Welt, sofern man sie empfinden und genießen kann. Vielleicht ist das der Sinn der Schöpfung. Das posthume Paradies und Reich Gottes ist schließlich reiner Genuss – der in seiner höchsten Form in der genießenden Anschauung der höchsten Idee und Objektivität, also eben dem Göttlichen besteht.

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-12/joseph-ratzinger-papst-benedikt-xvi-freiburger-rede-2011

Twin Peaks and Ethics

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Immanuel Kant

Twin Peaks, created by Mark Frost and David Lynch, is, among other things, about „the battle between Good and Evil“. Many films, stories, fairy tales etc. are. Mankind seems to be obsessed by that. Men seem to like to see themselves within a battle between Good and Evil, as heroes. Usually, they like to see themselves as the good hero, not as the villain. That indicates: there is hope. Humans usually don´t, psychologically, thrive off conscious wrongdoing. There is hope.

In contrast to more simple-minded productions, Twin Peaks shows how demarcation lines between good and evil are blurred; as well as how their in-between, mediocrity, may kill off both just like as it might get corrupted by one as well as by the other, either in a stable or a more unstable, ever-changing fashion. Whereas the orginal series, aired at the turn of the 1990s, presents a more innocent, naive and easy-going world, that may be infected by evil, but not truly corrupted by it, Twin Peaks: The Return, aired a quarter of a century later, seems to entertain a more sinister and disillusioned perspective on humanity. In Twin Peaks: The Return you have a gallery of decent as well as indecent as well as mediocre characters as well, but the idea of a community between them – as you had it, nevertheless, and with all its twists and turns, in the original series – seems to be absent. People´s individual idiosyncrasies and quirks don´t appear as so funny or charming anymore, rather as something degenerative, and people, in general, as idiotic. In this world of disconnectedness where humans live in indifferent surroundings (also nature, so prominent in the original series, considerably has lost its charm), hardly anyone achieves anything, men are hardly able to transcend their circumstances, and failure is more prominent (actually, it is not – there are spectacular successes due to the effort of good people as well as the considerable, supernatural powers of the White Lodge and those associated with it : Killer BOB gets destroyed, Cooper/Dougie reconciled with his family, seemingly forever, the assassins get assassinated or into jail, the grotesque killer couple Hutch and Chantal get killed by an even more grotesque ad hoc assassin, the insurance company gets saved and its honest boss rid of his parasites, the warm-hearted criminals, the Mitchum brothers, get their compensation and thrive off philanthropy, Bobby Briggs has been redeemed (though lives a shockingly modest life now), Ben has become a businessman and a person of integrity, Norma and Ed get married (and Norma „saves her soul“ by resisting the temptations of capitalism), Nadine has been successful in „shoveling her way out of the shit“ thanks to the simple-minded ideology of Dr. Jacobi who seems to have become more successful and more caring for other people than in the original series, even Anthony Sinclair gets redeemed from his bad conscience as he confesses his previous crimes and gets ready to face the consequences; the psychopathic Richard gets destroyed (with a little help from his own father, the evil Cooper), and the trouble-making Steven Burnett disappears — it is just that, when Cooper, the Agent of the Good, leaves the worldy scene again (in Episode 17) which he just before had entered, to confront Evil in itself and to save Laura, very quickly relapses into a world of gloom and of failure, with Laura´s fate being paralleled by the incomprehensible sufferings and degenerative states of Audrey Horne or former child prodigy Gersten Hayward: overally, „Twin Peaks“ has become a seemingly gloomier place). Good and evil have become even more cryptic and the relationships between cause and effect even less clear (if they exist at all). More questions are left unanswered than at the end of the original series. Maybe there will be another season, maybe not, so that inconclusiveness and disappointment – that the Good cannot, finally, triumph (yet neither can Evil: shown in the scenes how Joudi/Sarah Palmer may be able to dislocate Laura and create confusion, but being unable to destroy the image of Laura, despite all her frantic efforts) – is meant to be the final statement. The world in Twin Peaks: The Return seems to finally be under the shadow of the Black Lodge (although that has also been stated in the original series), with the glimpses of light rather being something isolated and occasional than something overally or overarchingly effective. That cannot be tolerated and cries for resolution. If you think or feel like this, there is hope for you. Because the world is threatened by the shadow of the Black Lodge, counterbalancing via the powers of the White Lodge seems even more urgent. And: the more you are associated with one of the Lodges, the more prevalent the influence of the other Lodge will appear to you. After the good Cooper has created goodness everywhere by the end of Twin Peaks: The Return, it is just that because he never wants to rest in doing so that he is bound to confront a world of darkness time and again. (Note, however, that the ending could be interpreted quite differently as well, as the visceral scream of Laura Palmer/Carrie Page seems to immediately kill the powers/electricity of Joudi all in an instant before the series closes, so that we would have an almost sarcastically staged happy end where good magically and practically without true effort triumphs over evil (to fulfill the audience´s expectation).)

In Twin Peaks you have „good“ and „evil“ spirits that dwell in extradimensional places. The demarcation lines between their true character features are, as well, blurred (with former evil spirit MIKE having taken a U-turn to the good after he had an epiphany and the unclear identitiy of most other spirits that are not featured so prominently throughout the series), their functions and their motives are, to a considerable degree, unclear, they seem to cooperate as well as to compete with each other, and they have their own, although obviously not very deep, personalities. Their language is cryptic, and maybe they do not even understand themselves very well. In a way, they seem to resemble the gods of ancient Greece, including their cryptic communication to man via the oracle. They do not seem to be able to achieve so much, either against each other, or in their interactions in the human world. They seem to need humans, and need to possess humans, because in themselves, they are too one-dimensional. They seem to be more powerful, and less powerful than humans. It is true that they inhabit not exactly the same dimensions than humans. They seem a condensation of human qualities – BOB being, as Albert refers to him, „the evil that men do“ – as well as forces that are both more conscious/powerful and less conscious/powerful than humans in their entirety. BOB seems to resemble the id, the Giant/Fireman the super-ego; neither the id nor the super-ego are very deep, as desires, good or bad, just form ad hoc without a truly deeper reason (within the „id“), and the super-ego tries to ban or allow them for no deeper reason. The ego as the mediating instance is the interesting instance. The spirits – as they are representations or manifestations of „Good“ and „Evil“ – are no (or not much of) egos. They are entities (with the apparent master spirit of Evil – Joudy – being an „extreme negative entity” (and, apparently, also an extremely unhappy entity that seems to be in a deadly conflict even with BOB/the evil Cooper)). As such they cannot, truly, think. They just are, and behave, according to their nature. In doing so, and in being so, they seem to play an indefinite chess game against each other and also try to influence and corrupt (or destroy) each other. Although fairly incomprehensible to us, there is no mystery behind that at all, much rather, an absence of mystery. They behave according to their nature (and are trapped inside theit nature). BOB as „the evil than men do“ is a force as well as a parasite that needs a host. It is the image of Laura Palmer that symbolises the good while, both in the original series as well as in The Return, as a human being she is prone to corruption, either in a more or in a less innocent fashion.

What is Good, and what is Evil – and what is their mitigation: ethics, ethical reflections and ethical principles? Are they something „outside“ and external to humans (with the possibility of being something divine), or are they just something entirely within, even beneath, humans (since „good“ and „evil“ are only elements within a wider range of things at the disposition of man, who can, as a conscious and complex being, manipulate and evolve notions of good and evil, and who is, in general (for these reasons and for others), „beyond good and evil“)? Are Good, Evil and ethics something „objective“, objective (quasi-) entities, or Platonic ideas, which, as such, may even govern the world? Or are they „forces“ that may consume and absorb men? As such, they are, all too often, experienced (with, for instance, people struggling with dysfunctional behaviour patterns often referring to them as their „demons“). As an educated person, you may refute such a notion – that Good and Evil are true forces or principles beyond human reach and understanding – as something archaic. Subjectivist notions, in one way or the other, refer to ethics as someting that arises from within humans, and that does not have objective existence. Thinking that ethics, or good and evil, were something objective would have to be considered as a man-made projection. Yet if this is so, and ethical considerations only arise within humans, how can it be ensured that they are not completely arbitrary or delusions (or, at least, completey culturally relative)? Although there is great subjective flexibility in interpreting notions of good and evil and ethical principles, it is strange to think about them as mere delusions. Ethics, good an evil have many aspects, and one of them is that they have normative implications, that they are normative by nature. Something that is normative by nature cannot really be thought as something merely subjective. It needs to, in essence, transcend subjectivity. By contrast, Ethical Realism means that ethics is not something that soley arises within the individual, but that ethical principles are actually inherent to the world and a part of objective reality. (Subjectivist) opponents of this view may argue: if ethical principles are an element of objective reality, where are they „located“? How are they substantialised, if we are not to believe in god or the devil? (And, apart from that, if ethical principles objectively exist, how can they exercise influence over humans and their considerations?) More recently deceased philosopher Derek Parfit offers compelling analyses that, if they should make any sense, ethical principles cannot be subject to human subjectivity and (therefore) subjective arbitrariness alone, but need to be something objective (that is, nevertheless, enlivened by subjective behaviour and subjective arbitrariness). Parfit proposes to see ethical principles and ethical truths not as platonic ideas, substantialised forces or divine intervention but as something comparable to logical truths or mathematical truths, as something that arises within the world but is neither an idea, a force or a substance and that is unlocated. Hell yeah, one of the most glorious notions I have come across in recent years is Parfit´s notion of ethical truths being someting resemblant to logical or mathematical truths! (The nature of logical and mathematical truths is not entirely clear neither, however; but that their true nature and substance would be something so confusing seems an overinterpretation as well to me.)

Ethical behaviour is something that is encoded within our genes. In this respect, it is actually both something objective and subjective; something more ancient than we as well as something, to a considerable degree, inferior to the powers of our intellect and our overall personality; something that determines our (free) will to a degree we cannot even truly oversee nor transcend as well as something that has to succumb to our (free) will. It is both beyond and beneath us. Not only humans but also animals, plants and even viruses exhibit „altruistic“ behaviour, even is this apparent „altruism“ is just some sort of cooperative group behaviour to increase the chances of survival or prosperity of that respective group (at the expense of others) (for instance, if a virus attacks a body, this means war with the body´s immune system; within that you may witness „heroic“ behaviour of the virus as it forms small „suicide squads“ and kamikaze commandos to attack the immune system at certain points and, likely, lethally fail, yet in order to distract the immune system and ensure the triumph of the overall attack). It is, from that perspective, true that „the realm of ethics“ is both something transcendent and out of our reach as well as it is primitive and archaic/atavistic, and something that can, within some limits, get overcome by human agency.

Good is associated with connectedness, altruism, light; evil with disconnectedness, egoism, and darkness. You may have the mental image of „the Good“ as being something of great cohesiveness and great undifferentiatedness (the „divine light“, etc.) Undifferentiatedness, however, cannot be truly thought as being able to process itself (therein resembling its apparent counterpart: total chaos/maximum entropy). Creation, per se, refers to creatures. Creatures are differentiated from each other and they need to struggle for existence, within cooperation with other creatures, and at the expense of other creatures. Therein lies their potential for altruism and egoism (as well as for self-saturated mediocrity). Because of them being creatures, they are vastly different from their creating principle (both larger and smaller, both more liberated and less liberated, etc.) and they are tiny and small. That is, finally, creation. That creation carries relative „darkness“/egoism and relative „light“/altruism within itself is its inherent quality (philosophically, this view can most definitely be attributed to Friedrich Schelling). Creation manifests itself in (differentiated) creatures, which are, per se, individuals as well as parts of a larger collective. Therein, they behave in egoistic and altruistic ways, as individuals as well as a (part of a) collective. Ethics adresses the optimal state of balancing individual and collective welfare. For conscious beings, who can manipulate their environment and who have the power to create themselves, ethical considerations derive from the structure of being. Ethics is inherent to existence. We, as conscious beings, have some flexibility to manage (or neglect) ethics, we can create (or at least derive) exuberant virtue, but it also, and substantially, refers to something that is above us, to a coordinate of our existence or a dimension in which we are trapped in. As the confession of Kant illustrates, there are some people who see and internally experience THE LAW. They have a distinct mental represenation of THE LAW. Respectively, THE LAW is not an actual, and distinct, law, it is a distinct mental represenation of the ethical structure of the world, or of creation. Holy men are absorbed by THE LAW (a mental image of THE LAW might rather not be undifferentiated light, but an simple but extremely solid structure before the inner eye, and experienced as being within, or affecting, the body).

The good is transcendent as it always seeks to improve itself and become better. Therein, it refers to a potential that is actually infinite, as it is always beyond our reach. (Therein also lies the possibility of its own corruption: in the striving for goodness becoming a zealous and unempathetic quest for its own sake, something that may be overly guided by principles, something resembling obsessive-compulsive behaviour, spiritual pride (and prejudice) or megalomania, or an (inherent) pleasure principle: at the very end of Twin Peaks: The Return Cooper obviously has become such an obstinate, unempathetic zealot, therein alienating Diane/Linda and, maybe because of this, being unable to „save“ Laura Palmer, due to him himself having become impure). Striving for the good means becoming and self-transcendence, finally having achieved virtuousness, nevertheless, means having ceased to (seemingly endlessly) „become“ but to finally have arrived at the state of Being. From a theological perspective, having achieved an undivided state of Being is somehow resemblant to being God-like (and therefore, from a Leibnizian perspective (or other perspectives), man, and all creatures, necessarily must be fragmented and incomplete, otherwise they were God themselves and, if so, there would be no creation). Having arrived a state of completeness and of Being means something absolute. Yet, this absoluteness gets only confirmed in acknowledging its own relativity. Kierkegaard (respectively one of his (distant acquaintances of one of his) alter egos) raves about the joy that lies within the thought that against God we are „always in the wrong“. The highest level of virtuousness and absoluteness of Being lies within acknowledging the notion that against God it is „always in the wrong“ (i.e. acknowledging its very own relativity), and raving about it (i.e. that it supposes the existence of an instance infinitely superior – be it only a hypothetical instance – against which one is always „in the wrong“ for good, therein the possibility for self-purification being infinite. And as such an instance would serve THE LAW). Evil may also strive for its own intensification, yet that would mean degradation and perversion. Perversion may be bottomless and transcenting the limits of ordinary human understanding, yet it is hard to imagine its trajectory of intensification as infinite or unlimited or excessively open. Rather, the more perverse it gets, and the more shocking and the more harm it may inflict, the more it seems to get segregated, comprised and trapped within its own tiny box. (Note however, that this may only appear so from the perspective of the good. From the perspective of evil it may just appear the other way round: note however furthermore, that this usually does not seem to be the case. And note that „infinite“ perversion may of course be possible if, like Shakespeare´s/Verdi´s Jago, we were thinking about creation as being the work of a malicious and scornful god where anything good is just an illusion and its purpose just feeding us with false hope. Such a worldview is not logically inconsistent. Maybe it is even the truth. But it does not seem ultimately being infinite, since such a god would appear, eventually, idiotic).

Evil is, or may be, a labyrinth. And, as concerns its intensification and ego-syntonism, it may strive for becoming ever more a labyrinth. Its language, the way it talks to us, may be difficult to understand, not least because it is degenerated and beyond (or beneath) ordinary understandig, but also because it is manipulative and deceitful. It likes to mask itself. It does not want tob e truly understood (also since that would reduce its power). Many people are fascinated by evil (note that there is also a quite consistent interpretation of the entire series as playing, and being sarcastic, with the audience´s voyeuristic desire to see evil unfold and also desire for closure and simplicity that has both killed the original series as well as the film Fire Walk With Me (that got very negative reviews at its time); so that in The Return Lynch and Frost purposefully present an overly lifeless, evil and unattractive world, where all the postive that happens gets overlooked in the desire for the next sensational unfolding of evil, and with finally presenting a true mystery wrapped in an enigma). What I find truly fascinating, nevertheless, is the good. The good is not labyrinth-like, it is complex. It does not wear masks, it is authentic. Because of that, it is outside the norm and does not accord to ordinary patterns and therefore frustrate ordinary pattern recognition. Because of its complexity and authenticity, and its transcendent appeal, it may be difficult to understand as well. Both (great) good and evil escape the ordinary. Therefore also their powers are limited. Mediocrity, at times, seems to be the true governing force. To see it in such absolute terms is, of course, inappropriate on all accounts. What you have, in this world, is a chaosmotic balancing of forces. You may think that the world is an eternal struggle, a grand chessgame between good and evil, that seems to go on, without a clear result, indefinitely. Neither good, nor evil, nor mediocrity seem to truly understand themselves. As entities they just are. Beyond the Black and White Lodges and the mediocrity of Twin Peaks, in the icy mountains, there lives the intellectual balancer, who observes, and calculates. In serenity, in agitatedness, in confusion.

