Ich thue den ganzen Tag nichts, als springen, u. mich freuen.
Johanna Marie Rahn, angesichts ihrer Verehelichung mit Johann Gottlieb Fichte
Der Geschlechtstrieb des Weibes in seiner Rohheit ist das widrigste, und ekelhafteste, was es in der Natur gibt, und zugleich zeigt er die absolute Abwesenheit aller Sittlichkeit. Die Unkeuschheit des Herzens beim Weibe … ist die Grundlage zu allen Lastern; dagegen die weibliche Reinigkeit und Keuschheit, die eben darin besteht, dass ihr Geschlechtstrieb sich nie, als solcher, sondern nur in der Gestalt der Liebe zeige, die Quelle alles Edeln und Großen in der weiblichen Seele. Für das Weib ist Keuschheit das Prinzip aller Moralität … Es ist keine Verbindung zwischen Personen beiderlei Geschlechts zur Befriedigung ihres Triebes moralisch möglich, außer der einer vollkommenen und unzertrennlichen Ehe.
Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre
Wer bin ich? Subjekt und Objekt in Einem, das allgegenwärtig Bewusstseiende und Bewusste, Anschauende und Angeschaute, Denkende und Gedachte zugleich. (Die Bestimmung des Menschen) So lehren es die Weisen des Ostens und allfällig auch die Mystikerinnen aller Zonen; und in ihrem allegorischen, metaphysischen, umfassend moralischen Sinn verstehe ich das auch. Es sind auch Worte, und Teil der Weisheit des Ostens ist, dass man Worten nicht ganz trauen soll. Johann Gottlieb Fichte aus dem Westen meint das aber, in der holzhammerhaften Art des abendländischen Denkens, buchstäblich. Die Konsequenz der idealistischen Philosophie ist, dass das Ich – oder das abstrakte „absolute Ich“ bei Fichte – als erstes Prinzip, als der Uranfang aller Welt erscheint; zumindest Fichte hat diese Konsequenz gezogen. Wenn, wie im philosophischen Idealismus, das Primäre nicht die Welt, sondern die Anschauung von der Welt ist, wird auch die anschauende Instanz – das Ich – das primäre Prinzip, aus dem die Welt hervorgeht, bei dem die Welt beginnt. Allerdings nicht notwendigerweise, denn Kant hat, bei aller Betonung der Subjektivität unserer Anschauungsformen, die Außenwelt nicht geleugnet. Er hat sie dabei aber reduziert zu einem unzugänglichen „Ding an sich“. Das Ding an sich ist dabei ein gleichzeitig erhellendes, wie auch verdunkelndes Konzept; es löst Widersprüche in der idealistischen Philosophie, schafft aber neue (die auch Kant nicht lösen konnte). Vielleicht ist es besser, diese Widersprüche zu akzeptieren, als das Ding an sich über Bord zu werfen; denn sonst wird´s leicht noch komplizierter (oder, wie eine andere Möglichkeit wäre, halt den Idealismus aufzugeben). Fichte aber wollte Kant überbieten – wie jeden echten Philosophen verlangte es ihn nach der letzten Wahrheit –, und tat genau das: Er warf das Ding an sich und die Vorstellung von einer Außenwelt über Bord; fasst die Außenwelt stattdessen als ein „Nicht-Ich“, das allerdings notwendigerweise vom Ich als primären Prinzip gesetzt wird. Tatsächlich gesteht er auch (irgendwie) ein, dass das „Nicht-Ich“ auch tatsächlich in einer Außenwelt vorhanden sein müsse, und, von irgendwoher kommend, einen „Anstoß“ liefern müsse, damit das Ich sich eine Anschauung davon bilden könnte – ein vollkommener Leugner der Außenwelt wie der Bischof Berkeley ist er also dann auch wieder nicht –, dabei aber wird es Abend und es wird Nacht, und es wird von Fichte insgesamt ein imposanter, beinahe undurchdringlicher Beweisapparat hochgefahren, der gänzlich der Darstellung gilt, warum das absolute Ich trotzdem der tatsächliche Urgrund der Welt sei. Aber leider ist bei mir die Müdigkeit zu groß, als dass ich das alles detailliert studieren und überprüfen will. Ein von Natur aus schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter, und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben. (Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre 1797/98) – mag Fichte daraufhin höhnen. Oder gar, wie es ihm als Sinnspruch gelungen ist: Die meisten Menschen würden leichter dorthin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten. (Die Bestimmung des Menschen) Ich will aber beim harten Kern von der Fichteschen Philosophie – der Idee vom absoluten Ich als Urgrund der Welt – derweil davon ausgehen, dass er weder bewiesen noch unbewiesen ist, und ihn bis auf weiteres daher ein wenig achselzuckend stehen lassen. Nur der wahre Philosoph nimmt nichts an ohne Prüfung, und sein Nachdenken geht aus von dem absoluten Zweifel an allem. (Das System der Sittenlehre) – damit müsste also auch Fichte selbst einverstanden sein, und ein freundlicher Skeptizismus, der zwar nichts leichtfertig vollständig übernimmt, aber auch so viel wie möglich von geistigem Gut erst mal stehen lassen will, sollte sowieso das Ethos des Philosophen sein. Soweit ich weiß, ist sowieso keine Philosophie bewiesen oder unbewiesen; womöglich gehören Philosophien gar nicht in die Klasse von Sätzen, die bewiesen oder widerlegt werden können; nichtsdestoweniger fallen bei eminenten Philosophien aber eine erhebliche Menge an Sätzen an, die auf jeden Fall, oder darüber hinaus, bedenkens- und verfolgenswert sind.
