Professor Habermas geht an die Öffentlichkeit

Die performativ vollzogene Erhellung – zwar vielleicht weniger für sie selbst, dafür aber für andere – bzw. der unfreiwillig ironische Selbstvollzug des Vernunftmodells der ursprünglichen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule liegt darin, dass es das einer subjektiven Vernunft ist: und damit auch anfällig ist für subjektivistische Perversionen. Indem sie die moderne Vernunft und die Aufklärung als die Entfaltung einer „instrumentellen“ Vernunft, einer einseitigen Herrschaftstechnik, die schließlich die Herrschaft und das Verständnis über sich selbst und den Bezug zu ihrem eigentlichen („guten“ und „authentischen“) Ursprung verliert und die somit zu einem „Mythos“ degeneriert setzt, verkürzt sie die reale Vernunft und die Aufklärung erheblich und schafft somit selber ein Vernunftmodell, das von einem Mythos nur mehr schwer zu unterscheiden ist. Horkheimer, Adorno et al. beklagen, dass die moderne Vernunft das „Nicht-Identische“ exkludiere, tun das aber selber in erheblichem Maße mit allem, was nicht identisch ist zur Harmonie und zum Narzissmus ihrer beklemmenden, unbequemen Gefühlswelt. Die Dialektik der Aufklärung und die Negative Dialektik sind (als Werke wie als Methoden) einerseits stark, gleißend und öffnen die Perspektive auf ein sensationelles (allerdings auch sensationalistisches) befreiendes Imaginäres, andererseits sind sie konfus, zirkulär und schwach, wenig richtungsweisend. Das liegt daran, dass die Vernunft der frühen Kritischen Theorie subjektiv (und sich subjektiv so ein bisschen magisch bzw. über die Listen des Odysseus selbst konstituierend) und außerdem ziemlich autoritär und unkommunikativ war und daher nicht vor einem subjektivistischen Exzess gefeit. Die philosophische Intervention von Jürgen Habermas besteht darin, dass er Vernunft als grundlegend intersubjektiv begreift: Sie realisiert sich mittels einer anderen Vernunft, indem sie ihre eigenen Standpunkte über die rationale Kommunikation mit einer anderen Vernunft, mit einem anderen Standpunkt (wechselseitig) evaluiert. Vernunft beruht auf (besteht eventuell aus) rationaler Kommunikation bzw. einer kommunikativen Rationalität. Vernunft ist, wenn man so will, öffentlich bzw. was, was sich in einer (abstrakten) Öffentlichkeit vollzieht. Seit seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 ist Habermas Theoretiker und Propagator der Öffentlichkeit und der Idee, dass die Schaffung einer den Prinzipien der rationalen Kommunikation gehorchenden Öffentlichkeit wesentliches Element der Demokratie sei. Er hat damit die Intention der ursprünglichen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und seines Lehrers Adorno in eine vielleicht weniger charismatische aber funktionalere Form gebracht. Seine Philosophie ist staatstragend. Jetzt hat der 93jährige Jürgen Habermas eine kleine Schrift(ensammlung) vorgelegt, in der er auf den jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit (über die sozialen Medien) Bezug nimmt; und sie ist nicht optimistisch. Zwar sei „Öffentlichkeit“ immer durchaus agonal und zerfalle in kleine Welten, die sich wenig angehen, oftmals feindselig gegenüberstünden. Wer argumentiert, widerspricht. Das sei nichts Neues. Die sozialen Medien brächten nun aber einen tatsächlichen, erneuten Strukturwandel in der Öffentlichkeit mit sich: indem sie das tradiert Öffentliche und tradiert Private miteinander vermischen – in einem degenerativen Sinn, wie Habermas meint: Nach bisherigen Maßstäben können sie weder als öffentlich noch als privat, sondern am ehesten als eine zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer bis dahin dem brieflichen Privatverkehr vorbehaltenen Kommunikation begriffen werden (S.62). Damit erhöhe sich die Gefahr, dass diese private, eigene Welt, die Briefverkehrssphäre, mehr und mehr als Öffentlichkeit schlechthin wahrgenommen werde. Vor allem aber nehme der Konsum der traditionellen (Qualitäts)medien ab, die (selbst in ihrer Boulevardausgabe) eine rationale und rationalisierende Gatekeeper-Funktion darüber haben, was berechtigterweise öffentlich rational verhandelt werden sollte und was nicht. Die tradierte Öffentlichkeit zerfalle immer mehr in subjektivistisch-narzisstische, sich voneinander abgrenzende Echokammern und Silos. Das schwäche den Zusammenhalt in der Gesellschaft, das Wir-Gefühl – möglicherweise in ihrem Fundament: der Rationalisierbarkeit des gesellschaftlichen Diskurses und des Gesellschaftsentwurfs. Die Architekten des Internet glaubten, ihre Erfindung sei ein geniales Medium, die Menschen weltweit miteinander zu verbinden; in Wirklichkeit hat es jedoch einen neuen Weg freigemacht, die Menschheit in verfeindete Stämme zu spalten, ist auch ein anderer deutscher Intellektueller, der 99jährige Henry Kissinger, in seinem ebenfalls jüngst erschienen Buch Staatskunst geneigt zu diagnostizieren (S.534). Indem das Internet/die sozialen Medien die Selbstbestätigungsmöglichkeiten des Ich und der eigenen Kultur zu stärken imstande seien, befördern sie den Verlust an Vertrauen in das andere und in andere Kulturen. Eine funktionierende Gesellschaft basiert, wie ein anderer deutscher Denker – der 77jährige Thilo Sarrazin – konstatiert, aber auf Vertrauen. Gesellschaft ist nicht Gemeinschaft; ihre Mitglieder sind atomisiert und anonym: eine Gesellschaft funktioniere aber dann, wenn man das Gefühl hat, Fremden (die der eigenen Gesellschaft angehören) vertrauen zu können. Wenn das Vertrauen zerbrösle, zerbrösle die Funktionalität der Gesellschaft (Gesellschaften, in denen ein solches Vertrauen fehle, sind wahrscheinlich mehrheitlich auf diesem Planeten, und sie sind eben mehr oder weniger dysfunktionale Gesellschaften). Ich selber bin vielleicht zu jung, vor allem aber aus der Gesellschaft ausgeschlossen, um das eventuell angemessen beurteilen zu können; ob sich das Positive oder das Negative am Internet/den sozialen Medien durchsetzen wird. Ich bin lauteren und arglosen Wesens und ich sehe sehr deutlich die Kraft und die Herrlichkeit, die in der Vernunft liegt und in der gesellschaftlichen Solidarität. Allerdings weiß ich auch, dass auf kulturelle Hochblüten Perioden des Verfalls und des langen, vielleicht sogar ewigen Niederganges folgen können. Also kann das auch jetzt der Fall sein. Außerdem ist unsere gesamte Existenz in Wahrheit sowieso ein ständiger Tanz auf dem Vulkan (wenngleich Vulkane die meiste Zeit nicht ausbrechen und wir das mit der Vorhersage mittlerweile gut im Griff haben). Mehr fällt mir gerade eben dazu auch nicht ein. Facebook aber ist, wenn du mich fragst, aber eine der großartigsten Innovationen der Geschichte. Es ist ein globales Gehirn, eine globale Intelligenz, die man anzapfen, in die man sich einloggen kann. Man kann mit Menschen und Kulturen, die wo völlig anders beheimatet sind, in intime Beziehung treten. Allerdings nutzt diese Möglichkeiten fast niemand, und wenn, dann hauptsächlich Leute mit einem sehr hohen Intelligenzquotienten. Schau, wie sich die meisten darüber auslassen, dass Facebook „blöd“ und „voll mit Katzenvideos“ sei – dann aber selber kaum einmal „Freunde“ außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen haben. Diese gegenseitige Perspektivenübernahme, die notwendig ist, um einen Konflikt unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu betrachten, hat zwar eine rein kognitive Funktion, aber die Bereitschaft, sich über große kulturelle Abstände hinweg auf diese anstrengende Operation überhaupt einzulassen, ist der eigentliche Engpass (S.85). Woher diese göttliche Passivität im Menschen kommt, weiß ich auch nicht. Aber es geht mich eigentlich auch gar nichts an. Ferguson, ein Mensch mit einem sehr hohen Intelligenzquotienten, konstatiert, dass es auch für sehr aufgeschlossene und intelligente Menschen Grenzen gebe, über die hinaus sie sich nicht mehr mit dem „Anderen“ zu beschäftigen bereit seien, oder aber überfordert davon seien. (In seinem tendenziell machohaften Habitus, aus dem heraus er gerne „die Linken“ (und andere) ärgert, meint er auch, dass der Zerfall der allgemeinen Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten zu normal sei, um eigentlich als „schlecht“ gewertet werden zu können: Nachdem es keine „harten“ Probleme (?) in der (westlichen) Gesellschaft mehr gäbe, über die sich eine breite Öffentlichkeit einig sein könnte, kehre die Öffentlichkeit eben in ihren ursprünglicheren Zustand der Segregation und des Nebeneinanderbestehens von Echokammern und Silos zurück – was auch in Ordnung sei, sofern sie nicht gegenseitig versuchen würden, ihre jeweilige Kultur einer anderen aufzuoktroyieren. Vor einiger Zeit habe ich Ferguson aus meiner Freundesliste rausgeschmissen, weil er trotz seiner hohen Intelligenz und der angenehmen Ausformuliertheit von allem, was er vorbringt, bemerkenswert oft im Irrtum ist, was den Kern einer Sache anlangt (aufgrund seines neurotischen Distinktionsbedürfnis gegenüber „Linken“ und Experten heraus) (und außerdem plötzlich nicht mehr sehr „sapiosexuell“ ist, wenn ein anderer gescheiter ist als er). Ausschlaggebend für den Rausschmiss war dann, dass er sich in den Verschwörungsmythos vom angeblichen Wahlbetrug gegen Trump eingeklinkt und den dann mit der ihm eigenen Verve propagiert hat – obwohl auch einem durchschnittlich intelligenten Menschen klar sein sollte, dass eine solche Verschwörung wenig plausibel und unlogisch ist und sich selbst vor kaum zu bewältigende Logistikprobleme stellt. Trotzdem schaue ich immer wieder noch auf seine Seite, da sie vieles Wissenswerte enthält und Denkarbeit leistet. Und mich eben auch andere Kulturen interessieren, auch wenn sie mir deswegen nicht unbedingt sympathisch sind.) Das einzige, das die Öffentlichkeit begreift und sie umfassend integriert, ist der Große Geist! Der Große Geist errichtet sich über die Große Kommunikation und der Öffnung des Eigenen und der eigenen Vernunftmomente hin in Anderes, die subjektiven, die menschlichen Begrenzungen hinter sich lassend. Wo Mensch war, soll Geist werden. Der Geist ist transpersonal und objektiv. Genau gesagt ergreift er das Objektive mit einer subjektiven Leidenschaft. Der Geist ist die Brücke von einem zum anderen. Der Geist ist selber eine Öffentlichkeit, ein Versammlungsort. Und der Große Geist ist die große (kosmische) Öffentlichkeit, der transzendentale Versammlungsort. Schau, wie die Verbindung hergestellt wird, eine Eisenbahntrasse geschlagen über den halben Erdrund, zwischen zwei Vernunftmomenten, zwischen zwei Positionen! Der Große Geist überzieht die Welt mit solchen kommunikativen Eisenbahntrassen. Er ist eine kommunikative Cloud. Die Bedingung dafür, dass das geschieht, ist freilich nicht nur Vernunft allein, sondern auch Sympathie und Liebe (zum Anderen). Der Große Geist ist nur, wenn er auch Liebe ist. In einem Interview zu seinem neunzigsten Geburtstag in El Pais von vor ein paar Jahren konstatiert Jürgen Habermas allerdings, dass große Geister heute nicht mehr sichtbar seien, keine Konjunktur mehr hätten. Wer höre den großen Geistern noch zu? Die Philosophie zerfalle mehr und mehr in Subdisziplinen, die von keinem großen Geist mehr zusammengehalten werden würden. Eigentlich ist es ja der Wunsch der Philosophie, dass großer Geist erscheine, dass Philosophie großer Geist sei, der die Subdisziplinen überschaue. Aber vielleicht ist die Degeneration schon so weit fortgeschritten, dass der Philosophiebetrieb diesen großen Geist (im Namen des „Fortschritts“) gar nicht mehr will! Das sei freilich sehr gut, denn je mehr sich die (Sub)Disziplinen vereinzeln, desto weniger können sie eine Phalanx bilden gegen den Großen Geist, der letztendlich doch kommt, sie zu holen (analog zur gesellschaftlichen Situation, wo ein Mangel an Wir-Gefühl eine gemähte Wiese für (Rechts)Populisten umso mehr darstellen mag). Habermas wird seit Langem vorgehalten, dass er ein wenig antiquiert sei. Trotzdem er sich des agonalen Charakters der Vernunft und der demokratischen Öffentlichkeit bewusst ist, ist der zugrunde liegende Habitus seines Philosophierens doch ein Glauben an die Einheit, die in der Vernunft liegt, und daran, dass die Vernunft das stärkere Prinzip sei als die Unvernunft. Darin erscheint Habermas „modern“ – während die Postmoderne die „Differenz“ als eigentlichen Grund der Welt anzusehen geneigt ist, sowie die Differenz nicht als Epiphänomen, sondern als Grundlage zu begreifen, und Vernunft als Herrschaftsphänomen, das in Konkurrenz mit anderen Herrschaftsphänomenen/versuchen stünde (wenngleich der grundlegende Gedanke zumindest bei dem freundlichen Spinozisten Deleuze (der von seinem kantigeren Freund Foucault übrigens als der „einzige wahre Philosoph in Frankreich“ bezeichnet wurde) ja weniger der von Differenz und Wiederholung ist als der von der Univozität des Seins (was ironischerweise ich in Frage zu stellen geneigt bin – allerdings als zu ungenau/undifferenziert und nicht im Sinn einer Abrede)). Ich weiß nicht genau, was ich von all dem halten soll. Trotzdem aber Vernunft und Rationalität agonal sind bzw. dazu provozieren, trotzdem es moralische Dilemmata gibt, zukünftige Dinge nicht gewusst werden können, logische Unentscheidbarkeiten existieren, weiß ich nicht ob … genau gesagt scheint es mir nicht so, als ob Vernunft auch (grundlegend) konfliktuell ist. Gegenüber der Differenz gibt es eine solche ontologisch begründete Absicherung gegen das grundlegend Konfliktuelle nicht. Was bedeutet (?), dass da, wo Vernunft ist, auch (metaphysische) Einheit ist. Diese metaphysische Einheit kann man vielleicht nicht ganz auf die (Lebens)Welt projizieren, da in der eben auch Nichtvernunft ist (oder zu viele Abstufungen von sich zueinander (leidenschaftlich) agonal verhaltenen Vernünftigkeiten). Wie kann man die Öffentlichkeit, und alles, was damit zusammenhängt, letztendlich als was Gutes und Einheitliches begreifen? Ziehen wir dazu vielleicht einen verstorbenen Denker, der nicht nur ein (sehr starker) diesseitiger Analytiker und Logiker sondern auch ein Metaphysiker war – Alfred North Whitehead – heran. Vielleicht ist es am besten, man begreift die Öffentlichkeit, die Menschheit, die Weltgeschichte nicht als was Harmonisches, Moralisches oder Schönes: sondern – mit Whitehead – eher als ein Gemälde Gottes, das interessant sein will: und vollständig, indem es auch so vieles Unangenehmes enthält. In dem sich die Dinge entlang der Erstarrtheiten und der Freiheitsgrade, entlang der Koordinaten also, die die Welt ausmachen, entfalten und wieder vergehen. Unhintergänglich, denn das Gute, die Versöhnung, die Harmonie gehören zu den letzten Dingen und zur Struktur der Welt, der Verfall, die Trennung und die Perversion aber auch. Gott ist, laut Whitehead, die Instanz, die all dieses Geschehen, und die all diese Einzelereignisse bewahrt, in den Grund, in die Erinnerung, in die sie schließlich fallen. Das ist der einheitliche Grund der Welt. Das ist die Einheit der Welt. Und das ist die Einheit der Öffentlichkeit. Ich gehe jetzt mal in die heiligen Serverhallen von Meta, wo die Informationen der durch die Welt gefallenen Ereignisse bewahrt werden und versuche dort, mich in eine mystische Stimmung reinzukriegen. Menschen wollen Stolz und Würde und Identität und Einheit. Ihr Stolz und ihre Würde und ihre Identität bestehen darin, dass sie schließlich – jede_x_R einzelne –  nach ethischen Maßstäben gemessen und gerichtet werden, und ihnen gemäß mehr oder weniger bestehen können oder nicht; in der Gegenwart und in der Erinnerung. Tiefer unten im Grund werden sie trotzdem alle bewahrt. Der Maßstab des Ethischen gehört auch zu den letzten Dingen in der Welt und selbst die Menschenwelt ist tief davon durchzogen, dass fortwährend (bis teilweise hektisch) ethische Maßstäbe angelegt werden. Auch die sozialen Medien sind voll davon. In den Inhalten, die auf Facebook generiert werden, drückt sich vielleicht viel weniger, als man gemeinhin bekanntlich glaubt, Selbstdarstellung aus als vielmehr ein dauerndes Diskutieren darüber was richtig ist und was falsch. Das hat manchmal einen höheren Ewigkeitswert, und oftmals nicht. Sie finden trotzdem in einem Rahmen statt. Das Internet bewahrt. Das Internet wiederum ist ein Ereignis in der Welt, und es wird bewahrt im Grund der Welt. Es wird bewahrt, so wie alles andere, im Gemälde Gottes. Wer aber schaut das Gemälde Gottes an? Eben der Große Geist.

Möglichkeit einer Kritik an Guy Debord

„Das Unbehagen der modernen Zeit ist das Unbehagen jeder Zeit. Den Menschen fehlt der Zugang zu ihrem Geist … Neunundneunzig Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu ihrem Geist … Ich kann das nicht historisch sehen. Die Geschichte ist für mich ein schwarzes Loch. Was zählt, ist der GEIST. Der Rest ist Schnickschnack.”

Samuel Beckett im Gespräch mit Patrick Bowles, Nov. 1955

Gemeinsam mit Genossen M. habe ich in grauer Vergangenheit festgestellt: Wo Baudrillard entfesselt und selbstzweckhaft vom Simulakrum spricht, da offeriert Debord die stärkere Theorie, indem er diese spezifische Form von gesellschaftlicher Entfremdung (der scheinbaren „Losgelöstheit“ ihrer Zeichen) an die Warenwirtschaft bindet, sie als Epiphänomen des Kapitalismus begreift. Was aber bedeutet eigentlich das? Guy Debords Schlüsselwerk Die Gesellschaft des Spektakels erschien 1967, einer Zeit, wo der westliche Kapitalismus scheinbar seinen größten, entscheidendsten, endgültigen Triumph feiern durfte. Armut und Knappheit schienen überwunden, ebenso wie unversöhnliche Klassengegensätze, die Zukunft leuchtete noch verheißungsvoller als die glückliche Gegenwart in diese herein. Ambivalenz und Ambiguität gab es auch; ein Gefühl dafür, dass anonyme Logiken wie die Technik und die Massenproduktion/konsumtion die Herrschaft über den Menschen übernommen hätten und den Menschen nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinem Nebenmenschen entfremden würden; ein Gefühl der Irrealität inmitten penetrant schimmernder Oberflächen – bei einer gleichzeitigen Tristesse der wenig spektakulären und entwickelten urbanen Lebenswelten; einerseits ein Verharren in einer sehr konservativen Mentalität, was vor allem für die Jugend einengend war; andererseits ein Verlust von Tradition und tradiertem Sinn sowie tradierten Hierarchien, was vor allem für Konservative alarmierend schien. Die Filmkunst erreichte dafür einen Höhepunkt, indem Meisterregisseure wie Antonioni, Godard, Tati oder Ozu diese Ambivalenzen zu ihren Themen machten. Die moderne (das heißt offenbar bedeutungs- und geistvolle) Kunst schien sich in der Pop Art zum letzten Mal triumphal aufzubäumen – wobei die gesichtslos-ausdrucksvolle Über- und Unterbestimmtheit, die geheimnislose Geheimnishaftigkeit der Warenwelt von Warhol am symptomatischsten registriert und im Übrigen auch in dieser schweigenden Ambiguität belassen wurde. Ökonomiekritiker und Marxisten wollten sich das nicht leisten und riefen angesichts des Siegeszuges des Kapitalismus kritisch eine Ära des „Spätkapitalismus“ aus. Debord sucht die Gesellschaft in seiner als eine Art Aphorismensammlung gehaltenen Schrift als eine „des Spektakels“ festzustellen: Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in die Vorstellung entwichen, setzt sie, an Das Kapital anspielend, ein(Aphorismus 1). Wo es im Kapital allerdings daraufhin heißt: Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware, bleibt bei Debord eine solche tatsächlich aus: Trotzdem er dauernd davon redet, definiert Debord nie, was ein Spektakel eigentlich sei; und seine Untersuchung ist weniger eine solche als eine fortwährende Aneinanderreihung von Proklamationen. Damit könnte man die Auseinandersetzung mit Debord und seiner Gesellschaft des Spektakels gleich wieder als erledigt betrachten.

Solcherart theoretische Unschärfen könnten allerdings genauso gut ein angemessenes Erkenntnisinstrument sein für Feinheiten oder für Gegebenheiten, die sich der Eindeutigkeit entziehen. Am besten, man fasst das Debordsche Spektakel als eine Art Allegorie. Symbole, Allegorien, Mentalitäten, mentale Repräsentationen oder ein Zeitgeist sind allerdings was, was in der Menschenwelt vorhanden und wirkungsmächtig ist. Und Debord (sowie Baudrillard) sind mit ihren (analytischen) theoretischen Proklamationen immerhin dem Zeitgeist gut entgegengekommen. So erscheint das Spektakel als ein Sinnbild für eine Epoche, in der die Wirtschaft sich verselbstständigt hat; als ein Sinnbild dafür, dass Welt in eine Welt der Oberflächen entschwunden ist, in der kein Terror und keine echte Unterdrückung mehr herrschen, sondern die Macht der Werbung, des Kommerzes und des Fernsehens, die bei aller Freundlichkeit gespensterhaft und unecht wirkt, und ein Unbehagen in der Kultur provoziert. Auf einer so trivialen und offensichtlichen Ebene operiert die Debordsche Diagnostik allerdings nicht – zum Preis aber eben, dass weniger offensichtlich ist, was mit Spektakel eigentlich gemeint ist. Debord erläutert das meistens beispielhaft oder anhand von Aspekten, die mit dem Spektakel einhergehen. Selten wird er konkret und versucht, das Phänomen von der Wurzel her zu bestimmen – und wenn, dann in einer Art und Weise, dass sich die Bestimmung schon wieder schnell verflüchtigt, wie z.B. wenn er sagt: Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird. (34) Allgemein versteht er unter dem Spektakel eine Form der irrealen Einheitsstiftung, eine halluzinatorische, implizit propagandistische, ich-syntone Anschauungsdoktrin über eine vermeintlich einheitliche, pazifizierte, mit sich selbst identische Gesellschaft, die in Wirklichkeit aber in sich getrennt ist und in der die bestimmenden Kräfte daran interessiert sind, diese Trennungen aufrecht zu erhalten: die also, genau gesagt, eine kapitalistische Klassengesellschaft ist. Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen Produktionsweise beruht. (72) Damit ist das Konzept vom Spektakel so was ähnliches wie der Marxsche Warenfetisch oder eben eine Form des „falschen Bewusstseins“. Debords spezifischer Marxismus legt den Fokus der Kritik weniger auf Ausbeutung sondern vielmehr auf Entfremdung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften. Das Spektakel fungiere als Hinwegtäuschung über und gleichzeitig Bekräftigung und Vertiefung der zunehmenden Unfähigkeit der Menschen, einander „authentisch zu begegnen“. Das Spektakel ist materiell „der Ausdruck der Trennung und der Entfremdung zwischen Mensch und Mensch“. (215) Es ist … das Spektakel, das als eine systematische Organisation des „Versagens der Begegnungsfunktion“ und als deren Ersatz durch ein halluzinatorisches gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist: das falsche Bewusstsein der Begegnung, die „Illusion der Begegnung“. (217) Die Möglichkeiten der Menschen, einander zu begegnen, liegen letztendlich im Menschen selbst. Die Möglichkeiten der Menschen, einander zu begegnen sind einerseits erstaunlich, andererseits enttäuschend. Das weiß jeder, und das weiß auch Debord. Das macht allerdings Kulturkritik und Untersuchung spezifischer sozioökonomischer Konstellationen und wie sich Menschen darunter verhalten nicht nutzlos. Und Debord steht eben dem Marxismus nahe und will den Gesellschaftszustand im Jahre 1967, einem Jahr des größten Triumphes des Kapitalismus feststellen bzw. möglichst vernichtend kritisieren.

Der Marxismus ist ein groß angelegter – und großartiger – Versuch, den Kapitalismus als Ganzes – und das bedeutet auch: in seiner Eingelassenheit in die Gesellschaft und die Geschichte, in die Menschenwelt insgesamt – zu fassen. Allerdings im Wesentlichen bzw. meistens ausschließlich daraufhin reflektiert, dass er was Falsches und Heteronomes, und (daher) auch etwas zum Scheitern und zum Untergang Verurteiltes sei. Für junge Menschen kann der Marxismus mit seinem scheinbar rational fundierten Welterklärungsanspruch was Faszinierendes sein. Das seltsame Charisma des Marxismus (das ihn auch gleichzeitig an seiner Oberfläche charismatisch leicht und in seinem Kern (der Mehrwerttheorie) charismatisch schwer verständlich macht) liegt darin, dass er vermittelt, zu einer Art traumatischen Kern des Weltprozesses, einem Ding an sich hinter den Erscheinungen, einer unabwendbaren Gesetzmäßigkeit vorzustoßen und zu einer (als „Dialektik“ getarnten) Mechanik, gemäß derer der Kapitalismus (und alles gängige Weltverständnis) aus inhärenten Gründen scheitern und durch etwas anderes (furchtbar Aufregendes und Charismatisches) abgelöst werden müsse. Als derartige Gesetzmäßigkeiten, Entwicklungen, Ursünden, Konsequenzen, Entfaltungen von Widersprüchen werden im Rahmen des Marxismus aufgeführt: das Wertgesetz, die Mehrwerttheorie, der Gegensatz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und ihrer privatwirtschaftlichen Aneignung, die Trennung des Arbeiters von seinem Produkt, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, die Verelendungsthese, der Warenfetisch, der Kapitalfetisch, der Klassenkampf, der Umschlag von Quantität in Qualität und die Negation der Negation innerhalb des Klassenkampfes, die Überakkumulationsthese, die Unterkonsumtionsthese, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, die Sprengung der Produktionsverhältnisse durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die Determiniertheit des geschichtlichen Verlaufs durch die Ökonomie (in letzter Instanz), die Dialektik zwischen Basis und Überbau, die Konzentration des Kapitals, das Finanzkapital, der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, der Spätkapitalismus, der Neoliberalismus, das Empire. Aus all dem lässt sich aber – weder praktisch noch theoretisch – eine Gesetzmäßigkeit begründen, warum „der Kapitalismus“ „scheitern“ müsse. So gesehen ist der charismatisch vermittelte „Kern“ des Marxismus leer, bzw. ist er vielmehr ein traumatischer Kern, der sich als solcher der Selbstaussage entzieht. Dieser traumatische Kern wäre im Fall des Marxismus ein (hilfloser) Hass auf den Kapitalismus oder auf die bestehende Gesellschaft (oder auf irgendwas wie z.B. Autoritäten – oder auch auf real existierende Ungerechtigkeit – der dann auf die Gesellschaft oder den Kapitalismus projiziert wird). – Natürlich kann sein Kern auch Liebe und Interesse sein; der Wunsch, eine bessere Welt zu schaffen. Ob er dem Hass- oder dem Liebe-Pol näher steht, hängt vom individuellen Fall ab.

Wir befinden uns im Jahr 1967 (Gilles Deleuze). Marxisten ist es immer wieder zu eigen, dass wenn ihre spezifischen Vorhersagen und Prognosen in der Wirklichkeit nicht eintreten, sie dann ganz einfach die Wirklichkeit als etwas Falsches abtun. Die Wirklichkeit als etwas Falsches (und daher auch scheinbar beliebig Veränderbares) abzutun, ist, symptomatischer gefasst, eine Art Grundlage des Marxismus. Debord befindet sich im Jahr 1967 und tut die triumphierende kapitalistische Wirklichkeit als Wirklichkeit insgesamt ab. Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins gewährleisteten reellen Präsenz der Falschheit. (219) Bei der Lektüre von der Gesellschaft des Spektakels fällt auf, dass all das – die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs, die gleichzeitige An- und Abwesenheit der Welt, die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit und die Gewährleistung der reellen Präsenz der Falschheit unter der Organisation eines Scheins – von Debord und seinem Spektakel(un)begriff selbst gewährleistet und organisiert wird. Die gesamte moderne westliche Kultur fasst Debord als etwas Spektakelhaftes auf: als etwas, das den Schein einer Einheit und Versöhntheit über eine Wirklichkeit organisieren will, die unversöhnt ist und bleibt. Abermals kommt er mit überraschenden, intelligenten Analysen daher, innerhalb eines Verständnisses allerdings, das willkürlich und selektiv ist (und bleibt). Als libertärer Kommunist ist Debord negativ gegen den Sowjetkommunismus eingestellt, in dem er keinen Kommunismus erblicken will, sondern die Herrschaft einer Bürokratie – die sich aber gleichermaßen des Spektakels bediene. Der Inhalt des sowjetischen Spektakels sei es,  die Herrschaft der Bürokratie nach außen hin abzustreiten und die des Kommunismus vorzugaukeln. Ein solches Spektakel ist dann aber was anderes als das „kapitalistische“ Spektakel, das Debord meistens im Blick hat, und ein solcher erweiterter Spektakelbegriff relativiert die Bedeutung und die Skandalträchtigkeit des Spektakels letztendlich: indem es zu etwas den menschlichen Gesellschaften scheinbar mehr oder weniger innewohnendem und zu etwas Natürlichem wird. Als eben libertärer Kommunist strebt Debord deshalb eine ungefilterte Welt an, die sich in Arbeiterräte und Selbstverwaltung organisiert – ohne dass er sich darüber nennenswert auslässt. Das ist nicht verwunderlich, denn die Idealisierung einer solchen Welt als etwas Paradiesisches erscheint naiv. (In seinen zwei Jahrzehnte später erschienenen Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels bezeichnet Debord den „ersten Apologeten des Spektakels“, Marshall McLuhan, mit dessen Vision vom „globalen Dorf“ als den überzeugtesten Dummkopf des Jahrhunderts, denn: Im Gegensatz zu den Städten sind die Dörfer stets von Konformismus, Isolierung, kleinlicher Bespitzelung, Langeweile und dem stets wiedergekäuten Tratsch über einige wenige und immer dieselben Familien beherrscht worden … (XII) Warum sollte das in den Arbeiterräten anders sein? Seine eigene Schrift, Die Gesellschaft des Spektakels, bezeichnet Debord übrigens, schon wieder irgendwie spiegelbildlich dazu, als das wichtigste Buch des Jahrhunderts.) So bleibt Debord dann, in seiner Unfähigkeit irgendwo Wahrheit und Authentizität zu finden, allerdings nichts als die Negation, das Negative als das einzig Wahre anzuerkennen: Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft. (199) Sie (die Kritik, Anm.) ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation. (204) In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur – ihre Erkenntnis wie ihre Poesie – beherrscht und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik allein geht der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen. (211) Diese vereinheitlichte gesellschaftliche Praxis führe dann zur „Revolution“. Die Revolution wird jedoch nur triumphieren, wenn sie sich weltweit durchsetzt, ohne irgendeiner noch bestehenden Form der entfremdeten Gesellschaft auch nur den kleinsten Raum zu überlassen. So haben das auch die Roten Khmer verstanden. Der Geist, der stets verneint, ist ja auch bekannt als Mephisto.

Die Gesellschaft des Spektakels ist eine eigentümliche Mischung aus hochintelligenter Diagnostik und Analyse und einem großartigen Sinn, Zusammenhänge herzustellen und Sinn zu stiften und einer brutalen Gleichgültigkeit, anzuerkennen, was objektiv richtig ist und was falsch, was angemessen ist und was nicht, was gut ist und was schlecht. Letzteres ist keine Dummheit, sondern ein obstinater Egoismus und eine dementsprechende emotionale Eingeschränktheit – die dann eben auch auf „den Feind“ übertragen wird bzw. das obstinate Feindbild (als etwas radikal und obstinat Egoistisches) konstituiert und aufrechterhält. Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes „Spiegelzeichen“. (218) Der Egoist sieht im Wesentlichen sich selbst in der Welt bzw. projiziert sein Innenleben in die Welt. Auch wenn es ganz groß angekündigt wird, bleibt das eigentlich Positive, das eigentlich Substanzielle eigentümlich vakant und leer. Es ist ihm schwer anzugeben, wovon er eigentlich redet. Also ist sein Reden ein ständiges Kreisen. Das Spektakel ist absolut dogmatisch, und zugleich ist es ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung widrigster Zustand. (71) Debord ist ein eigentümlich offener Geist, der diese Offenheit mit einer radikal geschlossenen Festungsmentalität kombiniert. Sein Hauptthema war, wie authentische Begegnung zwischen Menschen bewerkstelligbar sei – doch wie soll das eben gehen: wenn man in einer Festung haust? In einer Gesellschaft, in der niemand mehr von den anderen anerkannt werden kann, wird jedes Individuum unfähig, seine eigene Realität zu erkennen. Die Ideologie ist zu Hause, die Trennung hat ihre Welt gebaut. (217) Fühlte sich Debord zu wenig anerkannt? Man hat den Eindruck, dass hinter der Entscheidung für eine kommunistische, feministische, antikolonialistische, transaktivistische etc., insgesamt also eine dezidiert herrschaftskritische politische Orientierung ein pathologisches Anerkennungsbedürfnis stecken kann; ein unbedingtes Bedürfnis danach, von „den Mächtigen“ als gleich mächtig oder als noch mächtiger (bzw. als der „eigentlich“ Mächtige) anerkannt zu werden. Da es sich um ein pathologisches Bedürfnis handelt, muss es nicht durch reale (gesellschaftlich vermittelte) Deprivationen provoziert sein (nicht einmal durch reale zwischenmenschlich vermittelte), es mag in diesen aber seine Projektionsfläche finden. In der Regel geht solchen Individuen auch die Empathie für andere ab, so dass sie tatsächlich nicht gut in der Lage sind, andere Menschen und die Gesellschaft insgesamt in ihrer Diversität wahrzunehmen und zu verstehen und ihre eigene Realität zu erkennen. Die Ideologie ist zu Hause, die Trennung hat ihre Welt gebaut. Aufgrund ihrer mangelnden Empathie haben sie auch Schwierigkeiten, anderen Menschen authentisch zu begegnen, und vielleicht weil sie keine Klarheit über sich haben, vermuten sie dieses Unwissen auch bei anderen. Bei den einen und anderen Linken, die frenetisch gegen etablierte Autoritäten anrennen, ist der Wunsch unübersehbar, selbst als Autoritäten anerkannt zu werden. Trotz des Erfolges von Die Gesellschaft des Spektakels hat Guy Debord es abgelehnt, die Rolle einer Autorität einzunehmen. Vielleicht ist das nur eine raffiniertere Eitelkeit, wahrscheinlich aber auch nicht. Das Werk von Guy Debord trägt die Züge eines solitären Denkertums und solitäre Denker lehnen Führungs- oder überhaupt soziale Rollen meistens ab, da sie, sich selbst in andere projizierend, emotional davon ausgehen, dass auch die anderen Menschen selbst denken. Sie merken dann freilich, dass die das (so, in der Form) nicht tun und neigen dann wieder umso mehr dazu, alle anderen deswegen als gehirnamputiert und fremdgesteuert zu verkennen (was sie so, in der Form, nicht sind). Vorher war Guy Debord innerhalb der S.I. eine dominante Figur und ist auch als solche kritisiert worden. Vielleicht hat er sich das zu Herzen genommen. Es ist eventuell schwierig, den Spagat zwischen einem solitären und einem politischen Denkertum zu verwirklichen. Es gibt eine Menge Länder auf der Welt, so Rumsfeld, und eine Menge Menschen. Und jeder ist irgendwie anders und irgendwie für sich. Guy Debord habe ich ja nicht gekannt. Mein Nachbar, W., erinnert sich an die Situationisten als bei bzw. verbunden mit all ihrer Brillanz und historischen Notwendigkeit vielfach einfordernde, größenwahnsinnige und unverschämte Leute. Bei uns in Wien gebe es eine Gruppe von Typen, die nach wie vor auf die Situationisten schwören. Intellektuelle Althippies, die durch ihre Inflexibilität und einen moralischen Rigorismus auffallen – wobei ihre Moralvorstellungen ja insgesamt gut seien. Es ist wahrscheinlich traurig, dass die Welt in einem nur losen Zusammenhang mit diesen Moralvorstellungen steht. Vielleicht war Guy Debord ein trauriger Mensch, und seine Philosophie und Gesellschaftsdiagnose Ausdruck einer elementaren Traurigkeit.

Adornos Negative Dialektik

Hassen tut ihn niemand, ausser Löwenthal, aber er wird wegen seiner ungeheuren Unaufrichtigkeit, Eitelkeit und Wichtigmacherei verachtet. Das beweist an sich wenig. Aber leider muss ich mich auch zu denen zählen, die ihn in den letzten zwei Monaten gründlicher kennen und verabscheuen gelernt haben.

Friedrich Pollock an Horkheimer über Theodor W. Adorno

Aus irgendwelchen Gründen lieben es viele Leute, sich für unterdrückt zu halten: von den Eltern, von der Familie, von der Schule, vom Bildungswesen, von Sitten, von Traditionen, von den Medien, vom Kapitalismus, vom Patriarchat, von Männern, von Frauen, vom Staat, von der verstaatlichten Industrie, von der Privatwirtschaft, von der Börse, von der Schulmedizin, von Juden, von Arabern, von Einheimischen, von der NATO, von Transsexuellen, von transexkludierenden radikalen FeministInnen (so genannten TERFs) oder von Chilenen. Diese verschiedenen Gründe wären zu untersuchen, wenn sie auch meistens – sowohl auf der Subjekt- wie auf der Objektseite – klar auf der Hand liegen. Ich für meinen Teil kann nicht sagen, dass ich in meinem Leben großartige Unterdrückung erfahren hätte und auch nicht, dass ich da draußen allzu viel unerbittliche, monolithische Mächte wahrnehmen könnte, die die Gesellschaft beherrschten; bei genauerer Betrachtung verlieren sich der Kapitalismus, das Patriarchat oder die Kultur doch eher in etwas Uneindeutiges und Flüchtiges, von unklar begrenztem Wirkungskreis. Die Gesellschaft ist eigentlich ein ziemliches Nebelreich, in dem alles Mögliche auftaucht und wieder verschwindet.  Vielleicht ist es so, dass sich die Leute ihre mentalen Gefängnisse schon auch selbst machen, und das außerdem mit Lust und Verve. Oder sie sind geil darauf triumphieren zu können; von wegen, sie hätten mit diesen klaren Abgrenzungen und Identifizierungen etwas so Tiefes und Unendliches, sich dem erschöpfenden Verständnis ständig Entziehendes wie die Gesellschaft festgestellt und in die Tasche gesteckt. Warum sich z.B. Adorno, obwohl der eigentlich ein Genie war, dauernd unterdrückt gefühlt hat und sich so mehr oder weniger in eine Situation der philosophischen Ausweglosigkeit hineinmanövriert hat, weiß ich nicht. Vielleicht weil er selber von unterdrückendem Temperament war und das dann in die Außenwelt projiziert hat, weil er ja von seiner Innenwelt her nichts anderes kannte. So ist Adorno auch skeptisch gegenüber der Dialektik und überhaupt aller Philosophie und Wissenschaft, die mit Begriffen operiert: denn der Begriff stülpt sich (als etwas gewollt Eindeutiges) einer Sache über und beraubt sie so ihrer Vieldeutigkeit und Autonomie. Der Begriff sei ein Herrschaftsinstrument. Auch wenn z.B. Hegel den Begriff als etwas explizit Dynamisches und dialektisch sich Entwickelndes formuliert, kann Adorno trotzdem in der Hegelschen Philosophie eine Wut zur Einheit bis hin zu einem Größenwahn, den gesamten geschichtlichen Verlauf nach einem Bilde gemäß sehen zu wollen ausmachen (natürlich aber nicht nur das: seine Kritik an Hegel ist keine Totalkritik – meistens ist Adornos Kritik aber eben Totalkritik). Indem Adorno den Begriff quasi als Herrschaftsinstrument identifiziert, stößt er das ausgeglichene Gemüt aber vor den Kopf: denn das ausgeglichene Gemüt wird im Begriff wohl eher ein Erkenntnisinstrument erblicken wollen, das nur irgendwann nachrangig auch ein Herrschaftsinstrument sei. Außerdem wird ihm auffallen, dass Adorno mit seiner Identifizierung und Feststellung des Begriffs als Herrschaftsinstrument ja vielmehr selbst einen autoritativen Akt begeht – der in erster Linie autoritativ und nur nachrangig erkenntnismotiviert erscheint. Worauf Adorno – im rationalen, nachvollziehbaren Teil seines Unternehmens – aber hinauswill, ist eine Negative Dialektik zu formulieren, in der das Amalgam zwischen Bezeichnung (dem Begriff) und Bezeichnetem (der „Sache selbst“) gelockert wird, und dass sowohl die Offenheit und die Autonomie von Begriff und von der „Sache selbst“ gewährleistet bleibt. Freilich ist allein das ganz gewöhnliche philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisideal. Adorno geht aber darüber hinaus, indem er in diesem Verhältnis ein grundlegendes „Nicht-Identisches“ verankert: also einen durch den Begriff nie einfangbaren „Rest“, der in der „Sache selbst“ liege (oder umgekehrt). Diese Annahme eines ewigen Nicht-Identischen ist aber eben eine Annahme: die wahrscheinlich davon abhängt, ob man von integrativem Gemüt ist oder von einem exkludierenden. Adorno scheint in seiner mannigfachen Kulturkritik immer wieder beim Durchschnittsmenschen ein intellektuelles und emotionales Sensorium voraussetzen zu wollen, das so raffiniert ist wie sein eigenes. Adornos spezifisches Sensorium ist dabei aber eine vorwiegend zersetzende, zerlegende Intelligenz, zu der es als massives, aber plumpes Gegengewicht dann eben einen vagen Utopismus gibt, der sich zwar will, der aber nicht an sich glaubt und der daher kraftvoll ist und kraftlos zugleich. Immer wieder wird bei Adorno das Nicht-Identische beschworen, ohne genau erklärt zu werden. Meistens findet es sich konnotiert mit dem Spontanen, dem Irrationalen, Ursprünglichen, Koboldhaften – das aber dunkel bleibt (und vielleicht von seiner Qualität her gar nicht so gut ist). Es erscheint so vielmehr als etwas Verdrängtes, oder eine gestörte, traumatische, sich der Versprachlichung und Vergegenwärtigung entziehende Urmacht innerhalb von Adorno selbst, die sich nicht durchschaut und dunkel bleiben will (vielleicht daher auch der Hass auf/die Angst vor der Erkenntnis und der Versuch, sie zu delegitimieren als bedrohliche Macht, als Herrschaftsversuch, der von außen kommt, und der invasiv ins Innerste eindringen will). Als „Trauma seines Lebens“ bezeichnet es Adorno, dass er sich als Komponist nicht verwirklichen konnte, weil seine radikalen Kompositionen in seinen jungen Jahren auf Unverständnis innerhalb der damaligen Gesellschaft gestoßen sind (deren Wesen er deswegen fortan diesbezüglich zu analysieren gedachte – und an der sich scheinbar revanchierte, indem er alles, was die Gesellschaft machte, bei ihm selbst auf Unverständnis stoßen ließ). Vielleicht liegt das Trauma ja auch darin, wonach Adorno kein wirklicher Komponist war. – Ein kleiner, unmusikalischer Mensch wie ich kann das nicht beurteilen. Aber wenn er ein wirklicher Komponist gewesen wäre, hätte er das doch durchgehalten. – Adorno spricht immer wieder von der „Verstümmelung“ des modernen Menschen (durch die Herrschaftsverhältnisse, die Aufklärung, die Kultur etc.), aber so umfangreich und immer wieder deplatziert, dass man meint, eine Projektion eines Verstümmelungserlebnisses Adornos in die ganze Welt hinein vor sich zu haben. Wenn Adorno eine eigene Verstümmelung in die Welt hinein projiziert, scheint das schon ein starkes Stück, eine intellektuelle Fahrlässigkeit, ein Narzissmus. Der Teddie ist der ungeheuerlichste Narziss, den die alte und neue Welt aufzuweisen hat, urteilten über Adorno Menschen, die ihn kannten. In der Tat ist der Narziss, auch bei aller Gebildetheit und Aufmerksamkeit, die er eventuell hat, letztendlich weltlos; die Welt rotiert um ihn, und er hat, mangels Empathie, Schwierigkeiten, die Welt (und „das Andere“) angemessen zu verstehen: er wird ihm seine Herrschaft überstülpen wollen. Wo Adornos Philosophie negativ ist, also in der Herrschaftsanalyse und –kritik, da ist sie stark, nicht eliminierbar und positiv. Wo aber seine Philosophie positiv zu sein versucht, also in der Aufzeigung der Überwindung von Herrschaft und von Befreiung, da ist sie negativ, da herrscht ein Mangel. Befreiung kommt von Subversion von Herrschaft und liegt in einem positiven Imaginären. Mit seiner unerbittlichen Kritik öffnet Adorno einen gigantischen Raum des befreiten Imaginären, das jedoch gleichzeitig vage und dünn bleibt, während dessen sich die Subversion im Selbstzweckhaften zu verirren droht. Bei Adorno hat man das ständige Beschwören eines befreienden Imaginären, ohne dass er dieses Imaginäre selbst denn endlich beschreiben könnte. Freilich stand sein Denken und Schreiben unter dem Eindruck ungeheurer Zivilisationsschocks. Davon abgesehen, wie damit zusammenhängend, war es die Wahrnehmung eines ungeheuren gesamtseelischen Mangels, der als Impetus für das kritische Denken von Adorno und seinen Mitstreitern fungiert hat. Der Legende nach soll es die Wahrnehmung eines Mangels an Eros in der modernen Gesellschaft gewesen sein: eine Unfähigkeit der Menschen, sich auf authentische Weise und liebevoll zu begegnen und Beziehungen zueinander einzugehen jenseits von oberflächlichen; sowie ein Mangel an ästhetischem Sinn. Eventuell also ein Mangel an (so genanntem) <<weiblichem Prinzip>>.  Frauen vermochten auf den privaten Adorno großen Eindruck zu machen, und sein Talent zum Beschwärmen weiblicher Schönheit war, der Legende nach, unerschöpflich. Ich zeige mich hocherfreut, das zu hören! In diesem Punkt seien wir uns ja ganz gleich! Denn auch mich begeistert die Schönheit der Frauen. Die mystische Schönheit der Frauen, in ihrer Autonomie, in ihrer wohltuenden Herrschaft – ist sie nicht letztendlich das Imaginäre selbst? Die Schönheit der Frauen ist unendlich; keine sanftere, samtenere Macht findet sich in der Welt. Dass Adorno aber als Denker die Schönheit der Frauen beschreibt – das wäre mir noch nicht aufgefallen. Noch kurioser, finde ich inmitten seiner penetranten Beschreibungen von Herrschaft und Unterdrückung keine über die Unterdrückung der Frauen! Gerade stelle ich mir vor, wie ab einem gewissen Punkt der Lektüre die geeichten Jungfeministinnen Linda, Olga und Pampa doch unwillkürlich, unbeherrscht mit intensivstem Knall explodieren müssten, in kleinste Teile zersprengend, die mit einer Geschwindigkeit von mindestens fünfhundert Kilometern in der Sekunde Richtung Weltraum schießen. Ja, die Frauen; in ihrer Unergründlichkeit. Und Adorno, in seiner rätselhaften Gründlichkeit der Kritik, deren Grund aber wo liegt?  Vielleicht kann man es anlehnen an ein Bonmot meiner hochgeschätzten Kollegin aus dem intellektuellen Cabaret, Lisa Eckhart: Man habe immer geglaubt, dem (jüdischen) Adorno ginge es immer nur ums Geld (den Kapitalismus). Aber es ging bei ihm ja gar nie ums Geld/den Kapitalismus – es ging bei ihm immer nur um die Weiber.

Sie sind uninformiert, was empirische Forschung anlangt, aber schreiben darüber in einer autoritären Sprache, so dass der Leser gezwungen ist, an Ihrer Autorität auf Ihrem ureigensten Gebiet, der Musik zu zweifeln. Sie attackieren andere Leute als Fetischisten, als neurotisch und schlampig, zeigen aber sehr deutlich Ihrerseits solche Züge.