The Wisdom of Motörhead

Lemmy from Motörhead was a bearer of huge charisma, a god for heavy metal fans. Charisma (as well as godliness) is mysterious and difficult to explain, even more so in the case of Lemmy; probably due to his unique mixture of a straightforward and „what you see is what you get“ person and the complexities of his irony and his wit and his many characteristics in general. How would you define him in a single line? To refer to him as a force of nature somehow neglects his distinct humanness, to speak of him of an iconic figure also does not seem to excactly get it neither, as he was too much alive to resemble something rather static. To speak of his distinct humanness, singularity and sharp personality does not pay tribute to the complexities within his personality and the softness associated with the easiness and naturalness he was able to handle them. A simple man of humble origins (that would not even qualify him as a working class hero) he nevertheless carried too many facettes and too much wit to be possible to catch, in his sharp autonomousness also an elusiveness; if you tried to nail him down, he would already be somewhere else and, likely, make you look stupid. Heavily participating in the vibrancy of life, he never seemed to get suprised, perplexed or overwhelmed by the occasional complexities and abysses of the life game, much rather, he remained above, even aloof of them. In his amalgam of a counterintuitive charm and a mild sarcasm, he remained untouchable, and undefeatable. Although he impersonated the angry man, Ute, his promotor for many years, says she had never seen him getting angry with anyone; despite his signature feature being the extended middle finger, he also never became impolite with anyone (although he likely had to deal with a lot of unpleasant stuff throughout his life and career), rather, he would walk away. Despite of his heavy consumption of cigarettes, drugs, alcohol and his excessive way of life in general, there were – over a period of many decades – no grave incidents, near-death experiences or need for rehab as he obviously always remained in control over these passions, a user but not actually an abuser of drugs and booze; despite of his sex, drugs and rock n´ roll lifestyle he never produced any scandals. Never mind his unfortunate appearance and usually displaying a (mildly) sarcastic outlook on the great theme of romance (and sometimes also on women) in his songs he was a major womanizer who had become romantically involved with more than a thousand women in his life, because women loved him. A party animal and obvious great extrovert, people close to him described him as personally rather being an introvert and a lone wolf guy who does not need many friends but is self-sufficient (his bandmates nevertheless referred to him as a great friend and a father-like (or at least paternal) figure). Despite being the essential promotor of loudness, during long trips on the tour bus he would remain quiet and a reader of books, interrupting the tranquility only occasionally, for instance when they passed through a region where battles of wars from the past had happend; then he would explain the incidents in great detail. Apart from his passion for war and military history, he was an educated and interested man in general. Slash sums Lemmy up in his own words: “There’s so many guys out there that think you have to, you know, wear your leather jacket and be the tough guy, be rude and a fucking slob and break shit, to be rock’n’roll. And Lemmy dispelled all that because he was a perfect fucking gentleman. Very considerate and polite to everybody around him, and yet he was as hard-core a fucking rock’n’roller as you’re ever going to find … He’s a complete bad-ass yet always thoughtful. We need more people like this!” 

Motörhead´s signature song is Ace of Spades. Therein, it says, it opens:

If you like to gamble, I tell you I´m your man

You win some, lose some, it´s all the same to me

Ace of Spades has been interpreted as being about the „game called life“ (although Lemmy has dismissed such thoughtful interpretations, insisting that it was merely inspired by his passion for gambling). Irrespective of that, it says something about the most central aspects of life: diving into it, and taking its vicissitudes lightly – to a point where they do not even matter or become experienced as such. Way too often, if you lose some on the life game, anger, frustration, trauma and revengefulness set in, may even hollow out the personality and become a life theme for the respective individual. If you win some, instead, other vices may come out („If you want to find out what a man is to the bottom, give him power“, as it says). Maybe this is so because ego and vanity play a big, all too decisive role in ordinary human psychology. Therefore the Buddha teaches us to leave the ego behind. Motörhead seem to always have known –

I don´t share your greed,

The only card I need

Is the Ace of Spades,

The Ace of Spades

LaRochefoucauld says, the surest sign of nobility of character is the innate absence of envy (or, also, if you may, greed, that is the same egoic passion in another disguise). Lemmy does not share envy nor greed nor egoic passions and is not interested, his only passion and the only thing he is interested in is the Ace of Spades, that is to say the Joker of the life game, the magic jewel that is able to represent the essence or signficance of any other card.

You know I´m born to lose,

And gambling is for fools;

But that´s the way I like it, baby,

I don´t wanna live forever

…. And don´t forget the Joker!

Gee, I think that´s the way it should be done.

What added to the enigmatic charisma of Lemmy and his larger-than-life persona was that his psychological and intellectual indestructibility seemed to have been gladly accompanied by physiological indestructibility. Even more than Keith Richards he seemed to epithomise physical immortality regardless of a very unhealthy lifestyle. I wanted to see Motörhead in 2013; yet just on that day the cancellation of the show had to be announced, due to health issues of Lemmy Kilmister. Although he recovered and continued to play a lot, his fragility had become visible and that day initiated the final act of the comedy that came to an end more hastily than anticipated. Although he had been investigated and treated medically in various ways, it did not become obvious that he suffered from cancer that was, then, already in its very final stage. When he got informed about the vast progression of his cancer and that he would only have some weeks left to live, he reportedly reacated with the reaction of a true man: with an outburst of anger. He died two days later, reportedly while playing a computer game. Some weeks after that, in February 2016, Motörhead were expected to come to Vienna, with Saxon and Girlschool as support. I wanted to see them then. Again, it could not happen. The day he died, shortly after his 70th birthday, was a sad day all over social media. Years before, he had said in an interview: „I´m gonna play until I´m seventy. Then I will drop dead from the stage!“

„The most important thing in life? A sense of humour. Lose it, and you´re done. You might as well take a bullet in the head.“ Kierkegaard said somehow the same; that the only attitude that might triumph over the necessary vicissitudes of finiteness, is humour. And Kierkegaard was praised as „by far the most profound philospher of the 19th century“ by Wittgenstein (himself by far the most profound philosopher of the 20th century). Kierkegaard (as well as Wittgenstein) was exalted as well as depressed about life. Lemmy was beyond that. My extremely careful study about Kierkegaard I ended with the expression that Lemmy was God, and Kierkegaard was his prophet (if you think that I´m stupid or employ stupid jokes all the time, take into consideration that I´m by far the most profound philosopher of the 21st century. Thus spake Zarathustra). The only time I´m easy is when I am killed by death.

Sören Kierkegaard

Seht, wie exzentrisch Kierkegaard in die Welt hineinragt! Da, die Silhouette der Menschenmenge am Abend, vor der untergehenden Sonne, die Menschenskyline: mal so, mal so die Kontur, eine hagere, hochaufgeschossen schiefe Figur ragt heraus! Kierkegaard! Eine hagere, hochaufgeschossene Silhouette ragt aus der Menschenskyline heraus!  Eine hagere, hochaufgeschossene Silhouette ragt in die Welt hinein, penetriert das Universum, den Äther. Kierkegaard! Seht, wie exzentrisch Kierkegaard in die Welt hineinragt! Seht, wie exzentrisch Kierkegaard aus der Welt hinausragt! Seht, spürt, was für ein gewaltiger, unerklärlicher Reiz von Kierkegaard da ausgeht, was für eine gewaltige, sich schwer fassbar zu machende Sogwirkung! Eine mystische Figur! Ein zitternder, weißer, auratischer, flügelpaarähnlicher Fetzen hoch oben, gegen das Dach hin der schwarzen, existenziellen Halle! Das ist Kierkegaard! Das ist Kierkegaards Geist! Denn Kierkegaard – und darin besteht die mysteriöse Sogwirkung – ist Geist, und alles, was er tut, ist das Wirken von Geist: das hat scharfe Konturen, das hat dabei allerdings keine gewöhnlichen Konturen, das hat andersartige Konturen, die scharf sind, sich aber – scheinbar in eine höhere Dimension (oder aber/auch in des Geistes stumpfsinnige, unsinnige Tiefen?) – hinein verlieren und sich in einem unsichtbaren Feuer verzehren! Das unsichtbare Feuer der Aura! Oben, das Dach, ein geistiges Zelt, das alles aufspannt, alles das, und Kierkegaard, der uns seine Nachrichten zukommen lässt, vom Dach der Welt! Blaugrüne Erhebung im Wald, die silbernen Kugeln aus Atomen, die sich auf herballerlei Männlichkeit stürzen, beschützend der Tanz der klingenden Ionen, beschirmend mächtiger Fluten geistigen Wirkens, vor Jahrhunderten habe ich hier mein Haus gebaut und harre fortan zu jeder Stunde wässernder Mädchen Zier, mag man da nur mehr stammeln, da sich in diesen Regionen, denen Kierkegaards, die allerhand nützlichen Maximen und Reflexionen und Bauernregeln für des Lebens Weg verlieren sich; ein wirklich in die Tiefe gehendes Werk wird vom Künstler aus den entlegensten Tiefen seines Seins geschöpft; dort plätschert kein Bächlein, singt kein Vogel, raschelt kein Laub; Gotik und Romantik verschwinden; und an ihrem Platz erscheinen die Dimensionen, die Geraden, die Formen der Ewigkeit und des Unendlichen (so de Chirico), und so erscheinen bei Kierkegaard die Dimensionen, die Geraden, die Paradoxien und entfalten ihre enorme Sogkraft und ziehen uns in sie hinan. Kierkegaard ein absoluter Grenzgänger der Menschheit, der seine absolute Sogkraft und sein absolutes Charisma entfaltet: denn er zeigt uns das Absolute! Er so anziehend, weil es ein ernstes Spiel mit dem Paradoxen, dem Absoluten und dem Nichts ist, Höchstes und Elementarstes treffen sich, exzentrische Bahn, dahinter das völlig Unbekannte! Seht, wie exzentrisch Kierkegaard in die Welt hineinragt! Seht, wie exzentrisch Kierkegaard aus der Welt hinausragt! Da, die Silhouette der Menschenmenge am Abend, vor der untergehenden Sonne, die Menschenskyline: mal so, mal so die Kontur, eine hagere, hochaufgeschossen schiefe Figur ragt heraus! Kierkegaard!

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Sei die zentrale Frage der Philosophie denn nicht – womöglich? –: Was sei der Sinn des Lebens?, und das nicht auch die Frage, wo sich Philosophie und Religion treffen, so hat man bei Kierkegaard als das wohl grundlegendste Motiv: Wie lässt sich das Leben begreifen, und wie lässt sich das Leben richtig leben? (Adressat dieser Frage ist naturgemäß der Einzelne). „Mein Verdienst in der Literatur bleibt immer, die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Existenzumfanges so dialektisch scharf und so primitiv dargelegt zu haben, wie es zum mindesten meines Wissens in keiner anderen Literatur geschehen ist, und ich habe auch keine Bücher gehabt, um mir aus ihnen Rat zu holen“, so K. in seinem Tagebuch. Das Leben, die Existenz, der Einzelne, der in Leben und Existenz geworfen ist, lässt sich durch kein System feststellen, sondern ist zugleich weniger und mehr als der Umfang des philosophischen Systems. „Ein System des Daseins kann nicht gegeben werden … System und Abgeschlossenheit entsprechen einander, Dasein ist aber gerade das Entgegengesetzte.“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 252) Blicken wir also in das Leben und die Existenz, so haben wir da zumindest aber ästhetische Sphäre, die ethische Sphäre, und die Sphäre des Religiösen. Die ästhetische Sphäre bezieht sich auf die Möglichkeiten des Menschen, sich – eventuell bis zur „Lebenskunst“ gesteigert – mit der Welt in Verbindung zu setzen und sinnliche und intellektuelle Sensationen zu erfahren, und sich so in seiner Individualität jeweils an- und abzureichern. Moralisch ist die ästhetische Sphäre indifferent; vor allem aber bedeutet die ästhetische Sphäre, auch wenn der Lebensvollzug des ästhetischen Menschen bis zur Lebenskunst gesteigert ist, letztendlich ein Übergewicht und eine Heteronomie der Gegenstände des Lebens gegenüber auch dem nonkonformistischen Genießer, den sie letztendlich unter sich begraben. Die ethische Sphäre bezieht sich darauf, dass der Mensch ursprünglich nicht allein Individuum ist, sondern Gattungswesen und in die Gattung und in die – tatsächlichen wie ideellen – Regeln des moralischen Zusammenlebens eingebettet. Die ethische Sphäre betrifft die Wahl zwischen Gut und Böse. Damit sind, letztendlich, Gut und Böse Heteronomien gegenüber dem Einzelnen, und begraben den Einzelnen, der sich für das eine oder das andere, oder einmal für das eine und dann wieder für das andere entscheidet, unter sich, und das Individuum ist auch hier davon bedroht, Gattungswesen zu bleiben. In der meta-ethischen religiösen Sphäre wählt der Einzelne aber die Wahl der Wahl zwischen Gut und Böse, wird dadurch autonom, indem er eben auch die Wahl der Wahl zwischen Autonomie und Heteronomie wählt. Diese – wahre – Autonomie bezieht sich nicht mehr unmittelbar auf die Gegenstände des Lebens oder das Gesellschaftliche als konkret greifbaren Entitäten, sondern begründet sich über einem Abgrund – einem Abgrund der Existenz an sich. Es ist der Abgrund der Freiheit, allerdings auch der existenziellen Unbestimmtheit des Individuums, das im Dasein letztendlich nicht ersichtlich geborgen ist – und so kreist das Werk Kierkegaards darum, dem Individuum Bestimmung zu verleihen. Entweder – Oder kreist darum, ethische Existenz zu ermöglichen und um den Appell des (ästhetisch) besonderen Individuums, gleichzeitig im (ethischen) Allgemeinen aufzugehen; für einen gelingenden Lebensvollzug also kein bloß cooler Hipster zu sein, sondern dabei gleichzeitig das allgemeine Gesetz in sich aufzunehmen und zu verkörpern: „Die Aufgabe, die das ethische Individuum sich setzt, besteht darin, sich selbst in das allgemeine Individuum zu verwandeln.“ (Entweder – Oder, S. 828) – Subjektivität zu transzendieren bedeutet, die Subjektivität so zu erweitern, dass sie objektiv bedeutsam wird; das Objektive zu erreichen bedeutet, es subjektiv zu leben: ja, das sage auch immer wieder bei Gelegenheit. „Wenn das Ethische richtig gelebt wird, macht es das Individuum unendlich sicher in sich selbst“ (ebenda, S. 821) Die Möglichkeiten und Grenzen ästhetischer und ethischer Existenz auszuleuchten, darum geht es in den fast 1000 Seiten Entweder – Oder – das mit dem Ultimatum beschließt einer Meditation über das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben: in dem sich also letztendlich der Abgrund des Theologischen auftut, mit dem der ethisch-ästhetisch realisierte Mensch dann konfrontiert ist. Furcht und Zittern dann eine Meditation darüber über den Menschen, der nicht allein, als ethische Existenz, das rationale, allgemeine, gesellschaftlich reflektierte und legitimierte Gesetz in sich aufnimmt, sondern mit dem irrationalen oder a-rationalen Gesetz Gottes konfrontiert wird und versucht, dieses zu verwirklichen und diesem zu gehorchen – was noch ungleich schwieriger ist, aber eine – eventuell (und profan gesagt) in Form von schwerwiegenden ethischen Dilemmata – auftretende Zumutung des Daseins an das Individuum. Das dann also der Moment, in dem das Individuum mit einem dunklen Abgrund konfrontiert ist, mit der Paradoxie, damit, dass es nicht weiß, welche Folgen das Handeln hat und wie man es also vernünftig planen könnte und wie sich das Individuum dann also, hinsichtlich der Folgen, ästhetisch wie auch ethisch realisiert. Angesichts dieses Abgrundes helfe nur mehr der Sprung – in den Glauben. Der Schwindel und die Angst des Individuums vor den Möglichkeiten des Abgrundes – auf dessen Grund Gott allein innerhalb des Glaubens wartet – und seiner jemeinigen Freiheit, den Abgrund zu durchfahren, werden meditiert in Der Begriff Angst. Die Krankheit zum Tode meditiert Möglichkeiten der gelingenden wie der nicht gelingenden Existenz (wobei deren zweiten durchaus zahlreicher sind). In der Krankheit zum Tode wird der Mensch als Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit begriffen, als etwas Endliches wie Unendliches u. dergl.; das ist so unmittelbar und selbst für den Dümmsten einsichtig, dass es eventuell einer Erklärung bedarf – die immer subjektiv ist bzw. eine subjektive Ausmalung und Erfahrung, allerdings auch immer, da es sich um ein objektives Existenzverhältnis des Menschen handelt, von objektiver Gültigkeit: Sage ich – das Ewige im Menschen und sein Selbst (als das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält) ist das Selbst als Wert. Der Mensch lebt in der Ewigkeit und in der ewigen Seligkeit nicht in einem ewigen (und noch dazu wohl sehr schnell langweilig und abwechslungslos erscheinenden) Elysium, in dem die Zeit und der Verfall keine Macht mehr hat, sondern, indem er sich seines Selbst als eines ewigen Wertes bewusst ist. Der jeweils ewige Wert ist urtümlich in jedem Selbst angelegt, muss allerdings gleichzeitig realisiert werden, was nur in dem Bekenntnis zu einem ewigen, dynamischen Prozess letztendlich möglich ist. Das absolute Bekenntnis dazu ist dann, in etwa, das religiöse Stadium. Jedes Selbst, egal ob klein oder groß, ist aber dann doch nur ein kleiner und relativer Wert, der sich in einem chaotischen, irrationalen Abgrund des Daseins insgesamt verliert, oder eben zumindest relativiert. Der Große Wert ist dann der Abgrund des Daseins begriffen als Gott. In ihm bewahren sich die kleinen Selbste und Werte, in ihm, letztendlich realisieren sie sich. Das Höchste sei, dass der Mensch erkenne, dass er „von sich aus gar nichts vermag, gar nichts“, und der Mensch erkenne umso mehr und umso dringlicher, dass er eines Gottes bedarf, je „vollkommener“ er ist – so Kierkegaard in der Rede Gottes Bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit, als eine der Reden, die Kierkegaard selbst als den eigentlichen Schlüssel zu seinem Werk betrachtet hat (die allerdings zu Lebzeiten, wie auch darüber hinaus, eher unbeachtet liegen geblieben sind). (Aber auch im Hauptwerk steht: „(N)ur im Glauben hat man eigentlich die Gewissheit, dass man was ausrichtet“ (Entweder – Oder, S. 615).) Das Selbst kann nur göttlich und ewig werden, wenn es in einen göttlichen Abgrund eingelassen ist, der das Selbst bewahrt und in dem das Selbst sich ausdrückt. Gott ist indes nichts, was gewiss ist, und theologische Gottesbeweise lehnt Kierkegaard ab: Da, wenn Gewissheit über die Existenz Gottes herrschen würde, der Glaube ja keine heroische Angelegenheit mehr sein kann, innerhalb dessen sich das Individuum (in einem freiwilligen, a-rationalen und eben moralischen Akt) heroisch realisiere. „Durchsichtig“ gegenüber der Macht zu werden, die es gesetzt hat, „durchsichtig“ zu werden in Gott ist die heroische Realisierung des Individuums und der Sinn des Lebens. Gott ist, an und für sich, keineswegs durchsichtig, sondern ein Paradoxon, das jenseits der Grenzen unseres Verstandes liege (Meditation darüber in den Philosophischen Brocken); sich zu diesem Paradoxon reflektiert zu verhalten, es in sich einzubauen, sprengt die engen Begrenzungen des individuellen (wie auch kollektiven) Geistes und des Selbst und ermöglicht die Freisetzung seines jemeinigen ewigen Wertes. „Durchsichtig“ zu werden bedeutet, dass man über die Reflexion über die Reflexion auf den Grund seiner selbst komme. In ihrem Werk über die Achsenzeit schreibt Karen Armstrong, dass einige wenige, besonders begabte Yogi schließlich einen Zustand erreichen, der sich nur mehr durch „Paradoxien“ beschreiben ließe. Das deswegen, weil die letzten Dinge eben notwendigerweise paradox sind, und Kierkegaard, kann man sagen, war auch einer dieser Yogi.