Das Ich, dessen großer Fürsprecher Fichte ist, ist zunächst einmal überhaupt nichts Schlechtes. Außerdem etwas einem jeden von uns sehr Nahes. Fichte ist der große Fürsprecher der Spontaneität und der Tatkraft des Ich. Seine scheinbar irrationale Position, wonach das Ich gegenüber der Außenwelt das Primäre sei, hat ihren Grund nicht zuletzt in seiner Begeisterung für die Vorstellung, dass das Ich sich selbst autonom „setzt“, als eine aktive „Thathandlung“, wie er immer wieder betont, ohne dass irgendeine andere Instanz dem Ich sich aufoktroyieren und ihm irgendwelche Regeln auferlegen könnte: also in Fichtes großer Freiheitsliebe (die eventuell ein wenig neurotisch war) (oder eben in Wahrheit vielleicht ein verschleiertes Dominanzstreben). Zwar ist die Erblast des (Deutschen) Idealismus der Subjektivismus. Doch es ist dabei alles andere als ein unheimlicher Subjektivismus mit großer Verdunkelungsgefahr. Denn das Subjekt ist im Deutschen Idealismus urtümlich bestimmt als vernünftig und frei (in gewissem Sinne betrachtet, sind die Vernünftigkeit und die Freiheit im Deutschen Idealismus so hohe und hochgeschätzte Begriffe, dass das menschliche Subjekt, als deren einziger tatsächlich bekannter bzw. verifizierter Träger, naturgemäß ins Zentrum aller Überlegungen rücken muss). Subjektivismus bedeutet Verdunkelungsgefahr gegenüber der Außenwelt und dem Objektiven, aber gerade durch die Vernunft wird die Außenwelt umso mehr erhellt und zu ihrer Würde gebracht, und in seiner Freiheit kann das Subjekt die Außenwelt manipulieren und verändern – mehr noch: durch seine Freiheit und Vernunft kann das Subjekt die Außenwelt vernünftig und verantwortungsvoll gestalten. Der Deutsche Idealismus steht ganz im Zeichen der Aufklärung und des Emanzipationsgedankens und Fichte ist womöglich deren wortmächtigster deutschsprachiger Fürsprecher. Während Napoleon, wie Hegel es ausdrückt, als „Weltgeist zu Pferde“ wirkt, und neue Gesellschaftsformen aus dem Boden Europas, virtualiter der Welt stampft, will Fichte als geistiger Gesellschaftserneuerer wirken und redet zunächst zur deutschen Nation. War dieser frühe Nationalismus, für den sich Fichte ausgiebig bei Herder bedient, jung, unschuldig, naiv und in seinen defensiven Intentionen berechtigt? Oder beinhaltete er bereits die Saat des Unheils, die (deutlich) später daraus erwuchs, als der Nationalismus chauvinistisch, imperialistisch und faschistisch wurde? Ja, es gibt da Parallelen. Aber wo es Gemeinsamkeiten zwischen zwei Entitäten gibt, da gibt es Trennendes auch. Und wo Fichte so emphatisch von Vernunft, Moral, Freiheit, Fortschritt und Emanzipation redet, tut das der imperialistisch oder faschistisch gewordene Deutschnationalismus ja eben nicht, versucht vielmehr all das möglichst unter den Teppich zu kehren. Fichte und Faschismus haben eher einmal das F am Anfang gemeinsam, sonst wohl eher wenig. (Anm.: Das ist natürlich eine optimistische Einschätzung. Aber über die Toten nur Gutes.) Und lange bevor der Faschismus das „Volk“ als eine transzendentale Kategorie gesetzt hat, war Fichte ja ein Mann aus dem Volk. Dass er Sohn eines armen Handwerkers, eines Bandwebers aus Rammenau, aus dem tiefsten ruralen Sachsen war, hat Fichte nie in der Art eines gesellschaftlichen Aufsteigers schamhaft verschwiegen oder zu vertuschen versucht: vielmehr war er stolz darauf. Er behielt einen etwas derben und volkstümlichen Habitus zeit seines Lebens bei. Menschenkenntnis, Weltgewandtheit und Rücksichtnahme gehörten da nicht prominent dazu, dafür aber ein gewisser Starrsinn und eine Dickköpfigkeit, was seiner Philosophie zwar wohl ein Gutteil ihrer Durchschlagskraft verlieh, ihn praktisch immer wieder aber auch in Schwierigkeiten brachte und Zerwürfnisse mit seinen Nächsten provozierte. (Für Verdruss über persönliche Beleidigungen und Kränkungen, für Erhebung über persönliches Verdienst ist meine Brust verschlossen; denn meine gesamte Persönlichkeit ist mir schon längst in der Anschauung des Ziels verschwunden und untergegangen, hangelt sich Fichte empor, der Bestimmung des Menschen, die im unpersönlichen, objektiven sittlichen Ideal liegt, entgegen. Empirisch war er durchaus nicht so. Aber Philosophen haben das Privileg, durchaus nach dem beurteilt zu werden, was sie theoretisch verkörpern. Schließlich ist bei ihnen alles ja nur Theorie.) Energisch, stampfend und impulsiv war selbst sein Gang. Wenn er durch ihre heiligen Hallen stapfte, bebte die Universität zu Jena. Erst recht aber, wenn fast alle von der Universität zu Jena in Fichtes Vorlesungen strömten. Fichte war ein akademischer Star und der populärste Philosoph seiner Zeit, befreundet mit den großen Geistern seiner Zeit von Goethe und Schiller abwärts. Und doch war er ein Mann, der gleichsam zum Volk sprach und Philosophie als weit ins Volk hineinreichende Tathandlung begriff. Fichte hat nicht nur die Idee zu einem idealen „geschlossenen Handelsstaat“, er arbeitet in mühevoller Kleinarbeit auch die Details und die praktische Umsetzung dazu aus. Überhaupt weiß er, im Hinblick auf die Gesellschaft als reibungslos funktionierender großer Harmonie, jedem Individuum und jedem Menschentyp seinen Platz zuzuweisen und wie sich diesen an jenem am bestmöglichen entfalten könne. Über Die Pflichten des ästhetischen Künstlers zum Beispiel meint er: Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei, und lebendig … Wo ist denn die Welt des schönen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und nirgends sonst. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einheimisch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbstständig und für sich allein hin. Nun ist ja Selbstständigkeit der Vernunft unser letzter Zweck. (Das System der Sittenlehre) (Über die Pflichten z.B. der Frau siehe weiter oben.) So ein weites Feld, die Persönlichkeit von Fichte! Was Wunder, dass sich da nicht auch die einen und anderen Unebenheiten auftun: denn wem gelingt es schon, alle Sphären zu integrieren? Fichtes Schriften sind, auch innerhalb ihrer selbst, von unterschiedlicher Qualität. Man kann sagen, er habe die Freuden der schwingenden Amplitude voll ausgekostet. Ja, um ihn zu verteidigen, gehe ich bei der Gelegenheit davon aus, dass ihm in seinem ansonsten arbeits- und entbehrungsreichen Leben dieses Schwingen und Sausen entlang der qualitativen Amplitude ein absichtliches Vorhaben und Vergnügen war – und das Ergebnis also kein Fehler (sondern höchstes jene absichtlichen scheinbaren Schnitzer, die das Genie macht, damit ihm in seiner Perfektion nicht völlig langweilig wird)! Vielfach sind die Schriften von Fichte ein undurchdringlicher Apparat, mit dem er irgendwas beweisen will, einen stilistisch aber erst recht vor einen undurchdringlichen Dschungel stellt, oder aber es regnet Wiederholungen oder Banalitäten. Sein bekanntestes und populärstes Werk, Die Bestimmung des Menschen, besteht aus drei Abschnitten („Büchern“), von denen erst der dritte wirklich gut und mitreißend ist. In seinen Vorlesungen und Reden war er, zum Verdruss vieler, genauso. So berichtet man davon zumindest bis heute. Aber wenn Fichte sich erst in echte, lichte Höhen aufschwingt, entschuldigt das vieles. Zwar erreicht die philosophische Prosa Fichtes nicht das Niveau der von Schopenhauer, aufgrund aber der virtuellen Unmöglichkeit, Schopenhauer als Schriftsteller zu erreichen, macht das nicht so viel. Vor allem in seinem natürlichen Ausdruck, der direkten Anrede, breitet Fichte Adlerschwingen aus und reißt einen in die Höhe. Fichte war vor allem ein Rhetor (und zumindest als solcher auch von Schopenhauer anerkannt).