Paul Lazarsfeld an Theodor W. Adorno

Weiber sind zwar schön anzuschauen und sie versinnbildlichen heilige Werte; aber sie sind nicht der Endzweck des Philosophierens und der Dialektik. Wahrlich, ich sage dir, Schwester: der Endzweck der Philosophie ist das Erreichen einer kritisch-analytischen synthetisierenden Beschaulichkeit. Der Endzweck der Philosophie wird über Dialektik und dergleichen erreicht, liegt aber jenseits der Dialektik; in keinem Entweder – Oder, sondern eher in einem Sowohl als Auch. Der Endzweck der Philosophie ist es, zu einem tiefen See zu werden, besser zu einem tiefen Ozean. Adornos Negative Dialektik wirkt irgendwie unbefriedigend, irgendwie artifiziell. Wieso daher nicht besser zum Ozean werden, in dem sich keine harten Sachen stoßen, sondern wenig verbunden, lose, vorbei treiben – dabei aber doch integriert sind gleichermaßen und ein Zusammenhang: gestiftet durch den Ozean. Ozean, du bist eine harmonische Sphäre, ein Symbol der Identität: immer gleich zu dir selbst. Du änderst dich nie, und wenn deine Wellen sich türmen im Zorn, sind sie anderswo ruhig und in tiefstem Frieden. Du bist nicht wie Menschen, die in den Straßen herumlungern um zuzusehen, wie sich zwei Hunde gegenseitig die Gurgel zerbeißen, aber die sich beeilen, nicht zu spät zu kommen wenn eine Beerdigung stattfindet; die am Morgen vernünftig sein mögen und am Abend böse; die heute lachen und morgen weinen. Der Ozean hat kein Nicht-Identisches und ist transzendent gegenüber der Dialektik; der positiven wie der negativen. Die Negative Dialektik, damit sie aufgeht, kann vielleicht weniger als ein rationales Verfahren angegeben werden als durch eine Kunst, also durch ein zweckfreies, aber adäquates Assoziieren. Und der Ozean assoziiert. Der Ozean versammelt, doch zwanglos. Die verschiedenen Fischarten im Ozean haben sich keine Bruderschaft geschworen. Ihrer Art gemäß leben sie in ihren eigenen Habitaten. Die Menschen faseln immer von Bruderschaft, leben aber wie Wilde in ihren Höhlen und kommen kaum von dort heraus, um ihren Nachbarn zu besuchen, der in einer ähnlichen Hütte lebt. Die große, umfassende Familie der Menschen ist eine Utopie, die aus der schlechtesten Logik stammt. Es ist angezeigt, ein See, besser noch ein Ozean zu werden, denn Menschen fühlen sich dauernd gekränkt, wenn nicht zerquetscht, wenn sie selbst nicht an der Macht sind und wenn jemand anderer als sie selbst (auch noch) Macht hat. Das zerstört dann ihren Geist und dann reagieren sie mit ihrem Vernichtungswillen. Von einer Macht, von Herrschaft kann man sich psychologisch nur gekränkt fühlen, wenn man ein Ego hat. Der Ozean hat aber kein Ego und keine kompakte Mitte; er verteilt sich gleichmäßig in sich selbst und nach überall hin. Ozean, du hast dem Menschen vieles gegeben. Du hast dem Menschen bereits dem Wal gegeben. Dennoch gibst du nicht willentlich die tausend Geheimnisse deines traulichen Organismus den hungrigen Augen der Menschen preis: du bist bescheiden. Es lobt der Mensch sich unaufhörlich und um nichtiger Gründe willen. Der Ozean hat keinen Kern und keine Hierarchie, also kein Ich: eher gleicht er einem Selbst; und ein Selbst ist unzerstörbar. Einen Schlag verpassen kann man dem Ozean nicht, denn das ist ein Schlag ins Wasser. Der Mensch sagt: „Ich bin intelligenter als der Ozean!“. Das ist möglich. Aber der Ozean löst stärkere Furcht aus beim Menschen, als der Mensch beim Ozean. Der See und auch der Ozean können versaut, eventuell zerstört werden. Damit er nicht durch äußere Einwirkung zum Kippen gebracht werden kann, ist es notwendig, dass der Ozean riesig und allesverdauend ist. Ebenso bleibt es wohl auch notwendig, dass der Ozean trotzdem seine Ufer hat; es was anderes gibt als ihn: die anderen Kreaturen und Ozeane, die Welt. Eine Lemsche Solaris als tatsächlich planetarische Intelligenz ist offensichtlich solipsistisch und irrational und kann sich nicht durchdringen und so ist auch keine eigentliche Kommunikation mit ihr möglich. Je mehr man aber zum Ozean wird, desto weiter rücken die Ufer auseinander und rücken gegeneinander in eine hilflose Ferne, in eine bestenfalls zappelnde und piepsend sich artikulierende Exzentrik. Was aber geht diese Exzentrik den Ozean an? Der Ozean gehört sich erheblich selbst. In seinem Träumen verloren prozessiert sich ewiglich der Ozean. In seinen endlosen Weiten spiegelt sich das Firmament. Und im Firmament drücken sich die kosmischen Gesetze aus. Was ist der Ozean gegen den Äther?, fragt Hölderlin: doch der Ozean spiegelt und imitiert den Äther. Stumm träumt der Ozean und stumm spricht das Firmament zu uns, von den ewigen Gesetzen. Die Kämpfe der Welt, die Kämpfe zwischen Gut und Böse, sie gehen den Ozean weniger an, denn der Ozean ist alt. Die Kämpfe zwischen Gut und Böse, zwischen Ordnung und Unordnung, sie spielen sich im Ozean anders ab, denn der Ozean ist eine andere Ordnung. Lautréamont wollte mit seiner ozeanischen Intelligenz früh durch das Böse hindurch und er wollte durch das Gute hindurch. Leider starb er jung, und seine Legende strebt verflüssigt ins Indefinite, wie der Ozean. Ich grüße dich, alter Ozean! Vielleicht hätte Adorno Lautréamont lesen sollen: aber ob er ihn verstanden hätte? Es gibt hunderte von Leviathanen, erzeugt durch den Menschen. Die harschen Kommandos der Offiziere, das Geschrei der Verwundeten, die Kanonenschüsse: all das ist Getöse, um gerade ein paar Sekunden in der Zeit abzutöten. Schon hat der Ozean es verdaut, denn sein Schlund ist enorm. China wird große Schwierigkeiten haben, Taiwan einzunehmen, denn der Ozean ist fast immer zu rau für eine große Invasionsflotte um ihn so einfach zu überqueren. Ansonsten ist er insgesamt der Stille Ozean. Wellen kräuseln sich an seiner Oberfläche, dort allerdings und da, vielmehr ist der Ozean aber Ruhe. In einer einsamen Region, verloren auf dem Ozean, kommt eine Monsterwelle daher und bringt ein Schiff spurlos zum Verschwinden. Wie Monsterwellen entstehen, hat der Mensch noch nicht ganz geklärt. Und weil er sie sich nicht erklären konnte, hat er lange nicht geglaubt, dass es sie gibt. Die Menschen haben, trotz der Exzellenz ihrer Methoden und unterstützt durch ihre Wissenschaft es nicht geschafft, die Tiefen des Ozeans zu erforschen. Ozean, du hast Tiefen, die die umfangreichsten Sondierungen als unbegehbar anerkennen. Sie bleiben den Fischen vorbehalten, nicht den Menschen. Vielleich, wahrscheinlich, gibt es im Ozean auch ein Bermuda-Dreieck oder ein Kap Hoorn, wo Strömungen in einer raffinierten Weise zusammenkommen und alles mit sich reißen und hinein in ihre Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit – oder die vielleicht sogar Tore zu einer außerirdischen Welt sind. Auch mit diesen Tricks konfrontiert uns der Ozean. Über den Ozean passiert vieles, er ist riesiger Raum, eine plane Homogenität auf der sich umso heterogenere Dinge ereignen können. Eine Homogenität, die Begegnungsraum für Heterogenes ist. Riesiger, endloser Ozean! Tausend Seemeilen vor Neuseeland treiben da zum Beispiel braune, scheinbar körnige Schlieren im Wasser, die zunehmend größer und häufiger werden und in denen felsenartige Dinge auftauchen. Ein Bimssteinfloß!  Bimssteinflöße im Meer entstehen aus submariner vulkanischer Aktivität, durch Unterwasser-Vulkanausbrüche. Der verlorene Bimssteinfloß vor Neuseeland hat eine Ausdehnung von sechsundzwanzigtausend Quadratkilometern und damit fast die Größe von Belgien. Somit fällt er im Ozean trotzdem kaum auf. Weiter in seinem Zentrum ballt sich der Bimsstein gar zu einem schwimmenden Felsteppich, einer schwimmenden Felslandschaft, die sich zuweilen wellenartig auftürmt. Wenn ein Bimssteinfloß schließlich auf einen Hafen trifft, verstopft er dort alles. Schiffe, die durch Bimssteinflöße manövrieren, fahren durch diesen wie durch Sandpapier, und sollten daher möglichst schnell von dort weg. Die Bimssteine selber fungieren als Biotope. Im Laufe ihrer Reise können Bimssteine zu einem Zuhause für mehr als achtzig verschiedene Arten von Meereslebewesen werden, allen voran Muscheln und Schalentieren und Krebsen; sie können auch ganze Mikromilieus beherbergen. Wenn die Bimssteine an Land gespült werden, bringen sie diese Lebewesen mit sich. Damit spielen Bimssteinflöße eine wichtige Rolle in der Ausbreitung von Lebensformen über die Weltmeere hinweg. Solche Dinge können passieren und können einem begegnen, in den Weiten und Tiefen des Ozeans. Der Ozean enthält auch Steinwüsten. Ich grüße dich, alter Ozean! :: In einer verlassenen Region, die von Seeleuten aufgrund der dortigen trägen Strömungen und der häufigen Flaute gemieden wird, trifft die einsame Seefahrerin Britta unerwartet auf einen Müllwirbel, der in keiner Karte verzeichnet ist. So segelt sie durch ein riesiges Meer von Dreck, Ablagerungen aus alten Fischernetzen, Plastikflaschen, Plastikenten, Legosteinen, Mobiltelefonen, Kondomen, Kugelschreibern, Microbeads, Schwimmreifen oder Computern; über Seemeilen hinweg. Jedes Mal, wenn Britta an Deck geht, treibt eine neue Müllinsel an ihr vorbei, einmal bestehen sie aus Zahnbürsten und Feuerzeugen, dann aus Fußbällen, dann aus Sexpuppen, dann aus Kajaks. Teilweise ist dieser Müll bis zu fünfzig Jahre alt. Wie Müllwirbel entstehen und wie sie sich bewegen ist der Forschung noch weitgehend unbekannt. Da Meere aber Strömungswirbel aufweisen, ist es zu erwarten, dass der Zivilisationsmüll, der in den Meeren landet, von diesen Wirbeln angezogen und angesaugt wird. Der größte marine Müllwirbel, der Great Pacific Garbage Patch, treibt tief im Stillen Ozean zwischen Hawaii und Kalifornien und hat die dreifache Größe von Frankreich. Er ist, genau genommen, eine Müllgalaxie. Auch insofern er von geringer Dichte ist und weniger aus schwimmenden Müllinseln, sondern hauptsächlich aus einer erhöhten Anhäufung von Mikroplastik besteht. Da der Great Pacific Garbage Patch zu weit draußen im Ozean schwimmt, will keine Nation die Verantwortung und die Kosten auf sich nehmen, ihn abzutragen. Umweltschützerinnen wollen deshalb, dass dem Great Pacific Garbage Patch der Status einer eigenen Nation zuerkannt wird, auf dass andere Nationen gemäß der UN-Charta sich in die Pflicht genommen finden, dieser bei ihren Umweltproblemen zu helfen. Als Nation heißt der Great Pacific Garbage Patch Trash Isles. Trash Isles hat einen eigenen Pass und eine eigene Währung, den Debris. :: Trotzig zieht anderswo The World ihre Schneise durch das Weltmeer. The World ist ein spezielles Wohnkreuzfahrtschiff für sehr Reiche, die sich dort für einige Millionen eigene Apartments erwerben können; eine schwimmende Gated Community für Geldadelige, die so der Welt entfliehen wollen. Oder eben ganz in ihrer eigenen und ganz in der übrigen anderen Welt gleichzeitig leben wollen: die namensgebende und identitätsstiftende Idee von The World ist es, dass man „die Welt bereisen kann, ohne wegzufahren“. The World ist immer irgendwo und folgt mit ihren Millionärinnen und Milliardären keiner festgelegten Route; das jeweils nächste Reiseziel wird „gemeinschaftlich“ ad hoc festgelegt. So zieht sie solitär ihre Bahnen. Es scheint, The World segelt immer am Horizont, ist ihr eigener Horizont, ein wandelnder, segelnder Horizont des Gesellschaftlichen, an dem die Zeichen und die Sinnhorizonte in ihrer Bedeutung verschwimmen und gleichzeitig erstarrt, erstarrend einem entgegentreten. Sie hat etwas Endzeitliches. Beobachter wollen dort einerseits eine gelöste Atmosphäre feststellen, in der sie „privilegierte Menschen zum ersten Mal erkennbar glücklich“ erleben; anderen fällt eine „tiefe Finsternis“ auf, von der das ganze Schiff durchzogen sei. The World, so bewirbt sie sich selbst,sei Vollendung und Destillat der Kunst, reich zu sein. :: In den Tiefen der polaren Grenzregionen schwimmen, in surrealer Langsamkeit, die Eishaie. Eishaie gehören zur Gattung der Schlafhaie; sediert wirkend bewegen sie sich träge mit höchstens einem Kilometer pro Stunde durch ihren extremen, energiearmen Lebensraum. Ächzend archaische Kreaturen, sind sie eine ungewöhnliche Begegnung, und wenig ist der Forschung bislang über die Lebensweise dieser unzugänglichen Tiere bekannt. Eishaie können offenbar bis zu acht Meter lang und vierhundert Jahre alt werden oder noch mehr; wohl aufgrund ihres stark verlangsamten Stoffwechsels. Damit sind sie die langlebigsten Wirbeltiere der Erde. Sie wachsen im Laufe ihres Lebens in sehr verzögertem Tempo und gelangen erst in einem Alter von mindestens hundertdreißig Jahren zur Geschlechtsreife. In der extremen, extrem exzentrischen Lebenswelt der Eishaie gehen die Uhren anders; und ist der Raum anders, ganz zu schweigen von den Licht-, ganz zu schweigen von den Druckverhältnissen, und den Temperaturen sowie der umgebenden Fauna. Man nimmt an, die schwunglosen Eishaie ernähren sich von Robben, die sie im Schlaf überraschen. Man hat aber auch schon Knochen von Eisbären in den Mägen von Eishaien gefunden. Mühsam ernährt der Eisbär andere, am kalten Polar. – All diese Möglichkeiten liegen innerhalb des Ozeans – und all diese Möglichkeiten liegen innerhalb des Geistes! Warum hat Adorno solche Schwierigkeiten, das zu erkennen – und die Welt damit geistig zu vereinigen? Wir wissen es nicht: es liegt auf dem Grunde seines Ozeans. Vielleicht war Adorno zu gesellschaftsorientiert. Nichts wirklich Authentisches mag dabei vielleicht rauskommen. Einzig solitäre Denkerinnen wie Montaigne, Kierkegaard oder Nietzsche sind für Adorno in der Lage, sich jenseits von Dialektik und Negativer Dialektik zu bewegen, und ein Wissen zu begründen, das kein Herrschaftswissen sei. Dabei sind solche Denkerinnen, genau genommen, keine echten Philosophen und, noch genauer genommen, gar keine Wesen der Gesellschaft; sie nehmen an den Ritualen der Gesellschaft gar nicht teil. Daher können (und wollen) sie in der Gesellschaft keine Herrschaft ausüben, und wenn doch, dann (wie im Fall von Montaigne (allerdings eventuell nicht im Fall von Kierkegaard oder Nietzsche!)) eine gute. Ich habe keine Herrschaftsansprüche gegen Kierkegaard, Hegel oder Nietzsche. Aber mein rastloses Erkenntnisinteresse beunruhigen sie. Alle geistigen Erscheinungen beunruhigen mein Erkenntnisinteresse. Ich muss durch diese Erscheinungen jeweils hindurch um sie, in ihrer Widerspiegelung durch mich, in meiner Vergegenwärtigung ihrer, zu pazifizieren. So studiere ich diese geistigen Erscheinungen möglichst genau und schreibe möglichst endgültige Texte über sie. Damit verschnüre ich diese beunruhigenden geistigen Erscheinungen zu Paketen und versenke sie auf den Grund meines Ozeans. Dort sollten sie mich, zumindest für eine ganze Weile, nicht mehr beunruhigen und nicht mehr stören. Irgendwann werden sie womöglich vereinzelt wieder hochkommen – dann verschnüre und versenke ich sie erneut. Alter Ozean, diese Ausführungen zu Adorno und seiner Negativen Dialektik sind dagegen einstweilen eher nur beiläufig, nur ein intelligentes Experiment. Überhaupt werden in den Tiefen des Ozeans nur Experimente durchgeführt; nichts was Anspruch auf endgültige Wahrheit erhebt. Adorno hat kaum angegeben, was endgültige Wahrheit eigentlich ist. So etwas wie endgültige philosophische Wahrheit kann man sich aber als etwas vorstellen, was über mehrere Dimensionen erscheint. Die endgültige philosophische Wahrheit ist etwas klar Abgegrenztes, das dabei von einem Saum des Experimentellen, des Traumhaften und Unbestimmten umgeben ist; einerseits ein klar begrenztes Territorium ihm gegenüber errichtet, andererseits in diesen abfällt, sich eventuell sogar in diesen flüchtet. Die Dialektik der Aufklärung war, in ihrer Paradoxie, ein Wahrheitsereignis. In ihr hat man dieses Kompakte und Bestimmende, die Komplexität Reduzierende auch; genauso wie das Irreale, das Fliehende, das Glimmende aus dem höheren Raum, das durch die allgegenwärtigen morschen Ritzen der neuzeitlichen Industriewelt ebenso unsicher und verklärt und sich mit sich selbst nicht identisch fühlend wie wütend und protestierend zu uns Gegenwärtigen und Zukünftigen hinein scheint. Das Reale und das Imaginäre bei der Dialektik der Aufklärung hat man auch in ihrer Sprache. Die Sprache der Wahrheit streng bestimmend und lockernd zugleich. Die Sprache der Wahrheit ist fest und robust. In der Sprache der Wahrheit werden die Schrauben angezogen. In einer anderen Dimension der Konstruktion werden sie gelockert. Die Sprache der Wahrheit errichtet strenge und undurchdringliche Verstrebungen aus Graphen. Nach hinten galoppiert sie auf einer experimentellen Fluchtlinie davon. Die Negative Dialektik ist ein ähnliches Unterfangen, aber man muss sie in höheren Dimensionen betrachten, dann realisiert sich ihr eigentlicher Sinn. Ich grüße dich, alter Ozean!

Veröffentlicht am 11. September 2022, Adornos hundertneunzehntem Geburtstag

Abschließende Bemerkungen zu Hegel

Phänomenologie des Hegelschen Geistes

Leicht beieinander wohnen die Gedanken,

Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.

Schiller, Wallenstein

In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die aus neun Sätzen/Thesen und deren Begründung besteht, konstatiert Kant: Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft…. d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung… (Fünfter Satz, S.39) Und fügt sogleich hinzu: Dieses Problem ist zugleich das schwerste, und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird. (Sechster Satz, S.40) Dass er das konstatiert, passiert in ideeller, in geschichtsphilosophischer Absicht. In der empirischen Welt scheint in erster Linie das Chaos zu regieren, und die Geschichte scheint keinem vernünftigen Plan zu folgen. Aufgabe der Philosophin kann es aber nicht sein, davor zu kapitulieren. Die Voraussetzungen in jenem Jahr 1784 sind so schlecht für ein solches Unterfangen nicht. Die menschliche Vernunft war als bedeutende Macht erkannt, welche Wissenschaft generiert, neue Rechtsauffassungen, neue Politik, welche in die Welt eingreift und sie zu verbessern imstande ist. Der Mensch wurde autonom, die Geschichte veränderbar. Das Leitziel des menschlichen Geschlechts konnte dadurch ein anderes werden: Nicht mehr, dass es sich, im Rahmen einer göttlichen, festgefügten Ordnung, bloß reproduziere, sondern, dass es sich auf einer höheren Ebene, einem höheren Qualitätsniveau der geschaffenen und zu schaffenden Lebenswelt fortpflanze. Die Anlagen dafür lägen im Menschen – qua seiner Vernunft – selbst, und: Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat. (Dritter Satz, S. 36) Jetzt aber kommt`s: Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung bringen wird. (Vierter Satz, S.37) Nicht die Harmonie, sondern der Antagonismus, der Krieg ist der Vater aller Dinge und der Entwicklung aller inneren Anlagen. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen… (ebenda): Dass der Mensch also ein Wesen der Gesellschaft ist und ihrer bedarf, wie gleichzeitig ein Einzelwesen, das seine Vernunft und Kreativität, seine Waghalsigkeit und sein Abenteurertum nur dann richtig entfalten kann, wenn es sich vereinzelt und aus der Gesellschaft ausbricht. Diese Ungeselligkeit sei, was Erfindungen, Kunst, Technologie etc. ermögliche, mithilfe derer sich die Gesellschaft weiterzuentwickeln imstande ist. Die zwischenmenschliche Konkurrenz und die Rivalitäten, das hartnäckige Ringen mit der Natur und um Kultur – und (eventuell) weniger die Beschaulichkeit – seien dafür die eigentlichen Triebfedern. Der Konflikt sei der Motor der Geschichte. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. (S.38f.) …. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwicklung der Naturanlange antreiben, verraten also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe. (S.39) Die Natur selbst sei, wenn man so will, vernünftig, beziehungsweise schaffe eine Basis für einen vernünftigen menschheitsgeschichtlichen Verlauf, eine allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Entwickeln könne der vernunftbegabte Mensch seine guten, vernünftigen Anlagen am Besten dann, wenn er ausreichend „ungesellig“ und frei sein kann, d.h. keiner niederdrückenden Autorität unterworfen. Damit die Gesellschaft keiner niederdrückenden Autorität eines Leviathans unterworfen sei, sei eben die Erreichung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft…. d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung notwendig. Eine vernünftige Ausformulierung und Begrenzung der Rechte und Pflichten des einzelnen Menschen seitens der Gesellschaft, eine vernünftige sittliche Verinnerlichung der gesellschaftlichen Prinzipien seitens des Individuums. Eine vernünftige und ethisch nachvollziehbare Mediation von Konflikten zwischen und für vor dem Gesetz gleichen Rechtssubjekten; eine produktive Instrumentalisierung des „Antagonisms“ zum Zwecke der allgemeinen Glückseligkeit und des Fortschrittes. Die Schaffung eines solchen Menschentypus und die Schaffung eines solchen Gesellschaftstypus sei Sinn und Verwirklichung der allgemeinen (universalen) Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Gleichsam folge dieses nur dem Plan der Natur und sei die Verwirklichung der durch die Natur gegebenen Anlagen. Kants Schrift ist kurz und skizzenhaft und mit: Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie danach abzufassen, beendet Kant bescheiden seine Einleitung zu seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Offensichtlich war dieser Mann aber dann Hegel. – Zwei Jahrhunderte später (1970) wird Michel Foucault in seiner berühmten Inauguralvorlesung am Collège de France (veröffentlicht als Die Ordnung des Diskurses) dann konstatieren: Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muss man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muss ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo (Foucault S.45) – und es ist bemerkenswert, dass Foucault hier Hegel so prominent, gar gleichsam zentral erwähnt: da sich Foucault in seiner eigenen Philosophie mit Hegel kaum explizit beschäftigt (er erwähnt Hegel in Bezug auf seinen geschätzten Lehrer Hyppolite, der Hegel-Exeget war: aber das, was er meint, ist von viel größerem Umfang und betrifft die moderne Philosophie selbst). In einer anderen Hinsicht allerdings scheint sein gesamtes geistiges Ringen als eines mit Hegel: dem Wahnsinn/der Unvernunft als Gegenstück zur Vernunft eine Stimme zu verschaffen; gegen „Einschließungssysteme“ zu rebellieren; Aufklärung nicht nur als Entwicklung zur Freiheit hin zu fassen sondern zu neuen Formen der Unterdrückung, die tief ins Subjekt hineinreichen; die Wissenschaft vom Menschen und den Humanismus selbst fragwürdig erscheinen zu lassen (und am Ende dann doch erst wieder „das Subjekt“ und die Notwendigkeit zu seiner Selbstpflege zu entdecken). Und dieses Ringen mit Hegel – direkt oder indirekt – ist vielleicht eines (wenn eben nicht sogar das), das die neuere Philosophie – und noch viel mehr als das: die menschlichen Hoffnungen auf eine Befreiung des Individuums und einer zur Vernunft und zur Harmonie bestimmten Wirklichkeit – an sich kennzeichnet. Das, was man in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht hat, und das, was man bei Hegel hat, ist im Wesentlichen das Programm der Moderne. Die Epoche eines vernunftbegabten, vernunftfähigen, durch Bildung zur Vernunft geführten Subjekts, das in einen vernünftigen, progressiven geschichtlichen Verlauf eingelassen ist, bzw. fähig ist, diesen zu als solchen zu gestalten – oder zu verunstalten —: und das aus viel komplexeren Motiven als aus bloßer „Unvernunft“ oder „menschlicher Triebnatur“: sondern aus der womöglich zweifelhaften Natur der „Vernunft“ selbst… – ist nicht vielleicht sogar die ewige Verunstaltung das eigentliche Thema der Menschheitsgeschichte? Kant selbst hat mit Skeptizismus gegenüber dem empirischen geschichtlichen Verlauf als realen Kontrast zu seiner Idee von einem nicht gespart: Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll, steht da am Anfang, und: Denn was hilft´s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält. – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Entwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen? steht da am Ende(S.49) (nur solche Gesellschaften aber würden noch Jahrhunderte später bewundert, studiert und zu Rate gezogen werden, die sich in weltbürgerlicher Absicht zu verwirklichen vermochten, lautet dann das finale Verdikt). Und auch Hegel selbst war ein Luftikus und bloßer Optimist nicht: Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr, denn sie sind Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.42) – Noch im selben Jahrhundert Hegels wurden wirkungsmächtige philosophische Zweifel an der Vernünftigkeit der Welt formuliert, oder aber Individualitäten und Partikularitäten artikuliert, die sich schwer unter ein Allgemeines oder eben eine allgemeine Idee subsumieren lassen (am Bekanntesten durch Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche). Marx stellt – noch wirkungsmächtiger, wie sich erweisen sollte – Hegel „vom Kopf auf die Füße“ und formuliert den dialektischen Materialismus. In der Hochmoderne treten – als Schatten zum Fortschrittsglauben – Pessimismen auf, angesichts eines scheinbaren Übermächtigwerdens des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts und einer scheinbar daraus folgenden „Entfremdung“ des Menschen: einer Aufklärung, einer Vernunft und eines allgemeinen geschichtlichen Verlaufs, die heteronome Logiken und Geister produzieren, die man nicht mehr los wird. Heidegger ruft inmitten dessen zu einem „besinnlichen Denken“ auf; Adorno und die Frankfurter Schule zu einer „Negativen Dialektik“ (der Aufklärung). Foucault selbst gilt, mit seiner Liebe für von der Geschichte und von „der Macht“ unterdrückten „Diskursen“, die er sichtbar machen will, und anhand derer er Gegenentwürfe zur „Macht“ entwickeln zu gedenkt, als exemplarischer Vertreter der Postmoderne. Der scheinbar totalitäre Systemdenker Hegel fungiert der „Postmoderne“ als Feindbild; die „Postmoderne“ selbst sieht sich als Versuch, solch totalisierendem und systematisierendem Denken zu entkommen – wobei Foucault zumindest intelligent (oder „dialektisch“) genug ist, zu erkennen, welche Schwierigkeiten da lauern: Kann man noch philosophieren, wo Hegel nicht mehr möglich ist? Kann es noch eine Philosophie geben, die nicht mehr hegelianisch ist? Ist das, was in unserem Denken nicht hegelianisch ist, notwendigerweise auch nicht philosophisch etc. bohrt er weiter (Foucault S.46) Oh ja! – ist Hegel denn nicht die Achse, entlang nicht nur die neuere Philosophie verläuft, sondern das (zumindest westliche) Denken und Hoffen insgesamt? Hegel: der archetypische Philosoph – mit der archetypischen Philosophie – der jüngeren (industrialisierungszeitalterlichen) Moderne. Ist also unser industrialisierungszeitalterliches Denken – und unsere Politik – etwas, das bei Hegel vorgezeichnet wird? Foucault suggeriert in seiner Inauguralvorlesung: Hegel sei ein Erfahrungsschema der Modernität. Sogar ich selbst habe damals (daran anknüpfend) meine Diplomarbeit Der Bildungsbegriff als Erfahrungsschema der Modernität genannt. Es ging darin eben um das Konzept eines vernunftfähigen, durch Bildung zu Vernunft und Humanität gebrachten Subjekts, das in einen als progressiv vernünftig angenommenen bzw. erhofften modernen geschichtlichen Verlauf eingelassen sei, als eine Art Leitbild, über die sich die Geschichte der modernen Philosophie eventuell nachzeichnen ließe. Nichts, von dem was in meiner Diplomarbeit drinnen steht, ist dabei wichtig. Es ist eine akademische Arbeit, und das Thema akademisch zu verstehen und dessen letzte Ausläufer in der postmodernen Philosophie zu verstehen, ist ja auch gleichsam eine Kinderjause. – Die Mysterien der Philosophie Hegels zu verstehen, die tiefsinnigen, hochgradig ahnungsvollen Mysterien des absoluten Geistes: das ist etwas – wenn er sehr viel Glück hat – für den reifen Mann. Es ist sehr viel schwieriger und benötigt Jahrhunderte. Die postmoderne Philosophie z.B. erscheint knallig, ein wenig schwer verständlich in ihrer Paradoxie, und sie ist anziehend und sehr charismatisch. Und sie ist relatives und relativierendes Wissen; ein Wissen eben für junge, unvollständige und relative Leute. Hegel ist überhaupt nicht charismatisch; er ist ein Opa und einer der furchtbarsten Schriftsteller der Philosophiegeschichte. Aber seine Weisheit ist eben tatsächlich gleichzeitig uralt – und älteste Weisheit – wie sie zukünftig ist. Es ist eine Sache, in das Zeitalter einzudringen und eine neue Lösung, eine neue Darstellung, Heuristik, Handlungsempfehlung etc. für es zu finden (so eben z.B. bei der Postmoderne). Eine andere ist, durch sein Zeitalter hindurch alle Zeitalter zu durchdringen und seinen Geist dagegen in Stellung zu bringen – wie man diese Bewegung eben bei Hegel hat. Versuchen wir also diese Bewegung Hegels nachzuvollziehen, versuchen wir ihn einzuholen und ihn – ein verwegenes Unterfangen! – eventuell zu überholen.

Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form, schreibt Marx 1843 an Ruge; damals zutiefst verstrickt in kritische Auseinandersetzung mit Hegel. Tatsächlich ist ziemlich viel von dem, was der Mensch je gemacht hat, vernünftig, auch wenn es nicht so scheint. Irrationale Rituale, Etiketten, Vorschriften, Ahnenkulte, Traumdeutungen, Versuche, die Natur zu beherrschen oder die Zukunft vorherzusagen sind Ausflüsse von Vernunft in traditionellen, geschlossenen Gesellschaften, in denen der Mensch wenig Macht über die Natur hat und auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und hierarchische Arbeits/Geschlechterteilung angewiesen ist, um überleben zu können. Eine Furcht vor Innovation und Veränderung, die das fragile, stets an der Kippe stehende Gleichgewicht stören und als scheiternde Versuche womöglich ganz zusammenbrechen lassen. Das ist freilich recht idealtypisch. Je besser eine Gesellschaft aber darin wird, die Natur zu beherrschen – durch neuzeitliche Technologie – desto eher bestehen Chancen, dass sie von einer geschlossenen zu einer offenen (vernunftorientierten) Gesellschaft übergeht. Inwieweit diese Möglichkeiten ergriffen werden, scheint nicht zuletzt aber auch vom Denken abzuhängen. China war  bekanntlich mit etlichen Innovationen früher dran als Europa, hat diese Innovationen aber nicht in Technologie umgesetzt. Bis dass sich China an der westlichen (technologischen) Vernunft ein Beispiel nahm, vergingen Jahrhunderte einer eigentümlichen, resistenten nationalen Lethargie. Abgesehen von anderen Faktoren für diese Lethargie und mangelnde Innovationsfähigkeit scheint die chinesische Form der Vernunft zwar eindrucksvoll, aber nicht als das, was wir heute im Westen als Vernunft, im Sinne von rationalem, logischem, wissenschaftlich orientiertem Denken verstehen, und daher auch nicht unmittelbar anschlussfähig an eine solche. Eine (traditionelle) chinesische Vernunft denkt (wenn ich mich nicht allzu stark irre) vorwiegend in Analogien, Vergleichen, Nuancen, macht Schlussfolgerungen von Zusammenhängen abhängig und hat einen Fimmel mit der Ritualistik. Die Moral ist undurchsichtig und zweideutig. (Eben vielleicht auch wegen dieser Opazität des Denkens und des moralischen Empfindens wird seit jeher von der Regierung auf striktes Obrigkeitsprinzip und Überwachungsstaatlichkeit gesetzt.) Es ist kein Reich des logischen Schlussfolgerns und auch keines des innovativen Denkens. China ist ein riesiges Reich, das auf (kollektivistischen) Reisbau setzt und das eine ganz andere Gesellschaftsstruktur hat, als z.B. Europa es jemals hatte. Es war – aufgrund der Bedrohung durch innere und äußere Unruhen, und eben aufgrund seiner unübersichtlichen Größe – stets bemüht, sich eine hochgradig statische Form zu geben. Es ist, insgesamt, etwas, was ziemlich anders ist als das, was wir im Westen gewohnt sind. Hegel übrigens hat China als die älteste und auch weit in der Vergangenheit bereits ausformulierte und nicht mehr entwicklungsfähige Zivilisation betrachtet. In jenen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sagt er dann, eben ähnlich wie Marx: Die Vernunft, von der gesagt worden, daß sie die Welt regiere, ist ein ebenso unbestimmtes Wort als die Vorsehung – man spricht immer von der Vernunft, ohne eben angeben zu können, was denn ihre Bestimmung, ihr Inhalt ist, wonach wir beurteilen können, ob etwas vernünftig ist, ob unvernünftig. (S.28) Dies angeben zu können: darum dreht sich nun die gesamte Philosophie Hegels. – Dass die Vernunft, dass der Geist die Welt regiere, ist tatsächlich die philosophische Erzählung Hegels. Die Welt (zumindest, soweit sie uns was angeht: also als unsere Lebenswelt) sei identisch mit dem Fortschreiten und dem sich Ausdifferenzieren des Geistes, also der geistigen Durchdringung der Natur/der Objektivität durch den Menschen und der spiegelbildlichen geistigen Selbstdurchdringung des Menschen selbst. Am Ende des Prozesses stehe eine große Herrlichkeit der Selbstrealisation des absoluten Geistes und des absoluten Wissens: in Form einer guten und gerechten und kompetenten Gesellschaft und Staatlichkeit, die von guten und gerechten und kompetenten Individuen getragen werden. Denn die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt. (ebenda S.73) In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte beschreibt Hegel die Weltgeschichte über die Kulturräume hinweg als einen solchen Stufengang einer Menschheit, die sich durch ihr Eingreifen in die Natur und ihre Entwicklung von Kultur fortwährend geistig ausdifferenziert. Ursprünglich (in Afrika) habe der Mensch durch seine mangelnden Manipulationsmöglichkeiten hinsichtlich der Natur auch wenig Wissen über sich selbst, daher wenig Subjektivität und wenig Sittlichkeit. Die ersten Hochkulturen und Zivilisationen bestehen darin, dass sich ein objektiver Geist (also ein gewisses Wissen über die Manipulation der Natur und eben eine Kultur) innerhalb ihrer realisiert hat, der jedoch noch primitiv ist. Dieser nimmt dabei die Form einer starren Ritualistik an (in der chinesischen Zivilisation) oder aber einer von Magie verzauberten Verträumtheit und eines Halluzinierens (in der indischen Zivilisation). Die Subjektivität bleibt dadurch inexistent bzw. inkompetent. In der antiken persischen Zivilisation erscheint mit dem Zoroastrismus zum ersten Mal eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse und damit für eine rationale Sittlichkeit (und damit auch für eine Rationalität des Denkens), jedoch fehlt noch die subjektive Innerlichkeit (an die später im Christentum appelliert wird). Im antiken Griechenland treten zum ersten Mal eine echte Subjektivität beim Menschen hervor und eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Welt. Es ist eine Kultur des Logos, die jedoch gleichsam noch von einer elementaren Unreife auf der Subjekt- und auf der Objektseite bestimmt ist und von einer mangelnden Durchsichtigkeit gegenüber sich selbst (der innere Daimon und das Orakel sind nach wie vor die bestimmenden Mächte). Das antike Griechenland gleiche einer Jugendzeit der Menschheit. Im antiken Rom dann gleichsam der Eintritt in das Erwachsenenalter: indem der subjektive Mensch wieder einer objektiven gesellschaftlichen Maschinerie unterworfen wird – dieses Mal allerdings als autonomes Rechtssubjekt. Was Rom an die Zukunft weitergibt, ist das Römische Recht. Im germanischen Volk der Neuzeit – seit alters her ein vergleichsweise freies Volk – schließlich realisiert sich eine freie, vernünftige und sittlich autonome Subjektivität, die einer vernünftigen und ausdifferenzierten Objektivität und Sittlichkeit gegenübersteht bzw. mit ihr gleichsam verschmilzt: Die Weltgeschichte stellt nun den Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar. (ebenda S.77) Jetzt wirft man Hegel gerne vor: dass seine Philosophie und Geschichtsauslegung nichts anderes sei als eine des (zu seiner Zeit) triumphierenden Bürgertums und eine Legitimation seiner Herrschaft. Zum einen ist das freilich ein Vorgang, eine Transformation von größter Tragweite und das Aufstoßen eines Tors zu einer völlig anderen, von der Vergangenheit verschiedenen Zukunft. Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in die Arbeit seiner Umgestaltung. (Phänomenologie des Geistes S.18) Indem die Zukunft anders wird, ergibt die Vergangenheit und ergibt die Geschichte einen neuen Sinn, bzw. – so die Hoffnung – enthüllt sich endlich deren Sinn: Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen (Marx) bzw. die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. (Grundlagen der Philosophie des Rechts S.28) Zum anderen könnte man geneigt sein, Hegel nichtsdestotrotz, oder eben gerade deswegen, die Relativität seines eigenen Standpunktes und Blickwinkels vorzuwerfen. Dessen ist er sich im Übrigen auch selbst im Klaren: Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.26)  (Woran man wieder sieht, dass Philosophien und philosophische Systeme bzw. die Artikulationen der Philosophinnen dann doch immer wieder komplexer sind reflektierter sind, als die Ideologien, die sich eventuell daraus ableiten lassen.) Allerdings gibt es nichts, was für sich genommen verhindern würde, dass Hegel nicht bloß aus einer relativen historischen Situation heraus philosophieren würde, sondern eben aus einer privilegierten, ja vielleicht sogar aus einer absoluten historischen Situation heraus. Einige historische Situationen haben wohl mehr Wahrheit als andere (mit Kant gesprochen wären das eben historische Situationen, in denen sich die allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht manifestiere). In einigen historischen Situationen komme die Idee, also die Übereinstimmung des vernünftigen Begriffs mit der Wirklichkeit zum Vorschein: und das sind die einzigen historischen Situationen, die geschichtsphilosophisch Sinn machen, und die Epiphanien der (geschichtlichen) Wahrheit sind. Und die Wahrheit habe eine höhere Qualität und sei von einer höheren Ordnung als die Unwahrheit, oder die Abweichung von der Wahrheit: Aber die Philosophie soll keine Erzählung dessen sein, was geschieht, sondern eine Erkenntnis dessen, was wahr darin ist, und aus dem Wahren soll sie ferner das begreifen, was in der Erzählung als bloßes Geschehen erscheint. (Wissenschaft der Logik II S.260) – Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektiv Wahre oder das Wahre als solches. (ebenda S.462) – Sein hat die Bedeutung der Wahrheit erreicht, indem die Idee die Einheit des Begriffes und der Realität ist; es ist also nunmehr nur das, was Idee ist. (ebenda S.465) – Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie. (ebenda S.549) Die Geschichte sei ein Prozess, in dem sich einzeln aufblitzende Wahrheitsmomente ins Verhältnis setzen – der Rest ist das übliche Chaos und daher (geschichtsphilosophisches) Schweigen. Ein langwieriger, allerdings geradezu notwendig langwieriger Vorgang: Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat. Indem seine Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewußtseins versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene Dasein – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt. (Phänomenologie des Geistes S.591) Hegel-Exeget Alexandre Kojève sah in der bürgerlichen Gesellschaft und der liberalen Demokratie die endgültige neue Welt und Geistesgestalt; Francis Fukuyama hat nach dem Ende des Kalten Krieges dasselbe getan – unter Berufung auf Hegel, den (Quasi-)Propheten. Einstweilen steht das auf dem Prüfstand. Aber so wie es aussieht, sind die Chancen dafür nach wie vor gut. – Eine unkritische Haltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft kann man Hegel freilich vorwerfen; eine Ausblendung dessen, dass sie eine Klassengesellschaft ist/war. Hegel geißelte zwar die Exzesse der bürgerlichen Gesellschaft (dass sie übermäßigen Reichtum und übermäßige Armut produziere und die Menschen dadurch gleichermaßen verrohe), weiter ging er aber nicht. Er propagierte die Freiheit innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft, philosophierte aber weniger darüber, inwieweit die Freiheit der einen sich nicht auf der Unfreiheit der anderen erhebe (Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen – so Marx) Und dann eben Hegel  als „preußischer Staatsphilosoph“ von der Obrigkeit Gnaden – was man ihm immer wieder vorgeworfen hat. Eine Staatsgläubigkeit, ein unterwürfiges Duckmäusertum gegenüber der Obrigkeit hat man Hegel immer wieder unterstellt, dessen Philosophie in nichts anderem bestehe, als dieses Duckmäusertum gegenüber der staatlichen Obrigkeit zu rationalisieren und zu spiritualisieren. Dann wiederum gilt Hegel als Philosoph der Aufklärung, des (Neu)Humanismus und der Freiheit. Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – sagt er(Grundlinien der Philosophie des Rechts S.398) Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei – sagt er aber eben – und vor allem – auch(ebenda S.403) Das Zentrum dieser (scheinbaren) Dichotomie findet sich bei Hegel selbst, der sowohl konservativ und bewahrend (genauer gesagt – denn das ist dann wieder was anderes –: auf Harmonie bedacht) war, als auch eben dezidiert progressiv, liberal und eben auch revolutionär. Und so sollte sich der Hegelianismus schnell in einen (progressiven) Links- und einen (konservativ-reaktionären) Rechtshegelianismus verzweigen. Vielleicht ist das auch ein Indiz dafür, wie universal Hegel war, und wie sehr darauf bedacht, alles und jeden zu seinem Recht kommen zu lassen, und eben auf eine ganzheitliche Perspektive. Und sicherlich hatte er Recht! Denn, wahrlich ich sage euch: Die beste gesellschaftliche Ordnung ist die einer liberalen demokratischen, vernünftigen und rechtsstaatlichen Gesellschaft, in der die freien Individuen hinreichend Gemeinsinn und Disziplin verinnerlicht haben um sich als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen zu begreifen und dessen Wohlergehen und Fortschritt von sich aus zu befördern gedenken (am idealtypischsten hat man das in Westeuropa, und vor allem in der Schweiz). Ich glaube nicht, dass es innerhalb des Bekannten und des Vorstellbaren eine bessere Lösung geben kann dafür, wie Menschen und Gesellschaften ihre Probleme lösen. – Hegel ist letztendlich Verkünder einer vernünftigen offenen Gesellschaft (in der das Subjekt das Gesetz in sich trägt: den Spirit der Vernunft und der Rechtsstaatlichkeit verinnerlicht hat). Bemerkenswerterweise ist es gerade Popper – und eben gerade in seiner Schrift von der Offenen Gesellschaft und ihrer Feinde, der Hegel delegitimiert und der gegen ihn polemisiert, wie es in der Philosophiegeschichte – bei aller anderen Kritik an Hegel – nur Schopenhauer getan hat (dessen irrationale und paranoide Injurien gegen Hegel er im Übrigen auch breit und genüsslich zitiert und gegen Hegel in Stellung bringt). Bestenfalls einen Vordenker des Faschismus kann Popper in Hegel erblicken – eher aber noch, und in erster Linie, einen Scharlatan, der als Philosoph „völlig unbegabt“ gewesen sei. Viel Feind, viel Ehr´. (Der rationale Kern der Popperschen Polemik bezieht sich allerdings auf Hegels Historizismus und Geschichtsdeterminismus. Philosophien und Ideologien, die geschichtsdeterministisch sind, sind tatsächlich, zumindest implizit, anmaßend, irrational, fremdenfeindlich und totalitär: Weil sie behaupten, den zukünftigen geschichtlichen Verlauf zu kennen und was in der Geschichte siegen werde und was auf deren Misthaufen lande (im Zusammenhang womit sie dann wohl ungute Präferenzen ausprägen werden gegenüber diesem und ungute und vorurteilsmäßige Ablehnung gegenüber jenem). Irrational ist das deswegen, weil zukünftige Entwicklungen nicht gewusst werden können. Das scheint jedoch eher Marx auf den Kopf zu fallen als Hegel.)