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Seht, wie paradox Kierkegaard aus der Menge herausragt! Ein paradoxer, schiefer Mensch, der den ewigen Wert des Selbst höchstmöglich erreicht und realisiert hat, indem er „die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Existenzumfanges so dialektisch scharf und so primitiv dargelegt zu haben, wie es zum mindesten meines Wissens in keiner anderen Literatur geschehen ist“. Kierkegaards Charisma besteht darin, dass er das Absolute zum Ausdruck bringt. Laut dem zeitgenössischen Philosophen Quentin Meillassoux sei das Absolute etwas, das „völlig unabhängig vom Denken und daher gleichgültig gegenüber dem Denken, das es denkt, ist“. Am Absoluten erreicht das Denken einen „Grenzpunkt“, der es „zwingt, anzuerkennen, dass eine Macht ausgeübt wird, die ihm gegenüber gleichgültig ist, die es ohne irgendeinen Grund auftauchen lässt oder zerstört, ohne dass ihr etwas entgegengesetzt werden könnte“. (Quentin Meillassoux: Trassierungen, S. 10) Die „entscheidenden Bestimmungen des Existenzumfanges“ sind eine solche Macht, und indem Kierkegaard diese „so dialektisch scharf und so primitiv dargelegt zu haben, wie es zum mindesten meines Wissens in keiner anderen Literatur geschehen ist“ ist er absolut, und sein Charisma ist absolut (Meillassoux hingegen meint in jenem Zusammenhang das „Hyper-Chaos“, als seine Vorstellung vom Existenzgrund). Würde es einem wohl gefallen, absolut geworden zu sein (sofern man das überhaupt anstrebt, gemeinhin strebt man höchstens „Vollkommenheit“ oder „Perfektion“ an, was aber eine subjektivistische Referenz ist und zeigt, dass man vom Absoluten gar nichts verstanden hat, es (zumindest noch) nicht gestreift hat). – Ich weiß allerdings nicht, ob ein Philosoph gerne so sein möchte wie Kierkegaard! Ein Schriftsteller so sein möchte wie Kafka! Ein Maler so sein möchte wie van Gogh! Ich denke, die würden eher so sein wie der 15jährige, aus der Levante zugereiste Achmed, der auf die Frage der Lehrerin an die Kinderchen, was sie denn später einmal werden wollen, lange irritiert in die Luft starrt und eventuell einer Fliege bei ihrem abenteuerlichen Flug zusieht, bis er sich endlich nach vorne wirft und niederschreibt: „Ich will Kapitalist werden und viele Frauen ficken!“. Naja, es hat offensichtlich auch erhebliche Nachteile, wie Kafka, Kierkegaard, Wittgenstein zu sein, nicht zuletzt, was das Kapitalist sein und das Ficken von Frauen anlangt (wobei aber, soweit ich sehen kann, und bei der Strafe des persönlichen Untergangs dieser Individuen, die Vorteile überwiegen). Die transzendenten Genies, wie Kierkegaard, durchstoßen die materielle Hyle und sehen das Universum. Das ist ein großer Genuss. Aber sie sind einfach zu fremdartig, als das man sich als normaler Mensch wohl irgendwie mit ihnen identifizieren könnte. Kafka, Kierkegaard et al. sind die Fremden. Originalität und Intelligenz ist was, das man anstrebt, gemeinhin. Aber bei den Transzendenten, wie Kierkegaard et al., wird die Originalität und die Materie durch sich selbst hindurchgeschossen – und das ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Kann man sich einen Freund der Philosophie vorstellen, der ausruft: „Mann! Ich möchte so sein wie Kierkegaard!“? Oder einen Maler, der schreit: „Mann, ich möchte so sein wie van Gogh! Wie van Gogh möchte ich sein, wie van Gogh!“? Oder einen dieser zumeist (ebenfalls) grenzenlos eingebildeten Schriftsteller, der heult: „Kafka sei ich! Kafk-„ etc. Nein, das kann man sich wohl eher nicht so gut. „In Zeitungen, in Büchern, auf Kanzeln, von den Kathedern her, in Versammlungen macht sich eine Feierlichkeit geltend, eine Wichtigkeit und aber eine Wichtigkeit, als drehte sich alles um Geist, um Wahrheit, um den Gedanken. Vielleicht tut es das auch, vielleicht. Vielleicht aber dreht sich auch alles um den Broterwerb, um Karriere, vielleicht. Ist es der Broterwerb, die Karriere, was den Kandidaten der Theologie begeistert oder ist es das Christentum? Man weiß es nicht. Er nimmt den Broterwerb, er versichert, das Christentum sei es. Ist es der Broterwerb, die Karriere, was den Kandidaten begeistert oder die Wissenschaft? Man weiß es nicht. Er nimmt den Broterwerb, er wird Professor, er versichert, die Wissenschaft sei es. Ist es die Abonnentenzahl, die den Zeitungsschreiber begeistert, oder ist es die Sache? Man weiß es nicht. Er sammelt die Abonnenten haufenweis auf, er versichert, die Sache sei es. Ist es Liebe zu den Vielen, was da einen bewegt, sich an die Spitze der Menge zu stellen? Man weiß es nicht. Er nützt den Vorteil, an der Spitze dieser Macht zu stehen, das sieht man, er versichert, es geschehe aus Liebe.“ (Urteilt selbst. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, S. 154) Naja, einmal ist es so, dann wieder so. Irgendwas muss der Mensch ja machen, seinen Leidenschaften folgen und seine Talente entwickeln, und dann hoffen, dass ihm das was einbringt. Und die Fremden müssen ihre Fremdartigkeit ausprägen und zu voller Reife bringen, und dann hoffen, dass es ihnen was einbringt. Kierkegaard, Nietzsche, van Gogh zu sein, müsste für jeden pathologischen Narzissten wohl die Hölle sein, da sie, ausnahmsweise, tatsächlich die höchsten Fähigkeiten in sich vereinigen, dafür aber, zumindest für lange Zeit, die niedrigstmögliche Anerkennung bekommen. Freilich, darunter haben die Genannten einigermaßen gelitten, nicht unbedingt aus Geltungssucht, sondern weil das Paradoxon dabei so unglaublich ist, und die Grenzen zwar weniger des Verstandes, wohl aber der Seele zu sprengen droht. „Kannst du das aushalten? (die frohe Botschaft zu verkünden und keiner interessiert sich dafür, Anm.) Kannst du das? Das ist unmöglich. Nur der Gottmensch kann das aushalten“ (Quelle? Leider vergessen. Lol) Kierkegaard wollte ja leiden und den Kreuzesweg gehen; was aber, wenn das was leiden macht, nicht so tragisch oder erhaben ist, sondern ganz einfach so nichtswürdig und dumm; kein raffinierter Satan der Gegenspieler, sondern ein irrationaler, völlig verblödeter Azathoth im Zentrum des Universums (von H.P. Lovecraft). „Kannst du das aushalten?“ – „Die Unangepassten sind das Salz der Erde, sind die Farbe des Lebens, sind ihr Unglück, aber unser Glück“, so Elias Canetti. Kierkegaard et al., die ultrakomplexen Menschen, die Übermenschen, sind aber weniger die Unangepassten, als eben die Fremden. Aberaberaber – die Fremden sind notwendig, damit die Menschen sich selbst besser verstehen können. Die Fremden sind so umfangreich, dass sie gleichzeitig im Zentrum des Daseins und der menschlichen Existenz beheimatet sind, wie auch in dessen äußersten Randregionen. Sowohl das Zentrum der menschlichen Existenz sind kaum bevölkerte Regionen; und wenn Kierkegaard seine Ehe und überhaupt die (theoretische) Möglichkeit seines weltliches Glückes fahren lässt, weil er sich als eines von zwei, drei jeweiligen Individuen einer jeweiligen Generation begreift, so ist eine solche Schätzung vielleicht nicht ganz falsch. Die Fremden sind deswegen fremd, weil sie das Andere, das Fremde, das Paradoxe, urtümlich in sich aufnehmen und introjizieren. Indem sie so fremd sind, dass nicht außerhalb der Gesellschaft oder außerhalb ihres Zeitalters stehen, sondern außerhalb der Menschheit, sind die Fremden in der Lage, ein Außen gegenüber der Menschheit anzugeben, das gegenüber aller Relativität des jeweils Gesellschaftlichen oder Zeitgeschichtlichen absolut ist. Sie zeigen etwas Menschenmögliches jenseits des Menschenmöglichen an, und erweitern dadurch die Grenzen des imaginär Menschenmöglichen. Kierkegaard, vor allem hinsichtlich seines entschlossenen Kampfes gegen die Kirche in seinen letzten Lebensjahren, hat man vorgeworfen, die Anforderungen des Christentums so sehr in die Höhe zu schrauben, dass es jenseits des Menschenmöglichen liege, ihnen jemals gerecht zu werden – aber genau das hat ja bereits Christus getan und ist die Grundlage des Christentums. Alles Ideal zeichnet sich dadurch aus, dass es jenseits des menschenmöglich Erreichbaren liegt, und eben gerade dadurch als Imperativ wirkt – als etwas, dem das Streben gilt und das Ziel im Streben aufgeht: „Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles“. Trotzdem gibt es aber eben von Zeit zu Zeit Übermenschen, die diese Ideale eben auch tatsächlich begreifen und aufstellen und – wie man sagen kann – realisieren: die dann aber eben in aller Regel ihre Ideale als Imperative begreifen und verkünden und in ihnen eher hypothetische Möglichkeiten sehen. Indem die Fremden das Andere, das Paradoxe in sich aufnehmen, werden sie, von einem Hyperraum aus betrachtet, vollständig ebenmäßig und glatt, und zum Träger des Gesetzes. Sie werden sittlich autonom. In dieser vollkommenen Autonomie geben sie gegenüber der Heteronomie der Zeit, und aller Zeitlichkeit, ein Außen an. Von Zeit zu Zeit ist es immer wieder nötig, gegenüber der Dümmlichkeit der Gegenwart, und aller Gegenwart, ein Außen zu errichten. Ein solches Außen zu errichten, das ist die urtümliche Sache der Fremden.

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Eigentümlich und beklemmend fällt natürlich der starrsinnige religiöse Fimmel bei Kierkegaard auf. Es fällt einem schwer, so was für möglich zu halten – aber bei Kierkegaard – und das erhöht sein Charisma – ist eben nichts unmöglich. Das fest ineinander amalgamierte Beisammensein von einer scharfsinnigen Intelligenz und erdrückender, irrationaler, wahnähnlich ausgeprägter Religiosität ist ja ein Markenzeichen der Familie Kierkegaard; zumindest hat man das beim Vater wie auch beim Bruder. Sörens Intelligenz ist freilich noch viel höher, es ist eine absolut freigesetzte Intelligenz: Warum also ein kindisch bis primitiv wirkendes Glaubensbekenntnis, um das die ganze Intelligenz zu rotieren scheint? Wisse aber, so du selbst keine großen religiösen Empfindungen hast, kannst du ihnen natürlich wenig anders als eher mit Befremden gegenüberstehen. So dich diese Gnade eines religiösen Temperamentes nicht ereilt hat, kannst du den heiligen Tempel nur von außen betrachten, sein inneres Sanktum bleibt verschlossen. „Ein religiös entwickeltes Individuum ist ja gewohnt, alles auf Gott zu beziehen, jedes endliche Verhältnis mit dem Gottesgedanken zu durchdringen und zu durchsäuern und es damit zu heiligen und zu veredeln.“ (Entweder – Oder, S. 571) Einem nicht Religiösen Religion und Glauben erklären zu wollen, ist wie einem Farbenblinden Farben erklären zu wollen: umrisshaft geht das zwar, nicht aber von der eigentlichen Substanz her. Ich selbst empfinde eine Hinzugezogenheit zur Religion – dem „achtsamen Befolgen der Gebote“ – allerdings eher zu den Werten der Religion, wie Demut, intellektueller und moralischer Unterwerfung, Ernsthaftigkeit, Verbundenheit und tieferes Eindringen in den Seinszusammenhang, der Vorstellung von Harmonie und Ausgleich als Prinzipien des Universums, der großen moralischen Aussage und dem Appell zur Selbstvervollkommnung, und das sich Insverhältnissetzen zu einer höheren, überlegenen Instanz, die als advocatus dei wirkt; Religion selber kann ich dabei natürlich aber nicht ganz ernst nehmen („Na klar“, sagt R., „wer kann denn Religion heute noch ernstnehmen? Da muss man ja einen Schuss haben, wenn man das heute noch tatsächlich ernstnehmen kann!“). Also kann ich den großen K. möglicherweise auch nicht ganz ernst nehme und sollte ihn beiseite tun?? Das würde meinen Feinden und Neidern sicher so passen! Ich aber bin schon gescheit genug, um zu erkennen, dass ich mich hinsichtlich des religiösen Temperamentes Kierkegaard gegenüber eben nur wie ein einigermaßen Farbenblinder verhalten, und ich im Sinne der ganz wissenschaftlichen Sorgfalt die Klappe halten sollte, bis die zugrundeliegende Hypothese eben endgültig verifiziert oder falsifiziert ist. Oh ja, ich glaube, ich sollte mich einfach verpissen und die Klappe halten, also werde ich das jetzt ganz einfach tun, mich verpissen und ganz einfach die Klappe halten. – Im Werk von Kierkegaard tritt uns Gott immer wieder wie eine verhüllte, rätselhafte Macht gegenüber, beziehungsweise: nicht einmal als eine Macht, sondern als ein abstraktes Verhältnis oder Existenzial, oder eben als Ausdruck eines Paradoxons; und seine unter Pseudonymen veröffentlichten, heute als Hauptwerke geltenden Schriften kreisen um das Gelingen oder Scheitern verschiedener Existenzmöglichkeiten im Hinblick auf dieses Verhältnis. In den, unter eigenem Namen veröffentlichten und seinem Vater gewidmeten religiösen Reden und erbaulichen Schriften hingegen hat man persönliche Meditation und (Selbst)gespräche (allerdings weniger zu Gott als vor Gott) – Kierkegaard hat diese Reden oft als den „eigentlichen Schlüssel“ zu seinem Werk betrachtet, der allerdings unbeachtet geblieben sei (wie auch weiter unten nochmal erwähnt). Dort drinnen steht dann auch zum Beispiel: „… dass das Gute seinen Lohn in sich selbst hat, ja, das ist ewig gewiss, es gibt nichts, was so gewiss ist; dass es einen Gott gibt, ist nicht gewisser, denn das ist ein und dasselbe“ (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, S. 45). Das kann man, wenn man so will, eigentlich auch als schwarzen Humor sehen, gleichzeitig ist es höchster Ernst (und, wie wir noch sehen werden, hat Kierkegaard ja herausgearbeitet dass der höchste religiöse Ernst ja mit Humor einhergeht und urtümlich mit ihm verwoben ist). – Kurz nach dem Tod seines Vaters, am 19. Mai 1838, notiert Kierkegaard in sein Tagebuch eine Epiphanie, in der er das gesamte Dasein in einer grenzenlosen Freude wahrnimmt. Eine religiöse Urerfahrung, ein Durchbruch zum Kosmischen Bewusstsein (wie von Richard Bucke in seinem höchst wichtigen Werk Kosmisches Bewusstsein. Zur Evolution des menschlichen Geistes systematisch beschrieben), eine Erleuchtung, die der angestrengte Wanderer endlich erlangt, ein Fingerzeig Gottes – oder eine Erleichterung, dass der Alpdruck des Vaters, gegen den der Sohn mit seinem Dandytum rebelliert hat, verschwunden ist? Auf jeden Fall, trotz der Intensität der Erfahrung, die Kierkegaard schließlich veranlasst, sein Leben auf Spur zu bringen und seinem religiösen Auftrag zu folgen, findet sie, oder irgendwas dergleichen, nach dieser kurzen Erwähnung keine weitere mehr. Mystiker wird er, genauso wie Klosterbrüder, später, ohne dass sie das so eigentlich verdient hätten, später als Ausdrücke eines unauthentischen Glaubensvollzuges beiseite tun und sich stattdessen in den Abgrund der dialektischen Ausleuchtung des religiösen Existenzverhältnisses stürzen. Aber jeder halt eben, wie er will und soll halt jeder nach seiner Fasson selig werden, und „das Ethische als das Innere lässt sich von jemand, der draußen steht, gar nicht betrachten, es lässt sich nur vom einzelnen Subjekt realisieren, das dann von dem wissen kann, was in ihm wohnt“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 483) – und so stürzt sich Kierkegaard in seine intellektuelle Realisierungsmanie der religiösen Idee und des religiösen Geistes (denn als Agent des Heiligen Geistes lässt sich Kierkegaard vortrefflich begreifen). Glaube ist ein geistiges und seelisches (oder emotionales) Verhältnis, in dem zu aller Zeit eine subjektive Leidenschaftlichkeit auf eine objektive Ungewissheit trifft, und darin ihren Glanz und ihr Elend hat. Kierkegaard, mit seiner Leidenschaft für das Paradoxe, affirmiert diese objektive Ungewissheit; Gottesbeweise lehnt er, wie gesagt, ab, da der Glaube, wenn er Gewissheit geworden wäre, kein Glaube mehr sei, und keine Leidenschaft (und kein Heroismus des Glaubensritters) mehr sei bzw. wenig Platz dafür übrig lasse. – Obwohl er diese vergleichsweise Leerstelle die ganze Zeit mit allerhand auffüllt, vor allem eben in den religiösen Reden, bleibt der Gegenstand des Glaubens, Gott, einigermaßen dunkel; wenn was beleuchtet wird, dann eher die Helle des religiösen Lebensvollzuges. Die Modernität und das zukunftsweisende Potenzial von Kierkegaard als religiösem Schriftsteller und, eben dann später, als Existenzphilosoph, liegt daran, dass Kierkegaard eine durchaus agnostische Religiosität formuliert, und sich damit, in Exzentrizität wieder ins Zentrum stellt: Was das Charisma von Kierkegaard ausmacht, ist dass er so eigenartig und merkwürdig bis eventuell verschroben auf einen einwirkt, dann aber auch wieder so klar und (in dieser Klarheit) „primitiv“, wie es eben nur sein kann bei Nachrichten, die vom Dach der Welt kommen. Sowohl der Theismus und der Atheismus beziehen sich auf nichts Gewisses und sind daher Glaubensbekenntnisse; der Agnostizismus ist, so gesehen, die einzig rational gerechtfertigte Position – mehr noch, geht Kierkegaards agnostische Religiosität geradezu in Richtung Ignostizismus bzw. positiv über ihn hinaus: also der Position, dass es nicht nur nicht wissbar ist, ob es einen Gott gibt, sondern auch, dass die Existenz oder Nichtexistenz Gottes, aufgrund ihrer Entrücktheit, gar keine Rolle für das persönliche Leben spielen würde – was wiederum eine subjektive Stellungnahme, ob die Existenz Gottes für einen wichtig ist oder nicht, nicht ausschließt, sondern sie in der Möglichkeit ihrer Subjektivität ja begründet: eine Wahl, die man treffen kann zwischen „Ist Gott wichtig für mich?“ und „Ist Gott unwichtig für mich?“ – und Kierkegaard hat eben so gewählt, dass sie „unendlich“ wichtig für ihn ist – gleichsam scheinbar berücksichtigend, dass er damit die Wahl der Wahl zwischen „Gut und Böse“ wählt. Wobei man dann eben wieder beim religiösen, meta-ethischen Stadium als dem höchsten menschenmöglichen Stadium ist. Das Leben und den Seinsgrund, gleichsam trotzig gegenüber dem Schweigen des deus absconditus als etwas Heiliges und sehr Ernsthaftes zu betrachten: das ist nicht nur gut, sondern es ist wahrhaftig die gute Sache. Vulgär all jene, die diesen tieferen Sinn der Religion nicht erkennen mögen. „Mich beschäftigen besonders zwei Dinge: 1. dass ich intellektuell im griechischen Sinn meiner Existenzidee treu bleibe, was es auch kostet, 2. dass es im religiösen Sinne so veredelnd wirke wie möglich“, schreibt er 1846 in sein Tagebuch, und 1850: „Was ich will, ist anzuspornen in der Richtung, ethischer Charakter zu werden. Wahrheitszeuge werden, leiden zu wollen für die Wahrheit, und weltlicher Klugheit entsagen zu wollen“. Es schadet nicht, Gott dafür um Hilfe anzurufen, und scheint auch wenig Basis für religiösen Fanatismus, Hartherzigkeit und intellektuelle Inflexibilität zu bilden. Die von Kierkegaard beschriebene Religiosität beschreibt ein zutiefst selbstermächtigtes Existenzverhältnis. Wie Adorno bemerkt, lassen es die letzten Gespräche des sterbenden Kierkegaard mit Emil Boesen offen, inwieweit Kierkegaard tatsächlich ein gläubiger Christ gewesen sei (Theodor Adorno: Kierkegaards Lehre von der Liebe, S. 269) (in einer höheren Dimension, von der wir, wiederum als gleichsam Farbenblinde, wieder nur den Abdruck sehen können, war er das aber natürlich, das ist ja ganz klar, und vor allen Dingen geht das ja zumindest aus den Tagebüchern hervor).