Ja also siehe da: Man hat da lauter Für und Wider in der Philosophie und in der Person Fichtes. Wo aber wird Fichte absolut und herausragend? In Betreff der Moralphilosophie und der moralischen Kontemplation der Welt! Philosophie ist auch Eschatologie, und Eschatologie führt in die Frage nach der Moral. Nicht nur in die Frage nach dem letzten Sinn vom Leben, sondern eben auch in die Frage nach dem guten und rechten Leben, da der Sinn vom Leben ja, wenig überraschend, die Ermöglichung vom rechten und guten Leben ist. Das gute und rechte Leben ist in der empirischen Welt für die meisten Geschöpfe aber nur, großteils, etwas virtuell Vorhandenes. Das Aufklärungszeitalter begreift aber, dass man sich an diese Virtualität, dass man sich an das gute und rechte Leben praktisch annähern könne, der Mensch es aus eigener Kraft gestalten könne. Schmerzerfüllt vereinigt sich der Philosoph Fichte mit aller Kreatur und schreit zunächst mit ihr auf: Aber schon in der bloßen Betrachtung der Welt, wie sie ist, abgesehen vom Gebote, äußert sich in meinem Inneren der Wunsch, das Sehnen … die absolute Forderung einer besseren Welt. Ich werfe einen Blick auf das gegenwärtige Verhältnis der Menschen gegeneinander selbst und gegen die Natur, auf die Schwäche ihrer Kraft, auf die Stärke ihrer Begierden und Leidenschaften. Es ertönt unwiderstehlich in meinem Innern: So kann es unmöglich bleiben sollen, es muss, o, es muss alles anders und besser werden. (Die Bestimmung des Menschen) Wenn Kant in seinen eigenen Schriften zum menschheitsgeschichtlichen Fortschritt (Zum ewigen Frieden oder Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) gegenüber seinen eigenen Postulaten vorsichtig, beinahe ungläubig bleibt, wird Fichte dynamisch und eruptiv. Im Gegenwärtigen kann mein Gemüt nicht Platz fassen noch einen Augenblick ruhen, unwiderstehlich wird es von ihm zurückgestoßen, nach dem Künftigen und Besseren strömt unaufhaltsam hin mein ganzes Leben. (ebenda) Er ist also ein Mahatma und ein kraftvoller Aufklärer: Fichte.
Aufklärung bedeutet: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Die Quelle von der (abstrakten) Moral, dem moralischen Gesetz, liegt in der Verfasstheit des Menschen als gleichzeitig freiem wie vernünftigem Wesen. Durch die Freiheit hat der Mensch die Möglichkeit, sich und anderen Gutes zu tun oder aber Schaden anzurichten; durch die Vernunft sieht er ein, dass zweiteres besser ist. Das Gesetz der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, dass sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbstständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen solle … Das ist gleichsam das Konstitutionsgesetz aller Moral: das Gesetz, sich selbst ein Gesetz zu geben. (Das System der Sittenlehre) Bekanntermaßen bin ich von diesem Konstitutionsgesetz – welches ich nenne DAS GESETZ – wonach der Mensch Gesetz und Moral in die Welt setzen kann und muss, zutiefst beeindruckt und der Gedanke daran versetzt mich stets in einen Zustand der feierlichen Würde. Allerdings sagt DAS GESETZ, bei all dem ehrfürchtigen Schauer, den es (hoffentlich) in einem auslöst, nichts aus über die tatsächlichen Gesetze und deren Qualität. Der Mensch erlässt auch unsinnige oder grausame Gesetze und Konventionen, und er erlässt vom Anbeginn aller Zeiten nicht allein aus Notwendigkeit eine Unzahl von Gesetzen und Regeln, sondern auch weil es ihm Spaß macht, Gesetze zu erlassen und alles irgendwelchen Regeln unterwerfen. Wenn man jetzt ganz auf der Welle der Vernunft schwingt, sollten solche Unvernünftigkeiten zumindest stark reduziert werden. Das eben war die Hoffnung der Aufklärer; die gänzliche Abschaffung von Unvernunft und unvernünftigen Gesetzen, die über uns gebieten, war gegebenenfalls ihre Utopie. Im 20. Jahrhundert hat sich unter den Bannern Frankfurter Schule oder Foucault & Co die Kritik formiert, dass diese Utopie letztendlich grausam sei, und außerdem dazu tendiere, ausschließend zu sein gegenüber „anderen“ Formen von Vernunft, wie der weiblichen, der kulturell andersartigen, oder der tierischen (natürlich wurden die Aufklärer schon damals wegen genau demselben kritisiert, nur halt von den Religiösen oder den Romantikern). Weiters wurde klar, dass im Bereich der moralischen Entscheidungen Dilemmata lauern, die auch von der Vernunft nicht aufgelöst werden können. Im Hinblick auf das scheinbar eherne Sittengesetz vom kategorischen Imperativ lassen sich Fälle ausdenken, wo der kategorische Imperativ ad absurdum geführt wird. Und dergleichen mehr. Soll also heißen: Auch wenn es gut ist, wenn Moral und Vernunft zusammengehen, gibt es keine vollständige Transparenz, die Vernunft und Moral ineinander abbildet. Vielleicht ist diese Intransparenz vergleichsweise klein. Vielleicht aber auch ist sie erheblich. Das ist das Problem eben bei Intransparenzen. Die moralversessenen Philosophen aller Zeiten haben das Problem des Bösen nie wirklich ernst genommen, sondern es eher als eine Art Wurmfortsatz in ihrem Weltsystem, den man theoretisch auch entfernen könne aufgefasst, bzw. als eine schwache Negativität und nicht als eine kraftvolle Positivität im eigenen Recht (das hat erst Schelling tatsächlich gewagt). Vor allem aber Horkheimer und Adorno wollen hinweisen, dass eine (ihrer eigenen Dialektik nicht unterliegende) Vernunft auch tatsächlich böse sein kann. Und warum soll man nicht auch böse sein können aus vernünftigem Kalkül (das Werk des Marquis de Sade besteht nicht zuletzt aus langen und langatmigen