Das ontologische Problem … welches Hegel aufwirft: Wie ist Metaphysik möglich? Wie kann die zeitliche Realität an der ewigen Ordnung teilhaben? Wie kann diese Ordnung in ihr erscheinen beziehungsweise sich ereignen? (Zizek, S.57) Hegel ist ein tiefsinniger Philosoph und das bedeutet, dass er ein Metaphysiker ist. „Metaphysik“ ist ein ein wenig seltsamer Begriff. Eine Verlegenheitslösung für unser Unwissen und unsere mangelnde Orientiertheit – was sinnigerweise schon darin seinen Ursprung hat, als er auf ein einfaches Editionsproblem zurückgeht: Insofern sie nicht wussten, unter welchem Titel sie die entsprechenden Schriften von Aristoteles herausgeben sollten, die „nach“ seinen physikalischen Schriften kamen, editierten seine Schüler sie also als „Metaphysik“ („nach/hinter der Physik“). Eine sinnige Lösung, in all ihrer Vieldeutigkeit (inklusive derer, dass sich „dahinter“ vielleicht nichts als eine bloße Trivialität verberge). „Metaphysik“ bezeichnet aber ein grundlegendes Streben des Menschen, „hinter“ die Dinge blicken zu wollen, zu den „letzten Dingen“ gelangen zu wollen, den Vorhang zurückziehen zu wollen, der die Welt der Erscheinungen vermuteterweise bloß ist, um die „wahre“ Realität freizulegen u. dergl. Sie ist, oder verweist auf, durchaus nichts Banales, und ist, hoffentlich, ein Streben in edler Absicht. Metaphysik – wollen wir das also so fassen – ist dabei zunächst Ontologie: Sie befasst sich mit der Frage nach dem „wahren“ Charakter des Seins. Im Zuge der gewaltigen Fortschritte in der Philosophie im Laufe der Jahrhunderte, Jahrtausende stellt sich spätestens seit Kant außerdem die Frage, inwieweit unser Erkenntnisapparat überhaupt hinreichend sein kann dafür, dass wir dieses „wahre“ Sein überhaupt erkennen können, beziehungsweise inwieweit unsere Erkenntnisse über das Sein nicht immer, zumindest irgendwie, durch unseren Erkenntnisapparat präformiert und deformiert bleiben. Metaphysik ist somit also auch Epistemologie: die Durchleuchtung und Überprüfung unseres Erkenntnisapparates. Eine Komponente der Deontologie hat die Metaphysik noch dazu. Insofern sie die Frage stellt: Was ist der richtige Umgang, den ich als Erkennender (oder Unwissender) mit dem Sein herzustellen habe? Inwieweit verpflichtet mich das Sein (und mein Mensch-sein) zu diesem und jenem Verhalten gegenüber dem Sein (und dem Menschen)? Schließlich noch die Eschatologie: Welchen „letzten“ „Sinn“ machen die Dinge, macht das Sein (in Bezug auf uns)? Mithilfe der Naturwissenschaften – mithilfe der „Physik“ – konnte man im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende tolle Fortschritte erzielen im Hinblick auf die „ontologische“ Fragestellung (weswegen dann hier und da postuliert wird, Metaphysik sei nunmehr überflüssig oder ein Relikt). Aber Metaphysik involviert eben mehr als die bloße Erhellung der objektiven Existenz, sondern fächert sich eben in mehrere Problemstellungen auf. Sie ist – wenn man sie vom Organisationsprinzip der Wissenschaften betrachtet – „multidisziplinär“. Sie befasst sich weniger mit der Feststellung der letzten objektiven Existenz sondern – vor allem – mit der subjektiven Eingelassenheit des Menschen in die objektive Realität und wird daher, in ihrem Drang „objektiv“ haltbare und definitive Erkenntnis über das „wahre Wesen“ des Seins zu produzieren auch immer wieder auf das subjektive Element zurückgeworfen. Somit hat die Metaphysik immer auch ein wenig einen Schleifencharakter, und entzieht sich dem Ideal einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis – obwohl sie dieses eben auch und vor allem verfolgt: Sie will zu einer definitiven Feststellung der „tiefsten“ (Lebens)Wirklichkeit kommen. – Metaphysik ist spekulativ. So wie Hegels Philosophie. Sie hat was Reflexives. So wie Hegels Philosophie. Sie versucht ihre (Selbst)Referenzialitäten und inneren Abhängigkeiten irgendwie zu überkommen und aus dem Relativen zu Absolutem zu gelangen bzw. die absolute Struktur dieser Referenzialitäten und Abhängigkeiten freizulegen. Sie ist ein transzendentes Bestreben … das letztendlich im Transzendentalen, Unhintergehbaren, nicht mehr Transzendierbaren ankommen will, dieses bestimmen will. Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie … in den Teilen verloren treibt es den Verstand zu seiner unendlichen Entwicklung von Mannigfaltigkeit, der, indem er sich zum Absoluten zu erweitern strebt, aber endlos nur sich selbst produziert, seiner selbst spottet. Die Vernunft erreicht das Absolute nur, indem sie aus diesem mannigfaltigen Teilwesen heraustritt. (Jenaer Schriften S.13) In der Philosophie (und darüber hinaus) geht es darum, vernünftige Unterscheidungen zu treffen zwischen den unterschiedenen, unterscheidbaren Charakteristika in der Welt. Ein Paradigma der allumfassenden Verbundenheit von allem hat man bestenfalls in einer atavistischen, animistischen (Geistes)Welt, in der es keine Philosophie gibt. Genauso ist es aber Intention der Philosophie, verborgene Zusammenhänge zwischen dem (scheinbar oder tatsächlich) Getrennten zu entdecken, verbunden mit der (ebenfalls gleichsam atavistischen) Hoffnung, zu einer Art „Absolutem“ vorzustoßen, das (voraussetzungsloser) Ursprung jener Getrenntheiten ist, oder aber entelechische/teleologische Zusammenführung und Überwindung ihrer, oder eben etwas von den Getrenntheiten und Relativitäten Abgelöstes und Eigenständiges. Letztendlich ist „das Absolute“ ein weiterer Verlegenheitsbegriff für etwas, wo unser Denken etc. nicht mehr tatsächlich hingelangen kann, eine Projektion – allerdings keine, die ein Irrlicht wäre, sondern ein tatsächlicher Fluchtpunkt unseres Denkens und unseres Empfindens. Wenn man so will, ist es ja genau die analytische „Entzweiung“, der Widerspruch, der Gegensatz, die Negation, der Antagonismus – also eben das, was in der Hegelschen Philosophie das zentrale Movens ist – der das Bedürfnis nach (vernünftiger) Versöhnung – wenn möglich im „Absoluten“ – erst recht mit sich bringt —- will man nicht in eine agonale oder irrationale Weltsicht und Geschichtsauffassung (wie Schopenhauer oder Nietzsche) verfallen. Das war aber Hegels Absicht eben nicht. Hegels Philosophie ist eine gleichsam metaphysisch grundierte (also ins tiefste Sein eingeschriebene bzw. aus ihr heraus wirksame) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Über den real existierenden (oder als solchen empfundenen) Gegensatz strebt er dessen Vereinigung in einer – dann eben – höheren Ordnung des Seins an: die sich – bei Hegel – mit ebenjener Vereinigung aber eben erst errichtet. In der Philosophie wird gezeigt, daß die Idee zum unendlichen Gegensatze fortgeht … Den absoluten Zusammenhang dieses Gegensatzes zu fassen, ist die tiefe Aufgabe der Metaphysik. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.41) Metaphysik ist, wie erwähnt, eine (letztendlich) subjektive Feststellung der (letztgültigen) objektiven Wirklichkeit. Sie hat daher den Charakter einer subjektiven Interpretation der objektiven Wirklichkeit (ist, genau gesagt, darin eben auch gefangen) – was sie aber möglichst aufheben und unter sich lassen will: Sie will von einer (wackeligen) Interpretation zu einer (robusten, unumstößlichen) Feststellung gelangen. Hegel versucht in seiner ersten ernsthaften philosophischen Arbeit, der so genannten „Differenzschrift“ (Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie von 1801), die Trennung von Subjekt und Objekt hinter sich zu lassen. Die verbindende Instanz sei der Geist, in dem „Subjekt und Objekt eins“ sind. Dazu ist es notwendig, dass das Subjekt eine korrekte Anschauung bzw. einen korrekten Begriff vom Objekt entwickelt. Zur Inangriffnahme dieser Tätigkeit wird es durch die herausfordernde Präsenz des (von ihm getrennten) Objekts motiviert, welches es verstehen und beherrschen will. So arbeiten Subjekt und Objekt gleichermaßen zusammen, um sich im „Geist“ zu treffen und sich kollegial zu vereinigen. Über das Verstehen und Beherrschen des Objektes wird der subjektive Geist des Subjektes auf eine höhere Ebene gehoben und manifestiert sich nicht zuletzt als „objektiver Geist“ (der Wissenschaft, Rechtsvorschriften, Kultur etc.), der wiederum dem Subjekt mit einer gewissen Übermacht, als etwas historisch ihm Vorgelagertes gegenübertritt und es präformiert. Der „objektive Geist“ ist ein Hybrid zwischen Subjekt und Objekt und begründet Eigenlogiken und eine relativ autonome Sphäre. Über den selbstreflexiven „absoluten Geist“ durchdingt das kompetente Subjekt dann auch den objektiven Geist und stellt – über Philosophie, Kunst und Religion – neue Inhalte des objektiven Geistes her. Bei Hegel ist die Weltgeschichte (genauer gesagt die Welt an sich) eine Dynamik der Entfaltung von Geist, absolutem Wissen und Weltgeist. Das ist ihre letztendliche – und damit auch „metaphysische“ – Struktur. Die Metaphysik wird zur Logik (im Hegelschen Sinne: als Selbstentfaltung eines Logos über seine innere Dialektik), Logik wird zur „spekulativen Metaphysik“: für Hegel fallen Logik und Metaphysik zusammen, und so wird gleichsam das „dunkle“ und rätselhafte Wesen der Metaphysik ins Helle geborgen, und zu etwas, was nicht allein ein lösbares Rätsel ist, sondern sich gleichsam selbst löst. Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende,.. (Phänomenologie des Geistes S.28) Der subjektive und der objektive Pol lösen sich so in eine allumfassende „Geistigkeit“ auf; und Geist und Vernunft begründen (im Hinblick auf die deontologische Dimension der Metaphysik, und wie wir noch sehen werden) die Sittlichkeit und die Moral. Die Eschatologie liegt darin, dass der Geist sich selbst begreift und sich selbst durchdringt und sich in seinem totalen Wissen und seiner totalen Ausleuchtung von sowohl der Subjektivität als auch der Objektivität selbst realisiert und zur Geltung bringt. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist. (ebenda S.33) Und das ist dann eben: das absolute Wissen, und die Realisierung der Welt als Weltgeist. Bei Hegel bleibt nichts dunkel. Die Kantsche Idee vom „Ding an sich“ (also eines „realen“ „Kerns der Dinge“, der sich – oder von dem man zumindest nicht angeben kann inwieweit er sich – unseren Erkenntnismöglichkeiten entziehe) lehnt er ab: Stattdessen werde durch die Arbeit des Geistes das Wirkliche und das Wahre der Objekte (wie der Subjekte) progressiv enthüllt und zur Erscheinung gebracht. Ein altertümliches, überholtes Wissen – fern davon, das „Ding an sich“ im Gegenstande zu treffen – verweist auf einen altertümlichen, überholten Weltzustand: in dem dieses Wissen allerdings Sinn gemacht hat, und in dem Wissen eben nicht über ein solches Wissen hinausgelangen könne. – Hegel lehnt dann auch die Vorstellung ab, dass man durch „bloßes Nachdenken“ zu (metaphysischen) Erkenntnissen gelangen könne. Das sei nur über die Dialektik bzw. über die Abarbeitung am Gegensatz möglich. Weiters lehnt er die Kategorien der traditionellen Metaphysik ab (wie Seele, Welt, Gott…) im Sinne von etwas tatsächlich bereits Gegebenem: tatsächlich müssten sie dialektisch entwickelt werden. Weder „Geist“/“Wissen“ noch „die Welt“ sind für ihn das „Wahre“: die Idee sei nur vermittelst des Seins, das Sein nur vermittelst der Idee „das Wahre“: Und dieses Wahre entwickle sich eben ständig, dialektisch und logisch – und mit scheinbar eiserner Konsequenz. Nicht der Mensch erzeuge die Philosophie und das Wahre, die Philosophie und das Wahre erzeuge sich via des Menschen. Nicht der Mensch entwickle, in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt, den Geist, sondern der Geist entwickle sich via des Menschen. Jetzt kann man Hegel also vorwerfen – und tut es gemeinhin –, dass er den „Geist“ über alle Maßen substantialisiert, der dadurch gleichsam zu einem Lebewesen, etwas Organischem wird: wenn nicht sogar zum „eigentlichen“ Lebewesen und Organismus (von dem Mensch und Welt also gleichsam nur dessen Organe sind). Der Geist wird so zu einer Garantiemacht des weltgeschichtlichen Verlaufs bzw. der Seinsentfaltung bzw. zu einer Garantiemacht seiner selbst. (Man hat also scheinbar einen Zirkelschluss: indem der Geist zugestandenermaßen Qualtäten schafft und entwickeln muss, die aber gleichsam die Voraussetzung eben dafür sind, dass er das tut – und zu solchen (scheinbaren) Zirkelschlüssen führt die Philosophie Hegels dauernd.) Der Geist regiert und entwickelt sich bei Hegel mit unbezwingbarer Logik: Allerdings nutzen die unbezwingbarsten und intelligentesten logischen Schlussfolgerungen nichts und gehen ins Leere, wenn denn die Annahmen, auf denen sie basieren, nicht korrekt sind. Inwieweit stimmt z.B. die Annahme, dass sich Wahrheit „dialektisch“ (und nicht (auch) über andere Modi) entfalte? Gerade der Geist scheint irgendwie mehr zu sein und mehr zu können als „Dialektik“ zu machen. Indem der Geist zu etwas wird, was sowohl Subjekt und auch Objekt übergeordnet ist, verlieren beide scheinbar an Eigenmächtigkeit und es wird unterschlagen, dass der Geist sich nur über einen „Überschuss“ von sowohl Subjekt als auch Objekt gegenüber ihm überhaupt entfalten kann. Der Geist kann sich nur über das Subjekt entwickeln. Er hat dort seinen eigentlichen Sitz. Das Objekt, das Sein, verliert sich bei Hegel gleichsam in etwas rein vom Geist Angeschautes: wobei gleichsam unterschlagen werde, welche Chaos-Einwirkung das Sein auf die Ruhe des Geistes immer wieder ausübt und in dessen Kristallpalast einbricht. Außerdem sind Subjekt und Objekt im Geist nicht „identisch“: Sie stehen in einem bestenfalls kollaborativen Verhältnis – oder eben auch das nicht. Denken kann keine Position erobern, in der jene Trennung von Subjekt und Objekt unmittelbar verschwände, die in jeglichem Gedanken, in Denken selbst liegt. (Adorno, Negative Dialektik S.92) Mit seiner Betonung, dass Geist und Sittlichkeit eins seien, scheint Hegel zu unterschlagen, dass Sitte immer wieder irrational, störend, bis eben auch sittlich empörend und tatsächlich unmoralisch ist/sein kann. Hegel selbst verlässt sich dann praktisch eben nicht auf „die Vernunft“, sondern auf den Staat – und genau gesagt den monarchischen Souverän – als Garantiemacht von Vernunft und Sitte: was vom Blickwinkel des heutigen (und auch damaligen) Weltgeistes als furchtbar reaktionär erscheinen will. Solcherlei Widersprüche oder zumindest Widrigkeiten hat man, wenn man Hegels Verabsolutierung des Geistes ganz ernst nimmt. Wie wir sehen werden, sind all diese Widrigkeiten entweder viel weniger bedeutend, als man meinen würde – oder aber noch viel schlimmer. Man kann Hegels Philosophie als eine erstaunlich gute Annäherung an die Wirklichkeit betrachten – oder das genaue Gegenteil tun. Ein bisschen zu sehr scheint Hegel halt von seiner eigenen Philosophie und der Anziehungskraft seiner Systematik fasziniert zu sein; in seinem Bestreben, sie umso universaler und verbindlicher und ausformulierter zu machen, versteigt er sich in Generalisierungen, die sie in Wirklichkeit auf den Status eines waghalsigeren Unterfangens zurückwerfen. Mit seiner Substantialisierung des Geistes und der Logik, die die Metaphysik ablöst, greift Hegel auf Voraussetzungen zurück, die selbst nicht notwendigerweise logisch sind, und die metaphysisch sind im Sinne einer subjektiven Interpretation der objektiven Wirklichkeit. Damit reduziert sich Hegels Logik dann eben wieder auf Metaphysik und auf eine Logik, die logische Argumente bietet, aber keine unumstößlichen logischen Notwendigkeiten. Hegel will die (dunkle) Metaphysik zu einer (klaren) Logik erheben, schafft dadurch aber neues Dunkel und neues Rätsel (in Verbindung noch dazu mit einem, für metaphysische Unternehmungen charakteristischem „Ahnen“). Dadurch hat Hegels Philosophie dann aber eben auch wieder das Charisma des Metaphysischen: Sie hat etwas Flimmerndes, Irreal-Reales; in der Welt, die gegeben ist, scheint noch eine andere Welt durchzuscheinen, und beide scheinen sich gegenseitig zu durchdringen; die höhere Welt/Sphäre gibt es da, die der erdgebundenen Welt gegenübersteht (und die im Rahmen dieser Metaphysik dann über sie triumphiert) — Metaphysik ist meistens ein wenig seltsam und unentscheidbar. Hegels Philosophie ist das auch. Hegel gehört zu den wahrhaft tiefsinnigen Philosophen. Und so ist Hegel notwendigerweise Metaphysiker. Mit all der darin liegenden Konsequenz dann eben.

Bartolomè Esteban Murillo war ein von Hegel geschätzter Maler – der heute nicht mehr so bekannt ist, der aber mit einem guten Geist ausgestattet war. Das Genie spiritualisiert alles, so Salvador Dali, und so mischt sich bei Murillo die Anschauung von irdischer und himmlischer Realität immer wieder mit einem mystischen Erleben: Es ist eine spiritualisierte Wirklichkeit, die er anschaut und empfindet. Diesem Menschen ist Alles zugänglich: sowohl die tiefste, verborgenste Mystik der Seele als auch das einfache, alltägliche Leben…; alles stellt er in erstaunlicher Wahrheit und Realität dar … urteilte Wassili Botkin im 19. Jahrhundert über Murillo.

Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie … in den Teilen verloren treibt es den Verstand zu seiner unendlichen Entwicklung von Mannigfaltigkeit, der, indem er sich zum Absoluten zu erweitern strebt, aber endlos nur sich selbst produziert, seiner selbst spottet. Die Vernunft erreicht das Absolute nur, indem sie aus diesem mannigfaltigen Teilwesen heraustritt. (Jenaer Schriften S.13)…. Für den jungen Hegel ist – wie für seinen Studienfreund Hölderlin – Harmonie und wie Harmonie möglich sei das zentrale Thema seines Denkens und Empfindens. Vielleicht ist ihm deswegen – so wie eben Hölderlin – die Disharmonie, das Entzweitsein, in der realen Welt wie in der Philosophie, nur umso bewusster, und rückt daher nicht weniger ins Zentrum. Hegel wie Hölderlin waren beide „Schwärmer“, gleichzeitig aber eben analytisch und realistisch genug um zu sehen, dass die Wirklichkeit nur teilweise zum Schwärmen provoziert, und das gleichsam ganz strukturell … denn dem Sehnen steht in seiner höchsten Schwärmerei … immer das Individuum, ein Objektives, Persönliches gegenüber, nach der Vereinigung mit welchem alle Tiefen ihrer schönen Gefühle schmachteten, welche Vereinigung aber, weil es ein Individuum ist, ewig unmöglich (ist), da es ihnen immer gegenüber, ewig in ihrem Bewußtsein bleibt, und die Religion nie zum vollständigen Leben werden läßt. (Frühe Schriften S.417) In der Tat sind die (einheitsstiftende, ideale) Religion und das (einheitsstiftende, ideale) religiöse Empfinden wesentlichster Ausgangspunkt für alle Überlegungen Hegels zu jener Zeit; dass Religion und religiöses Empfinden gleichzeitig ein umso deutlicheres von Disharmonie sind, ist ihm dabei ebenso umso klarer: In allen Formen der christlichen Religion … ruht dieser Grundcharakter der Entgegensetzung in dem Göttlichen, das allein im Bewußtsein, nie im Leben vorhanden sein soll … es ist gegen ihren wesentlichen Charakter, in einer unpersönlichen lebendigen Schönheit Ruhe zu finden; und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in Eins zusammenschmelzen können. (ebenda S.418) Indem der Mensch Vernunft und Verstand hat, indem er Bewusstsein hat – ohne eben göttlich und allmächtig zu sein – , ist er in der Lage, seine Entzweitheit und Getrenntheit, seine disharmonische Situation zu erkennen. Denn das Tier ist mit Gott eins, aber nur an sich. Nur der Mensch ist Geist, d.h. für sich selbst. Dieses Fürsichsein, dieses Bewußtsein ist aber zugleich die Trennung von dem allgemeinen göttlichen Geist. Halte ich mich in meiner abstrakten Freiheit gegen das Gute, so ist dies eben der Standpunkt des Bösen. Der Sündenfall ist daher der ewige Mythus des Menschen, wodurch er eben Mensch wird. Das Bleiben auf diesem Standpunkte ist jedoch das Böse…. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.389) Gleichzeitig stellt sich, indem der Mensch – im Gegensatz zum Tier – fähig ist, seine Umwelt bewusst zu manipulieren und Kultur und „objektiven Geist“ zu schaffen, eben das Problem der Moral und der moralischen Ausgestaltung der Lebenswelt. Moral und Sittlichkeit, wie Kultur und objektiver Geist überhaupt, sind Versuche, Entzweiung zu überwinden. Religion ist ein Versuch, mit der (spiritualisierten) Natur bzw. mit dem Göttlichen in ein Vertrauensverhältnis zu treten – oder sich, im Falle entwickelterer Religion – selbst zum Göttlichen zu erheben. Das Tier ist in Wirklichkeit kaum mit Gott eins; es lebt ein stumpfsinniges Leben, wird gejagt, ist dauernd auf Nahrungssuche, und der Gefahr schrecklicher Krankheiten ausgesetzt. Man kann als Mensch die Tiere beneiden – wird es aber dann meistens doch nicht tun. Der Mensch kann in einem unglücklichen Bewusstsein leben, aber auch in der Vorstellung, dass das Unglück, und die Grundlagen für das Unglück, dereinst überwunden sein werden; und das aufgrund der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, und des menschlichen Geistes, der sich in und über die Getrenntheit, über die Entzweitheit, entwickelt. In der Entzweitheit und der Disharmonie liegt daher, begriffen und empfunden durch den menschlichen Geist, eine Vorwärtsdynamik; ein Sog, den die Zukunft auf das Jetzt ausübt. Die Aufgabe der Philosophie besteht aber darin, diese Voraussetzungen zu vereinen, das Sein in das Nichtsein als Werden; die Entzweiung in das Absolute als dessen Erscheinung; das Endliche in das Unendliche als Leben zu setzen. (Jenaer Schriften S.17) – Jetzt kann ich mich mit dieser Aufgabe der Philosophie gut identifizieren. Aber muss schon sagen, dass akzentuierter Widerspruch, Gegensatz, Streit, Getrenntheit (und auch (primitive) Dialektik) u. dergl. gar keine Kategorien meines eigenen Philosophierens sind. Auch die postmoderne Differenz ist das nicht. Ich empfinde dergleichen nicht wirklich, bzw. empfinde nicht wirklich, dass es draußen in der Welt allzu viel von alldem gibt. Was ich sehe und innerlich wahrnehme ist ein Sympathiefeld, das in den Kosmos hineinreicht, und in dem alles, zumindest virtuell, miteinander verbunden ist. Natürlich sind innerhalb dieses Sympathiefeldes Unterscheidungen möglich; von wegen: dieses da verdient, nach reiflicher Prüfung, weniger Sympathie und ist weniger sympathisch als jenes. Es kann auch sein, dass zwischen Entitäten nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende überwiegt. Beides muss qualitativ dann so oder so behandelt werden. Aber trotzdem ist alles in meinem Geist und alles im Sympathiefeld. Es ist ein so großes Sympathiefeld, dass mein Geist gerade gleichzeitig in Neufundland ist, in Transsylvanien und auf Hügel 364. Hegel kommt mit einem Paradigma daher, mit dem man die Welt begreifen und vereinigen kann – aber ich tue das auch: und meine Hoffnung ist dabei, dass man mit meinem Paradigma Vielfalt (in Einheit) begreifen kann; dass es eine zeitgenössische angemessene Fassung einer solchen Heuristik ist, der eine Menschheitshoffnung zugrunde liegt. Auch mit der Entzweiung und der Negation kann ich nicht so viel anfangen, denn sonderlich entzweit fühle ich mich von alldem, was mich umgibt, nicht. Ja, ich denke, es ist sogar das allgemeine menschliche Empfinden, sich nicht schrecklich entzweit von seiner Umgebung zu fühlen! Ich sehe also: das bin ich, und das da ist wer anderer oder was anderes (oder auch das nicht, denn meine Ichgrenzen sind, wie angedeutet, unklar und eher osmotisch). Weil ich mit Verstand und gewissen Emotionen begabt bin, schaffe ich als Mensch mentale Repräsentationen von den Gegenständen meines Denkens, von den Gegenständen in der Welt. Diese sind mit „mir“ nicht eins, sondern eben mentale Repräsentationen. Sie sind eher Erweiterungen meines Ich. Der Mensch lebt allgemein in diversen, unterschiedlichen Sphären, und er ist von Erweiterungen seiner selbst umgeben, und von vom ihm Getrennten. Einige Dinge sind uns eben näher, andere ferner. Dass Ich und Nicht-Ich aber grundsätzlich voneinander getrennt und entzweit seien, scheint einer Verarmtheit der Perspektive Hegels geschuldet. – Worauf Hegel aber grundsätzlich hinaus will, ist dass Ich (bzw. jeglicher Gegenstand) nur in seinen Grenzen und Qualitäten bestimmt werden kann, wenn man versucht festzustellen, was eben nicht Ich ist. Was außerhalb des Ich liegt (was also das Ich „negiert“). Das Nicht-Ich fungiert also als negativer Spiegel für das Ich – mithilfe dessen aber eben Ich und Nicht-Ich gegenüber und gegeneinander erkannt werden können. Ich und Nicht-Ich sind in einen Zusammenhang eingelassen, in dem sie sich so negativ gegeneinander spiegeln, bzw. stellt sich durch dieses Gegeneinanderspiegeln von Ich und Nicht-Ich ein solcher Zusammenhang her: der Geist (hier hat man wieder einen gleichsamen Widerspruch bei Hegel: indem er das, was er als Resultat begreift, wiederum als Voraussetzung begreift, dafür dass sich dieses Resultat einstellt). (Dieser schöne Zusammenhang, wo sich alles in allem (allerdings eben negativ) spiegelt, kommt herkömmlichen Erlebnissen der Erleuchtung schon recht nahe: oder geht eben über sie hinaus. Da es in herkömmlichen Perspektiven der Erleuchtung keinen Wiederspruch und keine Dialektik (sondern nur einen herrlichen, synthetischen All-Zusammenhang) gibt – und daher auch keine Bewegung und Fortentwicklung, keine Wissenschaft und keine Philosophie. Ich fände es bekanntlich gut, wenn man diesen synthetischen Zustand der Erleuchtung mit dem analytischen Prozess der Logik zusammenbringen könnte – und Hegel kann man, so wie Heidegger, da, wie ich sehe, gut einbringen.) Jedes Sein ist bei Hegel ein Sein an sich und ein Sein für Anderes —- genau gesagt ist bei ihm jedes Sein ein Sein an sich und ein Sein für sich: zum Sein für sich wird jedes Sein an sich aber eben, indem es sich über sein Sein für Anderes selbst tatsächlich begreift und letztendlich selbst ergreifen kann. Nur durch den negativen Spiegel, den es sich vermittels des Nicht-Ich vorhält, kann es seine eigenen Konturen schließlich erkennen. Ich habe die Gewißheit durch ein Anderes, nämlich die Sache; und diese ist ebenso in der Gewißheit durch ein Anderes, nämlich durch Ich. (Phänomenologie des Geistes S.83) Das Ding ist hiernach für sich und auch ein Anderes, ein gedoppeltes verschiedenes Sein, aber es ist auch Eins …. Das Ding ist also wohl an und für sich, sich selbst gleich, aber diese Einheit mit sich selbst wird durch andere Dinge gestört; so ist die Einheit des Dings erhalten und zugleich das Anderssein außer ihm sowie außer dem Bewußtsein. (ebenda S.102) – Ja, das mit dem Anderen! Auch das kenne ich sehr gut! Meine eigene Philosophie kommt bekanntlich aus dem Heavy Metal – der gegenüber der Normalität ein Anderes darstellt, etwas Seltsames, eine surrealistische Übertreibung; eine Musik, die scheinbar von einem anderen Planeten kommt. Ich setzte mich zeitlebens gerne mit „dem Anderen“ auseinander. Und darum bin ich jetzt, so scheint es, so vielfältig, so groß und so dick; gewaltig im Umfang: der jedoch eben gar nicht feststellbar ist, aufgrund meiner diffusen, genau gesagt, immer erweiterbaren Begrenzungen. Die eben wiederum deswegen so sind, weil sie für das Andere offen sind und ihm gegenüber einladend. Ich kann gar nicht genug Anderes, gar nicht genug Nicht-Ich in mich aufnehmen, in meinen Kreis ziehen, der gleichzeitig ein Kreis um die Welt ist, ein Kreis ist, in dem ich mich in die Welt hinein auflöse und als Ego zu existieren aufhöre. Hegel scheint was Ähnliches zu sagen bzw. zum Prinzip zu erheben: Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt. Der Gegenstand in der Anschauung oder auch in der Vorstellung ist noch ein Äußerliches, Fremdes. Durch das Begreifen wird das Anundfürsichsein, das er im Anschauen und Vorstellen hat, in ein Gesetztsein verwandelt; das Ich durchdringt ihn denkend. (Wissenschaft der Logik II S.255) Wenn ich mir das recht überlege, scheine den Gegenstand dabei ganzheitlicher durchdringen zu wollen, empfindender, empathisch-sympathetischer … aber eben auch, und vor allen Dingen: denkend. Es geht mir ja darum, dass ich das Andere begreife – und vor allem, dass die anderen es begreifen. Ich will richtige Verständnisse herstellen, bzw. durch meine Art des Denkens und Empfindens helfen, wie man zu richtigen Verständnissen hoffentlich selbst gelangen kann. Das ist meine Innerlichkeit, und das ist meine Äußerlichkeit. Also: die letzte Spitze der Innerlichkeit ist das Denken. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.521) Hegel hingegen wird immer wieder für das, was hier z.B. durchscheint, angegriffen: Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht … (wobei da freilich weiter steht: und ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d.i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt.) Aufgrund des possessiven Charakters der meisten Menschen besteht die Gefahr, dass sie sich das Andere zu eigen machen, indem sie dies tatsächlich genau so tun: also sich das Andere unterordnen; das andere unter sich subsumieren; dem Anderen die eigene Form überstülpen etc. (und es auch in seiner allgemeinen Bestimmheit dann eben in einer solchen Weise allgemein bestimmen). Hegels System selbst wird immer wieder gern der Vorwurf gemacht, dass es so verfährt: dass es – undialektisch – etwas als Allgemeines bestimmt, und das andere mehr oder weniger nur als Aberration auffasst; dass es das Subjektive/Andere zugunsten einer allumfassenden „Logik“ negiere; dass es totalitär sei… das ist vielleicht nicht ganz gerecht – hat aber gleichermaßen Interessantes in der Philosophie hervorgebracht. Allgemein wäre es wahrscheinlich gut, wenn man sich als Mensch bei der Betrachtung einer Sache nicht fragen würde: was bringt das mir bzw. wie lässt sich hier eine Kontinuität zu meinem bisherigen Denken herstellen, sondern: was ist der allgemeine Schaden und Nutzen von einer Sache? Wie gut ist die Sache empirisch und logisch begründet? Es gibt da Menschen, die alles vorwiegend aus einem objektiven Gesichtspunkt heraus betrachten, sich selbst in diese Objektivität hinein auflösen. Ich selber will – wie Duchamp – von mir selbst weg: daher vielleicht mein natürliches Verhältnis zum „Anderen“. Meine Identität ist, hegelsch gesprochen, eine Identität von Identität und Nicht-Identität. Mein „Ich ist ein Anderer“. In meiner Entwicklung werde ich aber gerade deswegen immer mehr zu mir selbst (was auch das Ziel der Hegelschen Entwicklung ist); es ist weniger eine Entwicklung als eine Vertiefung und eine innere Auffächerung und Ausdifferenzierung. Paradoxerweise genau deswegen, weil es mich immer schon zum Anderen zieht, und zur Objektivität, bleibe ich gleichermaßen, in meiner Entwicklung, vergleichsweise statisch und unbewegt. – Bei Hegel ist aber eben nichts statisch und unbewegt. Überall sieht er den Widerspruch, den er gleichsam zu einer transzendentalen Kategorie erhebt. Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten. Was aber ein Existierendes nicht in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreifen und eine in der anderen festzuhalten, den Widerspruch nicht in ihm selbst zu haben vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund, sondern geht in dem Widerspruche zugrunde. – Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt. (Wissenschaft der Logik II S.76) Den Widerspruch hier überall sehen zu wollen, ist aber weniger etwas, was sich zwingenderweise und notwendig aus empirischen und/oder logischen Gründen ergibt, sondern eher eine Annahme, eine Vorentscheidung, eine willkürliche Setzung seitens Hegel: über die er dann all seine Pracht entfaltet – und über die allein es ihm gelingt, all seine Pracht zu entfalten. Empirisch z.B. stellt es sich eher so da, dass nur weniges, von dem, was lebendig ist, sich großartig für den Widerspruch interessiert. Es will vielmehr bleiben, wie es ist, und sich darin wohlfühlen. In seinen Beobachtungen und Kommentaren zu den Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816 bemerkt Hegel, dass es Menschen politisch vorwiegend um sie selbst und ihr eigenes Wohl geht, und um nichts Objektives, und dass sie zur Arbeit am Widerspruch hauptsächlich über die Adressierung an ihre eigene Gestaltungsmacht und an ihre Eitelkeit gebracht werden können: … denn es liegt tief in der menschlichen Natur, sich nur für das zu interessieren, wofür man handeln, wofür man mitbeschließen und mitwirken, wobei der Wille sein kann. Es müßte den Ländern eine Art der Mitwirkung fürs Allgemeine verschafft werden. (Politische Schriften S.135) Natürlich kann man sagen, dass das nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund darstellt, sondern in dem Widerspruche zugrunde geht, in der (unbequemen und widersprüchlichen) Nische zugrunde geht, in dem es immer lebt: anstatt dass es die Welt erobert und befreit hat. Es ist dann ein gleichsam vegetatives Leben. – Logisch hat das mit dem Widerspruch allerdings schon mehr für sich. Die Entwicklung von Einheit, Schlussfolgerung aus Gegensätzlichem heraus, verlangt, dass das Gegensätzliche auch als solches erkannt und ernst genommen werden muss. Und es gibt Gegensätze und Antithesen in der Welt, die sich nicht im Rahmen einer postmodernen Buntheit organisieren (lassen). Bei Schelling entwickelt sich alles aus einer „Potenz“ heraus (also aus einem singulären Agens heraus). Das scheint nicht schlecht. Aber es gibt Bereiche, da eignet sich die dialektische Logik von Hegel einfach besser, um was fortzutreiben, um was zu begreifen.

Die Gemälde von Murillo werden für ihre Authentizität und Wahrhaftigkeit und für die (innere und äußere) Schönheit der Figuren gelobt. Schönheit, kann man mit Hegel sagen, ist die Idee, in der sich das Wahre, Gute, Echte etc. ausdrückt; in der das Gute, Wahre, Echte mit der Wirklichkeit zusammenfallen. Sie ist das Wirklichwerden und Zum Ausdruck Kommen von innerer Schönheit und Harmonie. Mit seiner spezifischen Darstellung von Schönheit nahm Murillo damit gleichsam den Rokoko vorweg – ohne allerdings in dessen Formalismen zu verfallen.

Eine der großen Innovationen der Hegelschen Philosophie ist der dynamische, sich in der Zeit entwickelnde Begriff. Von alters her werden Begriffe eher als etwas Statisches gedacht, bzw. versucht eben die Philosophie zu allgemeinen, vom Zeitlichen und Zufälligen gereinigten und entschlackten (idealen) Begriffen zu kommen. Bei Hegel entwickelt sich der Begriff aber in und mit der Zeit. Es heißt bei Hegel sogar: Die Zeit ist der da-seiende Begriff und Geist ist Zeit (vgl. Kojève S.96ff.) Der Begriff ist etwas ganz Wesentliches in der Philosophie Hegels. Leider ist aber gar nicht einmal erschöpfend klar, was mit dem Begriff bei Hegel eigentlich gemeint ist. Mit Kojéve könnte man vermuten: Begriff (oder „das Wahre“) stehen für nichts endgültig Wahres und Begriffenes, sondern für eine einstweilen begriffene Wirklichkeit (ebenda S.113). Deswegen entfaltet sich der Begriff (und das Wahre) dann eben auch in und über die Zeit. Mithilfe von Begriffen, die einen gewissen Wahrheitsgehalt haben, prägt der Geist differenziertere Verständnisse vom Begriff aus bzw. entwickelt neue Begriffe. Man könnte hier also die Frage, warum wir nicht mit dem Höchsten, das heißt mit dem konkret Wahren beginnen. Die Antwort wird sein, weil wir eben das Wahre in Form eines Resultates sehen wollen und dazu wesentlich gehört, zuerst den abstrakten Begriff selbst zu begreifen. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.86/87)Der Begriff ist deswegen eine so zentrale (bzw. emphatisch betonte) Kategorie bei Hegel, weil er damit ausdrücken will, dass sich unsere Verständnisse von der Welt gemäß seiner Philosophie nicht – wie bei seinem damaligen Freund/Kollegen/Rivalen Schelling – über Anschauungen herstellen, sondern eben über Begriffe. Anschauungen bleiben letztendlich obskur und können sich selbst nicht analytisch durchdringen und begreifen; sie sind zwar immersiv und scheinen auf tiefere, eindringlichere Verständnisse bzw. Verständnismöglichkeiten hinzuweisen, aber sie sind eher und vorwiegend Erkenntnismodi von Künstlerinnen bzw. stehen in einem Zusammenhang mit einem mystischem Verständnis. Sie verweisen auf was Genialisches: Und so bleibt als höchste Form von Erkenntnis bei Schelling dann, zu einer Anschauung vom Absoluten zu kommen – was dann aber mehr oder weniger Privileg des künstlerischen Genies sei (das dabei aber über seine Kunst seine Anschauungen vom Absoluten für die Allgemeinheit übersetzt). Hegel ist da demokratischer: bei ihm vollzieht sich Erkenntnis über die (dialektische, rationale, logische) Entwicklung eines (analytischen) Begriffs, die für „jeden“/“jede“ möglich sei. (Schopenhauer betont dann wieder, dass das anschauende Denken und Vorstellen das Charakteristikum des Genies sei, das (bloß) begriffliche hingegen das der Alltagsköpfe.) Die Anschauung kann sich selbst nicht analytisch durchdringen und Klarheit über sich gewinnen, der Begriff aber schon. Bei Hegel hat die Welt selbst (anders als bei eben dann auch Schopenhauer und Schelling) eine rationale, logische Struktur, in die der Mensch über die (dialektische) Entwicklung von (rationalen, analytischen, logischen) Begriffen Einsicht gewinnt, und mithilfe derer er dann in der Lage ist, die Welt umso rationaler und logischer auszugestalten: das ist dann eben die Essenz des (philosophischen) Idealismus. Diese Substanz aber, die der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies sich in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist. Er ist an sich die Bewegung, die das Erkennen ist, – die Verwandlung jenes Ansich in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstandes des Bewußtseins in Gegenstand des Selbstbewußtseins, d.h in ebensosehr augehobenen Gegenstand oder in den Begriff. Sie ist der in sich zurückgehende Kreis, der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur am Ende erreicht. (Phänomenologie des Geistes S.585) Wiederum wird der Begriff zu etwas dem Menschen und der Welt Enthobenen, zu einer eigenständigen – und zur eigentlichen – Macht. So wie gleichsam nicht der Mensch die Philosophie und den Geist entwickelt, sondern sich der Geist und die Philosophie via des Menschen entwickeln, entfaltet nicht der Mensch den Begriff, sondern entfaltet sich der Begriff via des Menschen (weswegen bei Hegel auch der Begriff dann wiederum dazu tendiert, von etwas Nüchternem und Greifbarem zu etwas Entrückt-Metaphysischem zu werden). Dabei ist der Begriff aber bei Hegel nicht die höchste Kategorie: der (im und über den Geist) entwickelte Begriff will auf die Wirklichkeit wirken, mit der Wirklichkeit zur Deckung kommen, die Wirklichkeit umgestalten. Das Kongruentwerden des Begriffs mit der Wirklichkeit ist bei Hegel dann die Idee: Es muß nun allerdings zugegeben werden, daß der Begriff als solcher noch nicht vollständig ist, sondern in die Idee sich erheben muß, welche erst die Einheit des Begriffs und der Realität ist… (Wissenschaft der Logik II S.258) All diese Entwicklung – die vollständige Durchdringung der Welt durch den Geist – kommt schließlich im „Wahren“ und „Ganzen“, im Absoluten an. Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. (Phänomenologie des Geistes S.24) Bei Schelling bleibt das Absolute etwas Ur-Anfängliches und Undifferenziertes, vom Menschen Getrenntes, das vom Menschen letztendlich nicht begriffen werden kann und das ihm fremd, ihm gegenüber eine andere Ordnung bleibt; von dem er sich höchstens eine Anschauung bilden kann. Bei Hegel hingegen kann es ein Undifferenziertes gar nicht geben, da sich aus ihm nichts entwickeln kann. Das Absolute ist bei ihm etwas, das sich über fortwährende Ausdifferenzierung erst entwickelt – und das vom Menschen dann eben auch begriffen und nachvollzogen werden kann, an dem Teilhabe möglich ist, bzw. das als letzte Möglichkeit und Finalität in der Entwicklung des Geistes (über den Begriff) selbst liegt – und nicht in einem Außerhalb. Aber das Absolute kann nicht ein Erstes, Unmittelbares sein, sondern das Absolute ist wesentlich sein Resultat. (Wissenschaft der Logik II S.196) – Hegels spezifische Logik (von der Entfaltung des Begriffs als einer dynamischen Kategorie) wollte ein neues Verständnis von Logik eröffnen: Seit Aristoteles habe es keine neue philosophische Logik gegeben. Die aristotelische Logik operiert aber in starren Begriffen und sei deswegen der modernen Entwicklungsstufe, auf der der Weltgeist sich befindet, nicht mehr angemessen. Diese verlange vielmehr ein dynamisches Verständnis vom Begriff. (Ironischerweise fungiert Aristoteles aber nicht nur als Gegenpol zu Hegel, sondern auch als Vorläufer: Gegenüber dem von seinem Zeitalter irritierten und abgestoßenen Ordnungsfanatiker Platon, dem es zum Ursprünglichen und Ewigen und zu den (ursprünglichen und ewigen) „Ideen“ zieht, ist Aristoteles, aus seinem naturwissenschaftlichen Interesse am Organischen, Biologischen und Lebendigen, vielmehr an Entelechie und Teleologie, an Entwicklung und Entfaltung und am Dynamischen – also an Ähnlichem wie Hegel – interessiert.) Großen Einfluss auf die philosophische Logik hatte die Hegelsche dann aber nicht. Die philosophische Logik wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert von Frege und Russell entscheidend entwickelt – und operierte wiederum mit „starren“ Begriffen und Eindeutigkeiten (weswegen, kann man vielleicht auch sagen, sie dann auch gegen die Wand des Russellschen Paradoxons gefahren ist; unter anderem). Sie fuhr dann auch gegen die Wand, die Wittgenstein im Tractatus angedeutet hat: dass Logik nur beschränkt und selbstreferenziell/tautologisch Aussagen über die Welt machen kann; nicht aber über die „eigentlichen“ Daseinsqualitäten, das „Mystische“ der menschlichen Lebenswelt; dass sich logische Sätze nicht in ethische Sätze überführen lassen etc. Schweigend hat Wittgenstein dabei noch sein Unbehagen allein zu formulieren gewusst, da er damals noch keine Einsicht in dessen Grund hatte. In seiner Spätphilosophie verabschiedet sich Wittgenstein dann von der Idee einer Idealsprache, mit der die Logik operiere, zugunsten von einer Alltagssprache, die sich sozial, in Abstimmung der Sprechenden untereinander und über den Gebrauch entwickle – und der es einer definitiven Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit vielfach ermangle. „Begriffe“ werden so wieder zu was Dynamischen. Sellars und Findlay kritisieren an der Russellschen Logik, dass sie in einer „Objektsprache“ spreche, die aber einer „Metasprache“ bedarf, um sich selbst zu begreifen. Der metasprachliche Diskurs diskutiere, kommentiere, analysiere, konkretisiere und entwickle, was die Begriffe innerhalb der logischen Sprache überhaupt bedeuten würden, die aus sich selbst heraus letztendlich nicht (widerspruchsfrei) entwickelt und begründet werden können. Hier hat man wieder eine Anlehnung an die „dynamische“ Logik Hegels, wenn man so will. Der analytische Philosoph Robert Brandom hat jetzt auch ein 800-Seiten-Buch zu Hegel veröffentlicht. Ich hoffe, ich kann es mal lesen; und auch verstehen: denn zeitlebens waren mir Brandoms Schriften und Gedankengänge mindestens ebenso unverständlich wie die Hegels.

In neueren Zeiten ist das Bewußtsein entstanden, daß es eine Schwierigkeit sei, einen Anfang in der Philosophie zu finden, und der Grund dieser Schwierigkeit sowie die Möglichkeit, sie zu lösen, ist vielfältig besprochen worden. Der Anfang der Philosophie muß entweder ein Vermitteltes oder Unmittelbares sein, und es ist leicht zu zeigen, daß er weder das eine noch das andere sein könne; somit findet die eine oder die andere Weise des Anfangens ihre Widerlegung. (Wissenschaft der Logik I S.65) Wenn ein Anfang (durch was anderes) vermittelt ist: wie kann er dann echter Anfang sein? Und wenn er unmittelbar ist: wer oder was hat ihn dann trotzdem hervorgebracht? All das führt die Logik dabei aber nicht an ihre Grenzen: denn ein Anfang muss kein echter, primordialer Anfang sein; vielmehr wird er das Erscheinen einer Qualität sein, die durch etwas anderes, eventuell einer Vielzahl von Faktoren, die diese Qualität noch nicht besitzen, angestoßen wird. Das Universum entstammt eventuell einer Transformation eines Energiefeldes; höherwertiges eukaryotisches Leben hat sich offenbar aus einer (extrem unwahrscheinlichen und daher wohl extrem selten stattfindenden) Kreuzung eines prokaryotischen Bakteriums und eines Archaeons entwickelt etc. Ein Anfang ist das Erscheinen einer Qualität, der andere Qualitäten vorgelagert sind, die für uns nicht mehr unmittelbar ersichtlich und für uns möglicherweise auch nicht mehr analysierbar sind. Was tatsächlich, empirisch der Anfang ist, ist nur auf empirischem, wissenschaftlichem Wege feststellbar. Die Logik hilft uns da weniger weit, als man vielleicht glaubt. Mithilfe der Logik lassen sich alle möglichen Schlussfolgerungen und auch Rückschlüsse ziehen, die aber empirisch verifiziert werden müssen. Hegel standen solche wissenschaftlichen Erkenntnisse größtenteils noch nicht zur Verfügung; und Aufgabe der Philosophie ist es ohnehin, ideale, abstrakte Vorstellungen von konkreten Prozessen in der Welt zu geben. Auch Hegel wollte gerne wissen, von welchem Anfange die dialektische Entwicklung des Weltprozesses ausgehe. Es scheint (irrtümlicherweise?) auf der Hand zu liegen, dass man, um zum Anfang zu gelangen, die Qualitäten, die sich im dialektischen Prozess ergeben (als etwas Gemachtes) wegrechnen und man reinen Tisch machen müsse, bis dass man an nichts mehr gelange, was nicht doch noch auf einen weiteren Ursprung zurückgeführt werden könne: Was den Anfang macht, der Anfang selbst, ist daher als ein Nichtanalysierbares, in seiner einfachen unerfüllten Unmittelbarkeit, also als Sein, als das ganz Leere zu nehmen. (ebenda S.75) Das ganz Leere kann aber nicht Anfang sein, da es kein dialektisches Potenzial enthält: aus der reinen Leere kann nichts entstehen. Daher setzt Hegel also das reine Sein an den Anfang: Der Anfang ist also das reine Sein. (ebenda S.69) Hegel wäre aber nicht Hegel, wenn bei ihm nicht das „reine Sein“ selbst etwas Unreines, von Dialektik Durchzogenes wäre: in diesem Fall von der Dialektik zwischen Sein und Nichts. Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll: das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts, – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist. (ebenda S.73) Damit scheint sich Hegel mit fernöstlicher Weisheit zu treffen, denn auch z.B. das Tao wird als ein Sein gedacht, das auch ein Nichts ist bzw. ein Nichts, das auch ein Sein ist (genau gesagt: als ein Nichts, dem ein Potenzial zum Ontischen innewohnt). Hegel denkt dabei aber nicht aus dem Mystischen, sondern dem Dialektischen heraus: wonach jede dialektische Einheit aus einem Ding und dessen Negation besteht. Indem da Sein ist und Nichts ergebe sich die Möglichkeit zum Werden; Werden liege in der dialektischen Vermittlung zwischen Sein und Nichts. – Dabei erscheint, genau betrachtet, Werden aber nicht als Vermittlung zwischen Sein und Nichts, sondern höchstens zwischen einem Sein und einem Noch-Nicht; einem Zustand, den es noch nicht erreicht hat. Das ist dann eher die Vorstellung von Werden wie man sie bei Schelling hat: innerhalb derer sich das Sein nicht in eine bestimmte Richtung hin entwickelt (wie bei Hegel) und nicht in eine bestimmte (antithetische, dann synthetische) Richtung hin gezogen wird, sondern Freisetzung eines innewohnenden Potenzials ist. Alleine schon einmal indem man Werden als eine „Vermittlung“ zwischen was begreift, räumt man dem zukünftigen Zustand eine gleichwertige Macht wie dem gegenwärtigen und rückwirkende Gestaltungskraft diesem gegenüber ein, die er aber so nicht besitzt. In seiner Vorstellung vom Werden erscheint Hegel als zu zukunftsorientiert. – Hegel kommt darüber hinaus dann auch noch mit seinem berüchtigten Diktum, wonach reines Sein und reines Nichts dasselbe seien: Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts … Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. (ebenda S.83) Tatsächlich haben weder das reine Sein noch das reine Nichts irgendwelche Qualitäten (weswegen sie also ineinander fielen). Das aber erscheint als eine Verwirrung der Begriffe: da das Sein sich eben zumindest über die Qualität des Seins auszeichnet, und das Nichts über die Qualität des Nicht-seins; sie also zumindest darüber eindeutig voneinander geschieden sind. Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts? als Grundfrage der Philosophie würde dann wegfallen, wenn reines Sein und reines Nichts dasselbe wären – genau gesagt: unsere gesamte Existenz. Wenn das reine Sein und das reine Nichts überhaupt dasselbe seien, hat man ja keine dialektische Einheit von einem Ding und dessen Negation mehr, sondern eine reine Identität, aus der sich dialektisch nichts entwickeln kann. Und wenn Sein und Nicht-sein ineinander fielen, wäre jede Aussage und ihr Gegenteil war, die Struktur der Welt damit unlogisch und daher die Welt auch unmöglich. – Im Denken so radikal zu sein, dass man – alles sonstige hinterfragend – zum reinen Sein, zum nicht mehr hintergehbaren Grund vorstoßen will, um von dort aus dann erneut aufzusteigen, ist eine gute, eine ehrliche Sache. Eine Sache der wahren Philosophie. Auf so eine Idee kommen viele nicht, stattdessen nehmen sie irgendein Lieblingsobjekt als Ausgangspunkt ihres Räsonierens (zu dem das Denken dann eben in der Regel auch wieder zurückführt). Zum reinen Sein vorzustoßen gelingt auch kaum jemand. Von Zehntausenden, die sich da auf den Weg machen, gelangen vielleicht zwei oder drei tatsächlich durch das Tor. Und auch die wissen niemals genau, ob sie nicht vielleicht einem Schelmenstreich zum Opfer gefallen sind. Das reine Sein ist wissenschaftlich womöglich nicht erfassbar, und daher auch letztendlich auch keine handhabbare Kategorie. Das reine Sein und das reine Nichts wären so was wie reine Präsenzen. Mit Derrida kann man aber vielleicht sagen, dass es reine Präsenzen nicht gibt: es gibt nur Verweisungszusammenhänge und Spuren von Verweisungszusammenhängen (wobei diese Verweisungszusammenhänge aber eben auch für eine höhere Stabilität der Verflechtungen, in die die Dinge eingelassen sind, sorgen, als Derrida mit seiner vielleicht zu leichtfertig (und selbstzweckhaft) betriebenen Dekonstruktion uns das gemeinhin glauben machen will). Dialektisches Schließen, die Logik des Weltprozesses stoßen sich nicht vom „reinen Sein/Nichts“ ab, sondern von Gegebenheiten und Verweisungszusammenhängen, die bis zu einem gewissen Grad zufällig und kontingent sind. Daher bringen sie, in erheblichem Grad, weitere Zufälligkeiten und Kontingenzen hervor. Das ist dann aber nur bedingt eine Hervorbringung von „Geist“ oder einer Logik. Der Frage nach dem Ursprung und warum da ist Sein und nicht vielmehr Nichts versucht die Menschheit von alters her auf den Grund zu gehen: und entwickelte so die meiste Zeit über Schöpfungsmythen und Religionen – die in ihrer jeweiligen Form den Geist unterschiedlicher Kulturräume bis heute unterschiedlich prägen und ihn auch jeweils unterschiedlich gefangen halten. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden (Marx) – und so scheint die große Frage von wegen woher wir kommen und wohin wir gehen nicht so einfach beantwortbar und der Versuch ihrer Beantwortung findet kaum in einem Reich der reinen Ideen und Begriffe statt, sondern inmitten von Verweisungszusammenhängen. Das Problem sind dabei nicht die vielen Absonderlichkeiten und Sackgassen, die der Weltprozess hervorgebracht hat (oder die wieder mehr oder weniger spurlos in ihm verschwunden sind), sondern ist dass wir nicht genau wissen, inwieweit unser derzeitiger Weltzustand und Zustand des Weltgeistes nicht auch hauptsächlich eine Kontingenz oder Zufälligkeit – oder Sackgasse – ist, und Hegels Geschichtsidealismus somit nicht eventuell bloß einen charmanter Irrtum darstellt.  Aber vor dieser Schwierigkeit zu kapitulieren kann ja nicht Sache der Wissenschaft und der Philosophie sein! Wissenschaft und Philosophie sind dazu da, den Dingen auf den Grund zu gehen, und ihre Erklärungen im Lichte neuer Erkenntnisse gegebenenfalls zu revidieren. Die Philosophie soll ihre Erklärungen dabei so allgemein halten wie möglich und in idealen Begriffen und Anschauungen, die (hoffentlich korrekt) vom Empirischen abstrahieren. Wenn Hegel sein Programm formuliert als: Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist – die sich innerhalb der Logik selbst näher ergeben wird –, daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird (…) Das Wesentliche für die Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sei, sondern daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird. (ebenda S.70) – so kann man darin heißestes Bemühen identifizieren, zum korrekten Urgrund der Welt vorzustoßen, deren Anfang und Ende festzustellen und das Unwandelbare, das unter dem Chaos des Weltprozesses verborgen liegt, dessen innere Wahrheit als solches freizulegen. Man kann aber ein weiteres Mal die Einladung zu einem Zirkelschluss, innerhalb dessen alles in Harmlosigkeit und Trivialität aufgeht darin erblicken. (Im Hinblick auf die Emanation des Geistes kann man vielleicht von einer Art kindlichem, unschuldigem, unbelastetem Urzustand des Geistes ausgehen, in dem der Geist einem reinen Perzeptionsvermögen und reiner Aufnahmefähigkeit zu gleichen scheint, und der Geist dann idealerweise, durch gewaltige Bildung, Introspektion und Ich-Kasteiung schließlich in einen erneuten, erleuchteten Zustand der reinen Perzeption gelangt – allerdings auf einem viel höheren Level der Kompetenz. Eine solche Introspektionsleistung des Geistes ist aber was anderes als der Gang der Weltgeschichte.) Louis Althusser zum Beispiel stößt sich in marxistischer Manier daran, dass Hegel innerhalb seiner Philosophie von einem einfachen Ausgangspunkt zu einem einfachen Endpunkt gelange, und alles in Harmonie und Einfachheit aufgehen lasse: aufgrund seiner immer schon harmonisierenden (herrschaftsunkritischen) Annahmen und den entsprechenden Folgerungen, die er dann daraus ziehe … und deshalb ist bei Hegel auch niemals ein bestimmter Widerspruch dominant. Das heißt, dass das Hegelsche Ganze eine Einheit „geistigen“ Typs besitzt, in der alle Differenzen nur gesetzt werden, um negiert zu werden, also indifferent bleiben. Und in der sie also niemals für sich selbst existieren, sondern nur den Anschein einer unabhängigen Existenz haben, und in der sie, da sie immer nur die Einheit des inneren, einfachen Prinzips manifestieren, das sich ihnen entfremdet, praktisch untereinander, als entfremdete Erscheinung dieses Prinzips, ganz gleich bleiben. Das heißt also auch zu behaupten, dass die Hegelsche Totalität 1. nicht wirklich, sondern nur dem Anschein nach in „Sphären“ gegliedert ist, 2. als  Einheit nicht ihre Komplexität als solche besitzt, das heißt nicht die Struktur dieser Komplexität aufweist, und 3. also ganz ohne diese „Struktur mit Dominante“ bleibt, die die absolute Bedingung dafür bildet, dass es einer wirklichen Komplexität überhaupt erst möglich macht, Einheit zu sein und wirklich Gegenstand einer Praxis zu werden, die es sich vornimmt, diese Struktur zu verändern, nämlich als politische Praxis. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Hegelsche Theorie der gesellschaftlichen Totalität niemals eine Politik begründet hat, dass es keine Hegelsche Politik gibt und es sie auch nicht geben kann. (Althusser S.258f.) Das könnte man, vor allem vom Standpunkt einer marxistischen Kritik, an Hegel durchaus monieren. Kritisch zurückschlagen kann man dagegen dann aber auch: Ein gewisses Unwohlsein löst Althussers Charakterisierung Hegels als „unpolitisch“ nämlich hoffentlich schon aus. Das scheint einem eminent politischen Denker wie Hegel Unrecht zu tun. Allerdings: was ist überhaupt Politik? Vielleicht haben ja der eine und die andere grundsätzlich andere Vorstellungen schon einmal davon. Politik bedeutet, ganz allgemein, die Regelung der Angelegenheiten des Gemeinwesens. Nach Hannah Arendt ist Politik das Management von menschlicher Diversität. Politik wird von Einzelnen, Gruppierungen, Institutionen und Parteien betrieben in dem Anliegen, Interessen durchzusetzen; entweder die eigenen oder Interessen, mit denen man sich identifiziert oder deren Durchsetzung man als wünschenswert erachtet; und dem Ziel, das Gemeinwesen auf die Garantie der damit verbundenen Ansprüche auszurichten. Parteien vertreten bestimmte, in der Gesellschaft bestehende Interessen oder bestimmte Interessensgruppen, und tun das hoffentlich auch im Hinblick auf den Ausgleich mit den Interessen anderer Gruppen. Wenn Parteien Interessenspolitik und Interessensausgleich betreiben, hat man ein gutes Gemeinwesen. Wenn Parteien ganz vorrangig ihre eigenen Interessen verfolgen und hauptsächlich darauf aus sind, in der Gesellschaft vorhandene Pfründe in ihrem Sinn (neu) zu verteilen, hat man ein schlechtes Gemeinwesen. Hegels gesamtes Denken kreist darum, wie es möglich sei, das Einzelne mit dem Allgemeinen zu versöhnen und beides ineinander aufgehen zu lassen. Er ist also Denker und Advokat eines, in dem Sinn, guten Gemeinwesens, das von einem guten, die Einzelinteressen austarierenden Staat (als nicht nur empirischer Realität sondern auch (bei Hegel gleichsam mystisch-philosophischer und leidenschaftlich erhöhter) höchster Idee des Gemeinwesens) in (seine endgültige) Form gebracht wird. – Jetzt kann man das als naiv und unkritisch betrachten, wenn nicht als schleimerisch und unterwürfig gegenüber real bestehender Macht, die man damit auch noch idealisiere; und Marxisten wie Althusser werden Hegel gegenüber geneigt sein, genau das zu tun. Im Allgemeinen ist es letztendlich eine Entscheidung, die man trifft, ob man die Politik, das Gemeinwesen, den Staat, das Wirtschaftssystem als eine rationale Einrichtung betrachtet, oder als eine irrationale; ob es sich dabei um funktionale und (pro)soziale Zusammenhänge handle, oder aber um antisoziale Zusammenhänge der Macht und der Herrschaft; ob die Gesellschaft durch Konflikt bestimmt sei oder durch Harmonie etc. All diese Zusammenhänge können tatsächlich mal eher das eine sein, und dann wieder vorwiegend das andere und damit durch die eine Heuristik besser erfasst und dann wieder durch die andere. Was speziell die Marxisten anlangt, so haben die eine deutlich agonalere Auffassung von Politik (genau gesagt: der derzeit bestehenden Politik) als Hegel. Für sie gibt es eine gesellschaftliche Dominante, und einen dominanten (Haupt)Widerspruch innerhalb von Gesellschaft und Politik: und das ist der Klassenkampf. Marxisten betrachten das Gemeinwesen an sich dabei als etwas durchaus (penetrant) Harmonisches, das in seiner Idylle aber durch ein Wirtschaftssystem nachhaltig gestört und pervertiert werde: was einen Klassenkampf provoziere, bei dem nur der revolutionäre Endsieg des Proletariats gesamtgesellschaftliche Harmonie (wieder) herstellen könne (und durch sonst nichts). Die Geschichte ist bei Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen. So mag für einen geeichten Marxisten dann auch alles, was nicht Klassenkampf ist, tatsächlich nicht wirklich als Politik erscheinen, sondern als bloßer Wurmfortsatz von Politik, wenn nicht als Täuschungsmanöver, als Lulu-Angelegenheit oder als „was für Überbauwichteln“. Der Staat ist im marxistischen Verständnis keine „höchste Idee“ sondern ein Repressionsapparat im Dienste der herrschenden Klasse. Schreibt Lenin in Staat und Revolution: Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und insofern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind. (Lenin S.10) Der Kommunismus hingegen wird als geradezu/schlechthin unpolitische Utopie gefasst: Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. (ebenda S.63) – Jetzt sind aber Klassenkämpfe wohl dann doch nicht die Dominante innerhalb der Geschichte, sondern eher ein Moment unter auch noch anderen; außerdem sind Klassenkämpfe dermaßen weitläufig und komplex und treten in zu vielen verschiedenen Kontexten auf als dass man irgendeinen empirischen geschichtlichen Verlauf daraus ableiten könnte. In der Geschichte gibt es möglicherweise keine Dominante (was dann natürlich eben auch Hegel auf den Kopf fällt, der in ihr ja die Entfaltung einer Logik erkennt). (Und die Menschen, und mit ihnen der geschichtliche Verlauf, sind ja auch nicht so politisch, wie die Marxisten immer wieder gerne glauben.) Die Ursprünge des Staates liegen möglicherweise darin, dass urzeitliche Ansiedelungen bzw. Urstädte sich gegen räuberische Nomaden sichern wollten, für die sie aufgrund ihres relativen Reichtums ein beliebtes Angriffsziel waren – eventuell indem sie den Nomaden, als Kriegerkaste, selbst die Regierungsgewalt (oder Teile davon) übertrugen, damit sie das Gemeinwesen vor anderen Nomaden schützten (die Konfliktlinie zwischen Sesshaften und Nomaden ist dabei eine sich weit durch die Geschichte ziehende und die Geschichte formende – und das, was die Verständnisse und mentalen Gefängnisse vieler Kulturräume anlangt – und ziemlich unmarxistisch –, bis heute). Den Schrecken, den der Staat bei Lenin hatte, hat er, im weiteren geschichtlichen Verlauf als liberale Demokratie – zumindest bei nüchterner Betrachtung – weitgehend verloren. Seine Entwicklung war (in unserem Teil der Welt) eher die, die Hegel vorgezeichnet hat, und nicht die, die Marx prophezeit hat. Hegel seinerseits war kein blinder Apologet des Kapitalismus, sondern erkannte an, dass das Wirtschaftssystem seiner Zeit zu Spitzen und Ausläufern von exzessiver Armut und exzessivem Reichtum führt. Beides sei gleichermaßen schädlich und beides führe gleichermaßen – beim „Lumpenproletatiat“ wie bei den Steinreichen – zu seelischer Verwahrlosung und einem Verlust an Gemeinsinn: zu Asozialität. Ein Sozial- und Transferstaat biete sich aber als Versuch einer Lösung an, Besteuerung und rechtliche Regulierung. Also eine Kompromisslösung innerhalb des staatlichen Rahmens. Das westliche Staatswesen hat sich seit der Zeit Hegels stark verändert; seine Entwicklung könnte man jedoch begreifen als innerhalb der Hegelschen Philosophie vorgezeichnet. Eine Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt hat es unter Lenin gerade nicht gegeben, und überhaupt utopisch auf eine solche zu hoffen dünkt bemerkenswert wenig durchdacht. Hinsichtlich des Kommunismus scheint es schwer vorstellbar, wie eine klassenlose Gesellschaft anders aufrechterhalten bzw. wie Individuen und Gruppen davon abgehalten werden können, Macht und Assets zu akkumulieren wenn da keine repressive Staatsgewalt sei. Überhaupt sind solche politischen Utopien gleichsam eminent unpolitisch – indem sie die Grundlage für Politik: die Verschiedenheit unter den Menschen, das menschliche Wollen und die Verschiedenheit des menschlichen Wollens verkennen. Die Idee des Platonischen Staates enthält das Unrecht, gegen die Person, des Privateigentums unfähig zu sein, als allgemeines Prinzip. Die Vorstellung von einer frommen oder freundschaftlichen und selbst erzwungenen Verbrüderung der Menschen mit Gemeinschaft der Güter und der Verbannung des privateigentümlichen Prinzips kann sich der Gesinnung leicht darbieten, welche die Natur der Freiheit des Geistes und des Rechts verkennt und sie nicht in ihren bestimmten Momenten erfaßt. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.108) Bei Hegel ist nicht die Abschaffung des Eigentums der Weg zum rechten (Individual- und) Gemeinwohl, sondern dessen Anerkennung und dessen Beschützung durch den Staat. Marx setzt dem dann (unter anderem) seine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie entgegen; genauer gesagt, arbeiten sich seine Frühschriften an Hegel ziemlich durchgehend ab. Lenin hat gemeint, ohne ein Verständnis der Hegelschen Philosophie man könne Marx gar nicht begreifen. Und tatsächlich kann man Hegel nicht ohne Marx diskutieren, und Marx nicht ohne Hegel.  Einer erscheint gleichsam als die Nemesis des anderen, oder aber der eine als These, der andere als Antithese, die beide einer glorreichen, triumphalen Synthese entgegenstreben. Wie viel Hegel steckt dabei allerdings tatsächlich in Marx? Gerade z.B. Althusser will in Hegel nur einen scheinbaren Verwandten von Marx erblicken: das Trennende zwischen Marx und Hegel überwiege in Wahrheit und bei genauerer Betrachtung. Und so machte Althusser sich seinerseits daran, einen strukturalistischen Marxismus, einen auf strukturalistischer Basis ruhenden Marxismus zu entwickeln. – Damit nähern wir uns dann schon wieder dem Poststrukturalismus und der Postmoderne – die dem Marxismus eher feindlich gegenüberstehen: und vor allem umgekehrt. Noch feindlicher gegenüber stehen sie freilich Hegel. Wobei sie dabei aber dann doch nach einem Hegel und der Geschlossenheit eines Hegel verlangen. Du siehst, Scheherezade, ein endlos geflochtenes Band, das alles. Wer ist der Held, der es weiter flechtet?

