Gedanken zur Skulptur/Fritz Wotruba

Die Skulptur steht in weniger hohen Ehren als Kunstform denn die Malerei. Die Metaphysik der Skulptur ist die einer bloßen Anwesenheit, Präsenz, Materialität, Existenz. Sie ist eine schweigende Metaphysik, sie gibt keine Antwort auf die Frage: Warum ist Seiendes, und nicht vielmehr Nichts? Sie zeigt nur: Es ist Seiendes (wenngleich auch das eine metaphysische Aussage ist).

Wisse denn, Schwester! Die Struktur des Seins, die Struktur der Welt ist: Ein Motiv erscheint vor/in einem Hintergrund. Das höchste Bewusstsein, das erleuchtete Bewusstsein, besteht darin, dass es ständig zwischen Motiv und Hintergrund switchen kann. Das ist die Tiefengestaffeltheit der Welt, man nimmt sie wahr als ein ständiges Flackern. Dieses ständige Flackern zwischen Motiv und Hintergrund hat man in der großen Malerei. Auch die Malerei schweigt letztendlich. Aber es ist ein beredtes Schweigen, während das Schweigen der Skulptur ein schweigendes Schweigen ist.

Bei der Skulptur hat man notgedrungenermaßen nur ein Motiv, aber keinen Hintergrund, keine Eingelassenheit des Motivs innerhalb eines Welt-Zusammenhangs. Die Metaphysik der Skulptur ist die der inneren Tiefengestaffeltheit, der inneren Ausdifferenzhiertheit und Dialektik des Motivs, bestenfalls. Natürlich kann die Welt da mit hineinspielen. Aber sie ist nicht konkret darüber auffangbar. Sie erscheint nur negativ, als Abdruck.

In ihrer abstrakten Struktur von Motiv und Hintergrund erscheint die Welt, beziehungsweise erscheint sie übersetzt in ihren metaphysischen Raum, gleichsam zweidimensional. Mit ihrer wuchernden, sinnlos sich ausbreitenden Dreidimensionalität versaut die Skulptur gleichsam den metaphysischen Raum. Sie gehört da nicht hin. Vielleicht sollte die Skulptur gar nicht ernst anfangen, echte Kunst sein zu wollen. Vielleicht sollte sie sich darauf beschränken, Gebrauchskunst zu sein.

Beim Gemälde symbolisiert die leere Leinwand die reine Imagination, über die im Schöpfungsakt was heraustritt, emporkommt. Damit scheint das Gemälde unmittelbar als eine geistige Schöpfung, als ein geistiges Ereignis. Die Skulptur entsteht aus der Bearbeitung von beliebigem Material (das normalerweise an und für sich ein Material für Gebrauchsgegenstände ist). Das Material ist rein physikalisch, nichts Metaphysisches und Ahnungsvolles wie die Leinwand. Seine Bearbeitung erscheint gleichsam wie ein roher, körperlicher Akt.

Dass das Gemälde als etwas vorwiegend „Geistiges“ erscheint und die Skulptur als etwas vorwiegend „Körperliches“, dünkt als etwas sehr Ungerechtes (da außerdem die Skulptur auf Skizzen beruht), aber es ist so, und dieser Eindruck, die Konnotation, lässt sich nicht ändern.

Dann aber scheint mir die Imaginationsleistung, die hinter einer tollen Skulptur steckt, eigentlich noch höher und anspruchsvoller, rätselhafter und schwerer zugänglich als die hinter einem tollen Gemälde. „Toll“ ist keine metaphysische Kategorie. Und zunächst einmal aber sollte Kunst toll sein. So wie die Kunst und die Skulpturen von Fritz Wotruba toll sind. So was könnte ich in einer Million Jahre nicht und ich würde da auch nicht draufkommen und ich weiß auch nicht, wie man sich das erarbeitet. Offenbar denkt jemand wie Fritz Wotruba in mehreren Dimensionen wie ich. Denke ich mir immer: „Ich sehe den Raum.“ Aber eigentlich sieht ja er den Raum.

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