Abhandlungen genau dazu). Man muss nur, wie der Marquis de Sade, die Grundannahme von der unbedingten Erhaltenswürdigkeit des menschlichen Lebens fallen lassen, zugunsten einer Heuristik der „kreativen Zerstörung“ oder dem Weltprozess als eines ewigen elegischen (oder phlegmatischen) „Werdens und Vergehens“, und schon erscheinen Akte der Vernichtung nicht mehr irrational, eventuell sogar werden sie wünschenswert. Für Fichte, wie für Kant, aber ist die Vorstellung von einer unmoralischen oder bösen Vernunft noch undenkbar. Vernunft ist schließlich mit der universellen und objektiven Rationalität des kategorischen Imperativs – und damit dem Sittengesetz – inhärent identisch; das Sittengesetz entspringt bei Kant und Fichte ja eben aus der Vernunft. Eine individuelle Vernunft, die vom Sittengesetz abweicht, ist für Fichte daher keine; vielmehr seien in einem solchen Fall Schlendrian, Schlaffheit, Feigheit, Gedankenlosigkeit am Werk. Das Böse entsteht also gleichsam aus individueller Faulheit gegenüber dem Sittengesetz und gegenüber den Geboten der Vernunft. Fichte verkennt auch nicht, dass durchaus aggressivere Kräfte und Mächte als der geradezu gemütliche Schlendrian gegen Vernunft und Moral wirksam sein könnten: das offene und offensive Ressentiment. Sie können nicht anders, als jene, sie beschämende, Überzeugung von einem Höheren im Menschen … wütend anfeinden, sie müssen alles Mögliche tun, um diese Erscheinungen von sich abzuhalten, und sie zu unterdrücken: sie kämpfen um ihr Leben, für die feinste und innigste Wurzel ihres Lebens, für die Möglichkeit, sich selber zu ertragen. Aller Fanatismus, und alle wütende Äußerung desselben, ist vom Anfang der Welt an, bis auf diesen Tag, ausgegangen von dem Prinzip: wenn die Gegner recht hätten, so wäre ich ja ein armseliger Mensch. (Die Anweisung zum seligen Leben) Aber das ist, wenn man so will, Sache des um das Gefühl kreisenden Psychologen, nicht des um die Vernunft kreisenden Philosophen: der kann an seinem vernünftigen System ja weiterhin festhalten, insofern es ja theoretisch schlüssig bleibt (zwar nicht in seinen nach wie vor heroischen Schriften, aber privatim hat der späte Fichte das Gros der Menschheit allerdings kurzerhand verworfen und für unmoralisch und unvernünftig erklärt).
Die Frage aber drängt sich auf: Ist es nicht vermessen, der Vernunft eines Menschen eine solche Kraft zuzuerkennen, alles zum letztlich Guten und Überguten hin in der praktischen Welt aussortieren zu können? Da aber kommt ein Gedanke ins Spiel, den man bei dem subjektivistischen, vielleicht schon borderline-solipsistischen Fichte nicht unmittelbar erwartet hätte: Die Vernunft eines Menschen könne das wohl kaum – aber es gibt ja viele Menschen. Bei Fichte ist der Mensch nämlich durchaus interpersonal bestimmt, er erkennt sich interpersonal, und seine Vernunft konstituiert sich als interpersonale Vernunft. Wie auch anders, denn in seinem urtümlichen Freiheitsempfinden, das das Subjekt konstituiert, ist dieses ja richtungslos, ohne Maß und ohne Ziel. Was will das Subjekt? Das kann es nur im Zusammenschluss und im Zusammenstoßen mit anderen Subjekten erfahren, also interpersonal. Eine solche interpersonale Dialektik kann zwar Inseln schaffen und momentane Territorien (oder eben eigene Kulturen und Sprachen), sie geht darüber hinaus aber nicht auf ein bestimmtes transzendentes Ziel hin. Ein dialektischer Prozess kann in alle Richtungen gehen, es benötigt zur Orientierung auch transdialektische Ideen. Diese transdialektische Idee ist im Deutschen Idealismus die von der Vernünftigkeit der Menschen, deren vollständige Ausprägung damit Selbstzweck und Zweck des Menschen als Individualwesen wie als Gattungswesen ist. Der moralische Endzweck jedes vernünftigen Wesens ist, wie wir gesehen haben, Selbstständigkeit der Vernunft überhaupt; also Moralität aller vernünftigen Wesen. (Das System der Sittenlehre) Dieser Endzweck ist also, was der Grundtrieb der Freiheit und der Vernünftigkeit im Menschen ansteuert, den die Menschheit aber nur in einem endlosen Annäherungsprozess und kollektiv anvisieren kann. Dieser Grundtrieb des Menschen nun … geht, zur Erkenntnis gesteigert, auf eine Welt, die da werden soll, eine apriorische, eine solche, die da zukünftig ist, und ewigfort zukünftig bleibt. Das aller Erscheinung zugrunde liegende göttliche Leben tritt darum niemals ein als ein stehendes, und gegebenes Sein, sondern als etwas, das da werden soll, und nachdem ein solches, das da werden sollte, geworden ist, wird es abermals eintreten als ein werden sollendes in alle Ewigkeit, dass daher jenes göttliche Leben niemals eintritt in den Tod des stehenden Seins, sondern immerfort bleibet in der Form des fortfließenden Lebens. (Reden an die deutsche Nation) Die ideale Welt ist eine Welt, die niemals ist, die da aber, in einem Annäherungsprozess, ewig werden soll. Gesellschaft besteht auf dem Zusammenschluss vernünftiger Individuen, das Erreichen der gemeinsamen Vernünftigkeit ist ein offener kollektiver Prozess. Zwar garantiere die Vernunft allein nicht das Erreichen von kollektiven Zielen und Endzwecken. Aber die Vernunft ist immer noch das Transparenteste, was wir haben, und so sollte sich – so die Hoffnung der Deutschen Idealisten – über die Vernunft am Ehestmöglichen eine Einigkeit zwischen Menschen erzielen lassen. Das letzte Ziel alles seines Wirkens in der Gesellschaft ist: die Menschen sollen alle einstimmen: aber nur über das rein Vernünftige stimmen alle