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BONNNG!! – die 1850 erschienene, sehr schöne Schrift Einübung in das Christentum ist ein mächtiger Schlag an die machtvoll unbewegte, in sich selbst ruhende, nichts Böses erwartende Glocke oben im Kirchturm. Majestätisch sieht uns die Glocke an, mit schwer herabhängenden Lidern, da – BONNNG!! – bekommt sie einen Schlag versetzt, der dann in rebellenhafter Majestät über Hof und Dächer schallt. Ein Ereignis ist eingetreten! Ehrwürdiges trifft auf Ehrwürdiges, geistige Majestät auf geistige Majestät, auch wenn die Ehrwürdigkeit der einen und ihre geistige Majestät darin besteht, dass sie frühere Ehrwürdigkeit und frühere geistige Majestät bewahrt, vielleicht, wahrscheinlich, ein wenig steril und statisch, und in prachtvolle Roben gekleidet. Wie kann man, als Mensch der Ehrfurcht vor dem Heiligen hat, da anders als Ehrfurcht haben, auch wenn es sich um morsches, aber altehrwürdiges Gebäude und Gebälk handelt? Wie hatte Kierkegaard nicht vor dem ehrwürdigen Bischof Mynster Respekt? Ja, das kenne ich und kann ich nachempfinden! Denn Statik erfüllt uns durchaus, und womöglich mehr als Dynamik, mit Ehrfurcht! Aufschießende Halle! Ehrwürdige aufschießende Halle, etwas kalte Räumlichkeit! Der ehrwürdig wirkende ältere, ernsthafte, impenetrabel wirkende Herr, mit dem teilweisen Bart, setzt sich hin auf seinen Thron, hält sich mit den knochigen Fingern an den Armlehnen fest und blickt etwas nach unten – die ehrwürdigen Hallen der Gedankenlosigkeit! Die ehrwürdigen Hallen des geistigen Stillstandes! Der relativen Empfindungslosigkeit! Eine relative Ehrfurcht flößt mir ihr ehrwürdiger, eventuell bildungsbürgerlicher, relativ ästhetischer Anblick ein, ihre leichte Kälte weht mich an und wirkt ernsthaft und erschaudernd; aufschießende Halle im Palast, in den Katakomben! Einmal im Jahr bewegt sich der ältere, in der Übergangszeit zum tatsächlich hohen Alter sich befindende Herr, er bewegt sich leicht, kaum, er verkörpert die (eventuell bildungsbürgerlich garnierte) Geistes- und Gedankenleere! Ich aber habe vor diesen Ornamenten teilweise, aufgrund ihrer äußeren Schönheit, Ehrfurcht, und will nicht streng ins Gericht damit gehen, der Mensch, der Ehrfurcht vor dem Heiligen hat, wird zögern, das zu tun. Ich habe immer alles bewundert, sagte Goethe zu Eckermann, und so bewundere ich auch die triumphalen Hallen des geistigen Stillstandes, die den geistigen Stillstand symbolisieren, wenn sie ehrwürdig wirken, erhaben, größer als ich selbst (denn das ist ja relativ und auf jeden Fall der Fall). Der geistige Stillstand und die Geistlosigkeit sind durchaus Mächte und richten, in ihrer Statik, oder idiotischen Dynamik viel aus in der Welt, der alte, geistesleere Mann auf dem Thron in der Halle ist mir ein ehrwürdiger Gegner, dem ich allein schon aufgrund seiner Ewigkeit Respekt schulde. Mit der Einübung in das Christentum nun aber ein mächtiger Schlag an die ehrwürdige kirchliche Statik! All sein Schriftstellertum sei nur um das Thema „wie kann man Christ werden?“ gekreist, so Kierkegaard in seinen Bekenntnisschriften über seine Wirksamkeit als Schriftsteller. In der Einübung kommt der Christ, der Gottmensch daher, und ist der Welt notwendigerweise Ärgernis. In seiner intellektuellen und moralischen extremen Beweglichkeit, in seinem profunden Geist-sein steht der Christ/us und Gottmensch in einer gewissen Opposition zur Welt und zu ihren Routinen. „Selig wer sich nicht an mir ärgert“, so der Gottmensch, denn letztendlich ist der Gottmensch mächtiger als die Welt, als der Geist, der die Welt beseelt und ihr Substanz verleiht. Daher seine (beseelte) Ewigkeit, im Gegensatz zur anonymen Ewigkeit, deren Raum die ehrwürdigen Hallen des geistigen Stillstandes sind. In der Zeitlichkeit aber womöglich eine Verliererfigur (die, wie Milena Jesenská es in ihrem Nachruf auf Kafka aber geschrieben hat, „im Unterliegen den Sieger beschämen“), denn: „Der Verstand steht still vor dem Absoluten“. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift beschreibt Kierkegaard wie er sich lange uneins war, was er im Leben anfangen könne und was er im Leben wohl tauge, bis ihm schließlich aufgegangen sei, dass seine Aufgabe allein darin liegen könne, „überall Schwierigkeiten zu machen“ (S. 326). Und der Christ als Geist und als moralischer Appell macht eben überall in der Welt Schwierigkeiten. „Das Höchste ist: indem man der Welt unbedingt ungleich ist, dadurch, dass man allein Gott dient“ (Urteilt selbst. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, S. 198). Die Seligkeit des Christen ist gleichsam paradox, da sie nicht in Ruhe, sondern in größtmöglicher Unruhe bestehe: „Das Christentum ist die intensivstärkste, die größtmögliche Unruhe, es lässt sich keine größere denken, es will (so wirkte ja Christi Leben) das Menschendasein beunruhigen von tiefstem Grund aus, alles sprengen, alles brechen … Wo einer Christ werden soll, da muss Unruhe sein; und wo einer Christ geworden ist, da ist Unruhe.“ (so Kierkegaard zu seinem Tagebuch 1854). Richtig nach Transzendenz und Nirwana und Seelenfrieden und Gelassenheit des Glaubens hört sich das unmittelbar nicht an – aber das hat man dann eben in der Ewigkeit; Leben hingegen bedeutet Unruhe und wandernden Geist und bewegliche Seele, somit liege die Möglichkeit der Steigerung des Lebens in der harmonischen Intensivierung der inneren Tätigkeit und Empfindungsfähigkeit. „Überhaupt erkennt man die unendliche Reflexion, in welcher erst die Subjektivität um ihre Seligkeit in Sorge kommen kann, sofort an Einem: dass sie überall die Dialektik mit sich führt. Es sei nun ein Wort, ein Satz, ein Buch, ein Mann, eine Gemeinschaft, es sei, was es wolle, sobald es in der Weise eine Grenze sein soll, dass die Grenze selbst nicht dialektisch ist, ist es Aberglaube und Beschränktheit. Im Menschen lebt immer ein solcher sowohl bequemer wie auch bekümmerter Hang nach etwas ganz Festem, das die Dialektik ausschließen könnte, aber das ist Feigheit und Betrug gegen die Gottheit. Selbst das Gewisseste von allem: eine Offenbarung, wird eo ipso, indem ich sie mir aneignen soll, dialektisch; selbst das Festeste vom allem, der unendliche negative Entschluss, der die unendliche Form der Individualität ist, die Gottes Sein in ihr annimmt, wird sofort dialektisch. Sobald ich das Dialektische wegnehme, bin ich abergläubisch und betrüge Gott um des Augenblicks angestrengtes Erwerben des einmal Erworbenen. Dagegen ist es weit bequemer, objektiv und abergläubisch zu sein und damit prahlend die Gedankenlosigkeit zu proklamieren.“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 163) „Wer existiert, ist beständig im Werden“ (ebenda, S. 215) Ach ja: das Rebellentum! Das Werden! Die Einsamkeit des Rebellen! Das kennt jeder zweite auf dieser Welt sehr gut, genauso wie das, was die großen Weisen sagen jeder zweite auf der Welt sehr gut weiß. Der Unterschied liegt allerdings darin, wie „intensivstark“ all das gelebt und reflektiert wird und vorexerziert, und dafür braucht man das schon die großen Weisen und die Kierkegaards selbst, die im ruhenden Auge des Tornados hausen. Hören wir, weil es gut in den Zusammenhang passt, die Worte eines anderen Heiligen und Weisen, Bhagwans:

„…Es gibt Mondsüchtige, die immer nur nach dem Weitentferntem, dem Entlegenen suchen, und sie bewegen sich immer nur in der Einbildung. Große Dichter, einbildungsstarke Menschen – ihr ganzes Ego ist ins Werden verstrickt. Einer ist da, der Gott werden will – der Mystiker…

„Der Mensch ist ein Werden. Mit dem Entstehen des fünften Verstandes, des Buddhaverstandes, des Christusverstandes, wird der Mensch zu einem Sein. Dann ist der Mensch nicht mehr Mensch, da der Mensch nicht mehr Verstand ist. Dann ist der Mensch Gott. Und nur das kann erfüllend sein, sonst nichts. Und gib dich nicht zufrieden mit etwas Geringerem!“

„… Ein Buddha ist einer, der in die Erfahrungen des Lebens, ins Feuer des Lebens, in die Hölle des Lebens eingetaucht ist und sein Ego zu seiner höchsten Möglichkeit, zum äußersten Höchstmaß ausgereift hat. Und genau in dem Moment fällt das Ego und verschwindet.“

„Es gibt sieben Türen. Wenn das Ego vollkommen ist, sind all diese sieben Türen durchschritten worden. Danach fällt das reife Ego ganz von allein. Das Kind ist vor diesen sieben Egos, und der Buddha ist hinter diesen sieben Egos. Es ist ein vollendeter Kreis.“

„…Jenseits der vierten Stufe des universalen Verstandes gibt es noch die fünfte Stufe, die letzte, wenn du sogar über den universalen Verstand hinausgehst. Denn auch nur zu denken, dass es der universale Verstand ist, ist denken. Gewisse Ideen vom Individuum und vom Universum bleiben noch in dir zurück. Du bist dir noch bewusst, dass du bist eins bist mit dem Ganzen, aber du bist und du bist eins mit dem Ganzen. Die Einheit ist noch nicht total, sie ist nicht vollendet, sie ist nicht endgültig. Wenn die Einheit wirklich endgültig ist, dann gibt es nicht Individuelles, nichts Universales. Das ist der fünfte Verstand: Christusverstand … Du bist zum ersten Mal ein Sein, Werden gibt es nicht mehr. Der Mensch ist über sich hinausgegangen, die Brücke gibt es nicht mehr … Alles ist vergangen, der Alptraum ist zu Ende.“

Bhagwan, eine Art Zarathustra, von Peter Sloterdijk als ein „Wittgenstein der Religion“ verehrt. Und von Seiten Peter Sloterdijks moniert, dass man sich mit einem Bhagwan-Zitat in der Gemeinschaft der akademischen Philosophie lächerlich mache, so lägen die Dinge. Aber was kümmert uns religiöse Schriftsteller das? Das was Bhagwan da sagt und beschreibt, den Weg vom Werden zum endgültigen Sein, das kenne ich sehr gut. Kierkegaard würde das auch verstehen. Und das was ich vorher gesagt habe, dass es darum geht, ein Außen zu konstruieren, würden Kierkegaard und Bhagwan verstehen.