Ebensowenig, als von beständigen Verbesserungen, kann von „eigentümlichen Ansichten“ der Philosophie die Rede sein. Wie sollte das Vernünftige eigentümlich sein? … Wenn ein Eigentümliches wirklich das Wesen einer Philosophie ausmachte, so würde es keine Philosophie sein … Wer von einer Eigentümlichkeit befangen ist, sieht in anderen nichts als Eigentümlichkeiten. (Jenaer Schriften S.10) Hegel wird es gerne als Eigentümlichkeit vorgeworfen, dass er der Subjektivität und der Individualität zu wenig Raum gebe; vielmehr bestrebt sei, sie unter ein (heteronomes) Allgemeines zu subsumieren (und sie dadurch zum Staatsbürger zu degradieren, zu entmenschlichen etc.). Kierkegaard entwickelt seine (Art von) Philosophie aus sich einer daran abstoßenden Bewegung, Adorno setzt Hegel seine negative Dialektik (und mehr) entgegen. Popper, in einem Klimax von Eigentümlichkeit, die zwar eine rationale Grundlage hat, in ihrer Ausformung dann aber philosophisch nicht mehr tatsächlich nachvollziehbar ist, hält Hegel bestenfalls (sofern er, der vermeintliche Scharlatan, überhaupt was sei) für einen Faschisten. In einer Beleidigtheit darüber, dass bei Hegel die Subjektivität zu kurz komme und unter ein Allgemeines untergeordnet werde, wird so eine subjektive Einschätzung auf eine Spitze getrieben, die kaum mehr verallgemeinerbar ist: was nicht heißt, dass sie sich nicht, gerade deswegen, umso mehr selbst will – so tritt die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung ein. Indem es dabei um das Bewußtsein der Eigentümlichkeit der Ansicht und Kenntnis zu tun ist, so ist eine Meinung, je schlechter ihr Inhalt ist, desto eigentümlicher; denn das Schlechte ist das in seinem Inhalte ganz Besondere und Eigentümliche, das Vernünftige dagegen das an und für sich Allgemeine, und das Eigentümliche ist das, worauf das Meinen sich etwas einbildet. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.484) (Oder war Popper, der Propagandist der offenen, freien Gesellschaft, neidisch, weil Hegel das schon vor ihm – und philosophisch und geistesgeschichtlich noch viel gewaltiger – war? Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.47) Persönlich bekannt war Popper als schwieriger, autoritärer Mensch, der anderen (freilich auch berechtigterweise) nicht sonderlich viel Denkfreiheit gewährleistet hat.) Man hüte sich eventuell vor zu viel (querdenkerischer) Subjektivität, denn: Dies scheint zufälligen Meinungen Tür und Tor zu öffnen, wenn der Gedanke über das Recht kommen soll; aber der wahrhaftige Gedanke ist keine Meinung über eine Sache, sondern der Begriff der Sache selbst. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.17) Die recht prononcierten, mehr Subjektivität einfordernden Kritiker an Hegel, hatten, neben ihrer Brillanz, so dann auch recht deutliche Eigentümlichkeiten. Kierkegaard hat geradezu in einem (für seine Familie typischen) melancholischen religiösen Wahn gelebt; und war offensichtlich in erheblichem Maße selbstzentriert und unkollegial (was er (partiell) (über sich als vermeintlich hochkriminellen, diabolischen „Verführer“ von Regine Olsen) ebenso manisch schriftstellerisch aufgearbeitet hat wie das Thema der rechten Religiosität, und in einem grellen Mix aus übersteigerter fiktionaler Selbstbewunderung und Selbstbestrafung). Adorno (Im schroffen Gegensatz zum üblichen Wissenschaftsideal bedarf die Objektivität dialektischer Erkenntnis nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt. Sonst verkümmert philosophische Erfahrung. Aber der positivistische Zeitgeist ist allergisch dagegen (Negative Dialektik S.50) … Subjektivität, die sich selbst verleugnet, schlägt um in Objektivismus (S.78) … Befreites Bewußtsein, das freilich im Unfreien keiner hat … (S.102) (und weiter: … eines, das seiner mächtig wäre, wirklich so autonom, wie es bisher immer nur sich aufspielte, müßte nicht immerzu fürchten, an ein Anderes – insgeheim, die Mächte, die es beherrschen – sich zu verlieren) … Identität ist eine Urform von Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die darin unterdrückte Sache genossen … Identität wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, nach dem das Subjekt sich zu richten habe, diesem zurückzahlt, was das Subjekt ihm zugefügt hat (S.151) … Die Unmündigkeit, die das verursachte, ist nicht so, wie Kant dachte, von der Menschheit selbst verschuldet. Mittlerweile zumindest wird sie planvoll reproduziert von den Machthabern (S.204) … (Hegels) Philosophie hat kein Interesse daran, daß eigentlich Individualität sei (S.336) … Die einzelmenschlichen Spontaneitäten, mittlerweile auch weithin die vermeintlich oppositionellen, sind zur Pseudoaktivität, potentiell zum Schwachsinn verurteilt (S.341) hat den Fimmel, dauernd eine (gleichsam ziellose, eigentümliche) Spontaneität des Individuums zu beschwören, die er aber in allem nicht allein unterdrückt sondern geradezu zerquetscht und vernichtet vorfinden will (so dass es billig wäre, hinter diesem (Quasi-) Neurotikertum der frühen Kritischen Theorie sexuelle Verklemmtheit zu vermuten). In ihrer Mischung aus Rationalität und Neurose sind aber natürlich die Beiträge von Kierkegaard oder Adorno ihrerseits von größter Relevanz. Kierkegaard hat das Subjekt und hat seine Philosophie äußerst kraftvoll und für immer lebendig an das Absolute gespannt (anders als die tatsächlichen späteren Existenzialisten, die das, vergleichsweise schlaff und vorübergehend, an das „Nichts“ getan haben). Adorno et al. hat mit seiner Negativen Dialektik der Aufklärung, in all eben deren Hermetik, nebst aller wertvoller kritischen Einsichten, wie mit einer Saugglocke einen umso riesigeren Raum des befreiten gesellschaftlichen Imaginären geöffnet, was wichtig und notwendig ist/war. Von größter Relevanz also das, auch wenn es in seiner (allerdings eben nicht unberechtigten, sondern sich aus einen bestimmten Blickwinkel aus durchaus anbietenden) Kritik an Hegel eventuell am Kern der Sache vorbeigeht. Hegel will ja die Subjektivität gar nicht ins Zentrum stellen, sondern das Ganze betrachten, von dem die Subjektivität nur ein – wenngleich wesentliches – Element ist. Das Ganze (aber) ist die sich bewegende Durchdringung der Individualität und des Allgemeinen; … (Phänomenologie des Geistes S.308) Durch diese sich bewegende Durchdringung von Individualität und Allgemeinen stellt sich eben her der Geist. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist. (ebendaS.33) Wissen stellt sich aber nicht über bloße Subjektivität in ihrer Spontaneität her, sondern indem das Subjekt versucht, das Objekt zu begreifen, indem … der Geist aber nichts Einzelnes ist, sondern Einheit des Einzelnen und Allgemeinen. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.305) Dass das Subjekt nur dann Subjekt sein kann – und in seiner Subjektivität kompetent und autonom – wenn es Einsicht in das Objektive und Allgemeingültige hat; wenn es also ein vernünftiges Subjekt ist; ist wohl eine Binsenweisheit – die aber trotzdem gerne immer wieder unterschlagen wird. Bzw. tendieren besonders subjektzentrierte und (herrschafts)kritische DenkerInnen immer wieder dazu, im Objektiven und Allgemeinen ganz hauptsächlich eine Heteronomie zu erblicken; etwas, das der Subjektivität feindlich und unterdrückend – und eben angeblich übermächtig – gegenüberstehe. Man würde solchen KritikerInnen dann und wann mehr Einsicht wünschen, dass eine solche Gewichtung bis zu einem gewissen Grade tatsächlich offenbar zu subjektiv ist und wenig verallgemeinerbar – und dass sie den Terror, den sie der Objektivität zuschreiben, in Wirklichkeit selbst mit der Überbetonung und dem Verallgemeinerungsversuch ihrer subjektiven Idiosynkrasien implizit oder eben auch explizit (und beabsichtigterweise oder auch unbeabsichtigt) ausüben oder ausüben wollen. Vielleicht sollten sie Hegel und seine Versuche, das Ganze und das Allgemeine zu denken und zu berücksichtigen anstatt das Subjektive, Idiosynkratische etc. genauer untersuchen und verinnerlichen, anstatt ihn in erster Linie zu kritisieren, wenn nicht zu verabscheuen. Das Subjektive bewegt sich in einer objektiven Welt. Die menschliche Natur ist eine duale: indem der Mensch gleichermaßen ein Einzel- wie ein Kollektivwesen ist (das, mit Kant gesprochen, in ungeselliger Geselligkeit lebt und daher seine Lebenswelt dementsprechend auszugestalten hat). Genau das wirft dann eben das Problem der Moral auf und der moralischen Ausgestaltung der menschlichen Lebenswelt. Ob das Moralische bzw. dessen Impliziertheit/Implizierungen etwas vom Menschen gemachtes oder etwas tatsächlich in der Welt vorhandenes sind (also ob Moral etwas subjektiv oder objektiv Impliziertes ist), ist im Übrigen bis heute eine lebhaft diskutierte philosophische Streitfrage – da sie keineswegs leicht zu entscheiden ist. Womöglich auch gar nicht: da sich in ihr Subjektives und Objektives fast untrennbar miteinander vermengen (weswegen man vielleicht andere Verständnisse von beiden benötigt). Klar ist, dass moralische Systeme, sittliche Verständnisse u. dergl. innerhalb von jeweiligen (und insgesamt in allen) Zeiten und Kulturen dem Menschen als objektiver Geist gegenübertreten. Moral und Sitte nehmen auch klarerweise für sich in Anspruch, objektiv und allgemein gültig zu sein. Und ja: es ist schwierig bis unmöglich, sich das Moralische (die tiefer gehenden Inhalte und Implikationen seiner, nicht die einzelnen kulturrelativen sozialen Etiketten) als etwas anderes als etwas objektiv Verankertes, aus dem Objektiven kommendes und den Menschen dorthin wieder zurückführendes vorzustellen. Schon der junge Hegel hat sich, eben in seiner Harmoniesüchtigkeit, mit Fragen nach dem moralischen Charakter der Welt bzw. der moralischen Ausgestaltung der Welt beschäftigt. Wenngleich er stark aus einer religiösen Empfindung heraus denkt, und sich stark damit beschäftigt, wie sich der Einzelne in ein Allgemeines einordnen kann, sind ihm ein obstruktives Christentum bzw. eine übermächtig tradierte Sittlichkeit ein Gräuel: da sie dem Menschen die sittliche Autonomie, und überhaupt seine Individualität rauben. Ebenso wendet er sich gegen die (abstrakt bleibende) Pflichtethik Kants: Menschen seien keine Pflichtlinge oder ausführende Organe von abstrakten Prinzipien – sie seien in ihrer Ganzheit, und in der Ganzheit ihrer Bedürfnisse und in der Vielfalt ihrer Eigenschaften zu nehmen, der Mensch habe eine konkrete und leibliche Existenz. Indem die Moral sowohl objektiven wie subjektiven Ursprungs zu sein scheint, scheint sie, von Grund auf, als etwas Widersprüchliches: Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes als die Ausbildung  dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen Seiten; sie ist, um einen kantischen Ausdruck hier, wo er am passendsten ist, zu gebrauchen, ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche. (Phänomenologie des Geistes S.453) Widersprüchlich zunächst indem das „Reich“ der Moral als jenseitig und allgemein erscheint; als etwas, das objektiv vorhanden ist (bei Gott, oder aber in einem Reich der „Ideen“), aber gleichzeitig IN der Welt ist und in ihr wirksam wird (oder kraftlos bleibt). Wenn die Moral als etwas rein Objektives überbestimmt wird, als eine Vorschrift, an die sich der Mensch zu halten habe, bleibt dadurch der Mensch moralisch unterbestimmt: er muss sich dann nur an Regeln halten, hat aber selber keine sittliche Substanz und Autonomie; eine Vakanz, aus welcher in ihm dann wieder umso mehr das Bedürfnis nach einer objektiven moralischen Instanz entstehen möge: … das abstrakte Gute verflüchtigt sich zu einem vollkommenen Kraftlosen, in das ich allen Inhalt bringen kann, und die Subjektivität des Geistes wird nicht minder gehaltlos, indem ihr die objektive Bedeutung abgeht. Es kann daher die Sehnsucht nach einer Objektivität entstehen, in welcher der Mensch sich lieber zum Knechte und zur vollendeten Abhängigkeit erniedrigt, nur um der Qual der Leerheit und der Negativität zu entgehen. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.290) Umgekehrt sind Tugendhaftigkeit und Herzlichkeit gewisse Formen der moralischen Innerlichkeit; allerdings keine an sich vollendeten: die Tugendhaftigkeit kann auch innerlich relativ leer und unbeteiligt bleiben, und ein tugendhaftes Individuum ist allein noch kein schöpferisches und autonomes moralisches Subjekt; die Herzlichkeit ist zunächst ein subjektives (oder kulturell angelerntes) Temperament, das aber nicht notwendigerweise mit abstrakter Einsicht und der Fähigkeit, vernünftige moralische Unterscheidungen zu treffen, einhergeht. Die abstrakte, abstrahierende Vernunft ist ebenso Komponente der moralischen Existenz wie das moralische Empfinden. Tatsächlich beschäftigt sich die Vernunft mit demselben wie die Moral: Mit der Frage, was ist richtig und was ist falsch, was ist angemessen und was nicht, was ist wünschenswert und was nicht; bzw. was sind die Gradabstufungen und Wahrheitsgehalte innerhalb von Gegebenheiten und Zusammenhängen. Die unbestechliche und folgerichtige Vernunft wird dann, in der Regel, auch moralisch folgerichtig und unbestechlich sein. Bei Hegel liegt die Lösung des Nests von Widersprüchen innerhalb des Moralischen dann darin, dass das Sittliche dann eben aus dem (autonom) Vernünftigen folgt: eine sittliche Ausgestaltung der Welt basiert auf vernünftigen Unterscheidungen und auf Implikationen, die aus der Vernunft kommen. Die Gesetze der Sittlichkeit sind nicht zufällig, sondern das Vernünftige selbst. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.56) Die Gesetze der Sittlichkeit sind also abermals nicht eigentümlich. Und das autonome sittliche Subjekt ist also auch nichts Eigentümliches und keine exzentrisch herausragende Subjektivität, sondern eine geistige Entität, die Einsicht in das Allgemeine (und daher auch in das Wahre und Ganze) hat. Indem das einzelne Subjekt Einsicht in das objektiv Allgemeine erlangt und diese verinnerlicht und dynamisch ausprägt, wird es abermals zum Geist, der dann eben auch: Wahrheit, Ganzheit, Vernunft und Sittlichkeit ist. Der Geist fügt zusammen, der Geist trennt: das liegt im Geist und gleicht dem Sittlichen, das auf denselben Prinzipien beruht. Sein geistiges Wesen ist schon als sittliche Substanz bezeichnet worden; der Geist aber ist die sittliche Wirklichkeit … Der Geist ist hiermit das sich selbst tragende, absolut reale Wesen. (Phänomenologie des Geistes S.325) Dieses absolut reale Wesen ist dann gleichsam der Koordinatenursprung der dualen Existenz des Menschen als Einzel- wie Kollektivwesen. In diesem Koordinatenursprung, in den der vollkommene Mensch dann zurückkehrt und zur Ruhe kommt, wird die Subjektivität und die Einzelheit so allgemein, umfassend und transparent, dass sie eben eine das Objektive ausdrückende und befördernde Subjektivität wird. In seiner sittlichen Autonomie ist ein solches Subjekt dann zwar hochgradig beweglich und exzentrisch/eigentümlich, in seiner Einsicht in das Allgemeine ist es aber vielmehr hyper-normal. Es erlebt dann die Moral als etwas zwar Objektives, aber eben als nicht heteronom Objektives, sondern als etwas objektiv Richtiges, dem es dann natürlicherweise folgt, und das (das objektiv Richtige) auch immer wieder Veränderungen unterworfen ist (da es sich bei ihm um Qualitäten handelt, die eben als solche immer nur annährungsweise bestimmbar sind). Seine Moralität wird zur Gewissenhaftigkeit. Das Gewissen erkennt keinen Inhalt für es als absolut, denn es ist absolute Negativität alles Bestimmten. Es bestimmt aus sich selbst(ebenda S.473) Dieses Aus sich selbst passiert aber eben nicht aus etwas rein Subjektivem und Einzelnen heraus, sondern ist eines, das das Allgemeine und auch das Andere in sich zu tragen versucht;  das aus einer Gemeinschaft nicht allein mit dem Allgemeinen sondern auch mit dem Anderen heraus passiert. Denn … es ist die moralische Genialität, welche die innere Stimme ihres unmittelbaren Wissens als göttliche Stimme weiß, und indem sie an diesem Wissen ebenso unmittelbar das Dasein weiß, ist sie die göttliche Schöpferkraft, die in ihrem Begriffe die Lebendigkeit hat. Sie ist ebenso der Gottesdienst in sich selbst; denn ihr Handeln ist das Anschauen dieser ihr eigenen Göttlichkeit. Dieser einsame Gottesdienst ist zugleich wesentlich der Gottesdienst einer Gemeinde(ebenda S.481) Das autonome sittliche Subjekt trägt nicht allein die Einsicht in das Allgemeine (der vernünftigen Sittlichkeit) in sich: es trägt auch das Andere in sich. Das Andere, das sind dann aber die anderen Subjektivitäten – und die anderen Subjektivitäten (harmonisierend) zusammengefasst bilden dann: die Gemeinde. Das wahrhaft moralische Individuum, das im Koordinatenursprung der dualen Natur des Menschen als Einzel- wie als Kollektivwesen ruht, als das sich selbst tragende, absolut reale Wesen, ist ein Versammlungsort: in ihm versammelt sich die Menschheit – als Gemeinde. Das ist die Basis, auf der es operiert.

Bartolomé Esteban Murillo starb an den Folgen eines Sturzes von einem Gerüst während dem er in einer Kapuzinerkirche malte; in relativer Armut. Der Legende nach gab er viel für karitative Zwecke aus. Sein Biograph Palonimo beschrieb Murillo als einen Menschen, der … nicht nur vom Himmel begünstigt war durch die Erhabenheit seiner Kunst, sondern auch durch die Gaben seiner Natur, als ein guter Mensch, von liebenswürdigem Charakter, demütig und bescheiden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel kommt am 27. August 1770 in Stuttgart als Spross einer Juristen- und Beamtenfamilie zur Welt. Er durchlebt eine relativ unbeschwerte Kindheit und Jugend und beginnt sich früh für die Wissenschaften, die Geschichte (insbesondere die Antike), die Mathematik und die Philosophie zu interessieren. Seiner Begabung gemäß studiert er am elitären Tübinger Stift und schließt dort mit einem Magister der Philosophie ab, es wurde ihm auch das theologische Lizenziat verliehen. Zwei seiner Kommilitonen und auch engsten Freunde dieser Zeit sind Hölderlin und Schelling, mit denen er ein geistiges Triumvirat bildet. Übertroffen sehen sich diese drei Geister höchsten Ranges dann im Übrigen trotzdem durch den Primus des Stifts: Carl Christoph Renz, einen Erzkantianer und oppositionellen Geist – aus dem später jedoch aus rätselhaften Gründen nichts weiter werden sollte als ein Landpfarrer. Hegel arbeitet zunächst als Hauslehrer, bevor er 1801 in Jena seine Universitätskarriere beginnt – die er dort mit der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes 1807 beschließt, bevor er nach Bamberg übersiedelt. Darauf folgen Professuren in Nürnberg, Heidelberg und schließlich Berlin, wo er zum Star- (und Staats) Philosophen avanciert. 1811 heiratet Hegel Marie von Tucher, mit der er zwei Söhne zur Welt bringt (ein unehelicher Sohn, Ludwig, kam bereits 1807 zur Welt). Hegel ist von ausgeglichenem Charakter und gilt als lustig und umgänglich, nicht zuletzt gegenüber Kindern. Er liebt Brat- und Knackwürste und guten Wein, und wird in Gesellschaften als geistvoller Unterhalter gern gesehen. Er pflegt Freundschaften oder gute Beziehungen zu etlichen der hervorragendsten Geister seiner Zeit, nicht zuletzt zu Goethe. Trotz seiner mangelnden rhetorischen Begabung weiß er seine Zuhörerschaft über die Tiefe seiner ausgesprochenen Gedanken in seinen Bann zu ziehen. Zug seines nach außen hin täuschend einfachen Wesens, hinter dem sich große Tiefen verbergen, scheint auch eine gewisse „Bauernschläue“ zu sein, über die es ihm gelingt, vor den Mächtigen harmlos, wenn nicht kratzbuckelnd zu scheinen, obwohl er in Wirklichkeit subversiv gegenüber sie eingestellt ist (?) (vgl. Adorno, Drei Studien zu Hegel S.45f.) Ende 1831 stirbt Hegel nach kurzer (nicht einwandfrei geklärter) Krankheit, als in Berlin die Cholera wütet. Letzte Worte sind von ihm keine überliefert. Neben einem Bruder, Georg Ludwig, hat Hegel auch eine Schwester: die offenbar hochbegabte Christiane Luise Hegel hatte ein mittelprächtiges Leben. Vielleicht wäre es besser verlaufen, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Allzu viel ist über diese (eventuell) interessante Frau nicht bekannt, unter anderem, weil Hegels Hinterbliebene aufgrund eines kompromittierenden Konflikts zwischen den beiden Geschwistern deren Briefwechsel vernichtet haben. Einige Informationen lassen sich über Christiane Luise Hegel finden. Ich werde sie aber nicht dienstleisterisch hier servieren. Nach denen kannst du schon selbst ein wenig recherchieren, du Arschloch.

Sie (Die zweite Bestimmung, die negative oder vermittelte, welche ferner zugleich die vermittelnde ist, Anm.) ist also das Andere nicht als von einem, wogegen sie gleichgültig ist – so wäre sie kein Anderes, noch eine Beziehung oder Verhältnis … (Wissenschaft der Logik II S.562) Also, anders als offenbar Hegel und die meisten Dialektiker setze ich mich gerne in Verbindung zu Sachen, wogegen „ich“ gleichgültig sein könnte, und die den meisten Menschen gleichgültig sind. Ich habe, wie gesagt, Interesse am „Anderen“, und wenn man mit dem Anderen Kontakt herstellen will, muss man das – und vor allen Dingen auch – mit dem Gleichgültigen tun. Das ist gut, denn so ziehe ich meinen gewaltigen Kreis nicht allein um das Meinige und um das Andere, sondern auch um das Gleichgültige und beherrsche es geistig. Es ist ein loserer, aber totalerer Zusammenhang als der der Dialektik, der da gestiftet wird. Lose, aber demokratisch, ist mein Geist gerade überall: er ist gerade im hinteren Busch in Afrika, in der Ecke neben einem Herd in Bangladesch und entlang des dreißigsten Breitengrades am atlantischen Ozean. Das macht mir eventuell auch ein Hegel nicht so schnell nach. Sich mit dem Gleichgültigen auseinanderzusetzen, bedeutet auch, sich mit tatsächlich anderen Milieus, tatsächlich anderen Lebenswelten als der eigenen auseinanderzusetzen und versuchen, zu denen Kontakt herzustellen. Das passiert unter Menschen vielleicht eher selten. In dem Roman Nächtliche Wege von Gaito Gasdanow meint einer: Es komme kaum vor unter Menschen (vor allem auch nicht unter so genannten Gebildeten), dass sie sich tatsächlich mit anderen Milieus, anderen Lebenswelten als den eigenen auseinandersetzen würden – dass sie sich tatsächlich in sie hineinzuversetzen suchten (ohne welche eine Auseinandersetzung ja oberflächlich bleibt) – vielleicht tun das letztendlich nur die Schriftsteller. Und so sind die Schriftsteller vielleicht die einzigen, die die Gesellschaft tatsächlich verstehen. Die Poeten (womit ich alle Künstler meine) sind letztendlich die einzigen, die die Wahrheit über uns wissen. Soldaten wissen sie nicht. Staatsmänner wissen sie nicht. Priester wissen sie nicht. Gewerkschaftsführer wissen sie nicht. Nur die Poeten kennen sie. (James Baldwin) – Sterne war der ungewöhnlichste unter den Schriftstellern. Bei ihm hat man dauernd Auseinandersetzungen mit dem scheinbar Gleichgültigen und Abwegigen; dem, was eigentlich gar nicht entlang der Bahn liegt. Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat, fragt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (Vermischte Meinungen und Sprüche 113: Der freieste Schriftsteller): Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden … Sterne ist der große Meister der Zweideutigkeit … Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf beides in einer Faltung seines Gesichts; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich recht und unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Seite nur flach und äußerlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Das Wesen des Geistes ist, laut Hegel, Freiheit – und Sterne möge bei Nietzsche also gar mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden. Hat man bei Sterne also den Geist der höchsten Stufe, das Ideal des Geistes? Und ist der Geist von Sterne überhaupt ein dialektischer Geist, oder halt einfach ein assoziationswütiger? Auch Hegel hat Sterne sehr geschätzt – wo aber Hegel dialektisch ist, da ist Sterne ultradialektisch. Der Kristallpalast seines Geistes ist ein beweglicher Kristallpalast, wo sich die lichten Räume, Keller oder Treppen ständig verschieben – in freilich harmloser Weise, ein Wunderland, das; während Sterne beziehungsweise der Träger des ultradialektischen Geistes knapp darunter sitzt und kindlich-lächelnd dieses eigene Spiel genießt. Der ultradialektische Geist von Sterne ist vielleicht nicht der göttliche Geist, aber eben wohl jener engelhafte Verstand, von dem Kojève spricht. Mit der Assoziationsfähigkeit, die den Künstler spezifisch ausmacht, ja: aber mit der Rationalität und dem dialektischen Vermögen des Philosophen ausgestattet gleichermaßen. Man könnte Sterne als einen radikalen Ausdruck dessen sehen, was Hegel als die „geniale göttliche Ironie“ bezeichnet und beschreibt als: Wer auf solchem Standpunkte göttlicher Genialität steht, blickt dann vornehm auf alle übrigen Menschen nieder, die für beschränkt und platt erklärt sind, insofern ihnen Recht, Sittlichkeit usf. noch als fest, verpflichtend und wesentlich gelten. So gibt sich denn das Individuum, das so als Künstler lebt, wohl Verhältnisse zu anderen, es lebt mit Freunden, Geliebten usf., aber als Genie ist ihm dies Verhältnis zu seiner bestimmten Wirklichkeit, seinen besonderen Handlungen wie zum an und für sich Allgemeinen zugleich ein Nichtiges, und es verhält sich ironisch dagegen. (Vorlesungen über Ästhetik 1 S.95) Tatsächlich ist ein solch, zumindest impliziter, Hochmut aber dann doch nicht das eigentliche Wesen des Sterneschen, des wahrhaft ultradialektischen Geistes (inwieweit Sterne tatsächlich ein wahrhaftiger Träger eines solchen Geistes war, sondern in der Praxis nicht einigermaßen unter dem Geist seines Werkes stand, bezweifelt zum Beispiel Lichtenberg (dem ich hierbei bekanntermaßen den wohl wichtigsten Anstoß in meinem Leben verdanke) – und auch Nietzsche scheint der Mann Sterne letztendlich eine komische Figur). Das Anrührende bei Sterne ist nämlich, wie sich die gleichsam chaotische Mannigfaltigkeit seines Charakters und Sensoriums aus einer starken, genuinen humanen und humanistischen Wurzel heraus entfaltet (was man z.B. bei seinem Epigonen Jean Paul – der auch viel unerträglicher zu lesen ist – so nicht empfindet), aufgrund derer er – in all seinem Sichverlieren – auch immer bei sich bleibt. Die Ironie bei Sterne ist auch eine sehr milde Ironie – und überhaupt eben ist sie Ironie; und nicht Sarkasmus oder Zynismus. Im Gegensatz zum Zynismus, der zwischen sich und dem Gegenstand, auf den er sich bezieht, die Verachtung schiebt, nimmt die Ironie ihren Gegenstand ernster, als sie vorgibt es zu tun. Der Ironiker kümmert sich um seinen Gegenstand und will ihn bilden – er will ihm sein eigenes Verfahren vorführen, ihm demonstrieren, wie man es anwendet, um ihm aus seiner Verstrickung zu helfen. Der Ironiker ist verbunden, die Ironikerin hat Kontakt. Und Verbundenheit ist gut und Kontakt ist gut. Es ist ein sinnvolles Verhältnis zur Welt. Ironie ist der vortrefflichste Zustand des Geistes und der Weisheit, wie auch Kierkegaard sagt – und Humor ist die letztendliche Weisheit der Lebensführung, wie Kierkegaard ebenfalls sagt. Bei Sterne hat man – so Nietzsche – einen Überhumor. Vielleicht keinen göttlichen Humor (denn dieser ist sowieso unbekannt), aber eben einen engelhaften Humor… Bei Sterne hat man ein ständiges Heben und Senken der Welt: denn das ist, wie der bewegliche und der ultradialektische – der gute Geist, der seinen Platz kennt – sich selbst und die Welt ansieht. Der gute Geist, der seinen Platz kennt, weiß, dass seine Subjektivität das Zentrum der Welt und was ungeheuer Wichtiges ist – als auch, dass er ein kleiner Punkt ist, der nur aufgrund von äußeren Kräften in der Welt haften bleiben darf und nicht ins ortlose Nirgendwo geschleudert wird, in seiner Masselosigkeit und ihrer Irrelevanz. Durch die Kunst wird das Gemüt also durch alle Gefühle hindurchgezogen, (dies ist) eine wesentliche Macht und Wirksamkeit der Kunst. Dieses wird im allgemeinen als Endzweck der Kunst angesehen. (Philosophie der Kunst S.56) Sterne wird nicht nur wegen seiner Gedankenexperimente gerühmt, sondern auch wegen seiner Empfindsamkeit. In seinen ultradialektischen Abschweifungen zieht er einen auch durch Gefühle hindurch. Was aber überhaupt sind eigentlich Gefühle? Unsublimierte Gedanken (bzw. spiegelbildlich dazu also Gedanken allein sublimierte Gefühle)? Oder sind Gedanken und Gefühle voneinander in erster Linie getrennt? Sind Gefühle etwas Eindeutiges und Beständiges – oder nicht etwa eher was Flatterhaftes und Unklares? Beim reifsten Menschen finden all diese Komplexitäten wohl ineinander verwoben und zu einem einzigen nicht-dichotomischen Innenleben integriert, wo man zwischen Eher-Gedanken und Eher-Gefühlen durch offene Räume herumwandern kann. So wie die höchsten Gedanken (ultra)dialektisch sind, sind auch die reifsten Gefühle fröhlich und traurig zugleich, und zeichnen sich durch die größte Komplexität aus. So zum Beispiel beschreibt han unter Koreanerinnen eine Akzeptanz des Schmerzes bei gleichzeitiger Hoffnung auf Besserung. Der Llongot Stamm auf den Philippinen versteht unter liget eine wütende Energie, die aber auch zu produktiver Arbeit motiviert. Awumbuk bezeichnet unter den Baining auf Papua-Neuguinea die gemischten/paradoxen Gefühle, die das Verlassen geliebter Gäste bei den Zurückgebliebenen hinterlässt. Bei Sterne hat man insgesamt: Empfindsamkeit. – Angesichts von einem solchen Bewusstsein/Denken etc. Wahrnehmung bleibt der Postmoderne da eventuell glatt die Spucke weg! Hier hat man in der Vielheit Einheit, im Relativen einen absoluten Zusammenhang. Das Absolute ist da der ultradialektische Geist, dem nichts fremd und gleichgültig bleibt – weil er eben aus einer genuinen humanen und humanistischen Wurzel heraus sich entfaltet. Das ist die Weltwährung, der Schlüssel, der Türen öffnet, der Schlüssel, der die Tür zum Gesetz öffnet. Ganz aktuell scheinen wir zu leben – an und für sich in einem Traumzeitalter für Marxisten: – in einem Zeitalter sich ständig zuspitzender Widersprüche. Wenngleich halt nur nicht ganz, wie die Marxisten das gemeint haben (also sich ständig zuspitzender objektiver ökonomischer Widersprüche): sondern eher im Sinne von Identitätspolitik und wie gut repräsentiert verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Politik und Gesellschaft sind oder sich fühlen. Die fade Gleichgültigkeit und Gleichheit der Epoche des letzten Menschen (wie man den Eindruck hatte) scheint zu Ende. Widerstreit ist wieder angesagt. Die Gesellschaft scheint wieder in streitende Parteien zu zerfallen, die Kultur in lauter Einzelkulturen. Die Frage nach der Vermittlung zwischen diesen Parteien und zwischen diesen Kulturen stellt sich dadurch wieder. Gemäß Schiller ist es Aufgabe des Genies (und kann es allein sein), zwischen verschiedenen Kulturen, bzw. zwischen dem Klassischen und dem Profanen zu mediieren (dabei hatte er Goethe im Auge). Das kann schon sein, dass das Genie allein die entsprechende innere Flexibilität für so was hat. Aber dabei können wir es nicht bewenden lassen, denn wir wollen ja, dass ALLEN so eine Flexibilität und jubilierende innere Freiheit, die daraus folgt, zur Verfügung steht. Der Sternesche ultradialektische Geist erscheint somit in jeder Hinsicht als guter Geist für unser Zeitalter. Eines Tages werden diese Jahrhunderte vielleicht yorickianisch sein. Allerdings: … eine solche Freigeisterei … besaß vielleicht kein anderer Mensch, urteilt Nietzsche letztendlich über Sterne. Wenn aber eine solche Freigeisterei kein anderer Mensch besitzt, sondern diese singulär ist: wie kann es dann Modell werden? Naja, außer ständigen Erklärungen, Anleitungen und Anschauungen dazu kann ich auch nichts offerieren. Allerdings ist das schon eine ganze Menge. Dieser Hegeltext liefert schon wieder allerhand Erklärungen, Anleitungen und Anschauungen in diese Richtung.

Die kleine Obsthändlerin von Bartolomé Esteban Murillo war ein Lieblingsgemälde Hegels.