zusammen; denn es ist das einige, was ihnen gemeinschaftlich ist … Es fällt weg, Kirche und Staat … (Das System der Sittenlehre);es fallen weg alle zwischen den Menschen vermittelnde Institutionen, es konstituiert sich eine reine Vernunftgesellschaft ohne institutionellen Zwang. Die Vollendung der menschlichen Vernunft im gesamtgesellschaftlichen Maßstab ermöglicht, so gesehen, das Ideal der politischen Anarchie. Indem Vernunft in einem solchen Maße kommunikativ wird und sich über Interpersonalität und Kommunikation konstituiert, scheint Fichte eigentlich ein Vorgänger von Jürgen Habermas. Und das genauso mit seinem Ideal der fortschreitenden Optimierung der Gesellschaft durch kommunikative Vernunft. Fichte wollte ein bestimmender Denker für die Konstituierung der deutschen Nation sein; Habermas auf jeden Fall war das für die Neukonstituierung der deutschen Nation nach dem Nationalsozialismus, also für die Bundesrepublik und ihrem Ideal des vernünftigen demokratischen Ausverhandelns, ohne sich durch unvernünftige subjektive Überhitzungen das alles zerstören zu lassen, wie es schließlich in der Weimarer Republik geschehen ist. Freilich gibt es eben keine Garantie, dass ein solcher Optimierungsprozess, einmal in Gang gesetzt, für alle Zeiten so weitergeht. Und gerade Habermas hat sich in jüngster Zeit pessimistisch, oder zumindest alarmiert gezeigt. Wobei er den Fehler allerdings nicht darin sieht, dass sein Vernunftmodell von den Komplexitäten der heutigen Zeit überholt werden könnte, sondern dass das mehr oder weniger endgültige Modell von der Einen Vernunft durch die Komplexitäten der heutigen Zeit unterminiert wird, indem diese auf ein Neues subjektive Überhitzungen bei den Leuten produzieren oder das Potenzial dafür gravierend erhöhen (konkret gesagt: Das Internet und vor allem die sozialen Medien produzierten Echokammern, die sich aus einem gesellschaftsübergreifenden, vernunftgeleiteten Diskurs ausklinken und so für ihre eigene Überhitzung sorgen). Mal sehen, wie diese Vorgänge in hundert Jahren bewertet werden, und ob sie wirklich wichtig waren und für eine Veränderung gesorgt haben, oder ob unter der Oberfläche wesentlich alles gleich, oder zumindest ähnlich geblieben ist.
Aber kommen wir zu etwas anderem, und dem Höhepunkt, den die Fichtesche Philosophie bereithält und mit dem sie in alle Zukunft weist! Vor ein paar Jahrzehnten hat ein mit Jürgen Habermas zeitweilig konkurrierender Denker, Peter Sloterdijk, ein Zeitalter der „zynischen Vernunft“ ausgerufen oder zumindest konstatiert. Soll heißen, im ausgehenden 20. Jahrhundert ist die Vernunft schließlich so gleichzeitig abgefeimt wie desillusioniert, dass sie an ihre eigene (auch nur der Möglichkeit vorhandenen) Idealität nicht mehr glaubt (sich aber trotzdem durchsetzt, da ihr ja kein echter Gegner mehr gegenübertritt). Ein besonderer Feuereifer, wenn über Vernunft gesprochen wird, ist, wie zu Zeiten Kants und Fichtes, tatsächlich allgemein nicht verortbar. Was allerdings nicht heißt, dass das Moralische nicht hoch im Kurs stünde. Tatsächlich hat sich unsere Gesellschaft moralisch seit der Zeit Kants und Fichtes stark verbessert und ist moralisch viel vernünftiger geworden. Als ein Merkmal von hoher Zivilisation sollte man es ansehen, dass unsere Gesellschaften von moralischen Forderungen scheinbar lustvoll überschwemmt werden (anzunehmenderweise ist das immerhin besser, als wie wenn das nicht der Fall wäre). Allerdings kann man in diesem Versuch der breiten Streuung des Moralempfindens die Mittelmäßigkeit nicht übersehen – was in die Breite geht, scheint eben immer wieder an Tiefe zu verlieren. Mit der „Gender and Diversity“-Moral, dem Feminismus und der sogenannten „Wokeness“, die gegenwärtig (eben noch) die Diskurshoheit innehaben und den Gradmesser hinstellen, an dem alles gemessen werden muss, haben unsere fortgeschrittenen Gesellschaften, scheint´s, einen Fetisch der Selbstverständigung gefunden, ein goldenes Kalb, um das sie tanzen. Feminin und divers sind unsere Gesellschaften mittlerweile seit Jahrzehnten, auch wenn es hie und da ein wenig knirscht und quietscht im Gebälk, aber das ist bei großen Strukturen so und kann auch nicht anders sein. Diese Qualitäten sind im Mainstream im Wesentlichen längst angekommen, und daher ist wohl die Gender and Diversity-Moral so attraktiv, weil man damit Avantgarde scheinen kann, obwohl man es längst nicht mehr ist. Um genderdivers zu sein bzw. sich der Genderdiversität zu verschreiben, muss man so gut wie gar nichts können. Man setzt einen von diesen Scheiß Sternen oder Doppelpunkten mitten in ein Wort – und kümmert sich in seiner Mittelmäßigkeit gar nicht darum, dass man das Schriftbild der Sprache damit ungeheuer verschandelt – und ist zufrieden mit sich. Vor dreißig Jahren wäre das cool gewesen – oder vor dreihundert –, aber doch nicht mehr heute! Jeder Mensch, der heute seinen Blick in der Zukunft hat, ist doch zumindest Transhumanist oder irgendwas dergleichen! Mit dieser feministischen Angeberei steht man ja mit einem Bein in der Vergangenheit. Und trotzdem tun die – ach, wenn ich jetzt mit ein paar guten Leuten am Volkertmarkt zusammensitzen würde, würden wir an dieser Stelle einfach sagen: Aber was reden wir da weiter über das? Reden wir lieber darüber, wo es einen guten Schnaps gibt! Und um darob den Faden wiederaufzunehmen: das eine ist die flache Moral, das andere ist die tiefe Moral. Das eine ist die flache Vernunft, das andere ist die tiefe Vernunft. Im Zeitalter, in