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„Christi nachzufolgen bedeutet, sich selbst zu verleugnen, und bedeutet also, den gleichen Weg zu gehen, den Christus in der geringen Gestalt eines Knechts ging. Not leidend, verlassen, verspottet, die Welt nicht liebend, und nicht von ihr geliebt. Und es bedeutet also, allein zu gehen.“ (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, S. 235) Kierkegaard kann man in seinem Einsamkeitspathos und in seiner ausschließlichen Adressierung des Einzelnen schon vorwerfen, dass er nicht nur ein Sozialphilosoph gar nicht ist, sondern er überhaupt das Gesellschaftliche ganz vergisst. Während Marx und Engels 1848 das Manifest der kommunistischen Partei veröffentlichen, ist es bei Kierkegaard zwei Jahre später, und nach dem Eindruck der 1848er Revolution die Einübung in das Christentum. Das wurde von gewissen Seiten als eine gewisse Bizarrerie betrachtet, und schon zu seiner Zeit wurde ihm radikale Egozentrik vorgeworfen. „Ein religiöses Individuum dagegen ruht in sich selbst und verschmäht alle Kinderstreiche der Wirklichkeit.“ (Die Wiederholung, S. 83) Gehört Kierkegaard dieser Welt überhaupt an? Es gibt freilich keine Verpflichtung eines Denkers oder (religiösen) Schriftstellers, politisch zu sein; man macht sich halt als unpolitischer bzw. antipolitischer Denker bei den Politischen wohl nicht übermäßig beliebt – wenngleich deren Kritik auch ganz erhellend sein kann und auf tatsächliche Probleme des gesamten Denkgebäudes hinweisen kann. Seine Zurückweisung der Welt und Konzentration aufs Individuum und dessen „Innerlichkeit“ sei so extrem, das man bei Kierkegaard ein Kreisen um eine „objektlose Innerlichkeit“ habe, so Theodor Adorno in seiner Kierkegaardschrift: „Wächst Fichtes Idealismus aus dem Zentrum der subjektiven Spontaneität, so wird bei Kierkegaard das Ich von der Übermacht der Andersheit auf sich selbst zurückgeworfen. Weder ist er Identitätsphilosoph, noch erkennt er positives, bewusstseinstranszendentes Sein an. Weder ist ihm die Dingwelt subjekt-eigen noch subjekt-unabhängig. Vielmehr: sie fällt fort. Dem Subjekt bietet sie bloßen „Anlass“ zur Tat, bloßen Widerstand für den Akt des Glaubens. In sich selbst bleibt sie zufällig und unbestimmt. Anteil am „Sinn“ kommt ihr nicht zu. Es gibt bei Kierkegaard so wenig ein Subjekt-Objekt im Hegelschen Sinne wie seinshaltige Objekte; nur isoliert, von einer dunklen Andersheit eingeschlossene Subjektivität.“ (Theodor Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 55) (Naja, als Farbenblinder sieht Adorno Gott nicht.) Und wie Kierkegaard mit dem Weltlichen aufräumt, z.B. „Das Weltliche ist nämlich seinem Wesen nach nicht Eines, da es das Unwesentliche ist; seine sogenannte Einheit ist nicht wesentlich, sondern ist eine Leere, welche sich unter dem Mannigfaltigen verbirgt … Nur das Gute ist seinem Wesen nach Eines und ist das gleiche in allen seinen Äußerungen“ (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, S. 35) – Da kann man schon sagen, dass die Welt bei Kierkegaard gar nicht untersucht wird, sondern ganz einfach als eine grundsätzlich verworfene Welt – verworfen wird (Theodor Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 72). Dass sein proklamiertes Gutes eben nicht in allen seinen Äußerungen gleich ist, da christliche Nächstenliebe mehr oder weniger sein kann als der Impetus, mit strukturellen sozialen Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnissen aufräumen zu wollen. Das eine ist die (konservative) Nächstenliebe, das andere die (progressive) sozial wirksame Tathaftigkeit. Letzteres hat Kierkegaard höchstens auf eine eigentümliche Art und Weise verwirklicht; „Moralisches Handeln gilt bei Kierkegaard allein dem „Nächsten“ (ebenda, S. 92). Der „Nächste“ ist aber keine politische Kategorie. Kierkegaard mag da kontern: „Indes wiewohl „unpraktisch“, dennoch, das Religiöse ist der Ewigkeit verklärte Wiedergabe des schönsten Traumes der Politik. Keine Politik hat es vermocht, keine Politik vermag, keine Weltlichkeit hat vermocht, keine Weltlichkeit vermag, bis in die letzte Folge hinein diesen Gedanken durchzudenken oder zu verwirklichen: dass Menschlichkeit Menschengleichheit ist. Vollkommene Gleichheit verwirklichen im Medium der Weltlichkeit, Weltgleichheit, d.h. in dem Medium, dessen Wesen Unterschiedlichkeit ist, und sie weltlich, weltgleich, d.h.: Unterschied schaffend verwirklichen, das ist ewig unmöglich, das kann man aus den Kategorien ersehen. Denn wollte man vollkommene Gleichheit erreichen, so müsste „Weltlichkeit“ rein fort, und wenn vollkommene Gleichheit erreicht ist, so hat „Weltlichkeit“ aufgehört; aber ist es dann nicht doch eine Art Besessenheit, dass „Weltlichkeit“ auf die Idee verfallen ist, vollkommene Gleichheit erzwingen zu wollen, und weltlich, weltgleich sie erzwingen zu wollen – in Weltlichkeit. Weltgleichheit! Nur das Religiöse kann vermöge der Hilfe des Ewigen bis ins Letzte Menschgleichheit, Menschlichkeit durchführen, die gottgemäße, die wesentliche, die nicht-weltliche, die wahre, die einzig mögliche Menschgleichheit, Menschlichkeit; und darum ist auch – es sei gesagt zu seiner Verherrlichung – das Religiöse die wahre Menschlichkeit.“ (Die Schriften über sich selbst, S. 97). Und weiter: „“Der Einzelne“ ist eine Kategorie des Geistes, der geistigen Erweckung, – der Politik so entgegengesetzt wie nur möglich. Irdischer Lohn, Macht, Ehre usf. Ist mit ihrer rechten Anwendung nicht verbunden; denn selbst wenn sie im Interesse des Bestehenden gebraucht wird, Innerlichkeit interessiert die Welt nicht, und wenn sie zur Erschütterung gebraucht wird, sie interessiert die Welt dennoch nicht, denn Opfer bringen, sich opfern lassen, was ja die Folge davon sein muss, dass man nicht darauf sieht, Macht im Sinnlichen zu werden, interessiert die Welt nicht.“ (ebenda, S. 115) Die Welt interessiert sich nicht für Kierkegaard, und Kierkegaard interessiert sich nicht für die Welt. Warum auch? Adorno wirft Kierkegaard vor, „alles wirkliche Außen hat sich zu einem Punkt zusammengezogen. Die gleiche Raumlosigkeit lässt sich an der Struktur seiner Philosophie erkennen. Sie ist nicht im Nacheinander entfaltet, sondern ein vollkommenes Zugleich aller Momente, die in einem Punkt, dem des „Existierens“, zusammenfallen … im Punkt aber vermag Wirklichkeit sich nicht zu erstrecken“ (Theodor Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 82) Nun ja, wenn sich der Geist vollständig realisiert hat, fällt wohl tatsächlich die ganze Perspektive auf einen Punkt zusammen, von dem aus man, wie nahe an der zentralen Singularität eines astronomischen Schwarzen Lochs, die gesamte Geschichte des Universums sehen kann. Vollkommenes Zugleich aller Momente hat man vor dem Auge Gottes, und auch Teresa beschreibt die Gottesperspektive, wo sich alle weltlichen Vorgänge annähernd synchron wie in einem Juwel spiegeln. Was Adorno da beschreibt, ist eine Art Satori-Perspektive. Zur Satori-Perspektive gelangt man, wenn man eine unglaubliche Masse von Welt inklusive ihrer Paradoxien in sich aufgenommen hat und über synthetisierende Erleuchtung zu einem höheren Bewusstseinszustand gelangt, der, indem er jenseits weltlicher Dichotomien liegt, in seiner Essenz apolitisch sein wird. Unpolitisch und apolitisch ist nicht dasselbe, denn das Apolitische schließt das politische Engagement und die politische Stellungnahme, sogar die politische Leidenschaft nicht aus (Kierkegaard freilich erscheint nicht nur als apolitisch, sondern auch als unpolitisch, aber diesbezüglich ist man ja immer im Werden). Weiters bedeutet für Kierkegaard vollständig ausgeprägte Innerlichkeit eben nicht Objektlosigkeit oder punktförmige Perspektive, sondern: „Die Natur, die Totalität der Schöpfung ist Gottes Werk, und doch ist Gott nicht dort; aber im Inneren des einzelnen Menschen gibt es eine Möglichkeit (er ist nach seiner Möglichkeit Geist), die in der Innerlichkeit zu einem Gottesverhältnis erweckt wird, und dann ist es möglich, Gott überall zu sehen.“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 395) – „Menge ist die Unwahrheit.“ (Die Schriften über sich selbst, S. 102-105) Es ist allerdings wahr, dass die Menge, einigermaßen, das Unwahre eben ist oder leicht sein kann: Individuum und Gesellschaft stehen auf jeden Fall in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander! Ein politischer Denker war Kierkegaard gar nicht, Politik beschäftigt sich aber mit der Menge und der menschlichen Vielheit und sie betrachtet den Menschen als soziales Wesen. Das ist der Mensch zwar, aber er ist eben auch ein individuales Wesen, und als solches hinsichtlich vieler Fragen seines Lebens allein, und hat auch ein Recht darauf, darin allein gelassen zu werden. Marx und Engels und andere sind sozialphilosophische und politische Denker, in ihrem Fall sogar in extremsten Ausmaß, die alle Individualität im Säurebad des Sozialen auflösen und die Innerlichkeit des Menschen, in etwa, zum „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ erklären. Der Weg in den das Individuum negierenden Totalitarismus ist innerhalb des Marxismus vorgezeichnet (und scheint, innerhalb des Denkrahmens, den er absteckt, auch nur schwer korrigierbar). Eine großartige Betrachtung und Reflexion des Individuums, des Einzelnen, des Menschen nicht als politischen sondern als psychologischem Wesen, hat man im Marxismus bekanntlich nicht. Inwieweit sich das bekanntermaßen tragisch bzw. verbrecherisch in der Geschichte ausgewirkt hat bzw. inwieweit man Marx und Engels dafür direkt zur Verantwortung ziehen kann, bleibt eine ewig offene Frage, von einer dementsprechenden Verantwortung freisprechen kann man sie aber nicht. Mehr noch, wohnt Vergemeinschaftungsutopien immer wieder, implizit oder gar explizit, ein totalisierendes Moment inne, und auch die Beschreibungen der glorreichen Campanellaschen Sonnenstaaten und Morusschen Utopien, sollen einem bei der Lektüre (die ich noch nicht geleistet habe, Anm.) diesbezüglich mulmig machen. Wenn (der damals junge) Adorno Kierkegaard übertriebenen Subjektivismus ankreidet, sei erinnert, dass gerade bei Adorno die (vorhandene) Gesellschaft in einem durchaus irgendwie übertriebenen Gestus als „verworfene“ erscheint bzw. auf ein System der „Herrschaft“ reduziert wird, angesichts dessen die Möglichkeit, sich von ihm zu emanzipieren, etwas kleinlaut, nur mehr in „negativer Dialektik“ liege. Ja, es gibt so etwas wie „Kulturindustrie“, hat es immer schon gegeben und wird es immer geben;  sie ist auch nicht so schlimm oder verwerflich, sondern reflektiert halt auf den Menschen, wie er ist, und auf die Bedürfnisse, Wünsche und Träume die er hat. Was die großen und fremdartigen Träumer anlangt, so gibt es auch sie immer wieder: Sie versuchen, neue Bereiche und Imaginarien zu schaffen, die von den Apparaten und der „Kulturindustrie“ nicht kolonialisiert werden können. Das sind dann die tatsächlichen Orte der Freiheit. Mit der Zeit kommt dann die Kulturindustrie und kommt die akademische Industrie usw. und es kommt zu einer freundlichen Übernahme. Was allerdings die Fremden anlangt: So kann man sie zwar akademisieren und kulturindustrialisieren – aber kolonialisieren kann man sie nicht. Das Existenzverhältnis, wie es Kierkegaard darlegt, den Übermenschen Nietzsches, das Tat Twam Asi Schopenhauers, den Geist van Goghs bzw. ganz allgemein die menschliche Imaginationskraft und eben das Außen als die Spitze der Imaginationskraft kann man nicht kolonialisieren. Kierkegaard beschreibt den Menschen mit sich allein und der Raum, in dem sein Denken darüber stattfindet, ist eben gerade einer, wo die Politik und das Soziale nichts zu suchen hat. Solche Räume gibt es, solche Räume soll es geben, und Kierkegaard hat uns einen sehr stabilen und wetterfesten diesbezüglichen Raum gegeben. Eine gute Gesellschaft ist die, wo die Gesellschaft Verantwortung für das Individuum übernimmt und das Individuum Verantwortung für die Gesellschaft und die jeweiligen Rechte, Pflichten und Freiheiten von Individuum wie Gesellschaft harmonisch ausgewogen sind: Und tatsächlich sind das Kommunistische Manifest und die Einübung in das Christentum keine Antipoden, sondern gegenseitige Ergänzungen: das eine beschreibt die Verantwortung der Gesellschaft, das andere die Verantwortung des Individuums. – Kierkegaard war ein Konservativer, in der Sprache der Progressiven ein Reaktionär und er stand, wie man heute weiß, und auch damals hätte wissen müssen, nicht eben auf der richtigen Seite der Geschichte. Der Konservatismus wurde Kierkegaard dabei aber in die Wiege gelegt; und vom späteren Kierkegaard gibt es durchaus Hinweise, dass er sozialen Fragen gegenüber hellhöriger wurde. Inwieweit das innerhalb seiner allgemeinen Radikalisierung und seinem allgemeinen Feldzug gegen eine „verworfene“ Kirche und Gesellschaft, also sozialphilosophisch gesehen undifferenziert stattgefunden hat, oder besser stattgefunden haben könnte, kann man nicht wissen: Seine kurze, tödliche Krankheit trat bekanntlich mit einem Schlag ein, als er auf dem Weg zur Bank war um sein letztes Geld abzuheben. Kierkegaard ist nicht nur mit 42 Jahren gestorben, sondern ist auch gestorben an einem entscheidenden Wendepunkt seiner äußeren Lebensumstände. Die Aussicht auf ein Leben in Armut hatte er offenbar in Kauf genommen, und das gibt ihm durchaus etwas Heldenhaftes und Heiliges, unterscheidet ihn vom parasitären Bourgeois und sollte allzu vorlauten Sozialrevolutionären in einer allzu allgemeinen Verurteilung Kierkegaards relativ das Maul stopfen. Was, wenn Kierkegaard 80 Jahre alt geworden wäre? Man muss sich vergegenwärtigen, dass Kierkegaard jung von uns gegangen ist und sein Werk an und für sich besser als Torso zu betrachten ist, und zu den großen Unfällen der Geistes- und Kulturgeschichte gehören die frühen Tode von Individuen wie Mozart, Schubert, Büchner, Weininger oder eben Kierkegaard und auch Nietzsche. Kierkegaard hat allen Anschein eines Frühvollendeten, aber auch ein anderer seines Jahrhunderts, hat im Alter von nur 30 Jahren mit seinem ersten größeren Werk einen umfassenden und genialen, ein gesamtes Denkgebäude umreißenden Wurf hingelegt (danach aber eine viel weniger manische, sondern deutlich ökonomischere Schreibtätigkeit entfaltet): Kurz vor seinem Tod im Alter von 72 Jahren ist Schopenhauer von sich selbst begeistert aufgesprungen und hat gemeint, er müsse noch mindestens 90 Jahre alt werden, gemessen an dem, was er der Welt noch zu sagen habe (dazu hätte zum Beispiel auch eine gewisse Revidierung seiner Meinungen über Frauen gehört). Kurz darauf lebte er nicht mehr. In seinen letzten Lebensjahren hochgeehrt, wohnten nur einige Menschen dem Begräbnis von Schopenhauer bei. Das Begräbnis von Kierkegaard, dem Verfemten, war eine Art Massenereignis. Gwinner sprach an Schopenhauers Sarg, dass „der Sarg dieses Mannes, der ein Menschenalter hindurch in unserer Mitte lebte und gleichwohl ein Fremdling unter uns blieb, seltene Gefühle“ herausfordere (Karl Pisa: Schopenhauer. Der Philosoph des Pessimismus, S. 386)