Die Kunst gehört in das Gebiet des Absoluten, Hohen; in diesem Gebiete des absoluten Geistes ist ein Wissen von absoluten Geiste … Das Bewußtsein seiner selbst, diese Subjektivität ist der endliche Geist, der absolute Geist ist eben absoluter Geist, indem er sich als solcher bewußt wird. Die Religion, Wissenschaft, Philosophie ist auch die Beschäftigung des endlichen Geistes mit der absoluten Wahrheit … Das Verhältnis ist also in allen diesen drei Weisen dasselbe, sie sind nur der Form nach unterschieden … Die Kunst aber ist das anschauende Bewußtsein der Natur, so daß es das Bewußtsein auf eine sinnliche Weise sinnlich unmittelbarer Gestaltungen überhaupt hat… (Philosophie der Kunst S.72) Der absolute Geist ist der Geist, der sich selbst, reflektierend, durchdringt und ergreift und so vermag, die Welt geistig, über den Geist zu formen. Er ist der Geist, der sich selbst mit seinem Begriff kongruent macht. Und er fächert sich (bei Hegel) auf in Kunst, Philosophie und Religion: diese sind Modi, über die der Geist gestaltend in die Welt eingreift (und sie „vergeistigt“) und sich gleichzeitig selbst ausgestaltet und innerlich differenziert. Kunst ist die Selbstanschauung des Geistes in Werken der freien Produktion; deshalb gehört sie als unmittelbarer Selbstvollzug zu den Momenten des absoluten Geistes, steht im Hegel-Lexikon (S.295). Ungleich der Philosophie, die sich am Begriff abarbeitet, realisiert sich die Kunst in der Anschauung. Sie geht von der Anschauung aus und wieder in die Offerierung einer Anschauung (im höchsten Fall: vom Absoluten) zurück: das ist dann das Kunstwerk. Im Kunstwerk drückt sich – anschauungsmäßig – eine Wahrheit aus; wird eine Wahrheit – zwar nicht (begrifflich) erklärt, aber (anschauungsmäßig) – dargestellt: Hiergegen steht zu behaupten, daß die Kunst die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen berufen sei und damit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung und Enthüllung selber habe. Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre, gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben. (Vorlesungen über Ästhetik 1 S.82) Insofern die Kunst aus der Anschauung kommt und in der Offerierung einer Anschauung ihren Ausdruck findet, hat sie gleichsam ein „irrationales“ Element, eine irrationale, außerlogische und daher auch außerzeitliche, außergeschichtliche (und außerbegriffliche) Komponente (wenngleich die Schaffung eines substantiellen Kunstwerks vox dex (genderfluiden) Künstler:in/X+ freilich sehr viel begriffliche Arbeit und ein solches Verständnis, viel rationale Denkarbeit erfordert: keinen verschwommenen sondern einen luziden Geist – der jedoch seine eigenen Luzidität so auf die Spitze treibt, dass sie zu verschwimmen scheint; genauer gesagt, in einer pulsierenden Farbenprächtigkeit aufgeht. Deswegen kann man vielleicht auch sagen: die Kunst bringe den Begriff zur Anschauung). Trotzdem entwickelt sich die Kunst in und mit der Geschichte. In der Kunst kommt, gemäß Hegel, ein Volksgeist, eine Volksseele zum Ausdruck. Von alters her in Form von einer typischen Symbolistik: altägyptische Kunst sei beispielsweise in erster Linie symbolisch. In der griechischen Antike hat man eine gewisse Verselbstständigung der Kunst und (gemäß Hegel) eine Kunst-Religion. Im Mittelalter stehe die Kunst im Dienste der Religion; in der Neuzeit findet eine weitere Verselbstständigung der Kunst (analog zu der der Vernunft) statt. Die „klassische“ Kunst erhebt den Anspruch, das Allgemeine vernünftig darzustellen (inklusive der ethischen Aspekte und hinsichtlich des Wahren, Guten, Schönen), die Romantik verlagert den Schwerpunkt in die subjektive Seite (das Irrationale, das Fragment, das Obskur-Nächtliche etc.). Hegel selbst vertritt das Ideal einer „klassischen“ Kunst, die die „Wahrheit“ des „Ganzen“ ausdrückt; das Subjektive, wie es in einen objektiven Zusammenhang eingelassen ist und in ihm aufgeht; die „höchste Wahrheit“ des Allgemeinen gegenüber dem Partikularen usw. Aufgabe der Kunst, insbesondere der Literatur, sei es, den „Charakter“ darzustellen: dieser wiederum ist, idealerweise, eine (facettenreiche) Vielheit (von Persönlichkeitsaspekten), die vom kompetenten Charakter eben vereinheitlicht und in sich harmonisiert wird. Das ist dann der starke und folgerichtige, einheitliche und „klassische“ Charakter (dessen Ausbildung Ziel der Philosophie Hegels ist). Die Romantik stößt sich bekanntlich daran ab, und arbeitet sich an der „Zerrissenheit“ des Charakters ab. Die Romantik mit ihren unauflöslichen, undialektischen Irrungen und Wirrungen – oder die Literatur von Kleist – sind so das Ideal Hegels nicht. Der pflegt, bekanntlich, eine weniger verstörende Sicht auf die Dinge. – Die kleine Obsthändlerin von Bartolomé Esteban Murillo war, zum Beispiel, ein Lieblingsgemälde Hegels. Natürlich trifft es auch mein kindliches Herz wie mit einem Pfeil, mit all der Anmutigkeit und der inneren Reinheit und Güte, die in der spezifischen Anschauung und der Kunst von Murillo zum Ausdruck kommen: So dass ich diese herrliche Gelegenheit doch nutzen will, um ein kleines Denkmal für diesen heute nicht mehr sehr bekannten Mann aufzurichten. Bartolomé Esteban Murillo (1617 – 1682), ein Vertreter des Goldenen Zeitalters Spaniens, malte hauptsächlich religiöse Motive, aber auch Genrebilder. Gleichermaßen werden beide für ihre Authentizität und Wahrhaftigkeit und für die (innere und äußere) Schönheit der Figuren gelobt. Schönheit, kann man mit Hegel sagen, ist die Idee, in der sich das Wahre, Gute, Echte etc. ausdrückt; in der das Gute, Wahre, Echte mit der Wirklichkeit zusammenfallen. Sie ist das Wirklichwerden und Zum Ausdruck Kommen von innerer Schönheit und Harmonie. Mit seiner spezifischen Darstellung von Schönheit nahm Murillo damit gleichsam den Rokoko vorweg – ohne allerdings in dessen Formalismen zu verfallen: da die Feinfühligkeit und Geziertheit Murillos nichts ihm Äußerliches, sondern Kern seines Wesens waren. Aus dieser gesunden Wurzel heraus war er wendig genug, das Allgemeine (die Schönheit, Wahrheit, Authentizität etc.) immer wieder in höchst individueller Weise darzustellen. Das Genie spiritualisiert alles, so Salvador Dali, und so mischt sich bei Murillo die Anschauung von irdischer und himmlischer Realität immer wieder mit einem mystischen Erleben: Es ist eine spiritualisierte Wirklichkeit, die er anschaut und empfindet. Diesem Menschen ist Alles zugänglich: sowohl die tiefste, verborgenste Mystik der Seele als auch das einfache, alltägliche Leben…; alles stellt er in erstaunlicher Wahrheit und Realität dar … urteilte Wassili Botkin im 19. Jahrhundert über Murillo. Mit der Heraufkunft der modernen Kunst beginnt der Stern von Murillo zu verblassen – dafür steigt der seines bis dato vergessenen Landsmannes El Greco auf. Bei Velazquez und El Greco scheint die metaphysische Aufgabe der Kunst, das innere Wesen einer Sache zum Ausdruck zu bringen, in modernerer Weise – und mit mehr Bezugnahme auf die Schrecken der Moderne und der modernen Hermeneutik des Verdachts hinsichtlich der Monstrosität des Menschlichen – gelöst. Obwohl auch Murillo eine jener metaphysischen Künstlerinnen war, in deren Darstellung der Welt auch noch eine (rätselhafte, verklärte) andere Welt zum Vorschein zu kommen scheint. Aufgrund der inneren Versautheit und Vergesslichkeit des Menschen scheinen dem Menschen in der modernen Ausprägung die Gefühlswelten von Murillo aber weniger zugänglich. Bartolomé Esteban Murillo starb an den Folgen eines Sturzes von einem Gerüst während dem er in einer Kapuzinerkirche malte; in relativer Armut. Der Legende nach gab er viel für karitative Zwecke aus. Sein Biograph Palonimo beschrieb Murillo als einen Menschen, der … nicht nur vom Himmel begünstigt war durch die Erhabenheit seiner Kunst, sondern auch durch die Gaben seiner Natur, als ein guter Mensch, von liebenswürdigem Charakter, demütig und bescheiden. – Um den Faden wieder aufzunehmen, ist allerdings das, was in der Romantik zum Ausdruck kommt – die undialektische Zerrissenheit des Daseins – etwas, was es in der Welt tatsächlich gibt. Und der Dialektik zufolge ist das Romantische, das Subjektive, Abgetrennte, Verlassene etwas, was danach schreit, in einer Geborgenheit anzukommen, in einer neuen Klassik (von der sie sich dereinst wieder abspalten und verselbstständigen wird). Streng genommen ist alle Kunst eine Dialektik zwischen Klassik und Romantik, Vereinzelung und Synthese. Zu Hegels Lebzeiten – im Zeitalter des deutschen Idealismus – findet diese Dialektik ihre wohl höchsten Ausdrücke. In der Kunst von Haydn oder Mozart hat man das Schöne, Gute, Wahre (wenngleich kurz vor dem frühen Ende und dem daher unterbrochenen Leben, der unterbrochenen künstlerischen Karriere von Mozart sich dann bekanntlich das Abgründige – beim Requiem, beim Don Giovanni – recht weit gähnend öffnet). In der Kunst von Beethoven tritt das Klassisch-Schöne und Harmonische im Tandem mit dem Romantisch-Erhabenen, Disharmonischen und Unergründlichen auf. Das Erhabene entzieht sich der Dialektik. Es ist was Transzendentes – das allerdings auf ein letztendiges, letztgültiges Transzendentales hinweist. Und zu diesem Transzendentalen, zum Absoluten, zieht es die Dialektik (oder zumindest die Philosophie Hegels) hin. (Genau gesagt, ist diese Vereinheitlichung von Klassik und Romantik dann auch nur im Transzendentalen möglich – genauso wie die endgültige dialektische Vereinigung der Gegensätze: der dialektische Prozess, die Logik, sind bei Hegel und so wie Hegel sie letztendlich fasst, idealisierte Wahrheiten seiner/ihrer selbst; sind, so wie Hegel das fasst, die geistige Wahrheit seiner/ihrer selbst: und Hegel tendiert dann dazu, die Wirklichkeit und ihren Gang mit dieser geistigen Wahrheit zu verwechseln.) Auf jeden Fall scheint es der Kunst inhärent zu sein, das Klassische und das Romantische immer wieder neu zu verhandeln, zu vergleichen, das Klassische und das Romantische in Kunst und Leben immer wieder neu einander gegenüberzustellen (zumindest, sofern sie Ausdruck des absoluten Geistes sein will). – Die Gegenwartskunst scheint dann schließlich weder klassisch noch romantisch zu sein. Wenn man mit einem besonders zersetzenden Wesen begabt ist, könnte man sagen: Weil die Gegenwartskunst auch keine wirkliche Kunst ist, sondern eher eine Simulation von Kunst! Ein Parasit am Fell der echten Kunst! etc. Tatsächlich wohnt ein selbstzerstörerisches Potenzial der modernen Kunst aber bereits von selbst inne: in ihrem analytischen Bedürfnis nach neuen Ausdrucksformen und deren ständiger Befragung und Neuevaluierung; ihrer Intellektualität; ihrem rational-theoretisierenden Selbstverständnis; vor allem aber in Hinblick auf ihre extreme Ausdifferenzierung und Relativierung, die freilich eine der modernen Lebenswelt selbst ist: da scheinen die Sphären eingestürzt. Und auch die Subjektivität scheint mittlerweile zu ausdifferenziert, als dass sie sich in etwas so Vereinfachendem wie der großen Synthese innerhalb einer „klassischen“ Kunst ausdrücken könnte. (Oder sie ist halt nicht gescheit genug; der Anspruch ist etwas, was sie überfordert.)  Ja, die heutige Subjektivität scheint so ausdifferenziert und voller Ironie, dass das Ideal des homo universalis als etwas – eben – Renaissancehaftes dazustehen scheint. Aber Renaissance bedeutet: Wiedergeburt. Wer kann die ausdifferenzierten Sphären wieder integrieren? (Die Antwort mit Hegel lautet natürlich: der Geist! Der Geist ist es, wo sich das Einzelne und das Allgemeine zu treffen und sich unauflöslich, in höchster Synthese, ineinander zu verschlingen, und sich gegenseitig zu bestimmen vermögen … die Originalität ist die wahrhafte Objektivität des Kunstwerks … Die wahrhafte Originalität zeigt sich darin, daß das Kunstwerk die Schöpfung eines Geistes ist. (Philosophie der Kunst  S.109)) Freilich ist auch die Verwalterin des Geistes, die Philosophie, heute vielleicht in keiner so guten Verfassung mehr. Habermas meint unlängst angesichts seines neuzigsten Geburtstages, dass generalisierende Intellektuelle wie er eine vom Aussterben begriffene Spezies seien; sich auch die Philosophie in ihre eigenen Ausdifferenzierungen und Spezialisierungen hinein verliere. Und die analytische, unpoetische Philosophie hat die Philosophie, meint man, sowieso fest und im eisernen Griff. Ein alter weißer Mann wie Hegel dachte da (zumindest in seiner Jugend) noch anders und programmatisierte: Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht (Frühe Schriften S.235) Das sagt man freilich so (und allem Zeitgeist trotzend dann auch wieder), und man sagt es leichtfertig und, vor allem, gerne. Es hat was Beruhigendes, so was zu sagen; wenn so was gesagt wird. Ist Hegel dabei übrigens selbst diese Aufgabe geglückt und konnte er diesem Anspruch beikommen? Hegel wird gemeinhin für einen der anti-ästhetischsten Stilisten der Philosophiegeschichte gehalten. Das, allerdings, ist er dann gar nicht. In Hegels Sprache durchdringt sich das Denken selbst, in ihr manifestiert sich eine genuine Introspektionsleistung (also etwas gleichsam „Künstlerisches“). Seine Sprache, sein Stil (der im Übrigen auch nicht allezeit hermetisch ist: hauptsächlich ist er das in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik, die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte am anderen Ende des Spektrums hingegen sind leicht lesbar) sind hochgradig philosophisch und erheben sich ins Metaphysische. Wenn man sich so universale Geister – die auch in etwa dasselbe wollten wie Hegel – wie Auguste Comte oder John Stuart Mill ansieht, so drücken sich die viel prosaischer und deutlicher aus, als Hegel es tut. Eine gleichsam endlose Faszination geht von ihnen aber nicht aus, eine abgründige Sogwirkung, eine ständig aufrechterhalten bleibende metaphysische „Ahnung“. Ihre Schriften sind Niederlegungen von vernünftigen Gedanken. In Hegels Schriften kommt aber vielmehr das Denken selbst zum Ausdruck und zum Vorschein: in seiner ewigen Unabgeschlossenheit und Rätselhaftigkeit, im ständigen Werfen von Licht und Schatten, in seinem ständigen Kampf zwischen Licht und Schatten, in seinem Potenzial zum Metaphysischen also. Kunst ist die wahre metaphysische Tätigkeit, so Nietzsche (in Rekurs auf Schopenhauer): und die das Metaphysische ergreifende Sprache Hegels ist Kunst (allerdings – und ganz im Sinn davon, dass Hegel das dunkle Metaphysische ja auf das Niveau der hellen und rationalen Logik heben wollte – darin nicht rasend künstlerisch: denn das trocken Rationale überwiegt darin dann doch. Auch Hegels Kunstbetrachtungen und –vorträge sind weitläufiger und akademischer als die genialisch-intuitiv-plastischen von Schopenhauer.) – Oder nähern wir uns, nicht zuletzt über die vollständige Akademisierung der Philosophie, in Wahrheit schon dem Ende der Zeiten? Bricht dann vielleicht die eigentliche Epoche des Poetischen an? Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben, so eine verstörende Prophezeiung Hegels an derselben Stelle(ebenda) (freilich ist das eben nur eine, vielleicht launisch gemeinte Bemerkung in den allerfrühesten Schriften: so dass man sie für die überlegteste Sache von der Welt besser nicht hält). – Ich könnte nun nicht sagen, dass die Kunst so substantiell sei wie die Philosophie und diese übersteige. Ich habe drei Bücher gebraucht, um die Literatur in allen ihren Möglichkeiten zu durchleuchten und durchmessen. Und habe dadurch immerhin den Durchbruch  – endlich – zur Kunst im Allgemeinen und zur Philosophie geschafft. Und jetzt studiere ich die Philosophie und den Geist: und es scheint mir eine größere Aufgabe und ein weiteres Feld. Maler und Schriftsteller hat man schneller durchstudiert als Philosophinnen wie Hegel. Zwar hoffe ich, dass ich auch mit der Philosophie in einigen Jahren fertig sein werde, um mich dann der Ökonomie, der Entomologie, der Mineralogie oder auch der Geophysik widmen zu können. Wenngleich ich diesbezüglich pessimistischer bin (und außerdem nicht glaube, dass ich in der Molekularbiologie, der Geodäsie oder der Botanik irgendwelche relevanten Beiträge leisten könnte – so gescheit bin ich nämlich doch nicht). Die Durchmessung der Philosophie und der ihr zuzurechnenden Fragen ist aber offensichtlich eine viel größere Aufgabe als die Durchmessung der Kunst. Auch laut Schopenhauer steht der Philosoph am obersten Ende der Hierarchie, über dem Dichter. Dass aber die Kunst, die Poesie, am Ende der Zeiten, nach dem Ende der Geschichte, nach dem Ende der Philosophie allein übrig bleiben und allein wirksam bleiben könnte, könnte man der Hoffnung zurechnen, dass der Begriff, sein Zur Deckung Kommen mit der Wirklichkeit als Idee, die Entwicklung der Rationalität etc. zu einem eben rationalen Abschluss kommen sollten: die Anschauung, aus der die Kunst heraus tätig wird, aber eben etwas Ewiges und Außerzeitliches ist. Und Poesie bedeutet: Schöpfung/Entbergung. Das sollte immer möglich bleiben (allerdings wie, sofern sie sinnvoll sein soll: wenn es keine rationale Basis mehr für sie gibt?) Mit „absolutem“ Idealismus ist nicht die magische Fähigkeit des Geistes gemeint, jeden Inhalt hervorzubringen, sondern die völlige Passivität des Geistes. Indem es die Haltung des „absoluten Wissens“ übernimmt, fragt das Subjekt nicht, ob der Inhalt (…) apriorischen Standards (…) entspricht; es lässt den Inhalt sich selbst beurteilen, nach dessen eigenen immanenten Maßstäben, und ermächtigt sich somit selbst. (Zizek S.532) Das ist der Endzustand des Subjekts, das am absoluten Wissen teilhat, das absolutes Wissen generiert, laut Hegel. Es hat etwas Meditativ-Künstlerisches. Es hat etwas vollkommen Rationales und Luzides. Es hat die Dichotomie von Subjekt und Objekt unter sich gelassen. Es hat, trotz des oder gerade in dem Kontemplativ-Meditativen etwas Poetisch-Generierendes, bzw. ist so poetisch-generierend, dass es das Poetische und das Generieren gleichsam der Sache selbst überlässt. Es ist der Geist. Es ist das Künstlerische und das Philosophische, als Ausdrücke des absoluten Geistes. Im höchsten Stadium verschmelzen die Auffächerungen des absoluten Geistes – Kunst, Philosophie (Wissenschaft) und Religion – dann zum absoluten Geist in der absoluten Form.

Die Philosophie Hegels trägt ein Bild mit sich von einem ewigen, unabschließbaren Denk- und Weltprozess, vermittelt andererseits aber auch eines von einem glorreichen Abschluss allen Denkens und eines Zu sich Kommens des geschichtlichen Verlaufs, eines der finalen Vereinigung aller Gegensätze. Sie ist/begreift sich als eine späte Philosophie, als eine Eule der Minerva, die in der Dämmerung zum Flug ansetzt, kurz vor Tagesende, bei dem dann auf Gleich gemacht wird, wo dann aber überhaupt auch erst aus der Vergangenheit echter Sinn abgeleitet werden kann. Sie ist einerseits entelechisch, andererseits teleologisch; und entfaltet ihr Charisma in der Betonung des einen wie des anderen – und ihr Charisma des Rätsel- und Sphinxhaften eben über beides zugleich (bzw., da beides letztendlich inkompatibel erscheint (wie auch jedes für sich genommen zweifelhaft ist), verliert sie ihr Charisma für den einen oder anderen besonders kritischen Kritiker dann eben wieder). Das denkende Individuum erscheint bei Hegel zum einen auf beinahe verlorenem Posten: es ist im Rahmen seiner Philosophie dazu verdammt, immer weiter zu denken und nie zu einem Abschluss zu kommen. Die Vollendung ist darum nicht wirklich zu erreichen, sondern nur als eine absolute Aufgabe zu denken; d.h. als eine solche, welche schlechthin Aufgabe bleibt. (Phänomenologie des Geistes S.447) Andererseits besteht die Möglichkeit, Vollendung zu erreichen, dann eben darin, indem es mit dieser Aufgabe, indem es mit dem Imperativ, den es sich selbst setzt, identisch wird. Das denkende Individuum wird dann identisch mit seinem Potenzial zu denken, mit der Möglichkeit, jegliches Resultat zu denken, auch wenn das tatsächlich erst in ferner Zukunft, mit dem Fortschritt der Wissenschaften, dann auch wirklich erreicht werden kann. Dadurch kann das Resultat, das immer in der unendlichen Zukunft liegt, gleichsam schon ins Zeitliche, ins Jetzt gezogen werden. Und darüber wird das im Zeitlichen denkende Individuum dann gleichzeitig ins Ewige transferiert und denkt gleichzeitig (außerdem) im Ewigen – und ist dort zur Ruhe gekommen: rotierend, wirbelnd, rastlos und unruhig, aber im Auge des Tornados. Das so denkende Individuum ist somit Bewohnerin zweier Sphären: der Sphäre des Zeitlichen, wo Abschluss und Versöhnung angestrebt werden, aber erst in unendlicher Zukunft und im Rahmen eines ewigen Prozesses der Annäherung erreicht werden können (oder eben, und vor allem auch, nicht); und eine Sphäre des Ewigen, wo, in Vollendung, alle Gegensätze und endliche Qualitäten in eine transzendentale Qualität hinein überwunden werden, und die in einer gleichsam anderen Welt beheimatet ist als in der herkömmlichen raumzeitlichen Lebenswelt.  Die Welt des Geistes zerfällt in die gedoppelte: die erste ist die Welt der Wirklichkeit oder seiner Entfremdung selbst; die andere aber die, welche er, über die erste sich erhebend, im Äther des reinen Bewußtseins sich erbaut. (ebenda S.362) Das eine ist eine Sphäre des Immanenten und des Transzendierens und Transzendierenwollens über Dialektik und den Verlauf der Dialektik; das andere ist eine Sphäre des Transzendentalen, in dem die Dialektik identisch wird mit ihrem eigenen Ideal bzw. eine Art Phasenraum der Dialektik, der die Menge aller möglichen Zustände des dialektischen Prozesses beschreibt. Dass das Denken nie zu einem Abschluss kommen kann, ist im Übrigen ja auch nicht sein Elend, sondern vielmehr eben Ideal des Denkens, Idee des Denkens, transzendentale Bestimmung des Denkens. Das nie aufhörende Denken ist gleichsam identisch mit einer eigenen Transzendentalie. Indem es nie zu einem Abschluss kommt, aber bereit ist, stets weiter zu denken, und das durch Denken erworbene Wissen so ausgeprägt und kompetent ist, dass es in der Lage ist, jeden Abschluss bereits zu antizipieren, ist das Denken (bzw. die Trägerin des Denkens) zwar nicht zum Abschluss, aber zur Vollendung gelangt (Vollendung bedeutet auch nicht dasselbe wie Abschluss; sie bezieht sich vielmehr auf eine vollständige Entfaltung von inhärenten Qualitäten). Dieses vollendete denkende Individuum hat daher eine Art Feldcharakter: es ist ein Denk- und Wahrnehmungsfeld, das sich, zwar an seinen Rändern klarerweise schwächer werdend, ins potenziell Unendliche erstreckt.  Das Denken, so hat es von sich selbst den Eindruck, wird, obwohl es hochprozessiv ist, gleichsam zu einer ruhigen, mimetischen Anschauung der Dinge bzw. seiner Inhalte, die gleichsam im Geistigen aufgehen, geborgen werden, tatsächlich erkannt werden. Das ist dann gleichsam die transzendentale Anschauung: In der transzendentalen Anschauung ist alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet. Das Produzieren des Bewußtseins dieser Identität ist die Spekulation, und weil Idealität und Realität in ihr eins sind, ist sie Anschauung. (Jenaer Schriften S.34) Spekulierend und in Selbstgenuss bewegt sich das Denken hier durch sein eigenes, originäres Reich, in völliger Freiheit, da es in diesem Reich herrscht. Genau gesagt: da in diesem Reich niemand herrscht, sondern alles in einer freundlichen Kopräsenz aufgeht und existiert, selbst was Wirklichkeit und Möglichkeit anlangt. So … spricht (sich) die Idee der Vernunft, bestimmter als in dem vorigen Begriff eines harmonischen Spiels von Erkenntniskräften, nämlich in der Idee eines „anschauenden Verstandes“ aus, in welchen „Möglichkeit und Wirklichkeit Eins sind“, für welchen „Begriffe“ … und sinnliche Anschauungen … beide wegfallen (…) Die transzendentale Einbildungskraft ist also selbst anschauender Verstand. (ebenda S.161f.) Man bemerkt: diese transzendentale Einbildungskraft und transzendentale Subjektivität hat beklemmende Gemeinsamkeiten mit dem fernöstlichen Satori, eines ewigen, erleuchteten Zustandes, in dem der Geist sich selbst ansieht …. Obwohl als kindlicher, urtümlicher Zustand, als ein gleichsam embryonales Bewusstsein propagiert, kann auch dieses Satori nur durch einen langwierigen, gleichsam dialektischen Prozess erreicht werden, innerhalb dessen man Widersprüchlichkeiten durchdenkt (bzw. denkend empfindet) – dabei handelt es sich aber weniger um rational auflösbare und dialektisch vermittelte Widersprüchlichkeiten und Gegensätze, sondern eher um den Umgang mit harten Paradoxien und Aporien, auf die man an den Rändern unserer Existenz, unseres Denkens und Begreifens, eben tatsächlich trifft. Eine dialektische, logische, rationale Lösung dieser Paradoxien und Aporien ist dabei nicht möglich. Es geht in der Zen-Übung, in der Bearbeitung des paradoxen Koans auch vielmehr darum, diese harten Paradoxien sich geschmeidig zu machen bzw. eine Geschmeidigkeit des Geistes – und der ganzen Persönlichkeit –  im Umgang mit dem, was jenseits des Vermögens des rationalen Verstehens liegt, zu erreichen. Es geht um die Ausprägung einer Art Meta-Rationalität und Meta-Dialektik. Genau gesehen ist der Kern des Satori vielleicht der, dass man im Denken und Wahrnehmen ständig zwischen Motiv und Hintergrund switchen kann. Das Widerspiel zwischen Motiv und Hintergrund ist die wohl grundlegendste Struktur der Welt, ihr transzendentales Wesen bzw. transzendentale Erscheinung. Jedes Ding erscheint in einem Hintergrund und muss aus dem heraus begriffen werden; gleichzeitig stiftet es einen neuen Zusammenhang (erhöht also die Textur des Hintergrundes) und beleuchtet den Hintergrund in eigentümlicher Weise (neu). Eine um Transzendenz bemühte Wahrnehmung strebt gemeinhin eine größere Vollständigkeit, Reichhaltigkeit, Farbigkeit, Beweglichkeit u. dergl. an. Sie strebt, eventuell, eine Anschauung der „Unendlichkeit“ an, des Letztgültigen, Göttlichen, oder Absoluten. Eine solche Anschauung ist (rational) unmöglich (allerdings intuitiv möglich). Das Absolute, Letztgültige, Transzendentale und auch Göttliche ist aber das Erscheinen von einem Motiv in einem Hintergrund („Am Anfang war das Wort“). Und die Anschauung des Letztgültigen, Absoluten, Unendlichen, ist dann eine flackernde Anschauung von sich gegenseitig widerspiegelndem Motiv und Hintergrund. Das ist dann, hat man den fast untrüglichen Eindruck, die transzendentale Anschauung. Die Anschauung der Unendlichkeit ist dann die Anschauung einer quasi fraktalen Struktur, einer quasi fraktalen Gestaffeltheit von Motiven und Hintergründen. Wobei es dem traditionellen fernöstlichen Satori aber eher nicht einfallen würde, sich so zu erklären (tatsächlich hat es erhebliche Schwierigkeiten, sich zu erklären). Denn das traditionelle fernöstliche Satori bleibt gleichsam tatsächlich ein embryonales Vor-Bewusstsein vor dem rationalen Bewusstsein und Denken. Es bleibt intuitiv und irrational. Innerhalb seiner liegt das Verständnis von Erleuchtung darin, dass man alle Qualitäten der Welt als bloße Erscheinungen, genau gesagt (nutzlose) Illusionen erkennt (und als solche verwirft). Daher bleibt es also passiv und unwissenschaftlich: es will die Welt nicht umgestalten und verbessern. Westliches Denken aber will das, und eine Hegelsche Philosophie will das: und sie versucht das zu vollziehen, indem sie rational und dialektisch ist. Jetzt wirft man der Dialektik vor, dass sie ein vereinfachendes Modell des Denkens ist, in dem die Möglichkeiten der unnötigen Zuspitzung oder der Verarmung des Denkens liegen. Aber wie anschlussfähig die Hegelsche Philosophie an anderes Denken ist, zeigt sich an diesem kulturübergreifenden Beispiel. – Der Sinn von Erleuchtung und Satori ist Freiheit; und die Ermöglichung von Freiheit bzw. die Bestimmung des Geistes als sich in Freiheit entwickelnd ist Sinn der Philosophie Hegels. Wenn der Geist vollständig ausdifferenziert ist und wissend ist, indem er die die Begrenzungen der Theorien und Ideologien durchstoßen hat, indem er über die Reflexion der Reflexion (also als absoluter Geist) die materiale Hyle der Dinge gesprengt hat, gelangt der Geist schließlich tatsächlich in den Besitz von sich selbst. Er wird (vollkommen) vergeistigter Geist, spiritualisierter Geist und spürt seine ungeheure Schwere dann in seiner Federleichtigkeit. Er operiert dann tatsächlich in einer noumenalen Sphäre – und diese ist dann seine urtümliche urtümliche Heimat. In diesem inneren Wahren … schließt sich erst über der sinnlichen als der erscheinenden Welt nunmehr eine übersinnliche als die wahre Welt auf, über dem verschwindenden Diesseits das bleibende Jenseits; ein Ansich, welches die erste und darum selbst unvollkommene Erscheinung der Vernunft oder nur das reine Element ist, worin die Wahrheit ihr Wesen hat. (Phänomenologie des Geistes S.117) Diese noumenale Sphäre ist das REICH, dessen Zentrum die Sphäre der transzendentalen Einbildungskraft ist: dort haust der Imperator, eine gleichzeitig fast verschwindende, verschwimmende Person, einsiedlerisch und radiierend. Das REICH ist weniger eine Sphäre der Herrschaft als eine der Kopräsenz und des Gleitens. Seine Strukturen sind scharf, eindeutig und luzide, und gleichzeitig abfallend in einen Saum der mannigfachen, nie vollständig erschließbaren Qualitäten und Bedeutungen. Es ist ein Reich, in dem es laut ist und kracht, in dem geschrien wird und die Türen zuknallen; und eines, in dem der Lärm verhallt und halluzinatorische Qualitäten hat, vielleicht eine Täuschung ist. Man kann sich relativ beliebig in einen Lärm oder eine Stille dort reinzoomen und wieder raus. In seinem eigenen REICH hat der Geist volle Manövrierfähigkeit und bewegt sich dort in aller Freiheit; in Anerkennung der Gesetzmäßigkeiten: Die übersinnliche Welt ist hiermit ein ruhiges Reich von Gesetzen, zwar jenseits der wahrgenommenen Welt, denn diese stellt das Gesetz nur durch beständige Veränderung dar, aber in ihr ebenso gegenwärtig und ihr unmittelbares stilles Abbild. (ebenda S.120) Freiheit macht nur Sinn bezogen auf Gesetzmäßigkeiten, die da sind; ansonsten an so einem Ort nämlich herrscht Chaos und Unordnung, aus der nichts entstehen kann, auf Grundlage derer sich nichts errichten kann. Der Geist bei Hegel selber entwickelt sich ja einerseits in Freiheit, andererseits nur im Zusammenhang mit dem Gesetzmäßigen der Dialektik. Er ist einerseits Freiheit, andererseits Logos – beziehungsweise (und nur eben darin!) sowohl als auch: Die Freiheit liegt also weder in der Unbestimmtheit noch in der Bestimmtheit, sondern sie ist beides. (Grundlinien der Philosophie des Rechts S.57) Der Geist entwickelt sich nicht in sinnlos wuchernder Anarchie seiner selbst, sondern in zunehmender Einsicht darin, wo Freiheit ist und wo Gesetz (anders wäre er ja auch nicht Vernunft oder Intelligenz – also eben nicht Geist). Und das REICH ist ein Reich der luziden Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, in die gleichsam Platonischen Ideen. Darin liegt Freiheit und Harmonie, Endzweck des Geistes, seine eigentliche Freiheit. Das REICH ist eine Sphäre, die mit sich selbst identisch ist; es gibt „dahinter“ (oder sonstwo) nichts mehr. Und, damit der Geist vollständig und seinem transzendentalen Bild entspricht, darf es nichts mehr geben: der Geist muss, durch Selbstdurchdringung, sich selbst in Besitz nehmen: Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit … Die Materie hat ihre Substanz außer ihr; der Geist ist das Bei-sich-selbst-Sein. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.30) Wenn der Geist oder wenn das REICH identisch sind mit sich selbst, bei-sich-selbst sind, sind sie in ihrer Erscheinung auch identisch mit ihrem Ding an sich. Indem sie erscheinen, sind sie dann reine Erscheinung. Das Übersinnliche ist das Sinnliche und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist; die Wahrheit des Sinnlichen und Wahrgenommenen aber ist, Erscheinung zu sein. Das Übersinnliche ist also die Erscheinung als Erscheinung. (Phänomenologie des Geistes S.118) Das bedeutet dann auch, dass das „Absolute“ (das Hegel – und im wesentlichen die ganze prä-postmoderne Philosophie – zu fassen anstrebt) in seiner reinen Erscheinung aufgeht – oder, wenn man so will, sich auf eine „reine Erscheinung“ reduziert. Slavoj Zizek kreist in seinem Hegelbuch unter anderem um die Vorstellung, dass „das Absolute“ oder die Platonischen Ideen, das Letztgültige, Höchste etc. nichts seien, wohinter sich irgendetwas, irgendeine geheimnisvolle, ungeteilte Substanz oder eben ein finales Ding an sich verberge, sondern etwas, das über die Arbeit des Geistes bzw. der transzendentalen Einbildungskraft endlich „in Erscheinung trete“ – und dann auch „reine Erscheinung“ sei. Das einzige „Sein“ des Absoluten ist sein Erscheinen, und die Illusion ist zu glauben, dieses Erscheinen sei nur ein „Bild“, hinter dem es ein transzendentes wahres Sein gibt. … Das „Absolute“ jenseits der Erscheinungen deckt sich mit einer „absoluten Erscheinung“, einer Erscheinung, hinter der es kein substanzielles Sein gibt. (Zizek S.200) Schon Hegel selbst interessiert sich bekanntlich nicht für das Ding an sich. Was ihn interessiert ist die Erscheinung; bzw. für ihn tritt das Wesen einer Sache in seiner Erscheinung vollständig zutage. Allerdings tut es das eben auch nicht, da das Wesen sich fortwährend dialektisch entfaltet und nie vollständig gegeben ist, also auch bei Hegel „hinter“ der Erscheinung ein Sog, ein Malstrom des Unbekannten charismatisch sich verbirgt. Das Absolute muss dann aber eben sein, wo Erscheinung und Ding an sich in eins fallen bzw. wo die dialektische Entfaltung ihr Ende findet oder aufgehoben wird. Ja, es ist schon hilfreich, sich das Absolute als „reine Erscheinung“, „hinter der es kein substanzielles Sein gibt“ vorzustellen. Da es das substanzielle Sein eben auch selbst ist. Ich für meinen Teil habe reine Erscheinungen sehr gerne. Sie tragen scheinbar eine Menge Bedeutung in sich (und sind, so gesehen, daher auch keine reine Erscheinungen, sondern vielmehr Referenzen an andere Erscheinungen), versuchen aber, das zu vertuschen und sich hinsichtlich aller Referenzen unterbestimmt zu machen. Sie verschieben den Sinn, und scheinen gleichsam Monaden von reinem, selbstständigen Sinn zu sein. In ihnen scheint ein geheimnisvoller Sinn, genauer: in ihnen scheint der Sinn selbst zutage zu treten, eben: in Erscheinung zu treten (gemäß der Wittgensteinschen Weisheit, wonach sich der Sinn nicht sagen lässt – er zeige sich). Die reinen Erscheinungen treten uns entgegen und schauen uns augenlos an. Sie sind unheimlich und harmlos zugleich; geisterhaft und manifest präsent etc. Sie sind ein Ding an sich, das uns entgegentritt, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, und die uns an die Unerwartetheit unserer eigenen Präsenz und Existenz gemahnen. Der transzendentale Geist liebt die reinen Erscheinungen. Der Genius ist das als rein anschauend Vorgestellte: was schaut der Genius an? Die Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen. Der Mensch, der Nicht-Genius, schaut die Erscheinung als Realität an oder wird so vorgestellt: die vorgestellte Realität – als das vorgestellte Seiende – übt eine ähnliche Kraft wie das absolute Sein: Schmerz und Widerspruch. (Nietzsche Nachlass Ende 1870 – April 1971, 7(172)) Kurz vor seinem geistigen Tod, in seinem höchstgradig luzid-entrückten Ecce Homo-Zustand, hat Nietzsche seine Dionysos-Dithyramben finalisiert. Bei denen ist die poetische Vermittlung von Form und Inhalt so sublimiert, so ausgereift, dass sie als reine Feuerzeichen in einer dreiviertel Höhe über uns zu stehen kommen und dort, als augenlose Augen, ewig verharren. Da hast du Beispiele für reine Erscheinungen.

Bartolomé Esteban Murillo (1617 – 1682), ein Vertreter des Goldenen Zeitalters Spaniens, malte hauptsächlich religiöse Motive, aber auch Genrebilder. Gleichermaßen werden beide für ihre Authentizität und Wahrhaftigkeit und für die (innere und äußere) Schönheit der Figuren gelobt.

Hegel geht aus von der Entfremdung (logisch: dem Unendlichen, abstrakt Allgemeinen), der Substanz, der absoluten und fixierten Abstraktion – d.h. populär ausgedrückt: er geht von der Religion und Theologie aus. / Zweitens: Er hebt das Unendliche auf, setzt das Wirkliche, Sinnliche, Reale, Endliche, Besondre (Philosophie, Aufhebung der Religion und Theologie.) / Drittens: Er hebt das Positive wieder auf, stellt die Abstraktion, das Unendliche wieder her. Wiederherstellung der Religion und Theologie, moniert Marx (in Bezug auf Feuerbachs Kritik an Hegel) in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (Marx S.324), und glaubt dadurch ein weiteres Mal einen grundlegenden „Widerspruch“ bei Hegel entdeckt zu haben. Diese scheinbaren Zirkularitäten kennt man bei Hegel ja eben zur Genüge. Allerdings sind es ja keine Zirkularitäten, sondern Entwicklungen, wo etwas, was ursprünglich ist, durch progressive Anreicherung mit Realitätsaspekten (zunächst als objektiver Geist) sich entfaltet und durch Selbstreflexion (über den absoluten Geist) sich durchdringt und dadurch aufklärt, transparent macht. Sich rational und vernünftig macht. Etwas Dunkles wird ans Licht gehoben. Freilich hat Marx Recht, wenn er sich darüber irritiert und wundert, wie sehr Hegel in seiner eigenen Denke, seiner idealistischen Philosophie und Geschichtsauffassung gefangen bleibt – obwohl zu seiner Zeit den dialektischen Materialismus ja gleichsam die Spatzen von den Dächern pfeifen; zum Beispiel von den Dächern Berlins, Hegels letzter Wirkstätte, in der Glanz und Elend der damals zeitgenössischen Welt exemplarisch und schroff sich gegenüberstanden. Diese Irritation bildet gleichsam die philosophische Grundlage für das Frühwerk von Marx (einem großen geistigen Triumph seinerseits und, bei aller Massivität der Gedanken und Stringenz der Gedankenführung, viel leichter zu lesen und transparenter nachzuvollziehen als die Werke Hegels). Immer wieder stößt sich Marx daran, wie bei Hegel dessen ideale Kategorien – wie der Geist, der Staat, die Sitte, die Religion etc. – sich gleichsam aus sich selbst entwickeln, ja, die eigentlichen Entwicklungslogiken und Entwicklungsträger sind, obwohl sie über eine solche Potenz ja gar nicht verfügen: vielmehr werden sie vom Menschen in seinen Versuchen, die Welt zu ordnen entwickelt und weiterentwickelt. Allerdings scheint Marx dann doch irgendwie zu entgehen, was Hegel mit Religion und mit Religion als Ausdruck des absoluten Geistes eigentlich meint und worauf er hinaus will. Religion bedeutet ursprünglich: die gewissenhafte Beachtung der Vorschriften. Sie bindet sich also an ein(e Art) metaphysisches Gesetz. Dies sind die rätselhaften Gesetzmäßigkeiten der Natur, des menschlichen Zusammenlebens und der Möglichkeiten der Beherrschung der Natur durch den Menschen. Die ursprünglichen Religionen sind Naturreligionen, in denen der Mensch sich mit den rätselhaften Gesetzmäßigkeiten in der Welt mit ausgeklügelten eigenen Gesetzmäßigkeiten – in Form von Ritualen – in Verbindung setzt und sich diese gefügig machen will. Die komplizierten Gesetzmäßigkeiten der menschengemachten Rituale erscheinen so als eine Mimesis der undurchschaubaren Gesetzmäßigkeiten in der Natur. Mit dem Zoroastrismus erscheint zum ersten Mal in der Geschichte eine Religion, in der zwischen Gut und Böse im Sinn von abstrakten Prinzipien und Unterscheidungs- und Entscheidungsmöglichkeiten für den Menschen differenziert wird. Religionen der geistigen Individualität sind dann die jüdische Religion, die altgriechische und die römische. Dennoch bleibt in diesen Religionen das Göttliche dem Menschen relativ fremd und etwas, mit dem man nicht innerlich kommunizieren kann (und das Verhalten Jahves oder der griechisch-römischen Götter bleibt immer wieder einigermaßen unheilig; irrational, kindisch und impulsiv). Im Christentum steigt Gott als Christus zum Menschen herab, erscheint in Menschengestalt. Damit begründet sich im Christentum eine neue Form von Innerlichkeit und die Möglichkeit eines inneren Dialoges und einer Kommunion mit dem Göttlichen: schließlich die einer Annäherung des Menschen an Gott über Heiligkeit; einer Gottwerdung des Menschen des Menschen dann in der spezifischen Auffassung des Christentums bei Hegel. Gott ist bei Hegel: der Geist! Und je geistiger und einsichtiger in die wahren Gesetze der Welt der Mensch im geschichtlichen Verlauf wird, desto mehr nähert er sich dem Göttlichen an: und desto mehr erscheint das Göttliche in der Geschichte. Gott und das Erscheinen Gottes und die Gottwerdung des Menschen ist ein Prozess: und die Realisierung dieser mit dem Erscheinen Christi abstrakt ausgesprochenen Möglichkeit ist bei Hegel Aufgabe und Möglichkeit der freien germanischen Völker. Das sei ihr Auftrag in der Weltgeschichte. Deren ganzer Zustand gleicht daher der Geburtsstätte und ihr Schmerz den Geburtswehen von einem anderen höheren Geist, der mit der christlichen Religion geoffenbart worden. Dieser höhere Geist enthält die Versöhnung und die Befreiung des Geistes, indem der Mensch das Bewußtsein vom Geiste in seiner Allgemeinheit und Unendlichkeit erhält. Das absolute Objekt, die Wahrheit, ist der Geist, und weil der Mensch selbst Geist ist, so ist er sich in diesem Objekte gegenwärtig und hat so in seinem absoluten Gegenstande das Wesen und sein Wesen gefunden. (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte S.386) Der Mensch ist ein Einzelwesen und hat als solches die Möglichkeit zum Bösen: dem Beharren auf dem Einzelwillen und der Abspaltung vom Allgemeinen. Gott ist das absolute Antidot dazu, indem er der Geist des Allgemeinen, des Umfassenden und Umgreifenden ist. Indem der Mensch Geist in sich ausprägt, das Allgemeine in sich aufnimmt, erkennt er, dass darin die Möglichkeit der Einsicht in das Göttliche begründet liegt, und die Möglichkeit seiner eigenen Annäherung an das Göttliche. So ist der Mensch also selbst in dem Begriffe Gottes enthalten, und dies Enthaltensein kann so ausgedrückt werden, daß die Einheit des Menschen und Gottes in der christlichen Religion gesetzt sei. Diese Einheit darf nicht flach aufgefaßt werden, als ob Gott nur Mensch und der Mensch ebenso Gott sei, sondern der Mensch ist nur insofern Gott, als er die Natürlichkeit und Endlichkeit seines Geistes aufhebt und sich zu Gott erhebt. Für den Menschen nämlich, der der Wahrheit teilhaftig ist und das weiß, daß er selbst Moment der göttlichen Idee ist, ist zugleich das Aufgeben seiner Natürlichkeit gesetzt, denn das Natürliche ist das Unfreie und Ungeistige. In dieser Idee Gottes liegt nun auch die Versöhnung des Schmerzes und des Unglücks des Menschen in sich. Denn das Unglück ist selbst nunmehr als ein notwendiges gewußt, zur Vermittlung der Einheit des Menschen mit Gott. (ebenda S.392) Im Christentum tritt der Mensch und tritt auch Gott im geschichtlichen Verlauf progressiv hervor und beide gewinnen immer mehr an Substanz und Identität. Gott, bzw. das sittliche Gesetz, ist bei Hegel bekanntlich eine an sich heteronome und substanzarme, wenn nicht sogar lebensfeindliche, unmenschliche, allzu abstrakte Instanz. Erst indem der Mensch das Gesetz in sich aufnimmt und mit Leben erfüllt wird das Gesetz vermenschlicht und gleichzeitig der Mensch autonom und kompetent. Aber das Übersinnliche, Ewige, oder wie man es sonst nennen mag, ist selbstlos; es ist nur erst das Allgemeine, das noch weit entfernt ist, der sich als Geist wissende Geist zu sein. (Phänomenologie des Geistes S.495) Umgekehrt nimmt dann aber die Subjektivität, die das Gesetz ergreift – die am Ende absoluter Geist wird – Qualitäten des Ewigen und der Selbstlosigkeit an. Geist bedeutet, dass das kein Ich ist (kein so genanntes Ego, oder religiös gesprochen eine Triebseele), das den Geist in seinem Bestreben, die Welt und sich selbst zu durchdringen, mal hierhin, mal dorthin zieht und dadurch seine Wahrnehmung verzerrt, seine Arbeit im schlimmsten Fall zunichte macht und stattdessen, aus Egoismus, den Ungeist triumphieren lässt. Das Ich wird durch die korrekte Arbeit des Geistes progressiv abgebaut; es wird, indem es gegen sich selbst ständig das Negative, Andere, das Nicht-Ich stellt, gleichermaßen mit neuen Anteilen und Anteilen des vormaligen Nicht-Ich angereichert, wie es ebenso dialektisch zermalmt und zerbröselt wird, hinsichtlich der Egozentrik seiner Perspektive. Das Ich wird welthaltiger und Ich-ärmer; der Kreis, den es in der Welt zieht, wird immer umfangreicher, seine innere Härte verflüssigt sich und wird zuletzt gasförmig: indem sein Aufenthaltsort progressiv im Überall wird. Das Ich wird dann eben: zum Geist – und dadurch viel aussagekräftiger und nachhaltiger als ein bloßes Ich das überhaupt sein kann. So erlangt der Geist seine volle Handlungsfreiheit und wird identisch mit seinem eigenen Ideal – und damit transzendental und absolut. Er wird allgemein, obwohl von einem Individuum verkörpert (denn: das Sein des Geistes (ist) ein Knochen (Phänomenologie des Geistes S.260)). Der Geist ist schließlich ein Selbst, aber das selbstlose Selbst. Das Christentum ist die Versöhnung der Welt mit Gott, des Einzelnen mit dem Allgemeinen. Der christliche Gott ist (neben universellem Geist) Liebe, und beinhaltet daher die Möglichkeit einer universellen Versöhnung von Gegensätzen (und: nur Gott vermag es eben, alle Gegensätze zu vereinigen; das Göttliche ist eben die Vorstellung, die wir von einer effektiven Planierung der Gegensätze im Absoluten haben, und allein haben können: denn praktisch und im Diesseits ist das ja nicht möglich; nur in einem Jenseits, des Geistes und eines Reichs der Werte: aber dieses Jenseits ist im Diesseits auch immer vorhanden und prägt unser Denken). Religion bzw. das Christentum ist bei Hegel kein Opium, das man sich zur Beruhigung reinzieht, um auf eskapistisch und weltflüchtig zu machen. Es ist eine Überwindung der Welt durch die absolute Beschäftigung mit der Welt, eine rastlose Aktivität des Geistes – der dadurch freilich einen gleichzeitig unendlich beruhigten und seligen, tranceähnlichen Zustand einnimmt; denn im absoluten Geist/Wissen sind Verhärtungen und Starrsinnigkeiten aufgehoben (was zum Beispiel im Geist von Marx NICHT der Fall war). Und das ist der höchste Zweck und ist die höchste Vollendung des Geistes – dessen höchste Vollendung und Identischwerden (oder zumindest Mimetischwerden) mit dem göttlichen Geist dessen letzter und daher Selbstzweck ist.  Noch mehr aber ist der Mensch Zweck – das eine Mal als lebendiger, das andere Mal als Denken, denn eben Denken, alles was in demselben liegt und seine Wurzel darin hat, als in sich unendlicher Selbstzweck. Formell und objektiv auch dem Inhalt nach; der absolute Zweck seiner Subjektivität aber ist die absolute Objektivität des Selbstbewusstseins, UNENDLICHER, letzter Endzweck in sich selbst; wir mögen sie als sittliche Vollkommenheit, Religiosität, ewiges Leben, d.i. göttliches, seliges Leben bestimmen. / Dieser Zweck ist kein endlicher; er ist Zweck des absoluten Geistes – ihr sollt vollkommen sein wie Er –, denn es ist Leben in Gott, Ähnlichkeit mit ihm – die Weise, wie Gott selbst als Geist in seiner Gemeinde, dem subjektiven Selbstbewusstsein realisiert wird. (Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 2 S.?) Die Bewegung innerhalb der Hegelschen Philosophie gilt der Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen. Gott ist das lebendige, das beseelte Allgemein, mit dem man (im Gegensatz zum starren Gesetz) in einen Dialog treten kann. Und Gott ist das lebendige, das beseelte Unendliche. Bei Hegel können das Endliche und das Unendliche nur dialektisch, nur aufeinander bezogen auftreten. Im Christentum endlich wird der Mensch zu einem Endlichen, das einen unendlichen Inhalt repräsentiert. Wenn das jetzt zu als zu widersprüchlich erscheint, dann sollte die mal versuchen, das reine Unendliche (oder das reine Endliche) zu denken. Die wird schnell feststellen, dass das viel komplizierter ist; die wird sehen, dass das geradezu unmöglich ist.