dem die Mittelmäßigkeit auf allem thront, haben wir vielleicht verlernt, dass Vernunft und Moral Sachen sind, die man nicht voreilig auslachen und zum alten Eisen stellen soll, sondern Sachen sind, die tatsächlich was können und bereithalten. Dafür müssen wir aber in tiefere Gänge und Stollen uns begeben (oder eben auch in lichtere, nicht mehr so leicht zugängliche Höhen). Damit kommen wir zu den Mysterien bei Fichte, den inneren Mysterien, die seine Moralphilosophie bereithält. Mysterien bedeuten auch gleichsam so etwas wie ein ewiges, unabänderliches Verständnis von etwas, das mit profanem Auge nur unscharf erkannt werden kann. Also etwas, das den Alltagsverstand überschreitet und einen höheren Verstand ermöglicht – einen gleichsam komplexeren und luzideren Verstand. Sodann: das wahrhaftige Leben, und die Seligkeit desselben, besteht in der Vereinigung mit dem Unveränderlichen und Ewigen: das Ewige kann lediglich und allein durch den Gedanken ergriffen werden, und ist, als solches, auf keine andere Weise zugänglich … Im Geiste, in der, in sich selber, gegründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben, denn es ist außer dem Geiste gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig sein, heißt wahrhaftig denken, und die Wahrheit erkennen. (Die Anweisung zum seligen Leben) Eben noch scheint Fichte gelehrt zu haben: Die Verwirklichung der Moral innerhalb der Gesellschaft kann nicht ewig sein, sondern nur ein ewiger, unabschließbarer Prozess. Trotzdem aber verlangt es Fichte – und verlangt es den vernünftigen, als auch den sittlichen Menschen – zur Erkenntnis des „Ewigen“. So ist es. Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei, und nicht bloß eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht, und entzündet sich, und ruht allein in dem Ewigen …. Wer nicht zuvörderst sich als ewig erblickt, der hat überhaupt keine Liebe, und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht gibt. (Reden an die deutsche Nation) Wenn man an die Ewigkeit denkt, denkt man normalerweise an was Gefrorenes und Statisches. Aber die Ewigkeit kann genauso gut eine ewige Bewegung von vergänglichen, zeitlichen Inhalten sein. Soweit die metaphysische Betrachtung, die uns aber sowieso letztendlich immer verborgen bleibt, sich in unserer niedrigeren Dimension immer nur durch rätselhafte Zeichen und Abdrücke mitteilt. Praktischer aber ist Vernunft ja dazu da, das Ewige zu erkennen. Es ist überhaupt nicht abwegig, dass das Reich der Sittlichkeit ewig sein soll, da ja auch die Vernunft ins Ewige und Abstrakte blickt und Rationalität eindeutige und stets wiederholbare Handlungsanweisungen zumindest innerhalb ansonsten gleicher Settings liefert. Und solches will auch die abstrakte Moral. Wenn Fichte von der ewigen Annäherung an Vernunft und Moral im gesellschaftlichen Prozess spricht, meint er einen empirischen Prozess. Der ist wiederum Sache des Alltagsverstandes, der Alltagsmoral (und der Durchschnittlichkeit und des Zynismus). Inmitten dieser Empirie kommt aber auch die metaphysische Struktur dahinter zum Vorschein, oder aber scheint auf eine dahinter liegende metaphysische Struktur zu verweisen, die vom Unsichtbaren ins Sichtbare, ins abstrakt Verstehbare tritt: Innerhalb dieses einzig möglichen Bildes der Unendlichkeit tritt nun das Unsichtbare unmittelbar heraus nur als freies und ursprüngliches Leben des Sehens; oder als Willensentschluss eines vernünftigen Wesens, und kann durchaus nicht anders heraustreten und erscheinen. Alles als nicht geistiges Leben erscheinende beharrliche Dasein ist nur ein aus dem Sehen hingeworfener, vielfach durch das Nichts vermittelter, leerer Schatten, im Gegensatze mit welchem, und durch dessen Erkenntnis als vielfach vermitteltes Nichts, das Sehen selbst sich eben erheben soll zum Erkennen seines eigenen Nichts und zur Anerkennung des Unsichtbaren, als des einzigen Wahren. (Reden an die deutsche Nation) Und diese metaphysische Struktur, das einzig Wahre gegenüber dem bloßen Empirischen, ist der freie Wille des Menschen, in die ewige Sphäre der Sittlichkeit und der Vernunft vorzustoßen! Aber lediglich durch eine solche Ansicht von meinem Willen werde ich in eine übersinnliche Ordnung hinübergewiesen, in welcher der Wille rein durch sich selbst, ohne alles außer ihm liegende Werkzeug, in einer ihm gleichen, rein geistigen, von ihm durchaus durchdringbaren Sphäre, Ursache werde. (Die Bestimmung des Menschen) Eine Transformation ist notwendig: aber eben diese geschieht durch den reinen Willen zur Selbstdurchdringung der Vernunft. Der ganze Endzweck der Vernunft ist reine Tätigkeit derselben, schlechthin durch sich selbst und ohne eines Werkzeugs außer ihr zu bedürfen. (ebenda) Und diese Selbstdurchdringung der Vernunft eröffnet dann also die höhere „Sphäre“: Für diese wird jene Philosophie, die ich erst jetzt durchaus verstehe, die erste Kraft, welche Psychen die Raupenhülle abstreife und ihre Flügel entfalte, auf denen sie zunächst über sich selbst schwebt und noch einen Blick auf die verlassene Hülle wirft, um sodann in höheren Sphären zu leben und zu walten. (ebenda) Sphären, und Tiere, die aus ihren Larven steigen und davonfliegen, mag man jetzt für etwas Bekifftes halten oder für was auf der Grundlage von Acid. So mag genau eben der allzu vernünftige heutige Intellekt denken, oder zumindest die zynische Vernunft. Tatsächlich sind Sphären aber die perfekten geometrischen Körper, und Larven, aus denen Tiere hervorkommen, sind normale und