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„Einen der höchsten Begriffe vom Menschen gibt mir die Person Kierkegaards. Ich empfehle seine Tagebücher“ – begeisterte ich mich mal vor Jahren. In der Tat aber: Wenn man sich einen bedeutenden Menschen des Geistes ansieht, sehe man sich auch seine Persönlichkeit an und evaluiere sie, denn sie ist meistens Teil seiner Gesamtaussage, seines Kunstwerks und der Moral von seiner Geschichte. Trotz all der Schwermut, die er ausgedrückt hat und die in seiner Familie ursprünglich präsent war, galt Kierkegaard als ein heiterer, gelassener Mann. Besonders gut sei er darin gewesen, andere zu trösten und ihnen, mittels seiner unerschütterlichen Heiterkeit und Lauterkeit und Lebensweisheit aus ihrer eigenen Schwermut zu helfen, so sie denn darin befangen gewesen seien. Einzelgänger, der nur einen einzigen Menschen seinen Freund nannte (Emil Boesen), führte er doch mit bis zu fünfzig Menschen an einem Tag Gespräche, während seiner Spaziergänge. Dass Schwermut und Heiterkeit in einem Menschen gleichzeitig bestehen können, ist nichts so Ungewöhnliches; beim ultrakomplexen Menschen, wie Kierkegaard einer war, ist das sogar die Regel. Wie genuin bei Kierkegaard seine Stimmungen und Haltungen gewesen seien, möge man sich fragen; inwieweit seine Anteilnahme an anderen nicht bloß der wissenschaftlichen Neugierde geschuldet war, wenn nicht des Voyeurismus des Schriftstellers auf der Suche nach Neuem u. dergl. mehr; ja, das mag man sich schon fragen, meistens aber gibt es ja ein Bündel von Motiven hinter eines jeden Menschen Handlung, und vor allem beim ultrakomplexen Menschen sind die inneren Zustände so durchreflektiert und ineinander gespiegelt, dass sie eben in ihrer gegenseitigen Spiegelung bereits urtümlich von ihm erlebt werden (das Innere des ultrakomplexen Menschen ist, wie gesagt, der unendliche Saal der Spiegel). Während aus Wunderkindern später im Leben oftmals „nichts wird“ oder sie hinter den Erwartungen zurückbleiben (insofern Genie ja weniger ein hohes Maß an Intelligenz bedeutet als ein hohes Maß an urtümlicher Kreativität, und das eine mit dem anderen meistens eben nicht einhergeht), war Kierkegaard, der von Wittgenstein als der „bei Weitem profundeste Denker seines Jahrhunderts“ bezeichnet wurde, durchaus kein wirklich auffälliges Kind und kein auffällig guter Schüler. Auch im Aufsatz glänzte er nicht durch besondere Sprachgewandtheit, wenngleich seine Aufsätze auf ihre Weise ausformulierter waren als die seiner Altersgenossen. Idiosynkrasien machten sich bei ihm freilich immer bemerkbar, wie eine analytische Schärfe und eine scheinbare Gabe, hinter die Dinge zu sehen, was seinen Ausdruck oft in einem gewissen Rebellentum und in einer gewissen, teilweise höhnischen Frechheit fand – in seiner Familie wurde er ob seiner Fähigkeit, gleichsam Dinge intellektuell aufzuspießen, „die Gabel“ genannt: Eigenschaften, die auf Genie hinweisen können, oder eben auch auf nichts, was sich später im Leben als was so Besonderes erweisen könnte, gleichermaßen. „Ich war ungefähr zehn Jahre lang Student gewesen, war doch meine ganze Tätigkeit nur wie eine glänzende Untätigkeit, eine Art Beschäftigung, für die ich noch eine große Vorliebe und für welche ich vielleicht sogar ein bisschen Genialität besitze. Ich las viel, verbrachte die übrige Zeit des Tages mit Bummeln und Denken oder mit Denken und Bummeln, aber dabei blieb es auch; der produktive Keim in mir ging in seinem täglichen Gebrauch drauf, verzehrte sich in seinem ersten Grünen.“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 325) Dergleichen Bummelei kann wiederum auf einen trägen Geist hinweisen, wie aber auch – was deutlich seltener ist – auf das hohe Genie, das seine Bestimmung und seine Form noch nicht gefunden hat und dessen universaler Geist sich, seiner selbst noch nicht unbedingt gewiss, in den institutionellen Formen der Welt nicht wiederfinden kann und der daher scheinbar ein wenig ziellos herumirrt: Irreguläre Lebensläufe und „Bummelei“ in der Jugend sind für Individuen wie Kierkegaard eher die Regel als die Ausnahme. Als sein Vater starb und er seine Epiphanie hatte, machte er schließlich ernst; schloss sein Studium mit seiner unglaublichen Magisterarbeit über Den Begriff der Ironie, mit ständiger Rücksicht auf Sokrates ab, in der sich eine scheinbar bereits 300jährige Lebenserfahrung und radikale Urtümlichkeit (als etwas noch Radikaleres als „Originalität“) des Denkens ausdrückt; machte sich daran, sich zu verehelichen, um sich in den menschlichen Gesamtzusammenhang einzuordnen; löste dann, als er in großer Ernsthaftigkeit erkannt hatte, dass das gar nicht sein Platz sein könne und er die brave Regine nur unglücklich machen würde, die Verlobung wieder auf; stürzte sich in eine manische Schreibarbeit, die in Art und Umfang selbst wohl bei anderen Koryphäen und Helden der Wissenschaft eine gewisse Beklemmung hervorrufen mag; führte, nach dem Erfolg von Entweder – Oder, der sein einziger relativer Publikumserfolg zu Lebzeiten geblieben war, einen einzelgängerischen Kampf mit Gesellschaft und Kirche um die Wahrheit und Reinheit des Glaubens und des Lebensvollzuges; wurde verspottet und gedemütigt, demütigte andere und spottete; trat im letzten Jahr seines Lebens dann mit seiner Zeitschrift Der Augenblick wieder ans Licht der Öffentlichkeit, im Rahmen eines Kreuzzuges, in der er die gegenwärtige Kirche und Gesellschaft insgesamt verwarf; starb schließlich nach kurzer Krankheit heiter und ohne ersichtliches Bedauern (seine Tagebücher, die mir ursprünglich einen so hohen Eindruck von ihm gegeben hatten, seien, laut Kierkegaard-Biograph Joakim Garff in den letzten Jahren voll „monotoner Misanthropie“ gewesen (was ich so nicht unbedingt bemerkt habe, aber ich habe auch nur eine Anthologie seiner Tagebücher gelesen)). Sein Begräbnis wurde zu einer Massenkundgebung, anschließend verschwand er wieder in den Hinterzimmern des öffentlichen Gedächtnisses, dem er erst Jahrzehnte später vollständig und triumphal entrissen wurde, als er endlich „entdeckt“ wurde. Ist das die Art und Weise, wie man leben soll? Ist das die Art und Weise, wie du leben willst? Wahrscheinlich nicht, aber, insofern Kierkegaards Werk, nach Eigenaussage, dem Thema „Wie kann man Christ werden?“ gewidmet war, war es auch Kierkegaards Lebensführung. Das Leiden nahm er bewusst in Kauf, trachtete sogar danach, es noch zu steigern, denn der Weg zu Gott führe eben über den Kreuzweg. Für den Einzelnen hat er geschrieben, und den Einzelnen hat er herausgearbeitet – mit der Konsequenz, dass er im Leben ein isolierter Einzelner geblieben ist. Almosen gegeben und die Armen unterstützt hat er, wie vermerkt wurde ohne den gönnerischen bis herablassenden Gestus den man bei den meisten anderen Bürgern hatte, wobei seine entsprechenden Gaben Kleinigkeiten geblieben sind. Den Luxus, den er sich leistete, erachtete er als unabdingbar, um sich, beispielsweise in geräumigen Wohnungen, angemessen auf seine schriftstellerische Tätigkeit konzentrieren zu können; zusammengebrochen ist er, als er auf dem Weg war, sein letztes Geld abzuheben: Ein Leben in Armut, um die Echtheit seines Lebensvollzuges zu bewahren, hatte er offensichtlich als Konsequenz in Kauf genommen. Eine seiner Nichten hatte er sehr gerne, bei einer anderen Verwandten musste er länger gebeten werden, zu ihr zu kommen und ihre neue Wohnung zu besichtigen, auf die sie sehr stolz war (um dann nachträglich die Durchschnittlichkeit der Wohnung zu monieren). Seinen erdrückenden, aber intelligenten Vater hielt er in Ehren und widmete ihm seine religiösen Reden, über seine einfache, aber (wie es heißt) heitere und umgängliche Mutter hat er nie auch nur irgendwas erwähnt. Inwieweit bei alldem Kierkegaard ein tatsächlicher, das heißt der Menschheit urtümlich zugewandter Heiliger war oder hauptsächlich der Konsequenz gefolgt ist, die in ihm eben angelegt war, ist vielleicht nicht ganz leicht zu sagen, leicht zu vermuten ist, dass Kierkegaard auch auf diese Frage sicher eine Antwort wüsste (der misanthropische Schopenhauer sprach von sich als „theoretischem Heiligen“, was Kierkegaard zumindest natürlich auch war, und, wie man unmittelbar an seinem Lebensvollzug sieht, auch noch deutlich mehr). Kierkegaard, der heitere, gelassene Heiler. Und Kierkegaard, der „in seinem Naturell einen Hang zum Tadeln, Niederreißen, Herabsetzen – etwas Mephisto-artiges“ gehabt habe. So allerdings sein Antipode Martensen (Nachwort zu Philosophische Brocken von Lieselotte Richter, S. 121). Über Martensen schreibt Kierkegaard-Biograph Joakim Garff: „Martensen, der Sohn eines Schiffers, und nicht Kierkegaard, der Sohn eines Krämers, entführte also die Heibergsche Siegespalme, und groß ist der Schmerz des Verlierers, in wahrhaft faustischem Sinn verzweifelt er beinahe daran. Vollends zu Verzweifeln, ja empörend war es, dass Martensen und alle anderen gebildeten Musterknaben, die Faust anbeteten, ja persönlich weder zweifelten noch verzweifelten an oder über besonders viele Dinge, sondern spekulierten und dozierten und ihre harmonisierten Gedanken in akademischen Abhandlungen niederlegten, die sie einander nur mit dem Ziel aushändigten, höhere Graduierungen zu erklimmen. Im Gegensatz zu Kierkegaard focht sie ihre fürchterliche faustische Einsicht existenziell gar nicht an, sie gingen nur umher da draußen in der Wohnung an der Brogade und übten sich in gutem Benehmen sich selbst und anderen gegenüber, so dass sie letztendlich ganz vergaßen, dass sie auch das waren: Natur, Trieb, Tod, Staub.“ Hach, immer diese Oberflächlichkeit! Was würde Menschheit ohne faustische Individuen wie Kierkegaard nur machen? Wie könnte sie sich ihrer selbst und ihrer faustischen Natur überhaupt bewusst werden? Wer aber will schon so leben wie Faust oder die faustischen Menschen? Nach seinem Tod werde er als Engel auf einer Wolke sitzen und beständig Hallelujah! Hallelujah! rufen, rief Kierkegaard am Sterbelager aus. Da er den Wert realisiert hat, hat er auch die Ewigkeit erreicht.

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„Kierkegaard, eigenartiger Schreiber, sage ich mir wieder als ich die „Philosophischen Brocken“ durchgehe; jeder andere hätte das nicht so geschrieben, wie er es schreibt, vielleicht liegt die „Ironie“ darin, denn dieser K. ist ja aber nicht jeder andere, sondern der Einzelne. Seltsame Mischung aus anziehendem und abstoßenden Stil – was hat er da eben geschrieben? Und ist es überhaupt wichtig? Ja und nein. Man wird leicht unaufmerksam bei der Lektüre, am schlimmsten bei der „Wiederholung“, aber das macht nichts, denn man kehrt immer wieder zu Kierkegaard zurück und liest ihn immer wieder (Ironie der „Wiederholung“). Vollständige Originalität und creatio ex nihilo bzw. aus sich selbst heraus, kaum referierend auf irgendwas anderes – wo hat man das schon? Man ist hier an den letzten und ersten Dingen. Wir sehen uns wieder im Kontinuum.“ So ich im Mai 2018 im ersten Präludium zu einer Notiz über Kierkegaard. Ja, das Lektüreerlebnis bei Kierkegaard gehört schon zu den eigenartigsten – und den verstörendsten der Welt. Kierkegaard ist nicht nur aufgrund seiner Gedanken, sondern auch in seiner Art, diese auszudrücken mitunter schwer verfolgbar. Eine weiträumige Umständlichkeit scheint man da immer wieder zu haben, wenn gleichzeitig Gedanken vom Dach der Welt ausgebreitet werden oder vom Dach der Welt zu uns herunter fallen. Hölle, ist das schwierig, diesem komischen Brei immer wieder zu folgen! Behindernd bei Lektüre aller Art ist es ja, dass man immer wieder abdriftet und mit den Augen liest, aber mit dem Geist abschweift, aufgrund des wandernden Geistes – aber bei Kierkegaard sind dererlei Versuchungen schlechterdings dämonisch! Ohne dass man zunächst sagen kann, warum; also versuchen wir das mal wie folgt zu betrachten: Wenn man sich den Satzfluss, das Satzflussbett bei Kierkegaard ansieht, merkt man eventuell, wie es aus kleinen, halbrunden/ovalen Einkerbungen besteht, oben und unten, die ein gewisses exzentrisches Mäandern möglich machen, aber eben auch begrenzen. Eher kleine Einkerbungen, die das Satzflussbett begrenzen, yeah! Sie begrenzen aber auch die Möglichkeiten der Explosion und der dimensionalen Erweiterung und die Möglichkeit, auf einen zuzuexplodieren; scheinen eher mal die Sprache in sich selbst zu treiben, allerdings auch begrenzt, dann fängt ein neues Mäandern an. Bei Nietzsche hat man, bekanntermaßen, die Explosion. Bei Schopenhauer hat man die großartige Ebenmäßigkeit der Sprache und die völlige Identhaftigkeit seiner Sache und seiner Sprache mit sich selbst. Kierkegaard kann nicht genau eingefangen werden, weil die Sprache und auch die Gedanken gleichzeitig mehr und weniger zu sein scheinen, als es den Eindruck hat. Oh ja! Ich glaube, so kann man sich das denken! Bei Schopenhauer hat man gar keine Farbe, sondern den Anschein einer dunklen, ernsthaften, würdigen, eventuell braunen Farbe, bei Nietzsche hat man einen Raum, in dem die Farbflecken, ein räumlich aufgeteilter Regenbogen schimmern – bei Kierkegaard hat man ständig ein dunkles Blau oder Violett als Untergrund, in den sich die Textfläche bzw. der Satzfluss einschreibt. Warum kann ich mich bei der Lektüre von Kierkegaard so schwer konzentrieren? Was ist sein Geheimnis? Nun ja, bei allem Respekt, den man gegenüber Kierkegaard dann lange nach seinem Tod hatte: Weil der Ausstoß an Gedanken oft so schwach ist! Weil es oft so unwichtig und kraftlos ist, was er zu Papier bringt! Bei allerdings – und jetzt kommt´s! – Reflexion auf dem höchsten Niveau der menschenmöglichen Abstraktion und Behandlung des gesamten Existenzumfanges von dieser Warte aus! So übt seine Rede eine enorme Sogwirkung aus, immer wieder, zieht in die Tiefe des Meeresgrabens, auch wenn da oftmals nur ein seichtes Bächlein lustig vor sich hin plätschert. Ja, das ergibt, in einer gewissen anderen Dimension betrachtet, tatsächlich eine „dialektische“ Spannung, die einen in ihren gnadenlosen Mechanismus hineinzieht. Die Exegeten sagen bei Kierkegaard: Welche Biegsamkeit der Sprache! Welche minutiöse Abhandlung von Themen und deren genauestmögliche Durchleuchtung! Aber, ah, „minutiöse Abhandlung von Themen“ und „genauestmögliche Durchleuchtung“ – der Großdenker wird sich doch nicht mit solchen Spompanadeln abgeben! Vielmehr ist zu erwarten, dass der Großdenker einen Fuß im Satz, oder zumindest Absatz, auf den europäischen Kontinent setzt und den anderen mindestens nach Amerika! „Minutiöse Abhandlung von Themen“ und „genauestmögliche Durchleuchtung“: darüber freuen sie sich – und wenn dann ein gewaltiges Genie wie ich daherkommt, dessen geistige (daher auch sprachliche) Intensität so wie die eines Atompilzes oder einer Supernova ist, tun sie so, als ob nichts gewesen wäre! Ja klar, die Dialektik! Das Sprunghafte! Das Paradoxe! Der Stilbruch! Alles Stilmittel, derer sich der Denker vom Schlage eines Kierkegaard bedient! Ja, all das kenne ich sogar sehr gut. Letztendlich hat man bei Kierkegaard eine Umständlichkeit, die wohl nur teilweise gewollt ist, in Wirklichkeit aber offensichtlich tiefer und in seinem Wesen angelegt ist. Dann die religiösen Reden von Kierkegaard! Wo man die lebendige, ganz persönliche Ansprache hat! Aber immer wieder kaum weiß, woran man ist. „Langeweile und Abstrusität“ habe man in ihnen, so Adorno (Theodor Adorno: Kierkegaards Lehre von der Liebe, S. 269). Natürlich zu „pädagogischen“ Zwecken; um darzustellen, dass der Weg des Christen kein einfacher sei; um den Leser gleichzeitig anzuziehen, in Richtung des Geheimnisses, gleichzeitig abzustoßen und davor zu warnen. Ja, das gelingt Kierkegaard recht gut, aber inwieweit es das aus Freiheit oder aus Zwang tut, weiß man nicht. Nichts aber ist furchtbarer als die Stadien auf des Lebens Weg! Habe ich mir doch beim Lesen der Stadien immer wieder gedacht: Zu den furchtbarsten Büchern, die je ein Intellektueller geschrieben hat, sind nicht nur der Ulysses und Glas von Jacques Derrida zu rechnen, sondern (eben) auch die Stadien auf des Lebens Weg! Ein sehr dickes Buch, in einer voluminösen Ausgabe, die ihre Sattheit nur so zum Ausdruck bringt – was für eine Verschwendung von Papier, denke ich mir! Im Original auf Dänisch – wer kann so eine Rede eigentlich übersetzen? Auf Seite 422 informiert er uns dann schelmisch, dass das fiktive Tagebuch, das sich eben über mehrere hundert Seite gezogen hat, von „nichts“ handle, und auf Seite 423 (von insgesamt 525) gratuliert uns sein Alter Ego Frater Taciturnus dafür, dass wir es bis hierher geschafft haben und zu den wenigen Lesern gehören, die nicht auf halbem Weg stecken geblieben wären, da die ganze Schrift so angelegt sei, dass die allermeisten „aus Langerweile nicht weiterlesen und das Buch fortwerfen werden“. Ich denke, irgendwann in der Zukunft muss ich es unbedingt noch einmal mit den Stadien auf des Lebens Weg probieren, einstweilen aber wirklich zurück in die Bibliothek damit. Die drei großen „Existenzphilosophen“ des 19. Jahrhunderts – Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche – waren, ihrer Unverwechselbarkeit und Singularität scheinbar zusätzlich Ausdruck verleihend, große Meister der Sprache, und Poeten. Sagen wir halt, um die ganzen Überlegungen hier, die zu keinem wirklichen Ergebnis führen können, abzuschließen, dass Kierkegaard der Schwächste und am wenigsten poetische von ihnen gewesen sei. Gestehen wir dabei zu, so wie Adorno gesagt hat, dass Schopenhauer mit seiner Philosophie jenen Grad der Einsamkeit und absoluten Vereinzelung wie Kierkegaard niemals erreicht hat, und er daher scheinbar auch leicht und mit sich selbst identisch reden hat, während bei Kierkegaard naturgemäß alles vertrackt zu sein hat. Gestehen wir ein, dass wir zu Kierkegaard immer wieder zurückkehren werden; seine Umständlichkeit, dialektisch verwoben mit der Paradoxie seines Geistes und seiner Dunkelheit, die uns Ahnen macht, legt sich eben wie eine Schlinge um uns und zieht uns hinan. Daher müssen wir immer wieder zurück zu Kierkegaard! Und jetzt, an einem neuen Tag, wirken dieselben Schriften von Kierkegaard schon wieder ganz anders, wo gestern Dunkelheit herrschte, da heute Klarheit (oder umgekehrt). Das man Texte mal so, mal so liest, ist nichts Ungewöhnliches, bei Kierkegaard ist das Changieren aber schon exzessiv, so dass es fast magisch wirkt. Vor Magie mag man in Ehrfurcht versinken, dann sich wieder übermäßig gewahr werden, dass dahinter ja nur ein billiger Trick stecke et cetera ad infinitum. „Selbst der weiseste Heide, der gelebt hat, hat doch, wieviel weiser als der geringste (christliche, Anm.) Gläubige er im Übrigen auch war, er hat doch im Vergleich mit ihm eine Dunkelheit in seinem Innern, weil es im letzten Grunde dem Heiden nicht ewig gewiss und klar werden konnte, ob der Fehler bei ihm liege, oder ob nicht der seltene Fall möglich wäre, dass der Fehler bei Gott liege, ob Hoffnungslosigkeit nicht doch ein Zustand sei, in den der Mensch ohne Schuld geraten kann, weil Gott selbst die Schuld trägt, indem er den Menschen ohne Aufgabe lässt. Und man kann den Heiden nur damit entschuldigen, dass dies so ist, weil sein Gott selbst dunkel ist.“ (Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, S. 293) Darüber mag man sich schon wundern, gelten doch weniger die Heiden als dunkel und unklar, sondern viel eher Kierkegaard! Ob hier unwillkürlich, unfreiwillig oder chiffriert das Zentrum das Zentrum des Kierkegaard-Problems artikuliert wird? Das bleibt dunkel.