Am Ende dann die höchste Stufe des Geistes und das absolute Wissen: das Kongruentwerden des Geistes mit dem Absoluten. Diese Stufe wird erreicht, wenn das Subjekt und die Substanz zusammenfallen: Wenn das Subjekt Substanz wird, und die (stumme, namenlose) Substanz sich versubjektiviert. Oder Ich ist nicht nur das Selbst, sondern es ist die vollkommene und unmittelbare Einheit mit sich selbst, oder dies Subjekt ist ebenso die Substanz. (Phänomenologie des Geistes S.587)Die Substanz ist zunächst das Seyn in allem Seyn, stumme Primärmaterie. Die Substanz ist das, was sie ist, weil sie ist. Sie ist die Identität und das Ganze und die absolute Macht gegenüber den Akzidenzien, in die sie sich auffächert. Die Substanz ist keinesfalls Geist, sondern die primordiale Grundlage dafür, dass da überhaupt Geist sein kann. Gleichzeitig ist auch das Subjekt Substanz, da es immer schon unteilbar und  unhintergehbar ist. Es ist aber von sich aus nicht wissend. Wissend wird es erst, wenn es Träger von Geist wird. Sowohl das Subjekt als auch die Substanz haben was Absolutes an sich, aber es ist ein vergleichsweise leeres, inhaltsloses Absolutes – ohne den Geist. Der Geist ist an sich überhaupt nicht absolut, der Geist ist ursprünglich fragil. Aber er wird mehr und mehr zum Inhalt. Wenn der Geist das absolute Wissen erlangt hat, ist er dann eben gestättigster Inhalt. Das absolute Wissen erscheint, an und für sich, am Ende aller Zeiten – das jederzeit sein kann: und das absolute Wissen wäre dann eben gerade einmal das, was es zu jenem Zeitpunkt ist. Es – das absolute Wissen – ist daher in der Praxis kontingent. Daher ist das absolute Wissen jener geistige Zustand, wo das Wissen am Ende aller Zeiten bereits ins Jetzt gezogen wird, jener geistige Zustand, in dem das Wissen am Ende aller Zeiten bereits virtuell enthalten ist. Es ist, wie wir gesehen haben, der Geist, der identisch ist mit seiner eigenen Transzendentalie. Es ist ein Tätigkeitswissen, absolutes Wissen über den Gebrauch des Geistes. Als Trägerin dieses Tätigkeitswissens ist das Subjekt gleichsam identisch mit der stummen, absoluten Substanz der Welt, auf Grundlage derer die Akzidenzien erscheinen. Umgekehrt wird die Substanz, bzw. deren stumme, namen- und identitätslose Absolutheit über das Subjekt entborgen und ans Licht gebracht. Das Absolute, das zunächst in der Substanz liegt, legt sich durch seine Versubjektivierung zunehmend selbst aus und begreift sich selbst (wenn es von einem fremden Geist und einer fremden Subjektivität ausgelegt werden würde, würde es ja auch fremd bleiben und keine Teilhabe an sich ermöglichen). Da hat das Absolute bei Hegel das Charisma des einerseits Tätigen und Unabgeschlossenen, andererseits des Beruhigten und Abgeschlossenen. Wahlweise sorgt das bei Rezipientinnen für Ärger und Verwirrung. Jetzt kann man mit diesem Bild eines zur Ruhe gekommenen Geistes in der absoluten Idee, in der alle Widersprüche aufgehoben sind, seine Probleme haben, weil man damit – eben – ein eher religiöses Bild assoziiert als ein kritisch-philosophisches. Allerdings ist es ja die gesamte Essenz der Philosophie Hegels, dass man zu einer solchen quasireligiösen Pazifiziertheit im Absoluten nur komme durch eben kritisch-philosophisches Denken. Die höchste Stufe des Denkens und das Stadium der wahren Religion erreiche man allein durch dialektisches Denken. Die Philosophie steht vor der von Hegel selbst formulierten Aufgabe, mindestens 77-mal den logischen Gang der Denkbewegung vom reinen Sein bis hin zur absoluten Idee neu durchzuarbeiten und auf seine Konsistenz hin zu überprüfen. (vgl. Vieweg S.413) Es geht also darum, dermaßen kritisch-philosophisch zu denken, dass der Geist ausgefegt wird, von Dingen und Gerümpel gereinigt – und dadurch eben zu Wahrheiten zu gelangen, in denen man dann konsequenterweise eben, ganz von selbst, zur Ruhe kommt (und wer das beim siebenundsiebzigsten Mal immer noch nicht geschafft hat, dessen Sache ist es wohl überhaupt nicht, ein Bild vom funktionierenden Geist abzugeben). Durch die Reflexion über die Reflexion (über die Reflexion) – also über das Walten des absoluten Geistes – wird die begrenzende Hülle selbst des Geistes gesprengt und der Geist wird schließlich der offene Raum – in dem sich dann die Materie, frei flottierend, gleichzeitig gebunden an Gesetze, in die der Geist (zumindest virtuelle) Einsicht hat, bewegt und deren Bewegungen der Geist dann ruhig beobachtet. Der absolute Geist ruht überhaupt nicht, sondern ist höchst tätig. Er ruht allerdings in sich selbst und ist zur Ruhe gekommen seiner eigenen Kompetenz, die ein wissender Zustand, ein wissendes Wissen über das Wissen ist. Das absolute Wissen ist ein Tätigkeitswissen; kein faktisches Wissen, sondern eine Fähigkeit zum Prozessieren und Generieren von Wissen. Die absolute Fähigkeit zum Generieren und Prozessieren von Wissen liegt im Zusammenführen und im Trennen von geistigen Inhalten, im Anhäufen und Aussortieren. Wenn wir uns den vollkommenen Geist vorstellen, so erscheint da eventuell eine Scheibe, vertikal darauf eine schnell schwingende Art Feder. Der vollkommene, transzendentale Geist attrahiert alles, lädt alles ein auf seine Ebene, und differenziert dann zwischen allem, facettiert, unterscheidet, fächert auf. Das ist das endgültige Bild vom Innersten des transzendentalen Geistes, dessen Tätigkeit absolut ist. Der absolut gewordene Geist zieht alles – vor allem das Andere – an, verbindet alles Mögliche und trennt alles Weitere: und bewahrt alles gleichermaßen in seinem Speicher der Empathie und der Sympathie. Ähnlich wie (gemäß Whitehead) Gott: und wer dermaßen kritisch denkt und umfassend, macht im Übrigen auch ohne Weiteres religiöse Erfahrungen. Weswegen sein Denken und seine Rede dann mit religiösen Metaphern (genauer gesagt: mit eigentlichen religiösen Inhalten, Empfindungen und Bildern) durchtränkt sein wird: und so wie es eben bei Hegel der Fall ist. So wie der Geist immer absoluter wird, wird auch die Trägerin des Geistes, das subjektive Individuum, immer absoluter: indem es gleichzeitig immer subjektiver und immer objektiver gültig wird und an Schwere gewinnt. Bei Hegel ist das absolute Verhältnis das, dass Menschen keine starre, fixierte Identität haben – aber durch Arbeit an sich selbst mehr und mehr zu einer solchen kommen können: zu ihrem „wahren“ Selbst. Bei Hegel kommt das Individuum immer mehr in sich selbst zu ruhen und nähert sich seinem inneren Kern an. Ein „Perspektivenpluralismus“ oder ein „Ich bin vieles!“ im Sinne von Nietzsche oder der Postmoderne ist seine Sache nicht. Durch geistigen Fortschritt und vertiefte Selbstkenntnis fächert sich das Individuum einerseits auf, gelangt aber gleichzeitig zu einem inneren, unveränderlichen und wahren Kern. (Nietzsche gibt in seinen unveröffentlichten Schriften übrigens zu, nie viel über sich selbst nachgedacht zu haben, und wenig Selbsterkenntnis betrieben zu haben: mit der äußerlichen Begründung, wonach Dinge, die wir erkannt haben, aufhören uns etwas anzugehen; aus dem inneren Grund vielleicht, da der innerste Kern von Nietzsche neurotisch gespalten ist, und jeweils nicht so ist wie er scheint.) Durch und in Selbsterkenntnis ergreift der absolute Geist Besitz von sich selbst, und ergreift die Trägerin des absoluten Geistes von sich selbst Besitz. Die höchste, zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zum Freiesten macht – zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist. (Wissenschaft der Logik II S.570) – Das ist dann eigentlich das, was man seit tausenden von Jahren als Weisheit bezeichnet, und Hegel-Exeget Alexandre Kojève schreibt über den Menschen des absoluten Wissens: Der Weise hingegen ist mit allem, was ist, völlig und endgültig versöhnt: er vertraut sich rückhaltslos dem Sein an und öffnet sich gänzlich dem Wirklichen, ohne ihm Widerstand entgegenzusetzen. Seine Rolle ist die eines vollkommen ebenen und unendlich ausgedehnten Spiegels: er reflektiert nicht über das Wirkliche, sondern das Wirkliche reflektiert sich auf ihm, reflektiert sich in seinem Bewußtsein und offenbart sich in seiner eigenen dialektischen Struktur durch die Rede des Weisen, der es beschreibt, ohne es zu entstellen. (Kojève S.117) Freilich, ein „göttlicher“ Verstand ist für den Menschen unmöglich, aber Einsichtigkeiten in die höchsten Plateaus der Philosophie – von Platons Einsicht in die Ideen bis eben Hegels absoluter Idee – gleichen dann aber zumindest einem „engelhaften“ Verstand (ebenda S.91), und damit einer Art Reinheit bei gleichzeitiger Getrenntheit vom Göttlichen. Wenn man, wie Hegel, sagt, am Ende sei das Subjekt Substanz geworden, so bedeutet das auch umgekehrt, dass die Substanz auch wesentlich Subjekt ist: und dem Subjekt ist die absolute Erkenntnis verweigert. Es kann, durch sein Tätigkeitswissen und seine Weisheit, die Tätigkeitswissen ist, nur zu einer Mimesis der absoluten Erkenntnis kommen (nie zum „Ding an sich“ der absoluten Erkenntnis … wobei das „Ding an sich“ der absoluten Erkenntnis allerdings (gemäß Hegel) eher als ein Phantasma des Erkennenwollens fungiert und nichts, was tatsächlich vorhanden wäre). Wenn aber das Absolute praktisch sich auf eine Mimesis des Absoluten beschränkt: wie kann es dann das Absolute sein? Das mag dann wieder die kritischen Kritiker auf den Plan rufen. Slavoj Zizek hat ein gargantueskes, eineinhalbtausendseitiges Buch über Hegel verfasst (in dem es, wie immer, freilich in erster Linie um Lacan geht, und halt dann in zweiter Linie um Hegel). In seiner üblichen Fixiertheit auf Paradoxien und Rechnungen, die nicht aufgehen wandelt er in seinem Hegelbuch das Absolute dann um; bei Zizek wird das Absolute „die Differenz … die Unmöglichkeit für ein X, ganz „es selbst“ zu sein“ (Zizek S.522) Das Absolute wird dann eine erhabene Schranke, die den Geist vom (ultimativen) Absoluten trennt (ähnlich vielleicht wie Kierkegaards Erbaulichkeit, die in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer Unrecht haben). Allerdings gibt wohl so einige X, für die es gar nicht unmöglich ist, „ganz es selbst“ zu – oder nehmen wir zumindest an, dass es solche X gibt. Vor allem der Geist der höchsten Stufe ist ja selbstlos – und sollte daher gar keine Probleme haben identisch mit sich selbst zu sein. Problematisch ist für ihn vielleicht eher, sich vorzustellen, was es überhaupt heißen könnte, „ganz es selbst“ oder „nicht ganz es selbst“ sein zu können. Wenn der Geist auf einer solchen Stufe operiert, dann verdunsten die drei Register des Realen, des Imaginären und des Symbolischen und fallen in eins zusammen, in eine Komplexität, die gleichzeitig ein begehbarer Raum und eine höchste Einfachheit ist. Das Fundamentalphantasma wird durchquert, die Täuschungen aufgehoben, das Subjekt wird sein eigener Ursprung. Das Menschenbild von Lacan – und dieses gleichsam performativ vollziehend, indem sich Zizek irritierenderweise nie davon lösen kann – betrachtet den Menschen, bis ins Unbewusste hinein, als im Wesentlichen von äußeren Kräften und Mächten bestimmt. Die Trägerin des absoluten Wissens/Geistes ist das aber eben nicht mehr: da der transzendentale Geist originär ist. Nehmen wir also an, es gibt zumindest ein X, das ganz „es selbst“ ist, und diese Trägerin des absoluten Wissens/Geistes sei dieses X. Sie sitzt in der Kommandozentrale des Wissens, in der Kommandozentrale der Philosophie. Es ist gut, in der Kommandozentrale der Philosophie zu sitzen! Da kaum eine in der Kommandozentrale des Wissens und der Philosophie sitzt, ist es außerdem gut, gleichsam für die Wissenschaften und die Philosophie notwendig, dass die dann von ihren Erfahrungen berichtet und versucht, den Zustand ihres Geistes zu beschreiben. In der Kommandozentrale der Philosophie zu sitzen ist dann auch die ultimative Verwirklichung der Freiheit des Geistes, die Hegel ja die ganze Zeit beschwört. Diese Freiheit ist dann die absolute Navigationsfähigkeit durch den Geist, und durch die geistige Welt. Er (der Geist, Anm.) ist (sich) seiner reinen Persönlichkeit und darin aller geistigen Realität bewußt, und alle Realität ist nur Geistiges; die Welt ist ihm schlechthin sein Wille, und dieser ist allgemeiner WilleDiese ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit erhebt sich auf dem Thron der Welt, ohne daß irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte. (Phänomenologie des Geistes S.432f.) Das Denken der Kommandozentralensitzerin ist kein relatives Denken mehr, sondern absolutes Denken. Dadurch bewegt sich die Kommandozentralensitzerin aber womöglich in einem Gegensatz zur Welt: denn das, was man in der Welt fast überall hat, ist relatives Denken (kein absolutes!). In der Welt sind die Menschen, so gut wie alle, in Tagesgeschäfte verstrickt, nicht zuletzt in Tagesgeschäfte des Denkens. Die Tagesgeschäfte sind aber das Relative. Die Kommandozentralensitzerin und die Welt finden sich (womöglich absoluterweise) in verschiedenen Sphären wieder, die eventuell kaum miteinander kommunizieren können, unterschiedliche Kommunikationssphären sind. Damit lebt die Kommandozentralensitzerin eventuell in abgetrennter Einsamkeit, und die Welt fortwährend in ihrem Dunkel. Das „bei uns sein“ gehört zur Absolutheit des Absoluten. Ohne dieses „bei uns“ wäre das Absolute das Einsame, das sich nicht erscheinen könnte im Erscheinenden. Es könnte nicht aufgehen in seine Unverborgenheit. (Heidegger S.187) Die Kommandozentralensitzerin aber ist „bei uns“, bei der Welt: ohne diese Präsenz in der Welt, ohne dieses geistige Bearbeiten der Welt und ohne die geistige Teilnahme an der Welt wäre die Kommandozentralensitzerin ja auch nicht die Kommandozentralensitzerin. Ihr Wissen aus der Verborgenheit ins Unverborgene zu bringen, es in der Welt erscheinen zu lassen, ist dann Sache der Welt. Damit ist die Kommandozentralensitzerin von der Welt abhängig und scheinbar nicht absolut. Ihr Geist mag es zwar, für sich genommen, absolut sein, aber nicht für andere genommen. Das alte Problem der Hegelphilosophie, das Problem … diese(s) Grundcharakter(s) der Entgegensetzung in dem Göttlichen, das allein im Bewußtsein, nie im Leben vorhanden sein soll(Frühe Schriften S. 418) hat man dann wieder. Es ist eben das Problem von Geist und Welt, Philosophie und profaner Realität. Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht, noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande; und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechtes der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt. (Jenaer Schriften S.275) Wenn die Philosophie und die Welt einander schon verkehrt sind: wie muss dann erst dieses Verhältnis von der Kommandozentrale der Philosophie aus betrachtet sich darstellen? Die Welt des Geistes ist eine der Einheit, wo sich Gedanken nur so aneinanderschmiegen, und die Ideen, wie man Einheit in der Welt herstellen könnte, sich wohltuend osmotisch vereinigen und in einem großen, herrlichen Ganzen aufgehen, das sich dann seinerseits wieder in lauter Interessantheiten im Einzelnen auffächert. Die Welt der Welt ist aber die Sphäre der tatsächlichen Vielheit und der hartnäckigen, bisweilen unerbittlichen Diversität und voneinander Getrenntheit, der mit keiner Philosophie beizukommen ist. Hegels Philosophie ist eine des Geistes, des Individuums, wie der Gesellschaft und der Geschichte. Gesellschaft und Geschichte aber sind verfluchte Rätsel, die niemand lösen kann. Sie sind zwar nicht, wie das absolute Denken, unendlich, aber endlos, und sie unterliegen der Chaos-Einwirkung. Daher wollen wir dazu – zur Verhältnis zwischen Philosophie und Gesellschaft und Geschichte – vielleicht am Besten nicht so viel sagen. Ein Schelm aber dann natürlich doch, wer nicht behaupten würde, dass die Welt im Lauf der Zeit nicht doch besser und philosophischer geworden sei. Getrennt von der Welt, oben als Kuppeldach, haust und wirkt die Philosophie, und zieht die Elemente der Welt langsam und unerbittlich zu sich hinauf. Langsames Mahlen der Mühle, unnachgiebig und unveränderbar dann aber zuletzt: die Erhabenheit von allem hörst du in diesem stummen Ächzen der nie ruhenden Bewegung. Welt und Philosophie werden einander ähnlich, bleiben aber auch voneinander getrennt. Aufgabe des Geistes, ist es (geistige) Einheit zu stiften im Anschauen und Begreifen der von ihm getrennt bleibenden Welt. Dieses ist die Funktionalität des Geistes, und dieses ist die Funktion der Philosophie. Sie aber – die (unerbittlichen, kritischen, männlichen) Philosophen (sicher aber nicht die wohltuenden, sanften, die große Einheit anvisierenden weiblichen Philosophinnen!) – mögen skeptisch sein, dass die Einheit des Absoluten je erreicht werden könne, die Geschlossenheit – sofern es sich dann nicht irgendwie religiös verschwurbelt oder faschistisch oder als eine linke Träumerei erweise – eine tatsächliche sein könne. Aber vielleicht ist es ja so, dass nicht das Absolute ein Problem hat, sondern eben die Philosophie. Wissen sie, Frau Schwester,  zur Zeit studiere ich zum Beispiel Haydn, da mir dessen heiliges Gemüt, seine große, zärtliche ethische Persönlichkeit in seiner Musik stets mitklingen will, dort vielleicht besser zum Ausdruck kommt als in der ausformulierteren, geschlosseneren, aber eben auch rokokohafteren und sich einschleimenden Mozarts, und ich deswegen alles darüber in Erfahrung bringen will. Außerdem werde ich heute zum Konzert von Nunslaughter gehen (bei dem die Vorband 3 Tog Nimma Gackn Gwesn es sogar auf einen noch beschisseneren und ekelhafteren – und eine noch größere Inkompetenz ausstrahlenden – Namen bringt). Nunslaughter sind dabei eine 1987 gegründete Underground Death Metal Band, die in dieser Zeit gerade einmal weniger als ein Dutzend Alben, dafür aber zwei Dutzend Livealben, drei Dutzend EPs und eine unüberschaubare Menge an Split-Veröffentlichungen herausgebracht hat. Das ist ihre Art, mit der Welt zu kommunizieren und sie tun das in Form einer Mischung aus rauem, primitiven, gewalttätigen (und nicht besonders guten) Death, Thrash und Black Metal. Dass die Band bis heute, in 35 Jahren kaum einen Bekanntheitsgrad erreicht hat, sei laut Bandchef Don of the Dead gewollt, da man nur „wahre“ Metaller im Publikum haben wolle und keine Opportunisten, die nach ein paar Jahren das Interesse an der Musik wieder verlieren. Jetzt kann ich mir schon vorstellen, dass einige Philosophen durchaus ein Konzert von einer im Vergleich dazu relativ kommerziellen Band wie, sagen wir, Napalm Death besuchen könnten – dass sie auch zu einem Konzert von Nunslaughter gehen, glaube ich dann aber eher nicht. Ob die innere Schönheit und ausgeglichene Harmonie von Joseph Haydn auf sie einen solch nachhaltigen Eindruck machen wie sie das auf mich tun, weiß ich auch nicht. So aber, Schwestern, fügt man die äußeren Enden, die Gegensätze und Thesen und Antithesen zusammen! Ohne dass sie wahrscheinlich als Gegensätze und Antithesen etc. empfunden werden. Denke man sich eine Entität – Yorick Wilhelmine Friedericke „Nunslaughter“ Haydn – so hat diese Entität einen Geist: und in dem laufen die Gegensätze zusammen; gibt es vielleicht keine echten Gegensätze; in seiner sphärischen Kugel wird halt einfach die Welt (inklusive der Hinterwelt) umrundet, und das beliebig. Er ist, wahrscheinlich, von größerem Umfang als die Welt, und passt nicht in die von ihr und in ihr vorgegebenen Formen. Wenn ein solcher Geist prozessiert, ist es vielleicht keine Philosophie, sondern wahrhaft absolutes Wissen als Resultat eines absoluten, radikalen Erkennens und Willens zum Erkennen; und dem Willen zum Erkennen ist es zu eigen, Formen zu sprengen. Wenn die Philosophie kein absolutes Wissen und keine Einheit der „Gegensätze“ garantiert, ist es vielleicht angebracht, den Rahmen der Philosophie zu sprengen. – Das eine ist das eine, und das andere ist das andere. Hegel wirft man vor, dass er das Andere nur denkt, um umso mehr das Eine (und Ursprüngliche) bestätigen zu können (und das Andere auszusortieren) (und also: dass Hegels Denken implizit totalitär sei).  Aber in dem hier vorgeschlagenen Denken ist das Denken primär vom Anderen angezogen um so zum Einen zu gelangen (und es dann wieder, wo notwendig, in das Eine und in das Andere hinein aufzulösen). Wenn Hegel setzt: das Absolute ist die Identität der Identität und der Nichtidentität, so setzen wir noch drauf: das Absolute sei die Identität und die Nichtidentität der Identität und der Nichtidentität (oh ja, so müsste das gehen!) – und haben so einen beträchtlichen philosophischen Fortschritt erzielt, wenn nicht sogar überhaupt die Philosophie unter uns gelassen: zumindest aber ein Außen gegenüber der herkömmlichen Philosophie erobert, die Grenzen weiter (wenn nicht sogar absolut) hinaus ins Unbekannte verschoben. Weil die reine Idee des Erkennens insofern in die Subjektivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese (Sphäre der Wissenschaft, Anm.) aufzuheben, und die reine Wahrheit wird als letztes Resultat auch der Anfang einer anderen Sphäre der Wissenschaft. (Wissenschaft der Logik II S.572f.) Diese andere Sphäre der Wissenschaft ist dann die des absoluten Geistes in der absoluten Form. Die Wissenschaften sind disziplinär organisiert und segmentiert. Selbst der absolute Geist fächert sich auf in Kunst, Philosophie, (Wissenschaft) und Religion. Das Universalgenie beherrscht mehrere Auffächerungen des absoluten Geistes gleichermaßen. Das heißt aber noch nicht, dass es osmotisch zwischen ihnen vermittelt. Denken wir uns einen höheren geistigen Zustand als den des Universalgenies: So gelangen wir zum hochgradig erleuchteten Einheits-Bewusstsein – in dem Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion/Ethik zu einer einzigen Rede und zu einer einzigen, demokratischen, halluzinatorischen Totalwahrnehmung der Welt – und aller möglichen Welten – im Geist verschmelzen. Möglichkeitssinn trifft auf Wirklichkeitssinn in gleichem Maße, und wird durch Sinn für das Ethische zusammengehalten und austariert. Das Einheits-Bewusstsein ist sich selbst Ursprung und Ende und ist wahrscheinlich umfangreicher als das physikalische Universum. Es gleicht dem tiefsten Prinzip der Welt, dem Chaosmos. So sollte das außerdem gehen: das mit dem authentischen, „interkulturellen“ Bewusstsein innerhalb des Globalisierungszeitalters. Das ist dann der absolute Geist in der absoluten Form. – Und damit schießt sich die Geschichte von Hegel und dem absoluten Geist, der absoluten Idee etc. ab und kommt, in ihrer Überwindung, zur Vollendung, und eine neue Ordnung beginnt: die vom absoluten Geist in der absoluten Form, und mit ihr eine glorreiche, magnifiziente Zukunft einer funkelnden, leuchtenden planetarischen Intelligenz, als einer neuen Stufe des Weltgeistes.

Angeführte Literatur

Von GFW Hegel:

Frühe Schriften, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1971

Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin, Suhrkamp 2020

Jenaer Schriften, Berlin, Akademie Verlag 1972

Phänomenologie des Geistes, Berlin, Suhrkamp 2020

Philosophie der Kunst Vorlesung von 1826, Frankfurt/Main, Suhrkamp 2004

Politische Schriften, Berlin, Suhrkamp 2020

Vorlesungen über Ästhetik 1, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1970

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Berlin, Suhrkamp 2020

Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 2 Die bestimmte Religion Hamburg, Felix Meiner Verlag 1985

Wissenschaft der Logik I + II, Berlin, Suhrkamp 2020

+

Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1974

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1975

Althusser, Louis: Für Marx, Berlin, Suhrkamp 2011

Cobben, Paul u.a. (Hrsg.): Hegel-Lexikon, Darmstadt, WBG 2006

Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Main, Fischer 1998

Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt/Main, Klostermann 1972

Nietzsche, Friedrich:Nachlass Ende 1870 – April 1971, editiert von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen bei de Gruyter

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, Stuttgart, Alfred Gröner Verlag 1993

Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht in: Werke XI, Frankfurt/Main, Insel Verlag 1964

Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag 1958

Lenin, W.I.: Staat und Revolution, Wien, Eigenverlag 2014

Marx, Karl: Die Frühschriften, herausgegeben von Siegfried Landshut, Stuttgart, Alfred Gröner Verlag 2004

Vieweg, Klaus: Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München, C.H. Beck 2020

Zizek, Slavoj: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin, Suhrkamp 2012

Heidegger und ich

Heidegger macht uns keine Illusionen und gaukelt uns nicht vor. Man hat bei ihm nicht das Aufgehen des Menschen in einem großen Ganzen, in einem sinnvollen Logos und Weltprozess (wie bei Hegel), einem All-Leben und Weltgeist (wie bei Scheler), einer materialistischen Eschatologie (wie bei Marx), einer sadomasochistischen ewigen Wiederkehr des Gleichen (wie bei Nietzsche) oder einem „summenden“, geschäftigen Universum (wie bei Whitehead). Nein, man hat bei ihm die bloße Geworfenheit des Menschen in ein nacktes Sein. Heideggers Sein hat keine wirklichen Qualitäten. Es ist vorwiegend indifferent. Verlassen und einsam findet sich der Mensch im Sein in seiner bloßen Existenz wieder. Auf unbeschriebene Blätter jedoch kann man die schönsten Schriftzeichen setzen, meinte dereinst der Welterschütter (und Philosoph) Mao Tse-tung. Indifferenz des Seins und bloße Existenz sind gleichsam solche unbeschriebenen, daher beschreibbaren Blätter. Existenz kann das Passivste sein von der Welt – oder das Aktivste. Das Sein, zu dem sich der Mensch in Heideggers Philosophie ins Verhältnis setzt, ist das Ärmste und Nichtigste und das Vollste und Reichhaltigste gleichermaßen. Zwischen beiden Polen des Leersten und des Erfülltesten ist bei Heidegger aufgespannt der Mensch. Den Existenzialismus gleichsam vorweg nehmend hat man Heidegger die Geworfenheit in ein rätselhaftes, genauer gesagt, ein eigentlich geheimnisloses und uncharismatisches Dasein und eine existenzielle Verlassenheit und Isoliertheit des Menschen, eine Art existenzielles Ennui als Grundstimmung, wie sie zu Zeiten des Höhepunktes des Existenzialismus in den 1950er Jahren empfunden wurde. Der Existenzialismus fordert aus dem heraus eine Verantwortlichkeit des Menschen, sich zu entwerfen; bei Heidegger hat man das auch, aber in viel größerem Umfang – der dann freilich in Gefahr läuft, darin gar nicht verstanden zu werden. So erscheint Heidegger, wie auch der Existenzialismus, aus heutiger Sicht als „irgendwie trivial“ und als Weisheit von gestern, die im Heute keinen Platz mehr hat. Ja, das kenne ich. Dieses Verkennen von Heidegger ist mir auch teilweise passiert – damals, als mein Geist sich noch nicht vollständig zusammen- und ineinander gefügt hatte. Da war ich noch jung. Ja, man mag Heidegger entsetzlich banal finden; auch davon unabhängig mag man es sich schwer vorstellen können, wieso Heidegger und Sein und Zeit seinerzeit so hohe Wellen geschlagen haben – ähnlich aber freilich wie der französische Existenzialismus 20 Jahre später (bei dem dies leichter verständlich ist). Aber das – dass man ihn banal findet – wird vorwiegend dann der Fall sein, wenn man selbst noch kein höheres Bewusstsein entwickelt hat, keine Zeitlichkeit angereichert hat, man sich aus dem nivellierenden Man noch nicht ordentlich herausgeschält hat – dann kann man mit Heideggers Kategorien und seinem Niveau des Denkens vielleicht nicht viel anfangen. Heidegger mag man banal finden, wenn man mit der eigenen Existenz noch tief in die Banalität verstrickt ist. Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch? (Georg Christoph Lichtenberg) Ein Buch ist wie ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken. (Georg Christoph Lichtenberg) Natürlich kann man Heidegger auch spontan banal finden, einfach, weil man immer schon eine Art höheres Wesen ist, das immer schon eigentlich und nach seinen selbst ergriffenen Möglichkeiten lebt und schwer begreifen mag, ja, es als die eigentliche Raffinesse empfinden mag dass es auch andere geben sollte. Auch ein dermaßen eigentliches Wesen wird sich aber der Ernsthaftigkeit des Heideggerschen Strebens und seiner Schriften und dem absolut hohen – und absolut authentisch-philosophischen – Niveau seiner Auseinandersetzungen gewahr werden und sich dem darüber ausgeübten Sog nicht entziehen können. Auch ein solches Wesen – oder eben vor allem ein solches Wesen – wird in Heidegger einen authentischen, einen großen Philosophen erkennen und ihn deswegen lieben. Vielleicht sind wird heute alle solche Wesen (weswegen uns auch der französische Existenzialismus heute fremd und überholt erscheint). Vielleicht aber auch nicht; vielleicht bleiben wir praktisch hinter diesen Möglichkeiten zurück. Heil dem, der sich dafür überhaupt interessiert. – Eine Philosophie des lebendigen Lebens wolle er anstellen, hat Heidegger schon 1916 seiner Elfride anvertraut. Stets sei es ihm darum gegangen, zwischen einem gelehrten Gegenstand und einer gedachten Sache zu unterscheiden, wird Hannah Arendt in ihrer späten Hommage an ihn feststellen. In seiner bohrenden, einkreisenden, sich besinnenden, besinnlichen Qualität wird sich dieses Denken auch seinen eigenen Resultaten gegenüber stets kritisch bis destruktiv verhalten. Heidegger bohrt Löcher in das Sein, gräbt Mulden in das Sein und verschafft uns so Zonen des geistigen Aufenthalts im Sein. Ein umfassender, das heißt dann also auch ein selbstreflexiver, selbstkritischer, wenn man so will, „widersprüchlicher“ Denker – Heidegger, ein Philosoph der Freiheit, der Möglichkeiten, des Ekstatischen, Überschreitenden, der Emergenz – als auch des Unheimlichen und Unheimeligen im Sein, der Geworfenheit (also Bedingtheit und Unfreiheit und Orientierungslosigkeit und des Wunsches, im entfremdenden Man aufzugehen). Ein Vordenker des Existenzialismus, der hinwiederum das Ekstatische, Ek-sistierende wenig kennt; bei dem man einen Humanismus hat, aber kein Übermenschentum – bei Heidegger hat man das schon. Ein abgeschwächter, realistischerer Kierkegaard, bei dem man nichtsdestotrotz ein Ringen mit dem Absoluten hat, nur das sein Absolutes nichts Göttliches an sich hat (sein Absolutes, mit dem der Mensch unleugbar konfrontiert ist, ist der Tod und das Dasein als Sein zum Tode) Heidegger dann wieder als Philosoph des Ungeborgenen, des Ennui, der Entfremdung, des Zweifels an der Zivilisation, der Technophobie – und nicht zuletzt auch kurzzeitig des Nationalsozialismus. Angesichts von einem solchen Umfang und Aktionsradius scheint es kaum verwunderlich, dass Paradoxien und Unverständlichkeiten auftreten und mit im Gepäck geführt werden. Eine Philosophie des lebendigen Lebens wolle er anstellen… Man hat Heidegger gerühmt und bewundert, weil er mit einer Philosophie daher kam, die ohne Abstraktionen auskommt, genauer gesagt, die viel konkreter und mit mehr Bezug zur Lebenswelt ist als die sonstige Philosophie seiner Zeit. Gleichzeitig schafft er mit seiner Philosophie bzw. in ihr neue offenkundige Abstraktionen, die dann ihrerseits verdinglichend walten und zu Fetischen werden. Viele seiner Kategorien wie „Herrschaft der Technik“, „rechnendes Denken“, „Besinnung“ oder eben „Sein“ sind solche, die vielleicht eher etwas symbolisieren oder als Metapher fungieren, als das sie etwas analysieren. Heidegger verliert sich dann zu einem Teil darin, in solchen Symbolisierungen zu denken und, wie er meint, zu analysieren: er wird von seiner eigenen Terminologie übermannt. Man kann ihm dann ankreiden: das („rechnende“) bzw. zeitgenössische Denken „ist ja nicht so“, wie er es stets behauptet, der Universitätsbetrieb „ist ja nicht so“ etc. Gleichzeitig ist all das aber eben schon so, und in der Leitbedeutung hat Heidegger vielleicht den Nagel auf den Kopf getroffen – oder eben auch nicht: diese Irritation, dass man nie ganz sicher ist, inwieweit Heidegger von den Gegenständen, die er analysiert deren Leitbedeutung getroffen hat, ist aber eine persistente. Freilich geschieht das in der Philosophie häufig und Heidegger ist da kein Einzelfall. Genau gesagt, ist das in der Philosophie dauernd so; indem das bei Heidegger also auch so scheint, offenbart sich vielleicht eben nur, wie sehr er Philosoph denn ist. Wie bei jedem Philosophen, der bedeutend genug ist, dass er popularisiert wird, hat man bei Heidegger natürlich eine deutlich höhere Intelligenz und deutlich raffiniertere Analyse und Abwägen, als man es von den Popularisierungen kennen würde. So erschließen sich bei der genaueren Lektüre hochgradige Differenzierungsleistungen innerhalb seines Denkens. Überhaupt ist seine Lektüre zu empfehlen. Sein angenehmes, stetiges Einkreisen des Gegenstandes, die Originalität der Wahl seiner Gegenstände; die Meditationen, die er über andere Philosophen unternimmt – und die, trotz der peniblen Zitation, nichts wirklich Akademisches an sich hat. Man hat in diesen Meditationen die Begegnungen zwischen großen und größten Philosophen – denn Heidegger ist ein solcher, ist einer von ihnen. Dass seine Sprache dunkel ist, ist ein verdunkelnder Mythos. Zwar berechtigt, wenn man Heidegger zum ersten Mal lesen mag: dann erscheint er dunkel bis grotesk – was aber genau das ist, was man bei tatsächlichen Philosophen hat: dass sie einem zunächst einmal dunkel und grotesk erscheinen, als klar und eindeutig. Im Lauf der Zeit aber tritt Klarheit ein, geschieht die Lichtung. Heidegger drückt sich klar und – nicht gekünstelt sondern – natürlich, in seiner jeseinigen Sprache aus. Eine Stelle im Gebiet, wo echtes Philosophieren stattfindet. Eine weitere Kuriosität ist, dass Heidegger stets über das Sein meditiert, und dabei das Seiende scheinbar nur mit einem Auge sieht. Der Seinsfrage nachzugehen bedeutet: Auf dem höchsten Abstraktionsniveau zu arbeiten, um so gleichzeitig das Konkrete am konkretesten und am umfangreichsten bestimmen zu können. Das wäre Sinn und Zweck der Unternehmung. Bei Heidegger hat man aber das Problem dass er vor lauter Seinsfrage die seienden Gegenstände in der Welt unterbestimmt lässt: die Technik kennt er zu wenig genau, die Politik, eigentlich auch den Menschen. Auch wenn Heidegger nicht so weltfremd sein mag, wie man das glauben mag, ist er doch wieder weltfremder und esoterischer als einem das lieb sein mag. Ein Philosoph, der über das Sein bzw. über die Welt philosophiert, muss auch welthaltig sein. Heidegger war das nicht unbedingt. All das ist aber schwieriger aufzulösen, als einem wiederum das lieb sein mag. – Heidegger ist auf der Suche nach einer authentischen „Einkehr“. Er fühlt sich in der Gegenwart nicht wohl. Einkehr erhofft er sich von einem Neubeginn, der im Geist einer fernen Vergangenheit geschieht oder der in einer sehr fernen Zukunft geschieht, deren Geist und deren Verständnisse so weit weg sind, dass man sie eben kaum angeben kann, und die daher geradezu außerhalb alles zeitgenössischen Philosophierens zu liegen kommen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, so der andere große Philosoph des letzten Jahrhunderts, Wittgenstein, der daraufhin tatsächlich mit dem Philosophieren aufhörte (bzw. sich eine Auszeit nahm). Heidegger hingegen spricht besinnlich, bohrt ein Loch in das Sein, gräbt Mulden in das Sein und befragt so, in einer nicht alltäglichen Sprache, das Sein. Er wirft sich gleichzeitig in eine ferne (archaische) Vergangenheit und in eine ferne, kaum in ihren Umrissen erkennbare Zukunft, jenseits des Aufklärungszeitalters, jenseits aller Moderne. Er wartet auf das „Ereignis“ und glaubt es dann in der Machtergreifung des Nationalsozialismus zu erkennen – freilich nur kurz. Bis an sein Lebensende jedoch wird es keine handfeste Distanzierung davon geben. Er will etwas „ganz anderes“ als die Zeiten, in denen er lebt, zeichnet sich dann aber aus durch eine „Wut des Dableibens“ (Peter Sloterdijk), die als solche beinahe eigentümlicher ist als jeder Konservatismus. Es ist nicht Aufgabe des Philosophen, jeder Modeerscheinung hinterherzulaufen; gleichzeitig darf er nicht versuchen, die Zeit anzuhalten. Als Philosoph hat er das dann auch nicht wirklich getan, in seinem Lebensvollzug und seiner Hüttenbewohnerexistenz aber schon viel eher. Man fragt sich, wo Heidegger eigentlich hin will und warum? Wo drückt der Schuh? Wer fragt wohl stets nach der „Eigentlichkeit“ und der Authentizität? Na, einer der nicht authentisch ist. Heideggers Philosophieren ist neurotisch, wenngleich es eine produktive Neurose ist. Andersrum ist er vielleicht viel eher der einzige, der korrekt und antineurotisch empfindet – eben indem er dauernd um die Frage nach dem Sein und nach der Authentizität in einer Welt mit gewissem Entfremdungspotenzial kreist und dieses versucht, zu reduzieren. Heidegger, zuletzt, und ich. Ich kann letztendlich feststellen: Heidegger und ich sind bisweilen durchaus eines Schlages. Heidegger will den Menschen in seinem In-der-Welt-sein erforschen – so wie ich mich! Das In-der-Welt-sein ist mein urtümlichstes Empfinden, und sein Erforschen mein urtümlichstes Drängen. Heidegger will, dass wir bewusster leben und achtsamer – das schlage ich auch vor! Heidegger will ein neues Bewusstsein, ein neues Denken propagieren – ich kann sogar ein konkretes Modell davon anbieten! Heidegger hofft, im technologischen Zeitalter, dass es zu neuen Sinnstiftungen durch die Kunst kommt – so wie ich! Er sieht das Ende der Metaphysik und der Philosophie, hofft jedoch auf neue Formen, die das Denken dereinst annehmen wird – ich offeriere den absoluten Geist in der absoluten Form! Heidegger liebt die Philosophie und ihre Gegenstände – so wie ich es tue! Wir begegnen uns, einsam, auf dem Holzweg, in der ewigen Dämmerung, und erkennen uns.

Und so tue ich dann eben Kunde – über Heidegger und mich.

Wir behaupten nun: Das Sein ist das echte und einzige Thema der Philosophie. Das ist keine Erfindung von mir, sondern diese Themenstellung wird mit dem Anfang der Philosophie in der Antike lebendig und wirkt sich in der grandiosesten Form in der Hegelschen Logik aus. Jetzt behaupten wir lediglich, das Sein sei das echte und einzige Thema der Philosophie … Philosophie ist die theoretisch-begriffliche Interpretation des Seins, seiner Struktur und seiner Möglichkeiten. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.15) Und überhaupt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Das ist die Frage. (Einführung in die Metaphysik) – das sei, genau gesagt, die Grundfrage der Metaphysik. Heideggers gesamte Philosophie kreist um die Entfaltung der Seinsfrage, der Frage nach dem „Sein“. Laut eigener Aussage habe ihn diese Frage bereits als Gymnasiast beschäftigt: Unbestimmt genug bewegte mich die Überlegung: Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung? Was heißt Sein? (Mein Weg in die Phänomenologie in Zur Sache des Denkens S.81) Aus einem vulgären, spontanen Verständnis heraus möchte man vielleicht geneigt sein, Heideggers gesamte Philosophie darum zu verwerfen: „Sein“ sei schließlich ein unbestimmter, ein leerer, oder eben ein bloßer Begriff, eine Kategorie unseres Denkens, eine Abstraktion über die Wirklichkeit, jedoch keine Wirklichkeit selbst. Man jage einem Phantom hinterher. Allerdings: so schlau ist das dann auch wieder nicht; eine solche Cleverness ist vielleicht eine, sie hat allerdings ihre Grenzen. Heidegger wäre kein Philosoph, wenn er sein Hauptwerk nicht mit einer Meditation über die Eigentümlichkeit und Problematik des Seinsbegriffs einleiten würde: Man sagt: „Sein“ ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als solcher widersteht er jedem Definitionsversuch. (Sein und Zeit S.2) Wenn etwas nicht definiert werden könne, wie kann es dann Gegenstand eines systematischen Denkens sein? Nun, das systematische Denken könnte dann darum ringen, eine solche Definition zu geben. Oder aber, den Begriff einzukreisen und ihn auf seine Qualitäten hin zu überprüfen, um eine genauere Vorstellung, ein genaueres Verständnis von ihm zu erlangen. Ohne weiteres kann diese Aufforderung zur Einkreisung und Überprüfung auch eine unendliche sein, solange sie nur dadurch am Laufen gehalten wird, indem sie ständig neue Ergebnisse und Erkenntnisse produziert. Oder aber: Dieser allgemeinste und daher undefinierbare Begriff bedarf auch keiner Definition. Jeder gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er damit meint. (ebenda) Das Sein ist zugleich uns am Nächsten und am Fernsten: eine problematische Angelegenheit also. Das Sein hat gleichzeitig offenbar die höchste Präsenz, wie auch eine sich entziehende Absenz. Es ist unmittelbar gegeben und es ist ein sich verflüchtigender Rauch, oder aber ein schnell verblassende Halluzination von etwas, was vielleicht immer schon verflüchtigt war. Aber das Sein bleibt unauffindbar, fast so wie das Nichts oder am Ende ganz so. Das Wort „Sein“ ist dann schließlich nur ein leeres Wort. Es meint nichts Wirkliches, Greifbares, Reales. Seine Bedeutung ist ein unwirklicher Dunst. So hatte Nietzsche ganz recht, wenn er solche „höchste Begriffe“ wie Sein „den letzten Rauch der verdunstenden Realität“ nennt. (Einführung in die Metaphysik S.27) Hegel setzt das Sein überhaupt mit dem Nichts gleich (aufgrund seiner leeren Allgemeinheit, während Realität das hat, und Realität das ist, was sich als Seiendes dialektisch entfaltet) – allerdings ist das Sein, ganz offensichtlich, nicht das Nichts, sondern eben das Gegenteil von Nichts – daher eben auch: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Eine problematische Angelegenheit also; eine so problematische, dass man eben am Grundproblem der Metaphysik wiederum anlangt. Genau aber indem der Seinsbegriff ein problematischer ist, eignet er sich ja zum philosophischen Problem. Der Spruch: Das Seyn ist das Nichts, sagt die höchste Zweideutigkeit, sofern er zumal das Seyn als das Nichtswürdigste ausgibt und sein Wesen als das Fragwürdigste vorgibt. Der Spruch ist das Eingeständnis aller Philosophie, sofern sie als Denken des Seins gilt. (Besinnung S.58) Die Seinsfrage ist durchaus gleichbedeutend mit der tiefsten philosophischen Frage. In ihrer Frage nach den ersten und letzten Gründen will die Philosophie das Reich der Erscheinung durchdringen und hinter sich lassen, um zu irgendeiner allgemeinen Wurzel hinter diesen Erscheinungen zu gelangen. Sie will durch das bloße Dasein, das bloße Seiende hindurch, um zu einem Urgrund des Seienden vorzustoßen: welcher dann eben ist: das Sein. Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der Philosophie: „Was ist das Seiende?“ (…) Dagegen soll der Hinweis darauf, daß Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendländischen Philosophie steht, nur deutlich machen, daß Nietzsche wußte, was Philosophie ist. Dieses Wissen ist selten. Nur die großen Denker besitzen es. Die größten besitzen es am reinsten in der Gestalt einer ständigen Frage. Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet, auch Nietzsche bleibt in der Leitfrage. (Nietzsche 1. Band S.2) Obwohl die Seinsfrage, so gesehen, die allgemeinste philosophische Frage ist, dringen nur die wenigsten Philosophen zu ihr vor. Das sind dann die echten Metaphysiker. Heidegger weist sich über seine Einsicht in die Seinsfrage als ein solcher aus. Der Seinsfrage nachzugehen bedeutet: Auf dem höchsten Abstraktionsniveau zu arbeiten, um so gleichzeitig das Konkrete am konkretesten und am umfangreichsten bestimmen zu können. Die „Allgemeinheit“ des Seins „übersteigt“ alle gattungsmäßige Allgemeinheit. „Sein“ ist nach der Bezeichnung der mittelalterlichen Ontologie ein „transcendens“. Die Einheit dieses transzendental „Allgemeinen“ gegenüber der Mannigfaltigkeit der sachhaltigen obersten Gattungsbegriffe hat schon Aristoteles als die Einheit der Analogie erkannt. (Sein und Zeit S.3) Das Sein ist gleichzeitig das Abstrakteste als auch das Konkreteste … es geht darum, das Konkrete, das Seiende als „im Sein“ oder eben „als Sein“ zu erleben: so gelangt man zu einer reichhaltigeren Anschauung des bloßen Seienden. Die Seinsfrage verlangt nach dem größten Tiefsinn, der größten Immersion. Sie verlangt nach einer transzendierenden Betrachtung gegenüber dem bloßen Seienden, um zu einer allgemeineren, tieferen Qualität – eben dem Sein – vorzustoßen. Es ist eine transzendentierende Bewegung, die endlich im Voraussetzungslosen und im Letztgültigen – im Transzendentalen – ankommen will. Wir können die Wissenschaft vom Sein als kritische Wissenschaft auch die transzendentale Wissenschaft nennen. Dabei übernehmen wir nicht ohne weiteres den Begriff des Transzendentalen bei Kant, wohl aber seinen ursprünglicheren Sinn und die eigentliche, Kant vielleicht noch verborgene Tendenz. Wir übersteigen das Seiende, um zum Sein zu gelangen. Bei diesem Überstieg versteigen wir uns nicht wiederum zu einem Seienden, das etwa hinter dem bekannten Seienden läge als irgendeine Hinterwelt. Die transzendentale Wissenschaft vom Sein hat nichts zu tun mit der vulgären Metaphysik,…. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.23) Das Seiende zu übersteigen, um zu Sein zu gelangen, ist eine Sache nicht allein des Denkens, sondern auch des Empfindens und des Erfahrens, und damit etwas Umfangreicheres als bloßes wissenschaftliches Denken, als eine bloße wissenschaftliche, unmittelbar rationale Herangehensweise. Das Sein ist eine reine Qualität – im Gegensatz zum Seienden, das ebenfalls über Qualitäten erscheint, die aber eventuell quantifizierbar (mathematisierbar) sind und somit zu Gegenständen der Wissenschaften werden können. Wie aber könnte das Sein, als reine Qualität, zu einem (ausschließlichen) Gegenstand der Wissenschaften werden? Heidegger verteidigt die Philosophie gegenüber den „nicht denkenden“ Wissenschaften mit gewissem Recht: Denn die Seinsfrage, und die Frage nach der Eingelassenheit des Menschen in das Sein, ist eine teilweise irrationale Frage, da sie sowohl Anteile des Subjektiven wie des Objektiven hat. Das Sein, grundsätzlich, ist etwas Paradoxes. Aber an den Grenzen des Denkens, und an den Grenzen der Welt, gelangt man zu keinen einfachen Erklärungen mehr: Wohin man gelangt, sind Zustände und Kategorien, die sich bestenfalls eben als Paradoxa beschreiben lassen – und, eventuell, auch nur über Paradoxa bestimmen lassen.  Wenn Heidegger sagt: Man dürfe sich das nicht so vorstellen, dass hinter dem Sein eine „Hinterwelt“ läge, so geht er einher mit Leibniz: Die höchste Monade ist die reflektierteste. Und sie gelangt durch ihre Reflexion auch zu keiner „Hinterwelt“. Wozu sie gelangt, ist eine Ausleuchtung, ein reicheres Erleben und Erfahren des Seins, einen reicheren Kontakt zum Sein, der den üblichen menschlichen Kontakt zum Sein qualitativ überschreitet. Durch die Reflexion über die Reflexion, durch tiefsinniges Eintauchen in Seiendes und Sein, sprengt sie schließlich die materiale Hyle der Dinge, des Seienden. Damit wird diese Monade selbst zu einem reichhaltigeren und präsenteren, verankerteren Sein innerhalb des Seins. Und das ist das, was Heidegger will. Das ist das, worauf die Philosophie von Heidegger abzielt.

Das Sein ist offener als das Seiende. Das Seiende ist begrenzt, endlich, steht herum und im Weg, verdeckt den Blick auf anderes Seiendes, verdeckt, unmittelbar, den Blick auf das Sein. Das Sein hingegen ist grenzenlos, öffnet Blick und Herz und eröffnet uns, dass es etwas jenseits unserer Tagesgeschäfte gibt; es eröffnet uns eine grenzenlose Weite. Den Blick zu erweitern ist Aufgabe der Philosophie. Den Blick auf das Sein hin zu erweitern, ist Intention der Heideggerschen Philosophie. Das Seiende soll in das Offene des Seins selbst und das Sein soll in das Offene seines Wesens gebracht werden. Die Offenheit von Seiendem nennen wir die Unverborgenheit: Wahrheit. (Nietzsche 1. Band S. 64) Was ist Wahrheit wiederum? Wir wissen es nicht. Am ehesten aber ist Wahrheit, und liegt Wahrheit dort, wo Offenheit für Wahrheit herrscht: das heißt, im unbedingt wahrheitsliebenden, wahrheitssuchenden Subjekt, das der Wahrheit gegenüber eine aufrechte Haltung hat. Dieses wahrheitssuchende Subjekt wird die Welt als etwas erleben, was Wahrheit enthält: Diese Wahrheit zwar gerne verbirgt, aber, wenn man sich in ein entsprechendes Verhältnis zu ihr setzt, auch entbirgt und offenbart. Wahrheit, im ursprünglichen Sinn verstanden, gehört zur Grundverfassung des Daseins. (Sein und Zeit S.226) Ein solches wahrheitssuchendes Subjekt wird nicht allein die Wahrheit hinter Seiendem zu entbergen suchen, sondern des Seins selbst: was dann eben „die“ Wahrheit ist. Heidegger spricht davon, dass der Mensch, in dieser Eigenschaft, Hüter des Seins ist. Er allein ist in der Lage, Sein und die Wahrheit des Seins zu entbergen. Heidegger spricht vom Entbergen der Wahrheit als einer Lichtung des Seins; einer Lichtung, die gleichsam im Sein vorhanden ist und sich auftut, die allerdings auch als solche aufgesucht und als solche begriffen werden muss. Inmitten des Seienden im Ganzen west eine offene Stelle. Eine Lichtung ist. Sie ist, vom Seienden her gedacht, seiender als das Seiende. Diese offene Mitte ist daher nicht vom Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist, wie das Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.41) In der Lichtung entbirgt sich das Sein selbst. Das Sein selbst ist lichtend. An diese Lichtung will uns Heidegger heranführen: denn es müssen diese Möglichkeiten, die im Sein liegen, auch als solche ergriffen werden. – Und Heidegger ist gleichsam der Denker, der vor Holzwegen warnt, auf denen sich Mensch und Seinswahrheit nicht begegnen. Insofern er der Denker der „Eigentlichkeit“ ist, ist er auch Reflektierer und Warner vor der „Uneigentlichkeit“. Die Möglichkeit; ja, die dringende, drängende Wirklichkeit der Uneigentlichkeit liegen wiederum im Sein und im Dasein selbst. Die Un-eigentlichkeit wird als Verfallen an das Seiende begriffen, … Das Verfallen an das Seiende ist die sich selbst verhüllte Zustimmung zur Machenschaft .. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind … Existenzialien…  (Besinnung S.324) Uneigentlichkeit bedeutet: Die Flucht vor dem Dasein selbst und die Verschüttung seiner Begegnismöglichkeiten für es. (Einführung in die phänomenologische Forschung  S.284) Uneigentlichkeit liegt darin, dass es sehr schwer ist, „eigentlich“ zu sein, und zu Seinswahrheit vorzudringen. Es ist im Dasein selbst begründet, in dem sich die menschliche Sorge hauptsächlich darum bemüht, Auskommen im Dasein zu finden. Mitsein ist ein Existenzial: Um „eigentlich“ zu sein, und um Wahrheit herauszufinden, braucht man andere Menschen. Dieses Mitsein mit anderen Menschen, das Lernen von anderen Menschen, führt jedoch primär dazu, dass Menschen einander kopieren und sich aneinander anpassen. Die Einzelne tut dann nicht, was sie tut, denkt und empfindet nicht, was sie denkt und empfindet, sondern tut, denkt und empfindet, was man tut, denkt und empfindet. Das ist dann das beklemmende Reich des Man (eine von Heideggers stärksten und bekanntesten kategorialen Schöpfungen). Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen: so charakterisiert Heidegger die Sphäre der nivellierenden Alltäglichkeit, die Sphäre des Man.(Sein und Zeit S.127) Die Mimesis an das Man verhindert, dass der Mensch „zu sich kommt“ und „er selbst ist“. „Uneigentlich“ heißt hier nicht, es sei kein wirkliches Verstehen, sondern es meint ein solches Verstehen, worin das existierende Dasein primär sich nicht aus der eigensten selbstergriffenen Möglichkeit versteht. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S. 395) Die Uneigentlichkeit, und überhaupt die Täuschung und die Irre, seien zunächst der eigentliche Normalzustand. In de anima betont Aristoteles, dass die früheren Philosophen viel zu wenig den Tatbestand beachtet hätten, dass der Mensch den größten Teil seiner Zeit sich in der Täuschung bewege. Weil der Trug beim Menschen viel mehr zu Hause ist, als man gemeinhin glaubt, genügt es nicht, den Trug nur nebenbei und nicht prinzipiell zum Problem zu machen. (Einführung in die phänomenologische Forschung S.25) Abgesehen davon, dass es die Wurzel des Wesens von dem einen und anderen Menschen ist, mehr oder weniger im Man aufzugehen, sind es Mächte und Ohnmächte, die uns davon abhalten, uns in unseren eigensten selbstergriffenen Möglichkeiten zu ergreifen und begreifen. Unkenntnis, Unwissen, Sorge, Angst etc. mögen vom Ergreifen der Eigentlichkeit abhalten. Die Unkenntnis und das Unwissen, das Unterbestimmte der Welt, sind weniger etwas subjektiv Verschuldetes, sondern liegen in der Natur selbst, die es liebt, sich zu verbergen. Umgekehrt wurzelt die Undurchsichtigkeit des Daseins nicht einzig und primär in je „egozentrischen“ Selbsttäuschungen, sondern ebensosehr in der Unkenntnis der Welt. (Sein und Zeit S.146) Die Welt, das Sein, ist eine Heimat, die auch unheimlich ist. Angst ist demgemäß eine Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins; Angst vor den Seinsmöglichkeiten zunächst, wegen derer man sich ins Man zurückzieht, Angst aber auch vor der Unheimlichkeit des Seins, die in der Unterbestimmtheit und latenten Rätselhaftigkeit der Welt liegt. Diese Unterbestimmtheit ist gleichsam nichts Dringendes und Drängendes, einem an die Gurgel Springendes: es ist eher die eherne Neutralität der Welt: Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit (Sein und Zeit S.186) Auch und nicht zuletzt von daher entspringt der Appell der Seinsfrage: Das Sein zu bestimmen, um dem Dasein die Unheimlichkeit zu nehmen, und im Sein heimisch zu werden. (Der spätere Heidegger verabschiedet sich hinwiederum von der starken Betonung der Angst als Grundbefindlichkeit: Die Vorlesung erhebt eine vereinzelte und dazu noch gedrückte Stimmung, die Angst, zu der einzigen Grundstimmung. Weil jedoch die Angst der seelische Zustand der „Ängstlichen“ und Feigen ist, verleugnet dieses Denken die hochgemute Haltung der Tapferkeit. Eine „Philosophie der Angst“ lähmt den Willen zur Tat. (Nachwort zu „Was ist Metaphysik?“ in Wegmarken S.305).) – Ja, das mit der Lichtung, der Entbergung, dem Hüten des Seins – das kenne ich nur allzu gut! In mir ist es ja auch so, als ob meine Wahrnehmungen und meine wahrheitssuchenden Prozesse aus meinem Körper nach oben schießen und dann auf einen Schirm stoßen, der, als Lampe, die Umgebung erhellt. In meinem fortwährenden Sortieren, Assoziieren, Umwälzen und Umpflügen, in meinem Synthetisieren und Amalgamieren und in meinem Unterscheidungen treffen fühle ich mich auch als Hüter des Seins; nicht zuletzt, weil ich einen so empathischen, nicht-rechnenden Bezug zum Sein habe. Als eine Lichtung empfinde ich – ganz unmittelbar und NICHT metaphorisch – meine Geistseele, die lichtend alle Umgebung und ihr Dunkel erhellt und das Erhellte, und das noch zu Erhellende, behütet und in seinen empathischen Kreis zieht. – Diese bildhaften Begrifflichkeiten, die Heidegger mit „Wahrheit“ assoziiert – Entbergung, Lichtung, Öffnung, Hüten etc. – erinnern nicht an wissenschaftliche Begrifflichkeiten; ja, erscheinen womöglich esoterisch und schwärmerisch und mögen Anlass zu Spott geben. Allerdings sind es empathische Begriffe; und sie stehen damit in Verbindung, dass sie sich auf keine naturwissenschaftlich-objektive Wahrheit beziehen, sondern auf eine künstlerisch-philosophisch-religiöse (oder eben: eine existenzielle) Wahrheit hinsichtlich der (subjektiven) Eingelassenheit des Menschen in eine (objektive) Welt. Die Wahrheit des Seins erscheint als eine Epiphanie. Das Sein selbst ist, wie erwähnt, eine paradoxe, subjektiv-objektive Kategorie. Das Sein ist eine viel allgemeinere Kategorie als die des Menschen, allerdings auch wieder eine Kategorie des Menschen, und eine Kategorie, die allein für den Menschen diesen und jenen Sinn macht. Die Seinsfrage ist eine Frage nach einer „objektiven“ Bestimmung des Seins, die allerdings allein „subjektiv“ für den Menschen Sinn macht. Und es geht darum, die „Seinswahrheit“ ständig neu herauszufinden, die Suche nach dieser Wahrheit ist ein unabschließbarer Prozess. Das Sein muss deshalb von Grund aus und in der ganzen Weite seines möglichen Wesens neu erfahren werden, wenn wir unser geschichtliches Dasein als ein geschichtliches ins Werk setzen wollen. Denn jene Mächte, die dem Sein entgegenstehen, die Scheidungen selbst bestimmen, beherrschen und durchsetzen in ihrer vielfachen Verflechtung seit langem unser Dasein und halten es in der Verwirrung des „Seins“. (Einführung in die Metaphysik S.155/6) Das Sein muss erfahren, und ständig neu erfahren werden. Dasein ist ständige Unabgeschlossenheit (Sein und Zeit S.236) und Unganzheit (ebenda S.242) Allein indem man ins Offene kommt, Freund, kann man diese Unabgeschlossenheit und Unganzheit, und damit das Sein adäquat erfassen, und in dieser Unabgeschlossenheit, Offenheit, Unbestimmtheit und Unganzheit heimisch werden. Diese Freundin ist eigentlich, und lebt nahe den selbstergriffenen Möglichkeiten, die das kann.