gesunde, vorgezeichnete Entwicklungsstadien, auch wenn sie praktisch nicht immer gelingen. Eine Sphäre ist etwas Abgeschlossenes und Einheitliches, Einiges. Wer eine Sphäre erreicht, erreicht Selbstidentität und Glück – worauf der Zynismus natürlich neidisch sein mag, da er unglücklich ist, er also versuchen mag, die Sphären mit seiner zynischen Vernunft zuzuschütten. Seligkeit ist, wie wir gesehen haben, Ruhen und Beharren in dem Einen: Elend ist, Zerstreutsein über dem Mannigfaltigen und Verschiedenen. (Die Anweisung zum seligen Leben) Eine Sphäre ist ein Raum. Eine abgeklärte, oder zynische Vernunft aber, aller „moralischen Schwärmerei über Sphären“ abhold, was ist die für ein Raum? Ein zynischer Raum ist wohl ein Raum, wo man ständig eins weiter absteigt; und dann wieder raufsteigt, um dasselbe wieder zu tun. Es ist ein seltsamer, ein unklarer Raum, etwas, das der Idee von einem Raum (als etwas Eindeutigem) gar nicht entspricht. Die zynische Vernunft ist vielleicht ein paradoxer Raum wie bei M.C. Escher, wo man ständig wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkommt oder sonstwie in einem exzentrischen Kreis läuft (Treppenhaus; Relativität; Treppauf, Treppab u. dergl.).
Wenn man der Vernunft und der Moral nicht traut, liegt es vielleicht daran, dass sie sich, in ihren empirischen Manifestationen, immer wieder in solchen Räumen bewegen, oder solche Räume etablieren. Immer wieder halten die Menschen ihre Forderungen für moralisch, obwohl sie eigentlich nur parteiisch sind. Das heißt nicht, das parteiische Forderungen nicht auch moralisch sein können, und moralische Forderungen nicht auch parteiisch (sein müssen). Aber Menschen sind schon recht gut darin, eigene parteiische Forderungen als umfassend moralisch zu verstehen, und was davon abweicht, als unmoralisch oder als (gegnerisch) parteiisch (obwohl letzteres gar nicht die Intention dabei sein muss). Vieles von dem, was uns als Moral begegnet, ist also keine echte oder vollständige Moral. Das Ich wiederum erscheint selten als eine Sphäre, weil es selten eine ist. Schau, ein kleiner traumatischer grauer Fleck. Das ist das Ich des großen Egoisten. Mehr ist es, vom so wichtigen Reich der Ideale aus betrachtet, nicht. Aber ein Ich muss ja kein traumatischer kleiner Fleck sein – und dann doch die wenigsten Menschen sind reine Egoisten. Das Ich ist ausbaufähig. Das Ich ist normalerweise eine Arena, in der sich mentale Repräsentationen des Nicht-Ich, der Mitmenschen und -kreaturen, der Welt tummeln. Wie soll man mit einem kleinen grauen Ich-Fleck glücklich werden, der noch dazu traumatisch ist? Stelle dir aber vor das Ich als eine riesige Anlage, die weit in die Welt hineinreicht, oder in den Kosmos. Das ist dann das eigentliche, das vernünftige, sittliche Ich, der Innenraum der wahren Vernunft und der wahren Sittlichkeit. Was für ein Unterschied! Eine Art Fabrikanlage der Bayrischen Motorenwerke, mit einer kilometerlangen Fertigungsstraße, wo fleißig und emsig Gegenstände für die Welt produziert werden! Eine Schiffswerft, wo riesige Containerschiffe mit Ladekapazitäten von über 20.000 TEU oder Flugzeugträger von der Queen-Elizabeth-Klasse mit einer Verdrängung von fast 70.000 Tonnen oder gar der Nimitz-Klasse mit einer Verdrängung von fast 100.000 Tonnen gefertigt werden! Oder eine Anlage, wo Raumschiffe und Space Shuttles gebaut werden! Riesige, erzrobuste, ins Objektive reichende Verstrebungen reichen weiter als das Auge, komplizierte Maschinerie, die das Wissen von Jahrtausenden in sich trägt; irgendwo, sehr weit weg von dem, wo man gerade jetzt ist, wird man vielleicht an ein Ende, an eine sinnvolle Beschränkung von alldem stoßen – jenseits davon beginnt dann eben das Nicht-Ich. Eine so riesige Anlage sei also das sittliche, vernünftige Ich, das die Möglichkeit der Sittlichkeit und der Vernunft tatsächlich auch ausmisst. Eine solche Sphäre kann das Ich sein. Verstehst du das? Meditiere über diese Wahrheit. Und hiermit geht die ewige Welt heller vor mir auf, und das Grundgesetz ihrer Ordnung steht klar vor dem Auge meines Geistes …. Nicht erst, nachdem ich aus dem Zusammenhange der irdischen Welt gerissen sein werde, werde ich den Eintritt in die überirdische erhalten; ich bin und lebe jetzt in ihr, weit wahrer als in der irdischen, schon jetzt ist sie mein einziger fester Standpunkt, und das ewige Leben, das ich schon längst in Besitz genommen, ist der einzige Grund, warum ich das irdische noch fortführen mag. Das, was sie Himmel nennen, liegt nicht jenseits des Grabes, es ist schon hier um unsere Natur verbreitet, und sein Licht geht in jedem reinen Herzen auf. (Die Bestimmung des Menschen) Fichte setzt also das himmlische Jenseits mit dem Reich der vernunftgeleiteten Moral gleich, beziehungsweise fasst er Gott als einen Ausdruck für die moralische Weltordnung (was ihm den Vorwurf des Atheismus eingetragen hat und ihn seine Professur in Jena gekostet hat). Worauf Fichte also eigentlich hinauswill: eine Vernunftreligion etablieren. Eine Religion des „freudigen Rechttuns“ (auf der Basis einer ekstatisch empfundenen Vernunft). Da mag sich die zynische Vernunft ins Fäustchen lachen, sieht sie doch scheinbar die Schwärmerei in ihrer offenbar natürlichen Konsequenz eingelaufen: dem Obskurantismus, der Verklärung, der unvernünftigen Verzückung. Wisse aber zunächst, dass im sittlichen Ich, der Abbildung der moralischen Sphäre im Ich, gar nichts unklar ist, sondern sehr eindeutig. Der wahrhaftige und vollendete Mensch soll