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Poet oder religiöser Schriftsteller oder Philosoph? Kierkegaard selbst hat an sich bemerkt, und andere haben das landläufig wiederholt, welch eine offenbare Übermacht der Reflexionszwang bei ihm hatte; er hat gemeint, und es wurde von anderen landläufig wiederholt, dass dieser Reflexionszwang ihn vom (so genannten) „Leben“ getrennt habe. Das Jugend- und Erstlingswerk Entweder – Oder fängt damit an, dass einer seine unendlich alte, überalterte, scheinbar morsche und übermüdete Seele baumeln lässt. „Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt, habe daher, schlecht und recht menschlich verstanden, nicht gelebt; ich habe alsogleich mit Reflexion begonnen, habe nicht erst in späteren Jahren ein bisschen Reflexion gesammelt, sondern bin eigentlich Reflexion von Anfang bis zum Ende.“ (Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, S. 79) Könnte man zunächst sagen: Wahres und erfülltes Leben liegt ja in der Reflexion! Lebensfülle wird ja durch Reflexion hergestellt! Schau dir Bürger an, wie sie durch den Park driften und nicht reflektieren auf ihre Umgebung: Leben die denn? Mehr noch: Die Vollendung des Lebens liegt darin, dass man in der Reflexion über die Reflexion die materiale Hyle sprengt und so frei wird, gleichzeitig von der Reflexion wie der Unmittelbarkeit und der immediacy der Erscheinung. Kierkegaard hat das getan und so sein eigenes unendliches Reich errichtet. Aber, ja, schon: inwieweit war es ein Reich auch der Sinne (also nicht bloß des Ästhetischen sondern der unmittelbaren Sinnlichkeit und Sinnesempfindung und Sym- und Empathie)? Bei seinen Spaziergängen zum Frederiksberger Park pflegte Kierkegaard die Gewohnheit, beim Eingang stehenzubleiben, den Duft der Blumen einzuatmen – und wieder umzukehren. Kann man als symbolisch sehen für den gesamten Lebensvollzug bei Kierkegaard, der sich mit dem Abbild von den Gegenständen des Lebens zufriedengibt bzw. stets bei ihnen verharrt, aber nie zu den Gegenständen des Lebens selbst kommt, oder absichtlich von ihnen zurückweicht – oder eben zurückweicht aufgrund von Angst vor impotenter Schwäche in Bezug auf einen authentischen Umgang mit den unmittelbaren Gegenständen des Lebens? Freilich auch von übermenschlicher Stärke: kommt das sinnliche Genie daher, tut bloß ein paar Atemzüge wozu wir ganze Streifzüge durch den Frederiksberger Park benötigen, um ihn zu erfahren, und kehrt auch schon wieder um. So ein Teufelskerl aber auch! So ein Poet! Allerdings scheint in Kierkegaards Poesie und seinem mannigfachen Beschreibungsreichtum und seinen weitläufigen Reflexionen über die ästhetische Sphäre es, wieder einmal, nicht leicht auszumachen, inwieweit ein konkreter sinnlicher Bezug zu den beschriebenen Gegenständen vorhanden sei. Es scheint bei aller Konturierung der beschriebenen Gegenstände die tatsächliche Plastizität irgendwo weit hinten im Zimmer, in einer stillen Ecke ihr Dasein zu fristen. Die Gegenstände springen nicht an, fließen nicht wie prachtvoller roter Wein wie bei Rumi – freilich ist das in Wirklichkeit selten, auch und nicht zuletzt in der hohen Poesie der Fall, dass man die Welt als prachtvoll fließenden roten Wein und Farbenzauber hat wie bei Rumi, und ich weiß nicht, wie intensiv die Leute und die Poeten die Umgebung überhaupt wahrnehmen, aber sich diesbezüglich in Kierkegaard hineinzuversetzen, sich seine Wahrnehmung und Empfindung vorzustellen, scheint, wieder einmal, als ein verdammtes Rätsel, wo alle Eindrücke, die man sich machen kann, sofort wieder verschwimmen und sich auflösen. Wie hat Kierkegaard eigentlich tatsächlich die Welt wahrgenommen und empfunden? Da scheint man es, wieder einmal, mit einem Paradoxon zu tun haben, das, wieder einmal, eine gewaltige Sogwirkung ins Innere/in ein möglicherweise leeres Inneres generiert. Reißender Strudel Kierkegaard! Ein weiteres Paradoxon! Von der Leidenschaft spricht Kierkegaard, als dem Kern des Religiösen, aber wo bei ihm konkret die Leidenschaft? Kann er natürlich aufspringen und rufen: Da, du Depp! Fünfzehntausend Seiten in fünfzehn Jahren geschrieben – das ist doch Leidenschaft! Ist das denn nicht Leidenschaft?! Ja, schon. Oder eben auch, aber vor allem, Reflexion und Reflexionszwang. Mehrere, teilweise fette Bücher geschrieben, tausende von Seiten, nur der Regine halber! Das sei doch Leidenschaft! Wenn das nicht Leidenschaft sei?! Das Eigenartige ist halt, dass man bei all dem kaum was über Regine erfährt, nicht einmal, wie Kierkegaard sie wahrgenommen hat, man erfährt, wie literarische Alter Egos über andere literarische Alter Egos in dieser Sache – reflektieren. Überhaupt: Regine! Warum die Auflösung der Verlobung, und dann das vieltausendseitige Schwelgen über die, an und für sich, gar nicht so bedeutende Affäre? Weil jedes Ereignis gewaltige Schlagseiten in das Leben Kierkegaards geworfen habe! So ist eben der Genius! So sagen es die einen. Weil er emotional unreif war!, so, etwas respektloser, Colin Wilson. Weiters Kierkegaards ausschweifende, fröhlich selbstanklagende Referenzen auf sein angeblich ausschweifendes Lotterleben als Student. Kierkegaard-Biograph Harald von Mendelssohn vermutet, dass er sich dabei die Syphilis zugezogen habe, deswegen auch die Verlobung aufgelöst habe, und schließlich am Rand des exzentrischen Irrsinns, ähnlich wie Nietzsche, gestorben sei. Der gewissenhaftere Biograph Joakim Garff findet bei Kierkegaard keine echten Hinweise auf ein jugendliches Lotterleben; Kierkegaards spätere Selbstanklagen seien eher wehmütige Angeberei auf etwas, dass er kaum genossen habe. Selber stellt Kierkegaard als seine Tragik das Missverhältnis eines monströsen Geistes bei gleichzeitig schwachem und gebrechlichem Leibe fest. Vielleicht war da also sexuelle Unzulänglichkeit? In der Wechselwirtschaft, dem Versuch einer sozialen Klugheitslehre, lässt er sich, bzw. sein literarisches Alter Ego darüber aus, wie langweilig das Leben sei, alle Handlungen in ihren Konsequenzen schließlich abgeschmackt: Allein die ständige bewusste Wahrnehmung von zufällig sich aufdrängenden Eindrücken, die „das Genie in seiner Ubiquität mit Leichtigkeit entdeckt“ (Entweder – Oder, S. 349) und die von keiner Theorie in ein System gefasst werden könne, sei nicht langweilig. Die „Ursprünglichkeit“ von Kindern, welche bewirkt, dass „alle abstrakten Prinzipien und Maximen mehr oder weniger (an ihr, Anm.) scheitern“, sei etwas, weshalb man „viel von Kindern lernt“ (ebenda, S. 610). Der „Reichtum einer Individualität“ bestehe in „ihrer Kraft in fragmentarischer Verschwendung“ und dem „Erzeugen und Genießen einer blitzenden Flüchtigkeit“ (ebenda, S. 180). Trotzdem: Wenn ich versuche, die Welt wie Kierkegaard zu sehen, sehe ich immer etwas Viereckiges, oder Vieleckiges, irgendetwas, das Begrenzung und schematische Begrenzung andeutet, oder so. Humor wird von Kierkegaard als ganz, ganz wichtig erachtet für das Verständnis von Religion. In seinem Buch über Latour reflektiert Graham Harman darüber, dass es ein originäres, zentrales Latour-Erlebnis wohl gar nicht geben könne. Man hoffe darauf, und glaube: Wenn man einem Philosophen persönlich begegne, sei man im Zentrum (in diesem Fall) des Latour-Erlebnisses, innerhalb der Erfüllung, Latour überhaupt erleben und erfahren zu können – aber das müsse gar nicht unbedingt der Fall sein. Vielleicht verlaufe die Begegnung mit Latour langweilig oder fragmentarisch, und man lerne aus seinen Schriften, oder aus Bemerkungen von anderen über Latour mehr. Kierkegaard selber hat das ja über die Begegnung zum Beispiel mit Schelling so empfunden. Von sich selber berichtet Kierkegaard in jungen Jahren: „Ich komme jetzt eben aus einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, die Witze strömten aus meinem Munde, alle lachten, alle bewunderten mich ( – aber ich, ja, der Gedankenstrich müsste genau so lang sein wie die Radien der Erde)“. Yorick war ein witziger Kerl. Wie aber, fragt man sich, kann es da wohl um den Humor von Kierkegaard bestellt sein? Kierkegaard galt als heiter und gelassen, und das strahlen seine Schriften auch aus – aber wenn ich mir Kierkegaard jetzt mit seinem Humor vorstelle?? Es ist womöglich nicht so schlimm, wie der Humor von M., der sich nichtsdestotrotz immer für recht witzig gehalten hat. Aber, soweit ich sehen kann: so gut wie die meinen Scherze sind die von Kierkegaard wohl lange nicht! (Der B. hat auch immer gemeint, seine Scherze wären die besten von allen und an seine Scherze käme nichts und niemand ran (obwohl sie meistens davon handeln, dass wir alle, im Gegensatz zum ihm, „schwul“ wären, obwohl ich zugeben muss, dass er das oft immer wieder ganz gut darzustellen wusste etc.)). Und eben und vor allem Gott ist nicht so wirklich erfahrbar kein Kierkegaard, obwohl es bekanntermaßen um nichts anderes geht bei Kierkegaard als um Gott. Im berüchtigten Abschnitt VI seiner Kierkegaard-Schrift meint Adorno, die Lösung des Kierkegaardschen Existenzproblems wäre in der Versöhnung mit den stummen, sprechenden Mächten der urtümlichen Natur gelegen, anstatt in den abstrakten Abgrund des Gottes und der objektlosen Innerlichkeit zu stürzen. Dafür habe Kierkegaard dann aber doch kein Sensorium gehabt, könnte man meinen; und trotz mehrmaligem Lesen bin ich auch nicht vollkommen klar auf den Grund gestoßen was Adorno genau meint und in einem gleichsam schamvoll kurzen Klimax intellektuell beschließt. Jaja, Adorno war ja auch ziemlich abstrakt. Wie der die Natur wahrgenommen haben könnte, weiß ich auch nicht.