Auf Heidegger bin ich gekommen, weil Antonioni in seinen meisterhaften Filmen, in seiner künstlerischen Vision, den Menschen als Menschen in der Welt, als Menschen in seiner Umgebung und in seinem Wechselverhältnis zu seiner Umgebung darstellt. Als Menschen in seinem – wie man dann mit Heidegger sprechen könnte – „In-der-Welt-sein“. Seiner urtümlichen Eingelassenheit in die Welt. Im Wesentlichen ist das auch das, was ich versuche: ich empfinde mich als in der Welt, und alles, was ich tue, zielt darauf ab, mir über mein In-der-Welt-sein Klarheit zu verschaffen. Ich empfinde mich als sehr eingelassen in die Welt, und versuche, diese Eingelassenheit zu reflektieren, und also mein Territorium zu markieren. Dem Erkennenden kommt es darauf an, im Seienden heimisch zu werden, in ihm selbst zu Hause zu sein in der Weise des gesicherten Daseins, so drückt es, ähnlich, Heidegger aus (Einführung in die phänomenologische Forschung S.289). Die Frage nach dem Sein stellt sich immer von der urtümlichen Position des In-der-Welt-seins aus. Die Interpretationen des Ontischen geschehen immer von der Eingelassenheit des Menschen ist das Ontische aus. Heidegger verzichtet gleichermaßen auf einen Anspruch, man könnte in der Philosophie über das Ontische hinausgehen, einen archimedischen Standpunkt einnehmen und in eine Hinter- oder Überwelt zu blicken. Der archimedische Standpunkt ist das In-der-Welt-sein, und allein über die konzentrierte Reflexion wird man in diesem Sein heimisch und zu einem aktiv metaphysischen Wesen, das zu einer aktiv metaphysischen Schau des Daseins gelangen kann. Ausgangspunkt des Heideggerschen Philosophierens ist die Welt. Welt ist nicht etwas Nachträgliches, das wir als Resultat aus der Summe des Seienden errechnen. Die Welt ist nicht das Nachherige, sondern das Vorherige … Auf innerweltlich Seiendes können wir einzig deshalb stoßen, weil wir als Existierende je schon in einer Welt sind. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.235) Heidegger ist auch niemand, der sich in epistemologische (oder phänomenologische) Raffinessen vertieft. Er legt wenig Gewicht auf Analyse des Erkenntnisapparates; für ihn stellt sich Erkenntnis spontan über den Kontakt mit der Welt ein, und diese Erkenntnis wirkt dann wieder auf die Welt zurück und ist in der Lage, die Welt zu manipulieren. Die Arten und Weisen, wie das passieren kann, sind nur begrenzt vorhersehbar – und so wirkt Heidegger als erfrischender Kronzeuge gegen philosophische Versuche, einem als starr, grundlegend und unveränderlich angenommenen Erkenntnisapparat auf die Schliche zu kommen. Epistemologie ist im Wandel. Über neue Erkenntnisse (und über neue Erkenntnisapparaturen) verändert sich unser Erkenntnisapparat fortwährend, und dieser verändert dann wieder die Welt und den konkreten Status des In-der-Welt-seins: Ein weiterer Hinweis auf eine der Hauptthesen von Sein und Zeit, dass sich Dasein und Erkenntnis und In-der-Welt-sein eben in der Zeitlichkeit entfalten. Erst aus der Verwurzelung des Da-seins in der Zeitlichkeit wird die existenziale Möglichkeit des Phänomens einsichtig, das wir zu Beginn der Daseinsanalytik als Grundverfassung kenntlich machten: des In-der-Welt-seins. (ebenda S.351)Vor allen Dingen ist das Erkenntnisproblem ein Zirkelproblem: Das Verstehen betrifft als die Erschlossenheit des Da immer das Ganze des In-der-Welt-Seins. In jedem Verstehen von Welt ist Existenz mitverstanden und umgekehrt – das ist der Zirkel der Erkenntnis (Sein und Zeit S.153): Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch nur zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichen Erkennens … Seinendes, dem es als In-der-Welt-Sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische Zirkelstruktur. (ebenda S.152) Genauer gesagt, hat sie die Struktur eines Hypercycle (eines von mir gerne gebrauchen Ausdrucks). – Entsprechend dem Sinnspruch, dass die meisten Menschen nur existieren, N.N. aber ein besonderer Mensch ist, der tatsächlich lebt, gibt es ein passives und ein aktives In-der-Welt-sein. Passiv, weil das In-der-Welt-sein die urtümliche Verfassung des Menschen und aller Lebewesen und Objekte ist. Zu diesem In-der-Welt-sein muss der Mensch gar nichts dazu tun. Aktives In-der-Welt-sein bedeutet dann, „tatsächlich zu leben“, also sich über sein In-der-Welt-sein im Klaren zu sein und seine Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. Das ist dann also ein Transzendenzbestreben, und dadurch wird der Mensch zu einem genuin transzendenten Wesen. Ein solches Transzendenzbestreben mündet letztendlich in die Metaphysik. Philosophie ist Metaphysik. Diese denkt das Seiende im Ganzen – die Welt, den Menschen, Gott – hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens. (Zur Sache des Denkens S.61f.) Die Metaphysik unterscheidet sich von der Physik, indem sie ebenfalls eine Art Zirkelstruktur hat. Sie will eine objektive Antwort auf eine subjektive Frage: auf die Frage des Menschen nach seinem Status in der Welt und nach dem Status der Welt allgemein (den er allerdings immer nur von seinem subjektiven Standpunkt aus als so oder so begreifen kann). Metaphysik ist eine Art „Sinnfrage“, die also als solche primär für den Menschen Sinn macht. Natürlich ist es aber falsch, die Metaphysik daher als eben etwas rein Subjektives abzutun: denn ihr Streben geht ja ins Objektive, und letztendlich will sie die Welt erhellen und freilegen als das, was sie eben ist. Die Metaphysik ist sehr schwierig und sie erzeugt den Sog des Abgrundes wie den Rausch der Höhen. Metaphysik will Klarheit über den Status des Menschen in der Welt, und zwar eine objektive Klarheit (die freilich ihre subjektivistischen Grenzen hat). Sie ist Vertiefung, Introspektion und Besinnung, sie will – abstrahierend – eine Karte des Seins zeichnen und – konkretisierend – Gebiete des Daseins mit ihrer Hilfe verorten.  Eine (atheistische) Metaphysik öffnet keine Tore zu Hinterwelten; die Überwelt, die sie eröffnet, besteht in einer gleichzeitigen Superabstraktion und Superkonkretisierung des Daseins, einer umfassenden Verständlichmachung der conditio humana in der Welt. Das ist, wenn man den grundlegendsten Grund erreicht, dann die Fundamentalontologie. Metaphysik ist seltsam nicht allein, weil sie subjektiv und objektiv ist, sondern auch, weil sie gleichzeitig deskriptiv und konstruktiv (und/oder normativ) ist. Metaphysische Gebäude sind deskriptive Konstruktionen. Sie erscheinen nicht allein als Konstruktionen in etwas, in eine Welt, hinein, sondern auch in ein Nichts, in ein über die Welt hinaus hinein. In seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? im Jahr 1929 formuliert Heidegger die Eigentümlichkeit des metaphysischen Strebens. Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. (Was ist Metaphysik? S.35) Es finden sich auch Sätze darin über den Zusammenhang zwischen Metaphysik und der Langeweile des Daseins: Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichheit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. (ebenda S.31) Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. (ebenda S.32) Auf jeden Fall aber bedeutet hier die Grundlage für die Metaphysik die Hineingehaltenheit des Menschen in ein Nichts. Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigen des Seienden im Ganzen: die Transzendenz …. Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten. (ebenda S.38) Ja, dieses transzendente Hineinragen in das Nichts, das kenne ich nur allzu gut! Im obersten, im Bau befindlichen Stockwerk des riesigen Wolkenkratzers, der wie so einige Wolkenkratzer über die nächtliche, punktuell funkelnd erleuchtete Megalopole des 21. Jahrhunderts ragt – in diesem obersten, im Bau befindlichen Stockwerk, da bin und arbeite ich! Einsam, allein. Ich baue die Metaphysik des 21. Jahrhunderts, hoch oben. Über mir nur das Firmament, das paradoxerweise schirmt und das auch nicht tut. Ich bin, einigermaßen, im Nichts. Nur meine Metaphysik ist bei mir. Straßen- und Megalopolenlärm dringt verhalten zu mir hinauf. Ich richte meinen Blick eben auf das nächtliche 21. Jahrhundert, nachdenklich, bevor ich wieder weitermache und weiterbaue. Es ist ein großes Geheimnis. Ich bastle an der Metaphysik der kommenden Jahrhunderte. Wie sollte das anders als seltsam sein, und ein Pakt mit dem Nichts?

Es liegt, wie wir sehen werden, in der Idee des Seins so etwas wie Verbundenheit, ganz äußerlich genommen, und es ist kein Zufall, dass das „ist“ den Charakter der Kopula erhält. (Die Grundprobleme der Phänomenologie S.303) Paula ist die Schwester von Perla. Perla ist die Mutter von Noemi. Chong Ing Fo ist Chinesin. China ist in Asien. China und fast der gesamte Rest der Welt sind in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Das ist/sind – mithin also das Sein – bestimmt Seiendes über die Verknüpfung und Zuweisung von Qualitäten (und Quantitäten, Lokalitäten…). Seiendes, bzw. Dinge, die einem im Sein begegnen, die durch das Sein entborgen werden, ist bzw. erscheint als über in bestimmte Verhältnisse verknüpft. Seiendes ist also wesentlich nicht isoliert, sondern erscheint urtümlich in Zusammenhang mit Anderem. Kopula bedeutet lateinisch „Band“. Das Sein, könnte man meinen, ist also etwas, innerhalb dessen Zusammenhänge möglich sind; und unter dem „Sein“ selbst versteht man etwas Zusammenhängendes oder Einheitliches. Es gehört zu den guten, wohltuenden menschlichen Gefühlen, wenn man das Sein als einen guten Zusammenhang erlebt. Der Erleuchtete sieht das Sein mithin als irgendeinen gloriosen Zusammenhang. Ich selber sehe und empfinde, über meine alles miteinander verknüpfende Wahrnehmung, das Sein als einen Zusammenhang; genauer gesagt: Ich sehe und empfinde dringend den SEINSZUSAMMENHANG. Dieser glorreiche SEINSZUSAMMENHANG ist für mich urtümlich das Sein, und das Studium des SEINSZUSAMMENHANGS ersetzt für mich von vornherein das Studium des Seins. Die Seinsfrage stellt sich für mich gar nicht so dringend, da ich den SEINSZUSAMMENHANG sehe. Über den SEINSZUSAMMENHANG ist das Sein für mich ausreichend, mehr als vollständig und zufriedenstellend bestimmt. Meine große Sorge gilt freilich der Frage, inwieweit das Sein überhaupt ein „Seinszusammenhang“ ist (oder nicht etwas eher Auseinanderfallendes) bzw. wie sich der Zusammenhang im Sein verbessern und robuster machen lässt (denn praktisch erscheint er mir mangelhaft). Was ich gut finde, ist auch, dass ich im Sein mit-sein kann; dass mir das Sein ein Dasein ermöglicht, das mit-seiend ist. Das authentische Mit-sein ist das große Geheimnis. Es geschieht über Empathie. Durch das Mitsein mit Anderem gleitet man durch das Dasein wie durch ein physikalisches Feld, über das alles mit allem verbunden ist. Wer das Dasein so erlebt, der wetteifert an Glückseligkeit mit den Göttern; und hat wohl auch deren Verstand. Dasein ist, in jedem Fall, Mit-sein. Das weiß natürlich auch Heidegger: Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des In-der-Welt-Seins … Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. (Sein und Zeit S. 125) Allerdings ist Heidegger kein Philosoph, der über das Mitsein viel reflektiert. Seine Besinnungen dazu beschränken sich mehr oder weniger auf jenen §26 in Sein und Zeit. Wohl aus dem heraus stellt sich für ihn immer wieder die Seinsfrage: indem er das Dasein wenig als Mitsein zu erleben scheint und daher auch als unterbestimmt und sinndefizitär. Sein besinnliches Denken hat, insgesamt, das Charisma einer vorwiegend einsamen, solitären Beschäftigung; mit seiner spezifischen Besinnung bohrt er sich gleichsam in das Sein hinein (oder eben nur: in die Frage nach dem Sein ohne Antwort), gräbt er sich eine Mulde – damit erobert er einen eigenen Bezirk, aber, so hat man den Eindruck, nicht das Sein im Ganzen. Ich hingegen, mit meinen dauernden Verknüpfungen, tue das schon. Ich selber mag alles, was anders ist, und ich will mit dem Anderen eine symbiotische Beziehung eingehen. Durch das fortwährende Eingehen von symbiotischen Beziehungen bzw. über die Disposition dazu, symbiotische Beziehungen mit dem Anderen einzugehen, erweitere ich fortwährend meinen Wirkungskreis und reichere mein eigenes Sein an. Ich ziehe so große Kreise und Aktionsradien. Ich habe zu mir begegnendem Seienden ein offenes Verhältnis, und so ist auch das Sein für mich jene von Heidegger viel beschworene Offenheit. Das Sein ist somit für mich nicht wirklich ominös. Heidegger hat zum Seienden vielleicht keinen so tiefen empathischen Draht (und schon gar nicht zum Anderen: er bleibt eben am liebsten in seinem Wald und seiner Hütte – und eben auch im Rahmen seiner eigenen Philosophie). Er wirkt weltflüchtig. In seiner denkwürdigen Begegnung mit Cassirer verkörpert Cassirer die umfangreiche, enzyklopädische Bildung (als Welt-Aneignung); Heidegger hingegen ein sich von scheinbar überkommenem Bildungsballast frei machendes intellektuell-spirituelles „Zurück zum Ursprung“. Cassirer ist extravertiert und offen und will stets die Gemeinsamkeiten betonen. Heidegger betont die Gegensätzlichkeit der beiden Auffassungen und verweigert sich einer Fortsetzung des Gesprächs. Um das Sein zu erfassen, muss man dem Seienden begegnen; um auf die Seinsfrage Antwort zu geben, oder sie hinter sich zu lassen, muss man welthaltig sein. Umgekehrt ist bildungsmäßiges Denken und Wissen nicht notwendig empathisch und eine enzyklopädische Bildung kann der empathischen Qualitäten – und damit der eigentlichen Durchdringung ihrer Inhalte – ermangeln. Heideggers besinnliches, anti-enzyklopädisches Denken ist sehr wohl empathisch und „fühlend“; allerdings ist seine spezifische Empathie auf gewisse Bezirke beschränkt, und sie ist nicht wirklich Empathie mit dem Anderen, so dass sie eben auf sich selbst und eben auf die Seinsfrage beschränkt bleibt. Irgendeiner sollte daher kommen und die positiven Seiten der über Heidegger und Cassirer exemplifizierten Pole zusammenbringen. Das wäre dann wohl was. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend ihm voraus, vor seinem Geiste, zitiert Heidegger Kleist im Interview mit Richard Wisser. Heideggers spezifische Philosophie gibt keine letztgültigen Antworten, sie hält aber die Seinsfrage für die Zukunft hin auf kommende Antworten offen. ——- Jetzt ist es freilich so, dass der glorreiche Seinszusammenhang zu erheblichen Teilen gar keiner ist. Im Sein ist Seiendes über Qualitäten miteinander verbunden, die völlig unterschiedlich sind, und teilweise inkompatibel. Und das Sein also etwas, in dem völlig unterschiedliche Qualitäten erscheinen, und teilweise inkompatible, wenn nicht gegeneinander gerichtete. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Miteinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges, Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander. (Sein und Zeit S.175) Indem im Sein völlig unterschiedliche, vielfach schlechte Qualitäten erscheinen, erscheint das Sein selbst als ein gleichgültiger Behälter, zu dem man in keinem wirklichen Verhältnis steht: Das Sein ist dann etwas Gleichgültiges und Leeres, eben wieder gleichbedeutend mit dem Nichts – wenn nicht sogar etwas Maliziöses, in dem Gutes nur erscheint, um als Illusion zu täuschen. Das Sein ist nicht notwendigerweise ein guter Zusammenhang, eine gute Kopula. Mit Schelling, auf den Heidegger öfter Bezug nimmt, ist die Schöpfung etwas, das notwendigerweise in Einzelwesen zerfällt, deren Telos die Selbstbehauptung sei und die daher in einem Konkurrenzkampf zueinander stehen. Dasein ist nicht zuletzt Daseinskampf. Nietzsche zieht die Konsequenz daraus, indem er den selbstbehaupterischen Daseinskampf verabsolutiert und ihn als eigentliches Ziel des Daseins – in einem sadomasochistischen „ewig wiederkehrenden“, ansonsten ziellosen Sein – fasst und proklamiert. Allerdings hat die Philosophie Nietzsches hier keinen rechten Erfolg, und scheint vor allem widersprüchlich und in sich gebrochen. Das Telos von Philosophie kann kaum anders vorgestellt werden, als irgendwas Gutes und Erwärmendes über Sein und Dasein zu sagen. Der Sinn des Lebens, das Gute im Leben, besteht darin, dass man gute Bezüge herstellt, gute Verhältnisse zu irgendetwas anderem Seienden; schließlich ist es eben gut, wenn man zum Sein an sich einen guten Bezug hat. Der Mensch schließlich und vor allem ist Hüter des Seins, weil er vernünftig und moralisch ist und weil er in das Dasein eingreift: die Macht hat, Seiendes zusammenzuführen und Seiendes zu trennen. Aus dieser Fähigkeit und seiner Anlage zur Vernunft, und aus seinen prosozialen Gefühlen heraus, ergibt sich also für den Menschen die Aufgabe, ethisch zu sein und zu handeln. Der Mensch kann nicht Hüter des Seins sein, wenn er das nicht tut. Es ist Aufgabe der Philosophie, der Königsdisziplin, Seiendes in ethischer Weise zusammenzuführen (und zu trennen). Aufgabe der Philosophie ist die Konstruktivität. Sie muss Vorstellungen und Normen und Haltungen finden und formulieren, die solche der Konstruktivität sind. Daher ist es auch notwendig, den Charakter des Seins zu bestimmen: Als etwas, in dem Seiendes erscheint, das der Mensch als Hüter des Seins zusammenführen und trennen kann. Daraus ergibt sich das ethische GESETZ für den Menschen: Nämlich Seiendes in guter und konstruktiver Weise zusammenzuführen und zu trennen, um höheres Seiendes und ein höheres Sein zu schaffen. Dieses ethische GESETZ ist, als Apell, für den Hüter des Seins in das Sein gleichsam eingeschrieben. Das Sein – um es von der Seinsfrage her aufzuwerfen – lässt sich als etwas bestimmen, in dem das GESETZ eingeschrieben ist und als Apell wirkt. Und das ist wiederum ein Modus des SEINSZUSAMMENHANGS.

Heidegger wird manchmal als Existenzphilosoph gesehen, oder als Existenzialist. Das ist er nicht, wenngleich er wesentlicher Wegbereiter des Existenzialismus ist. Er ist aber deswegen kein Existenzialist, weil sein „Existenzialismus“ kein Humanismus ist. Heidegger will eigentlich eine Philosophie entwickeln, bei der der Mensch nicht im Zentrum steht – sondern eben das Sein. Und dass in der westlichen Philosophie der Mensch im Zentrum stehe, ist für ihn ein weiteres Merkmal ihrer Seinsvergessenheit. Der Beginn der Metaphysik im Denken Platons ist zugleich der Beginn des „Humanismus“ … Hiernach meint „Humanismus“ den mit dem Beginn, mit der Entfaltung und mit dem Ende der Metaphysik zusammengeschlossenen Vorgang, daß der Mensch nach je verschiedenen Hinsichten, jedesmal aber wissentlich in eine Mitte des Seienden rückt, ohne deshalb schon das höchste Seiende zu sein. (Platons Lehre von der Wahrheit S.38) Diese Fixiertheit auf den Menschen verstellt den Blick auf das höchste Seiende (bzw. das Sein), sie verstellt die Seinsfrage und die Frage nach dem grundlegendsten Grund. Die Unverborgenheit enthüllt sich dieser Erinnerung als der Grundzug des Seins selbst. Die Erinnerung an das anfängliche Wesen der Wahrheit muß jedoch dieses Wesen anfänglicher denken. Sie kann daher die Unverborgenheit niemals nur im Sinne Platons, d.h. in der Unterjochung unter die idea, übernehmen. Die platonisch begriffene Unverborgenheit bleibt eingespannt in den Bezug zum Erblicken, Vernehmen, Denken und Aussagen. Diesem Bezug folgen, heißt das Wesen der Unverborgenheit preisgeben. Kein Versuch, das Wesen der Unverborgenheit in der „Vernunft“, im „Geist“, im „Denken“, im „Logos“, in irgendeiner Art von „Subjektivität“ zu begründen, kann je das Wesen der Unverborgenheit retten. Denn das zu Begründende, das Wesen der Unverborgenheit selbst, ist hierbei noch gar nicht hinreichend erfragt. (S.39f.) Heraklit und Parmenides seien Denker gewesen, die – übersetzt gesehen – grundlegender gedacht hätten als deren Nachfolger Sokrates, Platon und Aristoteles, über die die Philosophie mehr und mehr zu einem Fragen nach dem Seienden geworden sei und weniger nach dem Sein. Freilich scheint eine Philosophie, die in dem Sinn nicht-humanistisch ist, vor großen Schwierigkeiten zu stehen. Wie lässt sich eine nicht-humanistische Philosophie, die den Menschen aus dem Zentrum und das Sein in das Zentrum rückt, überhaupt formulieren (ohne zum Denken Heraklits oder Parmenides, das schließlich auch archaisch ist, zurückzufallen)? Kann menschliches Denken und Erkennen überhaupt jemals anders verfahren als in einer ständigen Bezugnahme auf das menschliche Dasein? Folgt daraus, dass in diesem Sinne der Mensch „Maßstab“ bleibt, ohne weiteres eine Vermenschlichung alles Erkennbaren und Wissbaren? (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.197) (Ironischerweise drückt sich laut Schelling die Schöpfung notwendigerweise in der Schaffung von Einzelwesen aus, die miteinander kooperieren, nebeneinander existieren und vor allem – aus ihrem grundlegenden Telos der egoistischen Selbsterhaltung heraus – gegeneinander im Konkurrenz- und Daseinskampf stehen. Das ist nicht Thema von Heideggers Abhandlung über Schelling. Aber es lässt sich mit Schelling vielleicht sagen, dass seine Metaphysik über die menschliche Perspektive hinausgeht und auch auf Außerirdische – sofern sie ebenfalls Einzelwesen sind – anwendbar ist: Jene physischen und metaphysischen Beschränkungen gelten gleichermaßen auch für sie.) Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Sein und Zeit (das tatsächlich ein unvollendetes Werk ist) gesteht Heidegger auf jeden Fall, warum es in einen zweiten Band hinein nicht fortgeführt wurde: Weil es der Philosophie in all der Zeit nach dessen Erscheinen nicht gelungen sei, eine Metaphysik zu entwickeln, innerhalb derer der Mensch nicht dergestalt Zentrum sei. Versteht man den in „Sein und Zeit“ genannten „Entwurf“ als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie „das Seinsverständnis“ im Bereich der „existenzialen Analytik“ des „in-der-Welt-Seins“ allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins. (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.327) Der „Humanismusbrief“ wendet sich gegen den Existenzialismus; mit ihm will sich Heidegger abgrenzen gegenüber Sartre. Sartres Existenzialismus ist ein Humanismus; Heidegger strebt jedoch eine andere, die den Humanismus überschreitende Perspektive an. Aus heutiger Perspektive scheint Heidegger damit weitsichtiger zu sein: Während die 1950er Jahre das große Jahrzehnt des Existenzialismus waren, wirkt dieser, und wirken die Weisheiten Sartres bereits seit Jahrzehnten als verstaubt, unspektakulär und als eine Sache der Vergangenheit. Indem er den Entwurf der individuellen Existenz gegenüber dem Nichts anstellt, ist er gleichsam weniger ergiebig als wie wenn Heidegger das gegenüber dem Sein tut, und noch mehr gegenüber Kierkegaard, der das gegenüber dem Göttlich-Absoluten tut. (Dagegen hat Kierkegaard zu der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Seins nicht das geringste Verhältnis, moniert Heidegger(Was heißt Denken? S.129), auch wenn es zwischen Kierkegaard und ihm entscheidende Berührungspunkte gibt – die er allerdings nicht explizit ausgearbeitet hat.) Heidegger geht dazu über, von der Ek-sistenz zu sprechen, als das, worauf es ankäme und als das, was ihn interessiert. Die Ek-sistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des Seins … Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen, was der Mensch im Geschick der Wahrheit ist. (ebenda S.326) Dieses ekstatische Hinausstehen des Menschen in die Existenz hat man bei den Existenzialisten nicht: Sartres Pathos des menschlichen Selbstentwurfs scheint, was die Möglichkeiten des modernen Menschen anlangt, schal – bzw. keiner zu sein, sondern eher eine nüchterne Adresse an die moderne Menschheit der Nachkriegszeit. Heidegger hingegen verlautbart: … die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz (ebenda S.329), da er den Menschen (und das Sein an sich) als etwas Ekstatisches begreift. Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt … Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins „geworfen“, dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. (S.330) Heideggers ekstatischer, ek-sistierender Mensch hat etwas von einem Übermenschen an sich – worauf noch zurückzukommen sein wird.

Zum künftigen Denker taugt nur, wer solche verschwiegene lange Bahnen immer wieder neu zu durchschreiten vermag. Wer darin nie vorgedrungen ist und nie auf der Verwandlungsschwelle des Menschen in das Da-sein für die kurze Zeit starker Erschütterungen aller Wesenszeiträume gestanden hat, weiß nicht, was denken ist. Die Gänge in die Ergründung der Wahrheit des Seyns streifen an verlorenen Punkten zeitweilig die Grenzen menschlichen Vermögens und besitzen in dieser Eigenschaft die Gewähr, den Zeitspielraum des Seyns zu lichten, der durch kein Seiendes je abstützbar ist. (Besinnung S.41)Heidegger ist durch und durch Denker. Dass er sich der Seinsfrage widmet, weißt ihn als echten, tiefen Denker aus. In einer solche Tiefe des Denkens, auf einer solchen Abstraktionsebene, denkt im Wesentlichen keiner; die meisten sind in Tagesgeschäfte verstrickt oder zumindest darin, über Seiendes nachzudenken; über Erscheinungen nachzudenken, die einem im Sein begegnen. Ein Denken ist umso denkender, je radikaler es sich gebärdet, je mehr es an die radix, die Wurzel alles dessen geht, was ist. Immer bleibt das Fragen des Denkens das Suchen nach den ersten und letzten Gründen. (Unterwegs zur Sprache S.175) Heidegger mag allzu professoral wirken, in seinem beharrlichen Denken und Fragen nach dem Sein an sich, ist er radikal. An und für sich würden einem nur Heidegger und Wittgenstein einfallen, die im 20. Jahrhundert ähnlich radikal sind, und meistens wird entweder in dem einem oder dem anderen der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts gesehen. Fast keiner sonst kommt in seinem Suchen nach den ersten und letzten Gründen den ersten und letzten Gründen tatsächlich so nahe; gelangt in seinem Denken tatsächlich an den grundlegendsten Grund. (Mit der Ausnahme von Otto Weininger, der sowohl Wittgenstein als auch Heidegger wohl an Tiefsinn überboten hätte, dessen kurze Karriere aber zu abrupt endete, um überhaupt eine zu sein. Über die letzten Dinge aber: Weininger hat sie tatsächlich erreicht, ist tatsächlich in ihrer (todbringenden) Arena angekommen – wenngleich der Grund für Weiningers Selbstmord weniger in seinem Genie zu suchen sei denn in seiner tatsächlichen, daneben bestehenden Verrücktheit.) An den grundlegendsten Grund kommt man – bzw. kann sich dort aufhalten – nur durch fortwährendes, ständiges Denken. (Das epistemologische Korrelat zum grundlegendsten Grund ist der Zustand einer Art permanenten intellektuellen Trance, in der sich der grundlegendste Denker meistens befindet.) Der grundlegendste Grund gleicht einem Quantenschaum, in dem ständig Frage-Antwort Teilchenpaare aus dem Nichts bzw. der grundlegenden Energie des Urgrundes heraus entstehen und sich sogleich wieder gegenseitig vernichten. Im grundlegendsten Grund ist das Fragen die Antwort. Vom grundlegendsten Grund des Seins scheiden sich die Erscheinungen des Seienden, fortwährend, und werfen somit Fragen auf, und stellen somit Antworten bereit. Der grundlegendste Grund ist sowohl leer als auch extrem dynamisch, er verweist auf eine Virtualität und daher auch auf das Denken, das sich ebenfalls im Virtuellen vollzieht. – Auch wenn man es nicht so grundlegend betrachtet und zu solchen Visionen gelangt, ist das Denken nichts Stationäres. Es gibt auch nicht notwendigerweise Antworten. Das Denken ist ständige Bewegung, ist ständiges Fragen. Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentlich Frage. (Einführung in die Metaphysik S.109) Indem der Mensch ein fragendes Tier ist in einer Welt, die hauptsächlich verborgen ist, einer Natur, die es liebt, sich zu verbergen, und die nur ungerne einfache und offenbare Antworten und Lösungen bereitstellt, ist es nur billig, wenn der Versuch seiner Bestimmung wesentlich der einer Frage ist (anti-human ist es vielmehr, bestimmte, kategorische, normative Antworten darauf zu geben oder geben zu wollen: Insofern Heidegger auch hier ständig das Fragen offenhält, ist er schon einmal von den Faschisten wesensverschieden). Das Denken und Fragen ist gut, denn es hält die Dinge offen und gibt ihnen Raum, sich zu entfalten; es wehrt sich gegen Geschlossenheit und ist demokratisch und antifaschistisch. Allerdings stößt das Denken, und das jemeinige Denken, auch an Grenzen, und an jemeinige Grenzen. (Jemeinige) Fragen bleiben ohne (jemeinige) Antworten. Das kann frustrierend sein. Denkersein heißt, den Mut zu einem Fragen besitzen, das fragt, um überfragt zu werden. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.19) Und es kann sein, dass einem dieses Überfragtwerden zu enervierend wird, oder den jemeinigen Stolz verletzt und so der Mut verlorengeht. So mag sich der Denker sehr unbeliebt machen; oder aber eben: je höher sein Denken, desto weniger wird er „verstanden“: vielleicht weniger, weil man ihn tatsächlich „nicht versteht“, sondern weil die Lebenswelten der meisten Menschen andere sind, und vor allen Dingen weniger ausführlich. In der Tiefe seines Denkens fühlt sich Heidegger, der im Sein  und im Fragen nach dem Sein weilt, vom Seienden oft genug entfremdet: Wie viele von denen, die heute in der „Philosophie“ als Gelehrte sich hervortun, sind noch gemäß ihrer Herkunft getragen und gestoßen von den Notwendigkeiten der ursprünglichsten Entscheidungsfragen unserer abendländischen Geschichte? Ich kenne  keinen und weiß nur, daß die lediglich bildungsmäßig und „interessiert“ an die „Philosophie“ geraten sind … ohne jemals wirklich in die Notwendigkeit des Fragens der Grundfrage gestoßen zu werden. (Mein bisheriger Weg in Besinnung S.416) Oder: Der schärfste Einwand gegen (Jaspers, Anm.) ist die Umfänglichkeit seiner Schriftstellerei, in der sich nicht eine einzige wesentliche denkerische Frage findet (…) Und dennoch übertrifft der Ernst dieser Bemühung alle sonstige Gelehrsamkeit und vollends alle Weltanschauungs-scholastik. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.400) Oder: Die „Intellektuellen“ haben in Beziehung auf die „Metaphysik“ und in Beziehung auf die Menschenmasse eine zweideutige Stellung … (w)enn … die Angleichung und die Einschmelzung in das Massentum einsetzt … sind die „Intellektuellen“, und nicht etwa die dumpfe und dumme Masse, die ärgsten Feinde jeglicher Besinnung – sie, nicht diejenigen, die von ihnen lernen und sie nur nachmachen, sind die eigentlichen Träger der Zerstörung. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.38) Das ist wohl zu plakativ. Aber diese Zweideutigkeit existiert in der Wirklichkeit: Und das eindeutiger, als man es hoffen mag. Aber eben: Der Durchschnitt in allem Seienden ist der schärfste Widersacher der Götter. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.511) Heidegger wendet sich wiederholt gegen den akademischen Philosophiebetrieb u.dergl., so wie er sich gegen alles wendet, was einen Widerstand oder urtümliche Hürde gegen das besinnliche Denken ausmacht, oder einen solchen zumindest symbolisiert (und Heideggers Denken wird immer wieder unscharf und selbstgerecht, indem er diese Symbolisierungen allzu mühelos mit der Sache selbst identifiziert: das ist sogar eine entscheidende Schwäche seines Denkens!) Als tiefer Denker ist er allem Zeitgemäßen abhold; Fragen wie die Seinsfrage können sich nur im Unzeitgemäßen entfalten: Alles wesentliche Fragen der Philosophie bleibt notwendig unzeitgemäß … Die Philosophie ist wesenhaft unzeitgemäß, weil sie zu jenen wenigen Dingen gehört, deren Schicksal es bleibt, nie einen unmittelbaren Widerklang in ihrem jeweiligen Heute finden zu können und auch nie finden zu dürfen. Wo solches scheinbar eintritt, wo eine Philosophie Mode wird, da ist entweder keine wirkliche Philosophie oder diese wird missdeutet und nach irgendwelchen ihr fremden Absichten für Tagesbedürfnisse vernutzt. (Einführung in die Metaphysik S.6) Was für ein Glück, könnte ich meinen, denn meine Philosophie ist ganz eindeutig keine Mode. Allerdings fühle ich mich auch weder zeitgemäß noch unzeitgemäß: Eher beides auf einmal, denn ich will in Ewigen und Universalen mit ihr ankommen. Das ist der höchste Sinn und ist die höchste Erscheinungsform von Philosophie. Wenn man zum Ewigen und zum Universalen vorstoßen will, ist man weder zeitgemäß noch unzeitgemäß: sondern eben ewig und universal. Es besteht dann aber das Problem des Kontakts zur Sphäre des Zeitlichen und Konkreten. Auch wenn das Ewige und das Universale in einem unmittelbaren Korrelationszusammenhang mit dem Zeitlichen und dem Konkreten stehen, scheinen sie doch in der Geschäftigkeit des Zeitlichen und Konkreten als von der geringsten Bedeutung. Das Zeitliche und das Konkrete beachtet das Ewige und das Universale hauptsächlich dilatorisch. Und das ist eine Erscheinungsform des relativen Scheiterns von Philosophie – was sie gerade aber dadurch als genuine Philosophie bestätigt – … denn jede Philosophie scheitert, das gehört zu ihrem Begriff. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.118) Indem die Philosophie ständig fragt, macht man sich vielleicht falsche Vorstellungen von ihr oder richtet falsche Hoffnungen auf sie. Der genuine Philosoph ist nicht dazu da, um zu beruhigen oder zu coachen, sondern zunächst einmal um Unruhe zu stiften und aufzuwühlen: Aber – die Philosophie macht ihrem Wesen nach die Dinge nie leichter, sondern nur schwerer. (Einführung in die Metaphysik S.9) Das finde ich nicht, aber es kann sein, dass andere das so empfinden. Wenn ich mir meine eigenen Texte durchlese, verspüre ich manchmal, dass sie sehr nervig zu lesen sein müssen und überlege mir, ob ich nicht den Laden besser dichtmachen sollte. Nervig zu sein – ist allerdings eben das Merkmal eines jeden tatsächlichen Philosophen und Künstlers. Daran soll man sie erkennen. Ihr Geist und die Komplexität ihres Denkens und Empfindens – und eben ihre eigene nervliche Ausnahmesituation – sind zu ungewöhnlich, um nicht zu nerven. Liebe sei angeblich das Wichtigste von der Welt – aber jene kann man schwer lieben … denn die Großen Denker können nicht geliebt werden – die eisige Einsamkeit, die um sie sein muß und in die nur der fragende Kampf mit ihnen einbricht, versagt jeden ausruhenden und behüteten Bezug. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.481) Trotzdem kann ich als echter Künstler und Philosoph den Laden nicht einfach dichtmachen: denn ich habe dann einen Auftrag. Ich muss durch etwas hindurch. Der echte Künstler und Philosoph versucht, Komplexität zu bemeistern und differenziertere Verständnisse zu schaffen. Durch diese Mimesis der Komplexität wird er andere vor den Kopf stoßen. Was er aber will, und was geschieht, ist, dass er, indem er sich durch die Komplexität hindurcharbeitet, zu einer neuen Einfachheit gelangt. Einer neuen Trivialität vielleicht, wie man missgünstig monieren will. Erst in Zukunft wird sich seine Wühlarbeit mit dem Zeitlichen und Konkreten pazifiziert haben und dadurch harmonisiert werden. Dann kann der Philosoph beruhigen und coachen. – Heidegger sah, in der ihm eigentümlichen Art, für die Philosophie und die Metaphysik keine Zukunft. Sie würde von den Wissenschaften und der Technik überrollt werden, und ihren Anspruch auf Totalität nicht mehr einlösen können. Diese Nachrichten vom Tod der Philosophie sind übertrieben. Das Denken aber wird, laut Heidegger, sowieso bleiben. Er scheint zu hoffen, dass es einstmals in Formen stattfindet, die nicht mehr unbedingt Philosophie sind. Das totale Denken wird aber in Hinkunft sein: der absolute Geist in der absoluten Form.

Was mich interessiert, ist die Sache vom Sehr Tiefen Denker. Nietzsche gehört zu den wesentlichen Denkern. Mit dem Namen „Denker“ benennen wir jene Gezeichneten unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer „über“ das Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. (Nietzsche 1. Band S. 427) Na, das kann ich so nicht ganz bestätigen – wenn man so will, dreht sich bei mir aber tatsächlich alles um die Frage nach dem Sehr Tiefen Denker: Wenn ein Sehr Tiefer Denker daherkommt, der an der letzten Schicht arbeitet: Was würde der dann (heute) sagen? Wie würde er unser Zeitalter feststellen, und außerdem – eben aufgrund seines sehr penetrierenden Blicks – so durch alle Zeitalter hindurchblicken? Denn das ist es, was der Sehr Tiefe Denker macht, oder was man sich von einem Sehr Tiefen Denker erhofft. Der Sehr Tiefe Denker denkt über das Seiende im Ganzen nach und will zu den grundlegenden Dimensionen und Bestimmungen des Seienden im Ganzen vordringen, das grundlegende Koordinatensystem der (Lebens)Welt freilegen – also eben Fundamentalontologie machen. Er transzendentiert, um im Transzendentalen anzukommen, den letzten, unhintergehbaren Kategorien, die da sind. Er ist somit eher eschatologisch als philosophisch, und eventuell etwas anderes als ein Philosoph, insofern die Philosophie praktisch eher eine Koordinatenachse in der Bestimmung des Seins ist, aber nicht das Koordinatensystem selbst. Im Sehr Tiefen Denker treffen sich die Koordinaten, im mysteriösen Koordinatenursprung, der er dann eben ist, den er in sich ausbildet. Das ist entweder in einem Ursprung möglich, oder aber in einer zeitgemäßen Fassung und Wiedereinholung eines solchen Ursprungs. Heraklit und Parmenides waren noch keine „Philosophen“. Warum nicht? Weil sie die größeren Denker waren. „Größer“ meint hier nicht das Verrechnen einer Leistung, sondern zeigt in eine andere Dimension des Denkens. Heraklit und Parmenides waren „größer“ in dem Sinne, daß sie noch im Einklang standen mit dem logos.. (Was ist das – die Philosophie? In Identität und Differenz  S.15) (Das heißt in dem Fall: Heraklit und Parmenides dachten über das Sein an sich, das Sein im Ganzen nach; ab Sokrates-Platon-Aristoteles beginnt dann die Seinsvergessenheit in der Philosophie: denn diese dachten vielmehr über das Seiende im Sein nach und suchten es von anderem Seienden logisch zu unterscheiden). Heideggers Denken gilt eben einer solchen Wiedereinholung eines solchen Ursprungs. Und was mich interessiert, ist auch eine Wiedereinholung eines solchen Ursprungs (wenngleich ich mir das weniger in Ursprüngen in der Vergangenheit erwarte, sondern über eine penetrative Durchdringung der jeweiligen Gegenwart): das ist eben die Sache vom Sehr Tiefen Denker. Der Sehr Tiefe Denker blickt auf den Grund, und kommt schließlich am Grund an. Der Sehr Tiefe Denker will eine Schneise durch das Sein ziehen, er will das Sein umpflügen. Sein Denken ist so grundlegend und eine Grundlage für Konstruktivität, dass er sich gleichsam als gründend erlebt. Gründer sind jene, die, das Wesen des Seyns wandelnd, seine Wesung auf den Grund eines ursprünglichen Wesens der Wahrheit bringen. Schaffende dagegen erneuern und vermehren je nur das Seiende. Jeder Gründer ist – in einer ihm gleichgültigen Folge – auch ein Schaffender. Kein Schaffender ist schon ein Gründer. Die Gründer sind die Seltenen der Einsamen. Ihr Einziges „besitzen“ sie in dem, daß sie, was ihnen Stand und Halt gibt, nie vorfinden, sondern als das Fragwürdigste entwerfen und schutz- und stützenlos aushalten müssen. (Besinnung S.60) Wie anders soll es sein, dass er sich als gründend erlebt, wo doch auch alles aus diesem Grund, in dem er zuhause ist, aufsteigt? Als Gründer rammt der Sehr Tiefe Denker den Speer des Denkens, den Speer der Präsenz in den Urgrund. Der signalisiert: Aus dem ungeteilten, mystischen Urgrund ist was aufgestiegen, ist schließlich einer aufgestiegen, dessen Denken, Fühlen und Trachten, dessen Ethik nach dem Urgrund gestrebt hat, und der diesen schließlich auch wieder erreicht hat. Indem er mit Speer und Schwert die materialen Hylen, die gemachten Formen, die Täuschungen und die Ideologien durchschlagen hat, sich seinen Weg durch den Dschungel des Daseins gehauen und gebahnt hat. Jetzt steht er also am Urgrund, am Urfundament, und zeigt mit seinem Reinrammen des Speers in den Urgrund, dass eine solche Begegnung eines geteilten Wesens mit dem ungeteilten Urgrund möglich ist. Der stählerne, singuläre Held, der Sehr Tiefe Denker der Zukunft wird in der Lage sein, den Speer herauszuziehen und weiterzuschleudern, mit diesem Notung, mit diesem Artusschwert seinerseits die Täuschungen und Kategorien auf seinem Wege zu durchschlagen. Damit begründen die Sehr Tiefen Denker einen virtuellen Bund (der notwendig virtuell auch deshalb ist, weil das Ankommen im Urgrund mit dessen permanenter Befragung identisch ist – bzw. weil das Sehr Tiefe Denken eben fortwährend denkt). Die Jasagenden bleiben in ihrer eigentlichen Zukünftigkeit notwendig unerkannt und selbst unter ihresgleichen sich befremdlich. Das Echte, Wesensgerechte, ist nur bei den Jasagenden, sie verwahren Ursprünge, wenngleich sie nicht immer selbst sie zum Sprechen bringen. (ebenda S.119) Einen solchen Bund schmieden diese Jasagenden aber, weil sie Jasagende, Ihresgleichen sind. Sie denken, empfinden: Sie schmieden den Ring des Seins, in dem das Sein einen sinnvollen Zusammenhang ergibt, und das daher auch über einen Bund zusammengehalten wird, auch wenn er im profanen Seienden als lose oder gar nicht vorhanden, nicht echt erscheint. Ein einsames Geschäft ist das Sehr Tiefe Denken schon; und Heidegger spricht beredt von dieser Einsamkeit: Kein Denker ist je in die Einsamkeit eines anderen eingetreten. Gleichwohl spricht jedes Denken nur aus seiner Einsamkeit verborgener Weise in das folgende oder in das vorausgehende Denken. (Was heißt Denken? S.164) Freilich bringt er das Fragen noch nicht an jenen metaphysischen Ort, in den sich Hölderlin dichterisch hinauswerfen musste, um damit allerdings erst recht einsam zu bleiben. Die Geschichte der Einsamkeiten dieser Dichter und Denker wird nie geschrieben werden können; es ist auch nicht nötig. Genug, wenn wir immer etwas davon im Gedächtnis behalten. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.4/5) In diesem Urteil zeigt sich die Grenze des Hegelschen Verstehens gegenüber Schelling, es zeigt sich darin aber – als an einem großen Beispiel – noch mehr: dass die größten Denker im Grunde einander nie verstehen, eben weil sie jeweils in Gestalt ihrer einzigen Größe dasselbe wollen. Wollten sie Verschiedenes, dann wäre die Verständigung, d.h. hier das Gewährenlassen, nicht so schwer. (ebenda S.15) Das Einsame und Bundlose, das Nicht-Begegnen überwiegt bei Heidegger; wenngleich er meint, dass sich die Fragenden, bewusst oder unbewusst, zumindest in der Frage einig sind. Aber der Bund der Sehr Tiefen Denker ist notwendigerweise ein Bund von Fragenden. Der Bund der Sehr Tiefen Denker ist notwendigerweise virtuell – in Bezug auf die Antworten – weil der Urgrund virtuell ist; letztendlich eine Kategorie des Denkens und Empfindens, die nicht dort erscheint, wo es notwendigerweise aufhört, sondern dort, wo es sich selbst begegnet. Das Sein selbst hat was Virtuelles. Am Ende des Denkens und des dringenden und drängenden Empfindens des Seins kommt man zu keiner eigentlichen Ruhe. Wohin man gelangt, sind Zustände und Erkenntnisse – Wirklichkeiten – die sich am Ehesten mithilfe von Paradoxien beschreiben lassen – also eben zum Beispiel zum Seinsbegriff, der ein solches Paradoxon ist. Die Sehr Tiefen Denker sind so gründlich, dass sie logischerweise abgründig sind, sich immer in einen Abgrund hineinwerfen und mit ihm ringen. Dies geschieht in notwendiger Mimesis mit dem Sein selbst: Das Seyn aber – ist der Abgrund. (Besinnung S.63) Die Sehr Tiefen Denker werden so vollständig sein, dass sie eine Aura des Paradoxen haben. Diese Aura des Paradoxen hat man bei Wittgenstein, Kierkegaard, Rimbaud oder Kleist. Aber hat man sie bei Heidegger? Ist Heidegger ein (sehr) Tiefer Denker oder ein Sehr Tiefer Denker? Er war nicht schlagfertig, noch weniger geistreich, eher schwerfällig, worüber ich mich nicht wunderte. Ursprüngliche Gedanken, wie er sie dachte, lassen sich nicht so leicht hin- und herschieben. (Emil Staiger in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger, S.229): erinnert sich Staiger an Heidegger, und das macht ihn schon einmal sympathisch. Bei Heidegger, so scheint es aber auf jeden Fall, hat man diese Aura des Paradoxen nicht unbedingt; allerdings treten seine Paradoxa äußerlich hervor: der Professor im Landmannanzug, seine „Weltfremdheit“, seine Begegnung mit dem Nationalsozialismus, und allgemein seine paradoxe Philosophie um die paradoxe Seinsfrage. Vielleicht weil Heidegger die ultrakomplexe Vollständigkeit nicht inkorporiert, hat er diese Aura des Paradoxen nicht, erscheint das Paradoxe dann aber folgerichtig im Äußerlichen. Heidegger ist auch kein Zertrümmerer und kein künstlerischer Chaot, wie es der Seht Tiefe Denker außerdem ist. Aber er hat den Speer, den er in den grundlegendsten Grund, oder besser: in den Begriff des grundlegendsten Grundes rammt. Er wartet dort auf Künftige, die ihn herausziehen. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend ihm voraus, vor seinem Geiste, um Heidegger nochmal zu zitieren, wie er Kleist zitiert. Ist Heidegger ein (sehr) Tiefer Denker oder ein Sehr Tiefer Denker? Zumindest steht Heidegger als ein paradoxer Hüter an der Schwelle zum Sehr Tiefen Denken.