durchaus in sich selber klar sein: denn die allseitige, auch durchgeführte Klarheit, gehört zum Bilde und Abdrucke Gottes. (ebenda) Der Mechanismus funktioniert sehr einfach. Man muss nur ein Ich haben, das sich nicht frägt: Was ist für mich das Richtige bei der Sache?, sondern: Was ist objektiv richtig und falsch bei einer Sache? Und dann die Sache entsprechend bewerten. So einfach funktioniert in Wirklichkeit Sittlichkeit und Vernunft und kommt jeweils in dem anderen zur Deckung – die Räume, die dieser einfache Mechanismus, gleich einem primitiven Verschluss öffnet, sind unermesslich, und die Technologie, mit denen sie vollgestopft sind, gleicht der Raumstation, bei der die Interstellar-Raumschiffe der Zukunft draußen in der Schwerelosigkeit konstruiert werden, um, bei weit fortgeschrittener Konstruktionstechnik, die Kosten massiv zu senken. Im Hinblick auf die Gefahr des Obskurantismus und der Verzückung: eine derartige Klarheit und Einfachheit des Mechanismus ermöglicht Luzidität in der Weltanschauung, und Luzidität ermöglicht auch Verzückung: aber eben keine, die auf Erniedrigung der Vernunft beruht, sondern auf ihrer ultimativen Steigerung. Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein; und umgekehrt, das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit, ist nichts anderes, denn das reine Denken. (Die Anweisung zum seligen Leben) So wird für Fichte der Mensch, der authentisch in der moralischen Sphäre wohnt, selbst zum Gott. Sein individuelles Ich wird aufgehoben, transzendiert, und ein rein objektiver Verstand und damit zum Sittengesetz selbst. Solange der Mensch noch irgendetwas selbst zu sein begehrt, kommt Gott nicht zu ihm, denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz, und bis in die Wurzel, vernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist alles in allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott. Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere, dem niederen, durch das Dasein eines Selbst bestimmten Leben, durchaus entgegengesetzte Leben, und nach unserer ersten Weise zu zählen, die Besitznehmung vom dritten Standpunkte der Weltansicht; der reinen, und höheren Moralität. (Die Bestimmung des Menschen) Damit wird dann das Himmelreich, in dem man auf Erden lebt, wenn man in der Sphäre der (tatsächlich) vernunftbasierten Moral lebt, zu etwas noch Stärkerem als das christliche Himmelreich. In der christlichen Vorstellung vom Himmelsreich lebt man in der seligen Kommunion mit anderen seligen Lebewesen. In der Vernunftreligion von Fichte lebt man sogar in Kommunion mit anderen Göttern! Jeder wird Gott, so weit es sein darf, d.h. mit Schonung der Freiheit aller Individuen. Jeder wird gerade dadurch, dass seine ganze Individualität verschwindet, und vernichtet wird, reine Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt; eigentliches reines Ich, durch freie Wahl, und Selbstbestimmung. (Das System der Sittenlehre) Eigentlich sollte sich lohnen, das auszuprobieren. Ich bin befriedigt; es ist vollkommene Übereinstimmung und Klarheit in meinem Geiste, und eine herrliche neue Existenz desselben beginnt – wenn das nicht Die Bestimmung des Menschen sein sollte! Rufen wir also aus: eine Religion der Vernunft! Vernunft schafft Moral, und Moralität schärft die Vernunft. Ein positiver, sich steigernder Zirkel, der über sich hinauswächst. Vernunft schafft Luzidität, und Moral schafft Gefühle der Verbundenheit. So stehe ich klarer in meinem Ich da, in meiner Betrachtung der Welt, und alles Nicht-Ich ist mir so nahe, dass es beinahe ein Teil von meinem Ich ist. Fichte hat dann tatsächlich recht: das Ich wird dann tatsächlich mit der Außenwelt identisch, hat dieselben Grenzen, und erscheint gleichsam als die ganze Welt. Wie verschieden ist das zu den ständigen Gefühlen der Enge, die die Leute kennen, des neurotischen sich Niedergedrückfühlens, das so populär ist und überall artikuliert wird! Aber wie soll das bei einem Ich, das einem kleinen grauen traumatischen Fleck gleicht, anders sein? Mit dem rechten Gebrauch der Vernunft und der Öffnung des Ich hin ins Sittlich-Objektive eröffnet sich hingegen ein gläserner Palast, bei dem man scheinbar nie an ein Ende kommt, sondern immer in neue Räume vorstößt. Das kleine Ich ist zu einem weiten, unendlichen Feld geworden. Schließlich, wenn man sehr vergeistigt ist, wird man nur mehr einige wenige Linien und geometrische Figuren sehen, wenn man intellektuell auf die Welt blickt; das wird genügen, um sie zu verstehen. Das Universum ist mir nicht länger jener in sich selbst zurücklaufende Zirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war: Es ist vor meinem Blicke vergeistigt und trägt das eigne Gepräge des Geistes, stetes Fortschreiten zum Vollkommenen in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht. (ebenda). Selbst die Metaphysik verliert ihren Schrecken, sie wird ein friedlicher, aufregender exzentrisch rotierender Chaosmos. Und ich? Ich bin dann wirklich das kleine Ich-bin-Ich (eine unterhaltende Figur für Kinder; aber die Bestimmung des Menschen, wenn er erwächst). So lebe ich und bin ich unveränderlich, fest, und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eigenes, einziges wahres Sein und Wesen. (ebenda)
Anm.: FIchte zu schreiben, war sicherlich eine der originellsten Ideen, die ich je hatte, und ich gratuliere mir dazu. Denn wie ich sehe: Es ist ja viel von meinem philosophischen Ich in Fichte. Ich bin derjenige, der das „Ich“ in FIchte reintut, usw.