*

„Mein Verdienst in der Literatur bleibt immer, die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Existenzumfanges so dialektisch scharf und so primitiv dargelegt zu haben, wie es zum mindesten meines Wissens in keiner anderen Literatur geschehen ist, und ich habe auch keine Bücher gehabt, um mir aus ihnen Rat zu holen.“ Indem er das getan hat, ist Kierkegaard ein absoluter Grenzgänger des Lebens und entfaltet als solcher sein absolutes, enigmatisches Charisma. Grenzgänger des Lebens, bleibt er in seiner Vereinzelung unverstanden und entfaltet gleichzeitig sein kaum zu überbietendes Charisma, indem er so allgemein ist – und so absolut. Kierkegaard verschmäht (nicht nur die „Kinderstreiche der Wirklichkeit“ sondern auch) philosophische/intellektuelle Systematisierung und Schematik und lehrt uns ein Eintauchen ins konkrete Leben, und das lohnt sich, immer wieder wiederholt zu werden und uns hinsichtlich der Stadien auf des Lebens Weg mitgegeben zu werden – insofern er „die Bestimmungen des Existenzumfanges so dialektisch scharf und so primitiv dargelegt“ hat, hat er Schematiken entwickelt, die auch für schlaue Menschen zumeist rätselhaft sind und von ihnen nur schemenhaft wahrgenommen werden können. In Auslöschung (wenn ich mich recht erinnere) spricht Thomas Bernhard ehrfurchtsvoll von der Unmöglichkeit, Kierkegaard zu verstehen. Liessmann sagt, bei Kierkegaard bewege man sich entlang der Grenzen des Denkens. Kierkegaard selber sagt, finden wir uns denn ins Leben geworfen, so sind „(d)ie Unendlichkeit und das Ewige … das einzig Gewisse“ (Unwissenschaftliche Nachschrift, S. 210), und Aufgabe des endlichen Subjekts (das, solipsistisch betrachtet, ebenfalls das einzig Gewisse ist) ist es, sich mit dem Unendlichen und Ewigen ins Verhältnis zu setzen. Das Absolute (Gott) wird bei Kierkegaard gleichzeitig positiv wie negativ gefasst – entsprechend der Einsicht, dass das Absolute gleichsam positiv und negativ ist, vollkommen klar und paradox zugleich. In seiner lebendigen und ekstatischen religiösen Anrede ist Kierkegaard religiöser Schriftsteller und religiöser Prophet, in seinem dunklen Agnostizismus ist er Prophet der Existenzphilosophie, des Existenzialismus, sogar, wenn man will, des Nihilismus. Gott, das Absolute, ist bei Kierkegaard „nichts Äußeres“ (Die Krankheit zum Tode, S. 76), sondern eben eine Verhältnisbestimmung des Menschen; „das Selbst wird potenziert im Verhältnis zum Maßstab für das Selbst und wird unendlich potenziert, wenn Gott der Maßstab ist. Je mehr Gottesvorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung. Erst wenn ein Selbst als dieses bestimmte Einzelne sich bewusst ist, vor Gott dazusein, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt dann vor Gott. Das Selbstische des Heidentums ist deshalb trotz allem, was darüber gesagt werden kann, doch nicht annähernd so qualifiziert wie das des Christentums, sofern auch hier Selbstsucht ist; denn der Heide hatte nicht sein Selbst gerade Gott gegenüber. Der Heide und der natürliche Mensch hat bloß das menschliche Selbst zum Maßstab. Man kann deshalb wohl recht haben, wenn man von einem höheren Gesichtspunkt aus das Heidentum als in Sünden liegend ansieht, aber die Sünde des Heidentums war eigentlich das verzweifelte Nicht-von-Gott-Wissen, die Unwissenheit darüber, vor Gott dazusein; sie ist: „ohne Gott in der Welt sein“. (ebenda) Ein solcherartiges Neuheidentum begegnet man dann im Existenzialismus, wo man nur das Sein und das Nichts hat, und der mir bereits als Kind irgendwie kraftlos vorgekommen ist. Da hat man das Pathos des auf sich selbst zurückgeworfenen, und sich daher selbst entwerfend zu habenden Individuums, der mir schon damals irgendwie schal erschienen ist, der vielleicht temporär mal anwendbar war, aber der im heutigen Konsumenten oder Selbstoptimierer wohl nichts Geheimnisvolles anklingen lässt. Kierkegaard ist eben viel allgemeiner und universeller, da das Selbst und das Sein nicht mit dem Nichts ins Verhältnis setzt, sondern mit dem ins Absolute potenzierten paradoxen Anderen. Der Appell zu dieser Insverhältnissetzung des Subjekts zum Absoluten ist viel kraftvoller und enigmatischer als der zur Insverhältnissetzung des Subjekts zum Nichts. Auch bei Leibniz und Whitehead hat man als unbestreitbare Ausgangsbasis für ihre Metaphysik die Einzelwesen, und bei beiden hat man als Telos des Lebens weniger eine Erreichung einer göttlichen Hinterwelt oder eines existenzialistischen Nichts, sondern die Anreicherung des Subjektes durch Aufnahme von möglichst viel Welt und seine Selbstvervollkommnung durch Selbsttranszendierung über seine Insverhältnissetzung zu dem, was über das Subjekt hinausgeht und zum Absoluten. Bei Kierkegaard lautet das Ziel: durchsichtig werden in Gott. „Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig in Gott gründet.“ (ebenda, S. 78) Über diese „Durchsichtigkeit“ des Subjektes ist viel philosophiert werden, da es gerade als das Dunkelste und Unklarste erscheint, was sie sein soll. Jaspers sagt: „Kierkegaard und Nietzsche (…) gehen nicht gegen die Reflexion an, um sie zu vernichten, sondern um sie zu überwinden dadurch, dass sie sie selbst grenzenlos vollziehen und beherrschen. Der Mensch kann nicht, ohne sich selbst zu verlieren, zurückgehen in eine reflexionslose Unmittelbarkeit, sondern er kann den Weg nur zu Ende gehen, um, statt der Reflexion zu verfallen, vielmehr in ihrem Medium auf den Grund seiner Selbst zu kommen.“ (zitiert in: Annemarie Pieper: Sören Kierkegaard, S. 141) Das bedeutet: der Grund, den man über die Durchsichtigkeit erreicht, wird eben subjektiv wahrgenommen, und wer Durchsichtigkeit nicht erreicht hat, sieht die Durchsichtigkeit dementsprechend auch einigermaßen mit den Augen eines Farbenblinden an. Und bei Heinrich von Kleist hat man: „Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C…, so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punktes, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der anderen Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein, so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. – Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? – Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ (Über das Marionettentheater in: Heinrich von Kleist: Das große Lesebuch, S. 320) „So ihr nicht werdet wie die Kinder…“ könnte man meinen; der transzendente Mensch fühlt sich mit dem Kind in aller Regel hochgradig verwandt, und Kierkegaard („Ich rede am liebsten mit Kindern; denn von ihnen darf man doch hoffen, dass sie einmal Vernunft-Wesen werden; die aber, die es geworden sind – herrjemine!“ (Entweder – Oder, S. 29)) meint: „In jedem Kind ist etwas Ursprüngliches, welches bewirkt, dass alle abstrakten Prinzipien und Maximen mehr oder weniger daran scheitern.“ (ebenda, S. 610) – das Kind als der reine Mensch, an dem das System der Hegelschen Dialektik scheitert, und der Zustand der reinen Anschauung, zu dem man kommt, wenn man durch alle Hegelsche Dialektik und Theorie durch ist („Auch ich habe wohl zu früh in den Kessel geguckt, in den Kessel des Lebens und der geschichtlichen Entwicklung, und bringe es wohl nie zu mehr als ein Kind zu werden“, (ebenda, S. 36)): „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott“, so Werner Heisenberg. Auf dem Grund schlägt man ja realiter nicht auf, und, allgemein: indem der Mensch eine Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit ist, von Selbst und Nicht-Selbst etc. kann er nicht „harmonisiert“ werden. Auch die großen Mystikerinnen Teresa von Avila und Marguerite Porete berichten beide davon, dass man, hinsichtlich der unio mystica, das göttliche weiße Licht tatsächlich nur einmal oder ein paar Mal im Leben sehe, dann falle man wieder in seinen, freilich hohen und erleuchteten, aber eben auch relativ zeitlichen Bewusstseinszustand wieder zurück – totale unio mystica könne es erst nach dem Tod, mit dem Eingehen in das himmlische Paradies geben. Fernöstliche „Mystik“ setzt auf Bedürfnislosigkeit, in der sich, so sie erreicht werden kann, das Einswerden mit sich selber verwirklichen kann. Der Zen-Buddhismus konfrontiert uns mittels des Koan mit rein verstandesmäßig nicht auflösbaren Paradoxien um intuitives Verstehen von Welt und Selbst vollständig zu ermöglichen und einen absolut fluiden und gereinigten Geist zu erzeugen. Ich selber sage, man muss versuchen, das Andere in sich aufzunehmen, um seine Begrenzungen zu erweitern und sie schließlich zu transzendieren. All das setzt aber auch, und vor allem, große Anstrengungen und ein Durchwälzen von enormen Wissensmassen voraus. Irgendwas scheint bei der annähernden Erreichung des Absoluten immer zu fehlen, und Kierkegaards religiöser Mensch scheint weder der diesseitigen noch der jenseitigen Welt tatsächlich anzugehören, sondern irgendwie in der Luft zu hängen. Andererseits, und vor allem aber, realisiert sich die Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit vollständig ja nur in der stetigen dialektischen Auseinandersetzung von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Absolutem und Relativen, von Selbst und Anderem etc. Das ergibt dann die Unruhe bzw. eben das pulsierende Herz und die großen Ebenmäßigkeit und Ausgeglichenheit im Hyperraum, in einer höheren Dimension, zu der das Tor Menschen wie Kierkegaard eben aufstoßen. Der transzendente Mensch gehört selbstverständlich nicht allein der höheren Dimension an, er bewegt sich genauso durch die üblichen zeitlichen und räumlichen Dimensionen wie auch durch die spirituelle Dimension und erlangt von dieser Warte aus ein viel intensiveres, und akkurateres, Bild von den räumlichen und zeitlichen bzw. den weltlichen Dimensionen als die rein weltlichen Menschen. Transzendenz ist, wenn man so will, in sich gebrochen, da sie nur in der Reflexion auf die Immanenz verwirklichbar ist, die ebenfalls in sich gebrochen ist, ergebend dann eine Art Möbiusschleife, wo sich Harmonie und Verdammnis, Samsara und Nirwana, Zeitlichkeit und Ewigkeit in ihrem ewigen gegenseitigen Fluss treffen. In der zeitlichen Dimension mag, mit der Weisheit des Alters, immer mehr Ruhe und Weisheit eintreten. Humor ist das, was den religiösen Menschen auszeichne, so Kierkegaard. Indem der Mensch eine (unauflösbare) Synthese von Zeitlichkeit und Ewigkeit ist, ist er auch in einer Aporie gefangen, einer Aporie von Zeitlichkeit und Ewigkeit. Ironie reflektiert auf das Paradoxe, Humor hingegen auf die Aporie. „Humor ist wenn man trotzdem lacht“: Und der religiöse Mensch nimmt seine letztendliche Gefangenheit in der Aporie „mit Humor“. Auch ein anderer genialer Mensch und Weiser, Lemmy von Motörhead, soll gesagt haben: „Das Wichtigste im Leben? Ein Sinn für Humor! Wenn du den Humor verlierst, bist du erledigt. Dann kannst du dir genauso gut eine Kugel durch den Kopf jagen.“ Das ist das tiefste Geheimnis, und das Geheimnis des Gottmenschen. „Das Christentum ist die Lehre vom Gott-Menschen, von der Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch“ (Die Krankheit zum Tode, S. 119), und der Gott-Mensch nimmt die Zumutungen Gottes eben mit Humor, und bewahrt bzw. bestätigt dadurch seine innere Freiheit und Lebendigkeit. „Geistesbildung im Verhältnis der Absolutheit und Kindlichkeit zusammengesetzt ergeben Humor.“ (Unwissenschaftliche Nachschrift. S. 743) Der wahre Tyrann ist erst dann zufrieden, wenn er die innere Freiheit des Menschen, den er drangsaliert, vernichtet hat; wenn der drangsalierte Mensch dem Tyrann gegenüber seine innere Freiheit und Lauterkeit, sein persönliches Zentrum, seinen Humor bewahrt, hat man wieder den Sieger oder eben den Verlierer, der „im Unterliegen den Sieger beschämt“. Kierkegaard zeigt auf, wie dieses innere Zentrum bewahrt bzw. überhaupt erst geschaffen werden kann. Als Lemmy Kilmister gestorben ist, gab es wenig Zweifel daran, dass ein Gott gestorben sei. Und Kierkegaard war ein Prophet Gottes.

Verwendete Literatur:

Adorno, Theodor: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Mit einer Beilage: Kierkegaards Lehre von der Liebe, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1962

Garff, Joakim: Kierkegaard. Biographie, München/Wien, Hanser 2004

Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt 1984

Kierkegaard, Sören: Die Schriften über sich selbst / Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, Gesammelte Werke, dreiunddreißigste Abteilung, Düsseldorf/Köln, Eugen Diederichs Verlag 1951

Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung. Die Krise, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt 1984

Kierkegaard, Sören: Entweder – Oder, München, DTV 1975

Kierkegaard, Sören: Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, Gesammelte Werke, 18. Abteilung, Düsseldorf/Köln, Eugen Diederichs Verlag 1964

Kierkegaard, Sören: Erbauliche Reden 1850/51 / Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen / Urteilt selbst Gesammelte Werke, 27., 28. Und 29. Abteilung, Düsseldorf/Köln, Eugen Diederichs Verlag 1953

Kierkegaard, Sören: Philosophische Brocken, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt 1984

Kierkegaard, Sören: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, München, DTV 1976

Kierkegaard, Sören: Stadien auf des Lebens Weg, Gesammelte Werke, 15. Abteilung, Düsseldorf/Köln, Eugen Diederichs Verlag 1958

Kleist, Heinrich von: Das große Lesebuch, Frankfurt am Main, Fischer 2011

Liessmann, Konrad Paul: Kierkegaard. Eine Einführung, Hamburg, Junius 1993

Meillassoux, Quentin: Trassierungen, Leipzig, Merve 2017

Pieper, Annemarie: Sören Kierkegaard, München, Beck 2000

Pisa, Karl: Schopenhauer. Der Philosoph des Pessimismus, München, Heyne 1988

Wesche, Tilo: Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart, Reclam 2003

NAUGHTY NUNS: VINTAGE NUN PORN FROM THE CLASSIC TALE ‘THE NUN’ & MORE (NSFW OR CHURCH)

Occasional Note About Islam

I found a new page, Muslim Girl. I have to say that I come to find the hijab girls, who meanwhile are populating our streets so heavily, aesthetically appealing, if not sexy. Overproportionally, they know how to dress and may have a more astute sense for fashion and so, at least in this respect, they make our European pandemonium more colourful. The other thing that may be mentioned about Islam is that in the olden days it produced Sufism and figures like Hafez and Rumi, and there were individuals like Ibn Arabi, Attar of Nishapur or Bayezid Bastemi who had extremely radical and transgressive intellects, like me. There was also a relatively obscure fellow, Al-Biruni, who seemed to have been more intelligent than even Avicenna and who had an intellectual edge over Avicenna in theological discussions, which I therefore have to read somewhere in time, inch Allah.

http://muslimgirl.com/48288/the-public-hijabi-syndrome/

http://muslimgirl.com/9218/porn-star-mia-khalifa-sexual-fetish-hijab/

http://muslimgirl.com/48678/a-lebanese-town-changed-policewomens-uniform-to-attract-tourists/

http://muslimgirl.com/48142/11-female-icons-from-islamic-history/

Occasional Remarks About the Nirvana

Let us, for practical reasons in life, say that Nirvana is not a world beyond but that you break the cycle of rebirth and karma as via the reflection of the reflection you break through the material hyle and gain transcendent knowledge. I have labelled this state of the mind/soul the White Lodge. Bergson (and others) says in order to gain knowledge and familiarity with the world an enormous amount of stuff needs to be reflected and amalgamated (not only the seemingly intellectually important stuff but also the seemingly intellectually unimportant stuff), gradually the turbulent ultradialectics of the reflection over the reflection will (of course remain but also) transcend into a flatness and evenness of the mindfield that becomes pacified – which is then, in its fluorescent white – the Nirvana. Desire will not stop, and as we have already seen via the confessions of such distinguished mystics like Teresa of Avila or Marguerite Porete, the vision of pure white light – if you can ever reach it – is only a temporary one before you fall back into a lower state of consciousness as your mind permanently wanders. Via Zen-meditation you can reach a state where the observation of the wandering of mind becomes the state of the mind, i.e. one of meta-perception, yet also as the Zen masters say, they have not gained a lot via enlightenment. The flatness and the purity of the mindfield is reached via the great fluidity of the mind and the empathic knowledge of things (leading to the internalisation and introjection of them things). You will not refute ideals but you will also not be fooled by them, be neither a dreamer nor a fatalist nor cynic, you will act and think according to the order and the flow of things, that is then (as limited as it is ever possible) mastery over the things and therefore liberation. Nirvana, in the practical sense, is not reaching for a world beyond, but creation of interior and opening of the inner world that becomes realigned with the outer world.

Despite you may have broken the cycle of rebirth and karma and reached completion, you may easily find yourself wandering fragmentedly through the Samsara of the man´s world, as not many people will truly understand you. Sometimes they will of course understand you better than you do and offer glimpses of insight. That is, and will remain, strange, as „strangeness“ is inherent to the world – but it will be, as you have introjected strangeness, also inherent to yourself. People that reside very at the center of the Nirvana will also not be super impressed by it. As Goethe says to Eckermann, founders of religions like Jesus Christ or the Buddha have extroverted their inner richness, i.e. their subjective spirituality and transformed it into (objective) religion (respectively, others like Paulus have done so and likely watered it down). As in such cases, their subjective spirituality, their acquisition of cosmic consciousness, is of objective importance, it may well be that they fall prey to their spirituality and become an instrument of their spirituality/religion (like also many enlightened and rational minds like Newton or Pascal did) (at lower levels of spirituality, or when personality is distorted it may become the other way round and inflate their narcissism). Thou shalt not be fooled by thy spirituality and your messages and become an instrument of it, but remain in control of it, not become instrumentalised by it but make it instrumental for you. That will probably, or apparently, not make you (appear) very enchanted or happy, as is seemingly the case within the religious/spiritual enthusiast. You will be neutral most of the time. Some say the tragic of the truly spiritual/religious man is that he neither truly lives in this world nor the next. That may appear so, but the center of the Nirvana means you perfectly live in both of them worlds – a condition that, due to its essential strangeness, often leads to essential confusion. Essential confusion is the essential state of the true philosopher.

(Iron Maiden sing in Hallowed Be Thy Name that, facing death, you will realise that „life down here is just a strange illusion“. Therefore, what I just said above, advanced as it is nevertheless, may also just be a bizarre illusion, but this is so because as long as you wander through the world and your mind is wandering you have some attachments. Therefore, no need to worry. That´s how subjectivity is constituted. Via some attachments my subjectivity has been constituted in the past and now, in the present, by some others. Apart from that, we´re rather hollow. That´s how the story goes, that´s what is „the flow“, as long as the world concerns you to some degree. At the end of Jim Jarmusch´s Dead Man, as Nobody sends „William Blake“ to his last journey on a boat to the sea, he smiles at him and says: This world will no longer concern you (in German: Von nun an wird dich diese Welt nichts mehr angehen). Dead Man has one of the most epic endings of any film. When I am going to die, I also want to float away like this – and to experience my loss of attachments. That is not a great effort of course when you die. However, see it as a message from the future and a glimpse of insight. The world actually only partially concerns me.)

Liberating oneself from a cycle of rebirths might seem irrelevant to the non-believer. But nirvana is a radical undertaking: it represents a liberation from an endless cycle of rebirth; or liberation from the utterly human, persistent desire for things to be different. There is something useful there for anyone http://ow.ly/VdHt30jVzbi

Liberating oneself from rebirths might seem irrelevant to the non-believer. But nirvana is also a profound psychological goal
AEON.CO
(Kommentar zur Monadologie von Leibniz)

Jeannette – L’Enfance de Jeanne d’Arc

“Ein Heavy-Metal- und Rap-Musical voller (selbst)bewusst schlaksig-tapsiger Tanz- und Gesangseinlagen, dargeboten von Laiendarstellern mit teils recht eigenwillig-eindrücklichen Gesichtern – über die Kindheit von Jeanne d’Arc, basierend auf einem modernen Mysterienspiel aus dem Jahre 1910?! Ganz genau. Und so findet in JEANNETTE zusammen, wovon man nie glaubte, dass es tatsächlich etwas miteinander zu tun haben könnte: die (scheinbar) religiös-vergeistigte und die (oberflächlich) humoristisch-groteske Seite von Bruno Dumont. Hier, bei diesem spirituell durchaus ernsthaften, minimalistisch-bizarren Camp-Gustostück, kann man endlich einmal sagen: Das habe ich so noch nie gesehen.” (Stadtkino Wien)

WOW, wie dieser Film drei Elemente enthält, die für mich so wesentlich sind: Tanzende/singende/springende Kinder, deren Seelen gleichzeitig älter sind, als die Zeit selbst, Heavy-Metal-Musik, sowie das Streben nach Heiligkeit – der Gernot hat gemeint, wir sollen uns diesen Film rasch ansehen, da er unglaublich schlecht läuft, meistens seien nur drei, vier Leute im Publikum: und tatsächlich waren dann neben dem Gernot und mir nur noch irgendeine Alte im Saal, wobei der Michi dann auch noch dazugekommen ist – scheint zu unterstreichen, dass Leute wie Jeanne d`Arc, die ganze Nationen und Großgefüge spirituell zusammenhalten, dabei gleichzeitig meistens radikale Außenseiter und Einzelgänger bleiben. Die Geschichte der Jeanne d`Arc z.B. mit Heavy-Metal-Musik zu vermengen, mag gekünstelt wirken von der Intention her und paradox im Ergebnis, ist es aber nicht; die scheinbare Heterogenität sei vielmehr ein Tribut an die Vielschichtigkeit und Tiefengestaffeltheit der Welt, die tief ist, und tiefer als der Tag gedacht, und ergibt somit eine vollkommen homogene Perspektive, einen perfekten Kreis, eine vollkommen Sphäre. Der Über-Humor ist die Methode, der Welt (und ihrer Psychose) mit vollkommen tiefsinnigem Ernst und in spiritueller Feierlichkeit begegnen! Ein achtjähriges Kind, das versucht, ultratiefe Moral zu verwirklichen (also Moral, die über das gegebene menschliche Maß hinausgeht und so einen neuen Markstein in der Geschichte, eventuell sogar der Evolution der Moral errichtet)… da verschlucke ich mich fast vor Begeisterung, und fühle mich erinnert an meine Jessica Simpson aus St. Helena… (wobei ich am nächsten Tag dann in eine gewisse Depression verfallen bin, zusätzlich zu dem, mit was ich sonst zu kämpfen habe, als es sich irgendwie aufdrängt, dass die Geschichte des Verwirklichers ultratiefer Moral, der nicht nur ein Hyperset bildet, sondern sich gleichzeitig auch von der Menschheit abnabelt, im Leben mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht so gut ausgeht). Der Text, der verfilmt und vertont wurde, stammt von Charles Péguy, der bei uns kaum bekannt ist, und den ich also lesen muss.

Jessica Simpson, 9, entdeckt, dass alles auf der Welt ein Herz hat