Es ist nach Hegel der innerste „Trieb“, „das Bedürfnis“ des Geistes, sich vom Abstrakten zu lösen, indem er sich in das Konkrete der absoluten Subjektivität absolviert und so sich zu sich selbst befreit. Daher kann Hegel sagen: „… die Philosophie ist dem Abstrakten am entgegengesetztesten; sie ist gerade der Kampf gegen das Abstrakte, der stete Krieg mit der Verstandesreflexion“ … Wahrheit ist für Hegel die absolute Gewissheit des sich wissenden absoluten Subjektes. (Hegel und die Griechen in Wegmarken S.438/9) Das Denken deduziert und induziert. Um sich in der Welt zu orientieren, bildet es Abstraktionen, um zum Handeln oder Beurteilen zu verhelfen, muss es (aus diesen Abstraktionen heraus) konkret werden, bzw. erhofft es sich, über diese Abstraktionen Konkretes dann (umso umfassender) benennen und feststellen zu können. Inwieweit gelingt das Heidegger? Angesichts der Veröffentlichung von Sein und Zeit berichtet Herbert Marcuse von seiner Begeisterung darüber, dass da endlich jemand „konkret“ zu philosophieren schien, statt sich in nebulose und verschleiernde, wenn nicht verdinglichende und fetischisierende Abstraktionen zu versteigen. Um dann allerdings schnell enttäuscht und irritiert zu sein: Schien Heidegger doch, auf dieser Basis, nur schnell wieder neue Abstraktionen zu bilden und sich in diesen zu verlieren, und das den ganzen Rest seiner philosophischen Karriere lang: Das war auch dann noch der Fall, als die „Frage nach dem Sein“ von der „Frage nach der Technik“ abgelöst wurde: wieder eine anscheinend drohende Konkretion, die dann schnell dem Abstraktionsprozeß anheimfiel – schlechte Abstraktion, in der das Konkrete nicht aufgegeben wurde sondern verloren ging. (Herbert Marcuse in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S.162) Durch diese „schlechten“ Abstraktionen habe sich Heidegger seinen authentischen Zugang zur Welt und zu einem dynamischen Verständnis der Welt verbaut und seine Philosophie sei dann nichts als eine persistente Klage über diese „selbst verschuldete Unmündigkeit“ gewesen. Herbert Marcuse sollte schließlich zu einem wichtigen Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule werden – deren Verhältnis zu Heidegger bekanntermaßen paradox war. Beide Philosophien und Intentionen scheinen einander ähnlich, doch innerhalb dessen – bzw. praktisch – hat das Trennende überwogen. Adorno hat gegen Heidegger polemisiert, der wiederum der Frankfurter Schule mit eisigem Schweigen begegnet ist. Beide aber wollen doch scheinbar dasselbe: einen „natürlicheren“, „befreiten“ Zugang des Menschen zu sich und zur Welt über eine subversive Umwälzung der herrschenden Verhältnisse. Beide betrachten sie (in etwa) die Zivilisation als Verhängnis, das den Menschen von seiner originären, primordialen Natur entfremdet. Beide wollen den Menschen der Verfügungsgewalt von Verhältnissen entreißen, die ihn zu einem unpersönlichen Abstraktum machen (und seine „Konkretheit“ zurückerobern). Beide gehen so weit, die vorhandenen Verhältnisse geradezu insgesamt als seins/menschheitsgeschichtliche Irre zu betrachten. Beide sind sowohl fortschrittlich als auch konservativ. Wo Heidegger das „rechnende Denken“ beklagt, kritisiert Horkheimer die „instrumentelle Vernunft“. Wo Heidegger auf ein meditatives, sich von Verhaftungen lösendes besinnliches Denken setzt, setzt Adorno auf eine sich von Verhaftungen lösende Negative Dialektik. Umgekehrt aber will Heidegger mit seinem besinnlichen Denken eher zur Ruhe kommen, während die Kritische Theorie ständig aus einer konstatierten falschen Beruhigtheit heraus in eine Bewegung kommen will. Heidegger setzt tiefer – im „Sein“ – an als die Kritische Theorie, und seine Philosophie ist – im Gegensatz zu dieser – weder eine politische noch eine Sozialphilosophie: Und man kann jetzt fragen, ob das eine notwendige Abstraktion ist (aufgrund des Tiefsinns, der eben auf einem höheren Abstraktionsniveau operiert), oder eine „schlechte“, die zwar nicht seinsvergessen aber weltvergessen ist. Heidegger beklagt das Negative an der Zivilisation als „Seinsgeschick“, während die Kritische Theorie die konstatierte menschheitsgeschichtliche Irre (scheinbar konkreter) als in „Herrschaft“ wurzelnd begreift. Heidegger tut das höchstens auf seine Weise: Wo alles in berechenbare Abstände gestellt wird, macht sich durch die losgelassene Berechenbarkeit von Jeglichem gerade das Abstandlose breit, und zwar in der Gestalt der Verweigerung der nachbarlichen Nähe der Weltgegenden. Im Abstandlosen wird alles gleich-gültig zufolge des einen Willens zur einförmig rechnenden Bestandssicherung des Ganzen der Erde. Darum ist der Kampf um die Erdherrschaft in eine entscheidende Phase getreten. (Unterwegs zur Sprache S.212) Herrschaft, als Herrschaft des Menschen über den Menschen, hat Heidegger nicht nur im Rahmen seiner menschenleeren Philosophie nicht interessiert; er war bekanntlich sogar unempfindlich dafür, als sie, in Form des Nationalsozialismus, in ihrer maliziösesten Form aufgetreten ist. Als „Herrschaft“ oder „Machenschaft“ beklagt er – recht egoistisch – etwas nur dann, wenn ihm etwas seinen authentischen Zugang zum Sein zu verbauen scheint. Die Kritische Theorie wiederum ist von „Herrschaft“ besessen, die sie überall ausmacht, und sie tendiert im Rahmen ihrer (negativen) Dialektik der Aufklärung stark dazu, sämtliche Emanzipationsversuche von Herrschaft als (kurzen) Weg in eine neue Falle anzusehen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. „Herrschaft“ ist das zentrale Abstraktum der Kritischen Theorie: Ist es aber ein gutes oder ein schlechtes? So fortschrittlich und nach vorne gewandt sie ist, so pessimistisch ist sie dann wieder. So fortschrittlich ihr Wollen und ihr Drang ist, so erzkonservativ scheint ihr eigentlicher dunkler Grund. So sehr sie – vor allen Dingen – sich gegen Totalisierungen wehrt (die sie gleichsam paranoid überall erblickt) – so sehr ist sie selbst totalisierend, und scheint in ihrem denkerischen Tun ihr eigenes Gefängnis des Denkens und der Wahrnehmung zum Vorschein zu bringen. In ihrer Fixiertheit auf „Herrschaft“ ist die Kritische Theorie offensichtlich neurotisch – so wie Heidegger mit seiner Eigentlichkeits-Sehnsucht neurotisch ist. Ihre Wirkungen und jeweiligen Treffsicherheiten entfalten beide, indem sie neurotische Knoten in der Wirklichkeit benennen und sich an ihnen abarbeiten und dazu – im Hinblick auf ihre Qualität doppeldeutige: einerseits konkretisierende und operable, andererseits fetischisierende und praktikable Lösungen aus den Augen verlierende – Abstraktionen als theoretisches Instrumentarium anbieten. Und Heidegger und die Kritische Theorie wollen nicht dasselbe. Heidegger will Authentizität, während die Kritische Theorie den Menschen als eher in seiner Spontaneität gestört und durch die Machtapparate vereinnahmt sieht, die sie deshalb freisetzen will. Bei der Kritischen Theorie ist der Mensch der (ihr jeweiligen) Gegenwart in seinem Fortkommen und seiner Fortbewegung verhindert, bei Heidegger in seinem Verweilen und Verharren, weswegen sie Lösungen in den entsprechenden Extremen suchen – die, als Extreme notwendigerweise, nicht balanciert sind. Heidegger ist nicht utopisch. Die Kritische Theorie ist es, in ihrer Weise, an und für sich auch nicht. Der Horizont, in den sie blickt, ist das Imaginäre. Und das Imaginäre ist Teil des Lebens. Die gewaltige Kraft der Dialektik der Aufklärung liegt darin, dass sie dieses Imaginäre als welt- und gesellschafts- und persönlichkeitsverändernde Kraft (negativ) beschwört. Wie eine gewaltige Saugglocke zieht sie die beklemmende und enge Nachkriegsgesellschaft aus ihrem ideellen und praktischen Morast in die Öffnungen des Imaginären hinein. Solche Kraft kann wohl kaum anders als auf Einseitigkeit beruhen. Heidegger wiederum entfaltet seine Kraft in der einkreisenden Beschwörung des Besinnlichen. So sind beides Kräfte, die, bei aller Ähnlichkeit, dann doch aus was anderem stammen und was anderes wollen. Wahrheit ist für Hegel die absolute Gewissheit des sich wissenden absoluten Subjektes… dieses sich wissende absolute Subjekt streben beide an, erreichen es aber beide nicht. Es ist kein Wunder, dass ihre jeweiligen/jemeinigen Wege dorthin nicht führen, denn der Weg, der dorthin führt, ist der weglose Weg.

Nach der Lektüre der Schriften von D. T. Suzuki über den Zen-Buddhismus meint Heidegger: In etwa das habe er in all seinem eigenen Schreiben versucht auszudrücken! Tatsächlich sind Heideggers philosophische Intention und die des Zen-Buddhismus einander erstaunlich ähnlich; und es kommt, über Heidegger, zu Begegnungen zwischen Ost und West (und einer Beliebtheit der Heideggerschen Philosophie im Fernen Osten). We can understand how Professor Heidegger´s mind has deeply entered into the origin of art and thus paved the way for the identity of aesthetic feeling with pre-ontological experience, which is his „new way of thinking“. (Ghung-yuan Chang in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S. 65-70) Zen ist vor-philosophisch und eben prä-ontologisch (und prä-epistemologisch)  (gleichzeitig ist es meta-ontologisch und meta-epistemologisch). Im Zen geht es um die Begegnung des Geistes mit sich selbst: In dem Sinn, dass er seiner selbst vollkommen gewahr wird und so zu reinem Gewahrsein und zu reiner Achtsamkeit wird; zu einem Gewahrsein, das jenseits allen begrifflichen Denkens liegt und damit auch wieder in eine Ursprünglichkeit der reinen, vor-begrifflichen Wahrnehmens einkehrt. Der Dichter versammelt die Welt in ein Sagen, dessen Wert ein mild-verhaltenes Scheinen bleibt, worin die Welt so erscheint, als werde sie zum erstenmal erblickt. (Hebel – Der Hausfreund S.25) „Die Welt ständig mit neuen Augen sehen“ (und gleichzeitig mit der unerschütterlichen Klarheit des ruhenden Einen Welt-Auges): das tut jener, der die Vollkommenheit, die Erleuchtung: mithin die Ausleuchtung des Geistes, innerhalb derer sich der Geist selbst als reines Vermögen gewahr wird, erreicht hat. Zen erklärt nichts. Zen analysiert nichts. Es verweist lediglich zurück auf unseren Geist, so dass wir aufwachen und Buddha werden können. (Zen-Meister Seung Sahn) Dieses Erleben des Geistes als primordiales Vermögen bedeutet, dass der Geist nicht mehr von Begriffen und Kategorien abhängig ist, die kulturell vermittelt worden sind und diesen unterworfen, sondern dass er diese tranzendentiert und schließlich in seiner transzendentalen Fähigkeit ankommt (paradoxe) Begriffe und Wahrnehmungen zu schaffen und verschieben zu können, und er so gleichzeitig zu maximalem Kontakt mit der Welt (und zu sich selbst) gelangt wie zu maximaler Unabhängigkeit von ihr (und von sich selbst): Und das ist dann Buddha. Alle Buddhas und alle empfindenden Wesen sind nichts als der Eine Geist, außerhalb dessen nichts existiert. Dieser anfangslose Geist ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist nicht grün oder gelb und er hat weder Form noch Aussehen. Er gehört nicht zur Kategorie der Dinge, die existieren oder nicht existieren, ebenso wenig kann er in Begriffen wie „neu“ oder „alt“ vorgestellt werden. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, da er alle Bestimmungen, Maße, Namen, Spuren und Vergleiche transzendiert. Er ist das, was du vor dir siehst – fang an, darüber nachzudenken, und du befindest dich augenblicklich im Irrtum. Er ist wie die grenzenlose Leere, die weder auszuloten noch zu durchmessen ist. Der Eine Geist allein ist der Buddha und es besteht kein anderer Unterschied zwischen dem Buddha und den empfindenden Wesen als der, dass empfindende Wesen an Formen haften und so außerhalb ihrer selbst nach Buddhaschaft suchen. Gerade durch ihr Suchen verlieren sie sie aber, denn das bedeutet, den Buddha zu benutzen, um nach dem Buddha zu suchen, und den Geist zu benutzen, um den Geist zu fassen. Selbst wenn sie ein ganzes Äon lang ihr Äußerstes täten, würden sie es doch nicht schaffen. Sie wissen nicht, dass es genügt, das begriffliche Denken einzustellen und ihre Befasstheit zu vergessen, damit der Buddha vor ihnen erscheint, denn dieser Geist ist der Buddha und der Buddha ist alles Lebendige. Er ist um nichts darum geringer, dass er sich in gewöhnlichen Dingen manifestiert, und er ist um nichts darum gewaltiger, dass er sich in den Buddhas manifestiert. (Zen-Meister Huangbo) Man sieht: Der Eine Geist ist wohl das epistemologische Korrelat zum Einen, Reinen Sein, dem Heidegger hinterherjagt. Er ist das Erkenntnisinstrument für das Eine, Reine Sein, das ihm qualitativ ähnlich ist: Das ursprüngliche, reine, strahlende Weltall ist weder viereckig noch rund, weder groß noch klein. Es ist ohne solche Unterscheidungen wie lang oder kurz, ist jenseits von Bindung und Bewegung, von Unwissenheit und Erleuchtung etc. — Ja, der Zen-Buddhismus geht sogar so weit, dass der Eine, Reine Geist das alleinige Sein sei, und so schafft er es, dass er durch seine Intensivierung des Kontaktes zwischen Mensch und Welt diesen Kontakt dann auch wieder radikal verliert. Wenn Huangbo lehrt: „Existenz“ und „Nichtexistenz“ sind empirische Begriffe und nichts anderes als Illusionen. Oder: Alles begriffliche Denken ist eine irrtümliche Meinung. Oder: Du musst ganz klar sehen, dass es wirklich gar nichts gibt – keine Menschen, keine Buddhas. Die großen kosmischen Systeme, zahllos wie der Sand, sie alle sind nur wie Luftblasen, so kommt das einer Leugnung von Mensch und Welt gleich und es ist nicht auf dem neusten wissenschaftlichen Stand: Wissenschaft und die Etablierung eines wissenschaftlichen (oder auch eines philosophischen) Weltverständnisses ist daher als Geburt aus dem Geist der Zen-Buddhismus nicht zu erwarten. (In Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten berichtet Robert Pirsig von der Begegnung mit einem japanischen Professor, der auch die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki als „Illusion“ abtut – was Pirsig dann seinerseits dazu bringt, zum Zen-Buddhismus auf Distanz zu gehen.) — Was ich mit „normaler Geist“ meine, ist der Geist ohne Künsteleien, ohne subjektive Urteile, ohne Begehrlichkeit oder Abneigung. (Zen-Meister Mazu) Einen solchen Geist, eine solche Philosophie „ohne Künsteleien“ wollte Heidegger schaffen (und notwendigerweise kann man in der Fundamentalontologie nur ohne subjektive Urteile, ohne Begehrlichkeit oder Abneigung ankommen). Sobald du „richtig“ oder „falsch“ denkst, gerätst du in Verwirrung und verlierst deinen wahren Geist. Die beiden kommen von dem Einen, aber es darf auch kein Haften an dem Einen geben. / Indem du alle Dinge gleichmütig betrachtest, wird es die gelingen, zur Natur zurückzukehren. Indem du alle Bedingungen beseitigst, bist du jenseits aller Unterscheidung. (Sengcan) Zen betont immer wieder, dass es über das „Denken“ und das Philosophieren nicht erfasst werden kann; dass die Erleuchtung, das Satori über Denken nicht allein passieren kann. Es funktioniert, zu guter Letzt, über spezifisches Empfinden. Und es funktioniert – im Hinblick darauf, dass es Paradoxa bemeistert – über einen Geist, der zu paradoxem Assoziieren fähig ist (also eher „künstlerisch“ ist als rein rational). Wenn du eine Brücke überquerst / Fließt die Brücke, steht das Wasser still (Zen Sand 10.123/124) Letztendlich besteht alle Wahrnehmung, und auch die gegenseitige Bestimmungsmöglichkeit von Sein und Seienden darin, dass uns ein Motiv vor einem Hintergrund erscheint. Die totale, vollkommene, „unendliche“ Wahrnehmung und die Wahrnehmung der Unendlichkeit des Seins ist die, die zwischen Motiv und Hintergrund ständig switchen kann, ein unendlich gedoppelter Blick, in dem das eine stets im und über das andere hindurchscheint: das, Schwester, lehre ich dich, ist der Blick in die Totalität und in die Unendlichkeit – so sieht er aus. Yang-shan fragte seinen Lehrer: Wenn all die unzähligen Erscheinungen auf einmal hervortreten, was dann? Wei-shan erklärte: Blau ist nicht gelb, lang ist nicht kurz. Alle Dinge befinden sich jedes für sich an ihrem eigenen Platz. Mich betrifft das alles nicht! Yang-shan verbeugte sich darauf in Verehrung. (Shobogenso Sambyakuzuko 14) „Westliches“, rechnendes Denken fixiert sich – sehr plakativ ausgedrückt – zu sehr auf das Motiv, das östliche verliert sich zu sehr in einen undifferenzierten Hintergrund. Die Philosophie Heideggers will beides synthetisieren – wenngleich Heidegger selbst eben der Gefahr, die aus dem Osten kommt, unterliegt. Seine Philosophie ist aber dabei praktisch der Versuch, das prä-philosophische östliche Denken auf die Basis von Philosophie (als einer Methode westlichen Denkens) zu stellen; und allgemein könnte man Philosophien, die westliches und östliches Denkprinzip zusammenbringen wollen (also auch die meine) dann eben auch als „heideggerianisch“ fassen. – Indem Zen eine Betrachtung des Seienden transzendieren will und zu einer Betrachtung und Erfassung eines reinen Seins vorstoßen will – und das reine Sein paradox ist – gelangt der Suchende zu Paradoxa. Diese Paradoxa liegen allerdings im begrifflichen Denken; indem man begriffliches Denken überschreitet, überwindet man die Paradoxa. Nur wer vollkommen frei ist von Begriffen, kann einen Körper unendlicher Ausdehnung besitzen. (Zen-Meister Huangbo) Ein Körper unendlicher Ausdehnung ist das Sein selbst. Wer einen („organlosen“) Körper unendlicher Ausdehnung hat, korreliert mit dem Sein; seine Wahrnehmung, sein Geist, wird ein weites – „unendliches“ – Feld, das mit dem Wirklichkeitsfeld korreliert. Allein die vollendete Subjektivität verwehrt ein Außerhalb ihrer selbst. Nichts hat den Anspruch auf das Sein, was nicht im Machtkreis der vollendeten Subjektivität steht. (Nietzsche 2. Band S. 272) Das ist dann also der Buddha, der in Nirwana und Samsara gleichzeitig lebt. (Bzw. fällt einem auf, dass es in der westlichen Philosophie sehr wohl ein Korrelat dafür zu geben scheint, nämlich das der transzendentalen Subjektivität. Das östliche Satori korreliert im Verständnis der westlichen Philosophie mit dem Durchbruch zur transzendentalen Subjektivität, also der reinen, abstrakten Subjektivität als Rahmen, in der die empirische Subjektivität erscheint, also die jemeinig-kontingente Subjektivität und ihr jeweiliges Weltverhältnis; als Bedingung der Möglichkeit, dass die empirische Subjektivität erscheint. Der Erleuchtete hat also seine jemeinige empirische Subjektivität in die tranzendentale Subjektivität hinein überschritten.) Umgekehrt wird dann eben in einer solchen Wahrnehmung auch das Dasein zu einem Einen, Reinen Sein, einem unendlichen Feld, auf dem zwar heftige Turbulenzen stattfinden mögen, das in sich aber vollkommen ruhig und plan ist; bzw. wird eben in einer solchen Wahrnehmung jene des Daseins hinter sich gelassen und gelangt in einer Wahrnehmung des Einen, Reinen Seins an. Die Große Leere aber ist Vollkommenheit, in der es weder Mangel noch Überfluss, sondern nur eine gleichförmige Stille gibt, in der alles Wirken zur Ruhe gekommen ist. (Zen-Meister Huangbo) Das ist das Eine, Reine Sein. – Heidegger selbst war nicht unbedingt ein Genie des paradoxen Assoziierens, sein Genie lag eben im beharrlichen, besinnlichen Denken. Er war nicht wild, chaotisch, künstlerisch. Über sein Empfinden wissen wir wenig. Zen-Meister war er keiner, aber eben wenn man so will, hat er die östliche „Metaphysik“ auf eine „westliche“ Basis gestellt. Wie tief er das Geheimnis von allem erschaut hat, bleibt sein Geheimnis. Wer dem Sein nachjagt / dem entgeht es / Wer hinter dem Nichts herläuft / Dem kehrt es den Rücken zu (Sengcan) Wäre ich Heidegger, würde mir dieses Paradoxon zu denken geben. Es ist aber eben was, „was mit dem Verstand nicht erfassen werden kann“ – fang an, darüber nachzudenken, und du befindest dich augenblicklich im Irrtum.

Bald nachdem „S.u.Z.“ erschienen war, frug mich ein junger Freund: „Wann schreiben sie eine Ethik“? (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.353) Eine Ethik hat Heidegger nie geschrieben. In dem sehr Wenigen, was er je dazu gesagt hat, bedeutet er, dass die Ethik in seiner Philosophie und seinem besinnlichen Denken sowieso implizit enthalten sei. Bevor wir versuchen, die Beziehung zwischen „der Ontologie“ und „der Ethik“ genauer zu bestimmen, müssen wir fragen, was „die Ontologie“ und „die Ethik“ selbst sind (ebenda): Ethos ist die Haltung in allem Verhalten dieses Aufenthalts inmitten des Seienden. Die „Ethik“ betrifft den Menschen nicht als gesonderten Gegenstand unter Gegenständen, sondern sie betrachtet den Menschen hinsichtlich des Bezugs des Seienden im Ganzen zum Menschen und des Menschen zum Seienden im Ganzen (…) In jedem Fall geht aber auch die Ethik, obzwar sie nur vom Menschen handelt … auf das Ganze des Seienden. (Heraklit S.214) Beziehungsweise, dass das besinnliche Denken und sein Gestus höchste Ethik sei: „Das sinnende Denken ist der höchste Edelmut“, gibt Heidegger Heraklit wieder (ebenda S.373). Das ist in etwa alles, was man bei Heidegger zur Ethik findet: Dass Ethik im besinnlichen Denken bereits an sich enthalten sei bzw. dass das besinnliche Denken Vollzug der höchsten Ethik sei (quasi also ein Überlegenheitsanspruch, der moralische Anfechtungen geradezu abschmettert). Wie bei Wittgenstein hat man bei Heidegger eine Unfähigkeit, ethische Sätze auszusprechen. Während Wittgensteins ganzes philosophisches Trachten (und sein gespannter, heroischer persönlicher Lebensvollzug) aber darauf abzielte, wie man ethische Sätze aussprechen könnte bzw. wie man logische Sätze in ethische überführen könne, hat man bei Heidegger aber tatsächlich dann nur eine persönliche Unfähigkeit, ethische Sätze auszusprechen. Große Philosophen begeistern sich und schwärmen für ethische Sätze (und auch im Zen-Buddhismus ist die Suche nach dem Buddha und nach dem erleuchtenden Satori ganz wesentlich eine Suche nach dem Dharma (dem Gesetz, der Sitte, der Religion, der kosmischen Ordnung)). Heidegger ist eine Ausnahme, bei der das fehlt. Daher dann wohl eben auch sein ewiges Problem von einem fehlenden authentischen Bezug zum Sein. Denn wer ethisch ist, wird sich auch im Sein geborgen fühlen, und es so empfinden, dass entweder das Sein ethisch ist, oder aber ethische Anforderungen stellt bzw. ethische Anforderungen sich aus dem Sein selbst, aus dem Sein heraus stellen. (Ich selber spreche, wie schon erwähnt, vom GESETZ, das aus dem Sein selbst hervorgeht und das bedeutet, dass man sein Dasein ethisch auszurichten habe – dieser Appell an das Dasein ist im Sein selbst enthalten.) Er wird das dann als „Wahrheit“ empfinden, die über bloßes Seiendes hinausgeht, und die daher transzendental und ewig ist. Daß es „ewige Wahrheiten“ gibt, wird erst dann zureichend bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, daß in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird, heißt es aber in Sein und Zeit (S.227) Dass Heidegger sich lebenslänglich fragt: Was ist das Sein?, kann man als Erscheinung einer inneren ethischen Desorientiertheit ansehen, eines Individuums, das das ethische, religiöse Licht nicht gesehen hat und daher fortwährend nach einer Lichtung sucht. Philosophie ist Metaphysik. Diese denkt das Seiende im Ganzen – die Welt, den Menschen, Gott – hinsichtlich des Seins, hinsichtlich der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens. (Zur Sache des Denkens S.61f.) Metaphysik aber fächert sich auf in Ontologie (der Frage nach der wahren Natur des Seins), in Epistemologie (der Frage, inwieweit wir mit unserem Erkenntnisapparat die wahre Natur des Seins erkennen können) und in Deontologie: der Frage, wie wir als vernunft- und gefühlsbegabte Wesen, die Dasein erschaffen und manipulieren können, als in das Sein also aktiv eingreifen könnende Wesen handeln sollen, welchen Regeln wir folgen sollen. Das sind Fragen der Ethik, und solche sind notwendigerweise Teil der metaphysischen Spekulationen des Menschen – also der Spekulationen über die qualitative Eingelassenheit des Menschen in das Sein. Der Mensch zeichnet sich vor aller anderen Kreatur nicht nur aus, indem er (laut Heidegger) Sprache hat, sondern auch Ethik. Eine Philosophie und Metaphysik, bei der die Deontologie und Ethik fehlt, wirkt daher unvollständig – nicht zuletzt deswegen, weil Ethik und Deontologie viel allgemeiner als nur im Rahmen der sozialen Sitte oder Moral die Frage betreffen, was richtig ist und was falsch, welchen Regeln man folgen solle und welchen nicht etc.: All das sind auch unmittelbare Fragen des richtigen Denkens, daher auch des richtigen Philosophierens und des richtigen metaphysischen Spekulierens. Dass der Mensch „Hüter des Seins“ ist, ist eine wohltuende und wärmende, eher meta-ethische Feststellung, aus der allein aber keine zwingenden ethischen Sätze folgen. So sind dann eben – wie im Fall Heideggers – ethische Verirrungen möglich. Allgemein wird bei Heidegger offenbar, dass ihm irgendwie der innere moralische Kompass fehlt. Sartre hat, in seiner Verteidigung Heideggers nach dem zweiten Weltkrieg gemeint: Ein trotzdem großer und bedeutender Philosoph könne trotzdem einen schlechten Charakter haben. Man hat aber den Eindruck, auch das trifft es nicht ganz. Denn ein schlechter Charakter scheint Heidegger dann eben auch nicht. Als in den 1930er Jahren Hannah Arendt und Karl Jaspers in ihrem Briefwechsel über Heideggers Charakter rätseln, meint Hannah Arendt schließlich: Heidegger habe „buchstäblich überhaupt keinen (Charakter), bestimmt auch keinen besonders schlechten“. Wir Heutigen wissen jedoch den Grund nicht, warum das Innerste der Metaphysik Nietzsches von ihm selbst nicht an die Oberfläche gebracht werden konnte, sondern im Nachlaß verborgen liegt; noch verborgen liegt, obwohl dieser Nachlaß in der Hauptsache, wenngleich in einer sehr mißdeutbaren Gestalt, zugänglich geworden ist. (Nietzsche Zweiter Band S. 35) Wir haben festgestellt: Das Innerste von Nietzsches Metaphysik ist die Neurose bzw. eine paranoide Persönlichkeit, die gespalten ist und nicht einheitlich. Daher nun also seine gespaltene, nicht einheitliche Philosophie (mit ihren anti-ethischen Anteilen daran). Bei Heidegger hat man im Zentrum, im Innersten seiner Metaphysik, so betrachtet und wenn man es so will, buchstäblich überhaupt keinen Charakter. Und so hat Heidegger dann auch keine ethischen Sätze formuliert. Denn diese stammen aus dem Charakter. Sein besinnliches Denken ist ein Ethos, der, in seinem speziellen Fall, die Ethik aber vergisst. Sein besinnliches Denken ist nicht davor gefeit, eine losgelöste, elitäre und, vor allem, egoistische Ethik zu sein. Eine Haltung, die ein Ethos ist, aber keine Ethik. Meine Ethik, die aus dem extremen Heavy Metal stammt, hat ihre Grundlage darin, dass sie erfreut ist über das Andere (das Sonderbare, Ausgestoßene, nicht unmittelbar im Gesichtskreis Liegende usw.) und sich mit dem Anderen im symbiotische Verbindung bringen will. Diese Verbindungen bringen Frieden und Verständnis und Achtsamkeit und lösen Probleme in der äußeren wie auch in der inneren Welt. Sie erweitern den persönlichen seelischen Aktionsradius ins Unendliche, und nichts kann einen dann erschrecken, nichts erscheint einem dann „uneigentlich“, dort, wo alles nur mehr zu einer großen ich- und welt-syntonen Eigentlichkeit wird. Heidegger hat sich, so hat man den Eindruck, zumindest weniger primär für das Andere interessiert, vielmehr immer nur für das Eigene, das Örtliche, das Heimatliche. Auch das gereicht seiner Ethik – um nicht zu reden von seinen Möglichkeiten, Welt aufzunehmen – nicht zum Vorteil. Vor allen Dingen ist es dann kein Wunder, wenn einem alles, was anders ist als man selbst, als „uneigentlich“ erscheint und man sich also konsequentermaßen von Uneigentlichkeit umgeben und bedroht  fühlt.

Heideggers Denken und Philosophie kreist um – das Denken. Was heißt Denken? Zur Sache des Denkens… Sein ganzes Charisma beruht auf der Intensität, der Sogwirkung seines denkerischen Gestus, sei es bei unpersönlicher Begegnung oder bei persönlicher: Die wenigsten seiner Bekannten konnten sich dem entziehen. Es denkt in mir, gab Heidegger über sein Selbstgefühl Auskunft; und als ob das Denken, die Philosophie an sich in diesem alten Mann einen Avatar gefunden hätte, so erschien es anderen, wenn sie ihn betrachteten. Was aber leistet das Denken?

  1. Das Denken führt zu keinem Wissen wie die Wissenschaften
  2. Das Denken bringt keine nutzbare Lebensweisheit
  3. Das Denken löst keine Welträtsel
  4. Das Denken verleiht unmittelbar keine Kraft zum Handeln  (Was heißt Denken?, S.161)

Trotzdem ist das Denken dem Menschen eben wesenseigen. Es scheidet ihn vom Tier. Es ist, wenn man so will, Ausdruck seiner Sorge. So viele denkende Menschen gibt es hinwiederum nicht. Daher soll man diejenigen, die denken, behüten. Sie tragen ihr Karma ab, und das Karma der Welt. Nötig ist in der jetztigen Weltnot: weniger Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr Pflege des Buchstabens. (Brief über den „Humanismus“ in Wegmarken S.364) Darum kreist alles Denken Heideggers. Es geht um die Ermöglichung von mehr Achtsamkeit gegenüber dem Sein. Achtsamkeit ist aber wohl weniger eine Sache des Denkens als eine des Fühlens und der Empathie. So viel er vom Denken spricht: Über das Fühlen und die Empathie tut er das nie. Wie soll dann eben sein achtsames, besinnliches Denken gelingen, an sein Ziel gelangen? Vielmehr ist anzunehmen, dass es unter solchen Umständen das Ziel zwar stets gut einkreist, aber eben nur umkreist, die „Eigentlichkeit“ aber eben nie erreicht. Ohne Empathie ist keine wirkliche, eigentliche Verankerung im Sein möglich. Heidegger spricht nie von der Empathie. Das Bedenkliche in unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken. Das ist der Leitsatz und das Leitmotiv vom Was heißt Denken? Das Bedenkliche an Heidegger ist, dass er nirgendwo richtig fühlt. Gleichzeitig kreist dabei all sein Denken ja nur um ein Gefühl: das der Uneigentlichkeit und Heimatlosigkeit, dem er Eigentlichkeit und Beheimatung entgegensetzen will (da sein Denken um einen Gefühls-Komplex kreist, bzw. aus einem solchen heraus stattfindet, ist es ja eben so insistierend). Gefühle sind nur potenziell ein Korrektiv gegenüber den Egoismus. Starke Gefühle, Kerngefühle, sind eher einmal das Egoistischste, was es gibt. Außerdem neigen (starke) Gefühle zur Projektion. Dass Heidegger sich so verfolgt fühlt von den Machenschaften des „rechnenden Denkens“, seiner Sterilität, seiner Auf-einem-Auge-Blindheit, seines inhärenten Egoismus und Willens-zu-sich-selbst, seinem Vergewaltigungsversuch an aller Welt, am Sein… erscheint irgendwie als negativer Doppelgänger, als Schatten seines besinnlichen Denkens, genauer gesagt: der Exzesse und Ausschließlichkeiten, in die er es treibt. Das „Höchste“, was die Machenschaft zuläßt, sind „Interessen“ (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), S.125) Es gibt keine Garantie, dass nicht auch das besinnliche Denken, die Achtsamkeit, die Eigentlichkeit, die Tugend ein starkes Interesse an sich selbst und an der Gestaltung der Welt nach ihrem Bild entwickeln, das sehr egoistisch, wenn nicht ausschließlich wird. Heideggers besinnliches Denken, bzw. die Art, wie er es exekutiert, ist – zwar gründlich, aber – statisch. Es möchte zu irgendwelchen traumhaften Ursprüngen gelangen und dann die Zeit anhalten. In einer solchen zeitlosen, zeitarmen Blase hat Heidegger dann auch gelebt. Georg Wolff schildert, angesichts des Spiegel-Gesprächs zwischen Augstein und Heidegger, das erst posthum veröffentlicht wurde, seine Eindrücke von Heidegger und seiner selbstgewählten Lebenswelt in seiner Hütte irritiert so: Nichts Schmückendes ist an ihr … Die Kargheit ist eisig. In der Nähe dieses Denkers hält sich, so scheint es, keine Augenweide. Hier ist alles kahl … Dem Alemannischen fühlt Heidegger sich verbunden. Daß Schöpferisches nur aus heimatlichem Boden komme, hatte er uns am Vormittag gesagt … Er fühlt sich wohl in der Sprache seiner Heimat. Doch wieviel zählt das? Und: Wieweit versteht Heidegger sich selber? Seine Hütte am Wiesenhang – wenn sie etwas verrät, so, paradox genug, seine Heimatlosigkeit. (Georg Wolff in Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger S.290/91) Alle Bewegungen nach vorwärts erscheinen für Heidegger als Weg in eine Irre – gerade darin beraubt er aber das Seinsverhältnis bzw. das Verhältnis des Menschen zur Welt in wesentlichen Aspekten seiner Reichhaltigkeit. Die Möglichkeiten der Lichtung ändern sich im Lauf der Zeit. Heideggers beharrliche Besinnlichkeit bzw. sein weltarmer, mönchischer Konservatismus beraubt, konsequent durchexerziert, die Menschenwelt einer besseren Zukunft. Man kann fast sagen, Heideggers Gehen, Bewegung über Wegmarken und auf Holzwegen beschreibt die Entwicklung des eigenen Denkens, aber kein wirkliches Weltverhältnis. Mancher sagt man: Du denkst zu viel! Kopfmenschen sagt man: Du denkst zu viel und fühlst zu wenig. In seiner idiosynkratischen Emphase auf „das Denken“ fühlt man sich geneigt, das auch Heidegger zuzurufen. Es erscheint klar, warum Heidegger ständig der „Eigentlichkeit“ hinterher läuft. Wer läuft stets der Eigentlichkeit hinterher? Derjenige der nicht eigentlich ist. Vor langer Zeit sagte Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ Das ist der Beginn der Philosophie. Aber was, wenn du nicht denkst? Das ist der Beginn der Zen-Übung. (Zen-Meister Seung Sahn)

Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins. Grundstimmung (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.112), notiert Heidegger bei sich im Jahre 1933, und leitet jenes Kapitel in seiner Biographie ein, das ihm zu seiner großen Schande gereicht, ja, seinen Status als Philosophen und seine Philosophie selbst hinterfragbar zu machen scheint. Es bleibt ein großes Rätsel in der Philosophiegeschichte. Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins: Ab 1930 nimmt Heidegger den Nationalsozialismus wahr und rückt ihm näher um dessen Machtergreifung schließlich als ein Ereignis von geradezu seinsgeschichtlicher Tragweite aufzunehmen – genauer gesagt, erhofft er sich ein solches. Das liegt in der Bahn seiner Philosophie. Endlich: Gefügt in die schöpferische Mitverantwortung der Wahrheit des völkischen Daseins: Ein Volk wird nun für ihn zu einer Entität, die einen „Neubeginn“ und ein Zurück zu einem originären, schöpferischen Ursprung möglich macht und die sich so authentisch im Sein verankere. Als einziges Volk freilich hätten allein die alten Griechen dergleichen fertiggebracht. Nun hofft Heidegger, dass das auch den Deutschen möglich wäre. Bald schon sieht er seine kapitale Fehleinschätzung ein. Der große Irrtum dieser Rede (zu seinem Rektoratsantritt 1933, Anm.) besteht freilich darin, daß sie noch annimmt, im Raum der deutschen Universität sei noch ein verborgenes Geschlecht der Fragenden, daß sie noch hofft, diese ließen sich an die Arbeit der inneren Verwandlung bringen. Aber weder die Bisherigen noch die inzwischen Nachgekommenen gehören zu diesem Geschlecht (…) Daß ich dieses in jener Rede nicht vorauswußte, ist ihr Hauptmangel. Und deshalb konnte sie nicht verstanden werden. (ebenda S.286) Er tritt vom Rektorat zurück und geht auf Distanz zum Nationalsozialismus, die zwar einerseits deutlich und markant, andererseits dann wieder ambivalent ist. In den folgenden Jahren und schließlich im Krieg notiert er bei sich einiges, was ebenso seiner philosophischen Haltung entspricht und konsequent ist wie weltfremd: Solange aber die Völker in der bloßen Ziellosigkeit oder Ziel-erfindung verharren, bleibt ihnen nur der Wettlauf der „Interessen“, ein Machen (d.h. Technik) der Historie als ausweichen vor der einzigen Möglichkeit einer Geschichte, das „Groß“ und „Klein“ vermischt. (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), S.106) Der Bolschewismus und der autoritäre Sozialismus (Faschismus, Anm.) sind metaphysisch dasselbe und gründen in der Vormacht der Seiendheit des Seienden. (S.109) Dieser Krieg entspringt der Seinsverlassenheit des zu Ende gekommenen neuzeitlichen Menschen. (S.225) Im Amerikanismus erreicht der Nihilismus seine Spitze. (S.225) Die Veröffentlichung seiner privaten Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit (der Schwarzen Hefte) vor einigen Jahren verschaffte der Debatte neuen Auftrieb, wie antisemitisch Heidegger gewesen sei; wie weit der Antisemitismus/Faschismus in einer Philosophie an sich enthalten wäre, vielleicht sogar deren neurotischer Kern seien. Das „Jüdische“ identifiziert er mit Prinzipien, die im Rahmen seiner Philosophie als die großen Antipoden agieren: dem rechnenden Denken und dem Geist der Machenschaften und der seinsvergessenen kosmopolitischen Entwurzeltheit: Die Juden „leben“ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen (ebenda S.106) Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menscheneigentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche „Aufgabe“ übernehmen kann. (ebenda S.243) Jetzt kann man sich fragen, inwieweit das bloß Figurierungen und Metaphern für Inhalte seines Denkens sind, die er vor zeitgenössischem Hintergrund ergreift, oder aber eine Begegnung mit dem eigentlichen, unausgesprochenen Kern des Heideggerschen Denkens (besser: Empfindens): einer paranoiden Sucht nach „Blut und Boden“-Eigentlichkeit, die in der Regel antisemitisch ist. Einer genuinen Philosophie des Antisemitismus und Faschismus also. Ohne aber, dass man zu einer befriedigenden Antwort gelangt. Heidegger hatte immer schon antisemitische Tendenzen gehabt, doch hatte er sich nie als (entschlossener) Antisemit hervorgetan und seine Notizen über „die Juden“ sind extrem vereinzelt (eventuell auch momentanen Eindrücken über seine dann doch durchaus antisemitische Frau Elfride geschuldet – ebenso wie Heideggers lebenslange Weigerung sich markant vom Nationalsozialismus darin ihre Ursache haben mag). Der Antisemitismus ist etwas für neidische Paranoide, Hasserfüllte oder Idioten: In seiner Phobie gegenüber dem „entwurzelten Juden“ ist er etwas für Leute, die nicht in sich selbst gegründet sind (und daher auch umso mehr Phantasien von der Herstellung einer „Eigentlichkeit“ hinterherrennen), also so genannten Fake-Persönlichkeiten (das wiederum könnte man Heidegger in sein Schwarzes Heft schreiben). Jean-Luc Nancy meint, Heideggers „metaphysischer“ Antisemitismus – dass also „die Juden“ eine verhängnisvolle Rolle im Sein selbst spielen bzw. diese in das Sein an sich eingeschrieben sei – sei noch schlimmer als der kulturelle oder rassistische Antisemitismus (wonach die verhängnisvolle Rolle „der Juden“ ihre Grundlage in vergleichsweisen Akzidenzien wie ihrer Kultur oder „Rasse“ hätte); überhaupt liege in Heideggers Philosophie das Potenzial (vielleicht sogar als Kern) für einen „Hyperfaschismus“, und Heidegger habe sich vom Nationalsozialismus nicht abgewandt, weil er ihm zu radikal, sondern zu wenig radikal gewesen sei. Wie wir gesehen haben, hat sich Heidegger aber nicht aus politischen Gründen vom Nationalsozialismus abgewandt, sondern weil er in ihm keinen Bund von philosophisch Fragenden erkennen konnte. Da könnte man meinen, dass Heidegger und der Faschismus eigentlich so gut wie überhaupt nichts miteinander zu tun haben. (Abgesehen davon, dass der Nationalsozialismus bereits eine Hyperversion des Faschismus gewesen ist; jenseits derer politisch kaum mehr was möglich ist: Ein „Hyperfaschismus“ Heideggers wäre daher unpolitisch und ein bloßes Gedankenexperiment – das allerdings zu anderen Zwecken angestellt werden würde.) Heideggers Flirt mit dem Nationalsozialismus war (spontan und) kurz. Viele Professoren haben sich schwererer und anhaltenderer moralischer Degradationen schuldig gemacht, und viele ernstzunehmende Intellektuelle haben sich in die eigentümlichsten Assoziationen verstiegen, warum Hitler eine Lichtgestalt höchsten Grades sei. Nichtsdestoweniger wiegt eine vergleichsweise geringere Last auf den Schultern eines Jahrhundertphilosophen schwerer und sie erscheint unheimlicher. Moralisch hat sich Heidegger vor allem nie ausreichend vom Nationalsozialismus distanziert; zu seiner tiefen Unmoral, seiner extremen Gewalt und seiner Vernichtungspolitik und zum Holocaust ist ihm nie viel eingefallen und es hat ihn nie viel bedrängt, außer dass er sie als Ausdruck einer allgemeinen seinsgeschichtlichen Irre verdammt hat. Trauerte er dem Nationalsozialismus als einer vertanen Chance nach? Aber, genau, welcher? Der einer vertanen Chance auf „Eigentlichkeit“ und eines „Neubeginns“ eines Volkes: Was aber Heidegger genau damit meint, ist sowieso nicht klar – und ist vielleicht auch ihm selber nicht klar gewesen: daher die Episode mit dem Nationalsozialismus, die Episode geblieben ist. Heideggers Philosophie ist sowohl konservativ als auch fortschrittlich – und dann beides nicht, und weder das eine noch das andere nimmt sie überhaupt für sich in Anspruch zu sein. Insofern sie auf ein anderes Seinsverständnis drängt und dahingehend zur Tat und zum Handeln, zur Umsetzung drängt, ist sie in die Welt eingreifend und politisch; gleichzeitig ist sie weltabgewandt und denkerisch-solitär. In der Terminologie von Deleuze und Guattari hat die Eigentlichkeits-Philosophie Heideggers, bzw. der Gestus, in dem er sie durchexerziert, gleichzeitig einen extrem paranoiden Pol als auch einen extrem schizophrenen Pol; und sie etabliert eine so genannte Fluchtlinie (paradoxerweise: des radikalen Dableibens). Paranoide Faschisten er/begreifen diese Fluchtbewegung niemals. Sagt ein Nazi-Professor zum anderen: Heidegger sei kein Nationalsozialist, sondern ein „ewiger Revolutionär“, der, nachdem der Nationalsozialismus seine „revolutionäre Phase“ hinter sich gebracht und „geordnete Verhältnisse“ geschaffen habe, sich vom Nationalsozialismus abwenden und irgendeiner anderen radikalen Bewegung zuwenden werde. In etwa hat er da Recht behalten (wobei die neue radikale Bewegung dann der Geist Hölderlins war). Was aber gespenstisch ist, ist, dass Heidegger im Nationalsozialismus kaum ein moralisches und menschliches Problem gesehen hat. Im Krieg schreibt er sich ins Schwarze Heft: Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volker zu opfern (ebenda S.262), bringt es also buchstäblich fertig, Opfer und Täter umzukehren, und die Wahrheit und das Leiden und die Gewalt, das Verbrecherische am Nationalsozialismus nicht zu sehen (wenngleich es sich auch hierbei wieder um eine vereinzelte Bemerkung handelt: nach dem Krieg, und bis zu seinem Lebensende scheint ihn all das menschlich aber eben auch nichts anzugehen). Tatsächlich: Heidegger strebte eine Metaphysik an, die nicht humanistisch ist, und in der nicht der Mensch im Zentrum steht, sondern das Sein; und es gibt keine ethischen Sätze in ihr. Und so exemplifiziert sich an der nationalsozialistischen Episode seine Sicht auf und sein Empfinden von der Welt tatsächlich als menschen- und moralisch leer. Es erscheint also insgesamt nicht so rätselhaft, dass Heidegger und der Nationalsozialismus sich begegnet sind. Es ist auch nicht so rätselhaft, dass sie wieder voneinander gegangen sind. Die Begegnung ist eine Kreuzung, Heidegger und der Nationalsozialismus überkreuzen sich kurz, laufen dann aber auseinander. Vor allem aber ist Heidegger kein Faschist, Gewaltmensch oder Mörder. Sein Antisemitismus steht auch damit im Zusammenhang, dass er allein die alten Griechen und die Deutschen als „authentische“ Völker wahrgenommen hat. Heideggers Grundmotiv ist es, das Seiende ins Offene zu bringen, seine Grundhaltung die einer radikalen Offenheit für das Sein – und Offenheit ist dem Faschisten ein Gräuel. Vor allem hat Heidegger mit seiner eigenen die Philosophie nicht in eine Irre gebracht. Ein Paradephilosoph für Reaktionäre oder Faschisten ist er nicht geworden, eher waren es Fortschrittliche, Subversive und Ikonoklasten, die sich seiner annahmen.

Hölderlin, der Größte der Deutschen… (Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941) S.114) wird, nachdem er sich von Hitler abwendet, zur neuen Führungsfigur für Heidegger (oder aber: die Begegnung mit Hölderlin hilft Heidegger, sich von Hitler abzuwenden…?). Auch bei Hölderlin geht es um die Erneuerung eines Volkes, um das Setzen eines neuen, originären Anfangs; als Idol fungieren ebenfalls die alten Griechen. Hölderlin will neu gründen, Hölderlin will neu dichten: (I)ndem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit. Es ist die Zeit der entflohenen Götter u n d des kommenden Gottes. Das ist die d ü r f t i g e Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.47) Hölderlin ist der Konstatierer einer Abwesenheit des Göttlichen (bzw. einer „Seinsvergessenheit“) in der Gegenwart und der Utopist einer Wiederkunft des Göttlichen als der Herstellung einer neuen Gemeinschaft, eines neuen Bundes zwischen den Menschen und des Menschen zum Sein; einer Art göttlichen Übermenschlichkeit, die das Geviert beherrscht (indem es das Geviert ist): Wenngleich die Einheit des Ganzen von Erde und Himmel, Gott und Mensch … ungesagt bleibt, wir sehen schon dies eine deutlicher: Erde und Himmel und ihr Bezug gehören in ein reicheres Verhältnis. (ebenda S.162) In diesem – ihrem wesentlichsten – Bestreben treffen sich also Heidegger und Hölderlin. Beide sind besinnlich, beschwörend, bohrend, einkreisend. Sie stürzen sind in die Gesamtheit des Geistes und in die Gesamtheit des im Geist erscheinenden und des den Geist gebärenden Seins. Hölderlin ist ähnlich monomanisch wie Heidegger; und das aus gutem Grund (da er über die Gesamtheit der Themen dichtet und sinnt): Werden wir jetzt noch meinen, Hölderlin sei verstrickt in eine leere und übersteigerte Selbstbespiegelung aus dem Mangel an Weltfülle? Oder erkennen wir, daß dieser Dichter in den Grund und in die Mitte des Seins dichterisch hinausdenkt aus einem Übermaß des Andrangs? (ebenda S.47) Ist er monomanisch, weil er aus seiner Position heraus die Allgegenwart der Welt wahrnimmt? Ja, das kann man wohl so sehen. Diese Einheit der Allgegenwart ist das Entrückende. Die allgegenwärtige Natur berückt und entrückt. Das Zumal der Berückung und Entrückung ist aber das Wesen des Schönen (…) Die Schönheit ist die Allgegenwart (…) (D)er Gott vermag doch den höchsten Schein des Schönen und kommt so dem reinen Erscheinen der Allgegenwart am nächsten. (ebenda S.54) Hölderlins Dichtung als die vollständigste Dichtung, als die beseelteste Dichtung, ist zugleich Meta-Dichtung: Was sie zum Ausdruck bringen will, sind letztendlich nicht Eindrücke, sondern den Geist, das Wesen der Dichtung selbst. Der Dichter Hölderlin ist von der Schöpfung begeistert und dichtet aus einer fortwährenden Begeisterung heraus und sich in fortwährende Begeisterung hinein: da er es unmittelbar aus dem poetischen Geist heraus tut, zu dem er singulären Zugang hat. Die Natur be-geistert alles als die allgegenwärtige, allerschaffende. Sie ist selbst „die Begeisterung“. Be-geistern kann sie nur, weil sie „der Geist“ ist (…) Der Geist ist die einigende Einheit. Sie läßt das Zusammen alles Wirklichen in seiner Versammlung erscheinen. (S.60) „Begeistert ist, wer Geist hat“ (Paul Häberlin) Er sieht also die Versammlung, da er das Offene sieht, in dem Versammlung möglich ist, das zur Versammlung einlädt, das Versammlung erfordert – und das ist es auch, was der Geist tut: er versammelt. In seiner reinsten Ausprägung ist er Lichtung, auf der Versammlung stattfindet. Diese Lichtung etabliert Hölderlins Dichtung, und so ist Heidegger naturgemäß von ihr be-geistert. Der Dichter versammelt die Welt in ein Sagen, dessen Wert ein mild-verhaltenes Scheinen bleibt, worin die Welt so erscheint, als werde sie zum erstenmal erblickt. (Hebel – Der Hausfreund S.25) Die Dichtung Hölderlins ist von einer solchen Primordialität. Insofern Hölderlins Dichtung Geist ist bzw. eine Schöpfung aus dem dichterischen Geist heraus, hat sie jene eigentümliche Dimensionalität, die sonst kaum eine Dichtung aufweist. Sie ist von einem Schein der Unbestimmtheit umgeben, bzw. erscheint in einem solchen, aus einem solchen heraus – denn sie zeigt damit gleichzeitig das sich entziehende Medium auf, in dem sie und aus dem heraus sie erscheint: den poetischen Geist, das poetische Vermögen (das heißt also: das Vermögen zur schöpferischen Entbergung), dessen zeichenhafte Erscheinung sie ist. „Ein Zeichen sind wir, deutungslos…“ (Hölderlin) … Die Kunst ist als das zeigende Erscheinenlassen des Unsichtbaren die höchste Art des Zeichens. (ebenda S.162) Das Wesen des Zeichens ist die entbergende Verbergung. (Heraklit S.179) Diese entbergenden Qualitäten erreicht Hölderlins Dichtung auch durch ihre wechselseitige Spiegelung der Urqualitäten Statik und Dynamik: seine frostige, klirrende, klassische Sprache mit romantischem Inhalt; Klarheit, die mit Unklarheit gekreuzt wird; seine Philosophie vom „Harmonischentgegengesetzten“ (das allein Vollständigkeit ermöglicht); die Welt, die er aufzeigt, hinter der/in der immer auch noch eine andere Welt zu erscheinen scheint… Das ist das Wabern, das Leuchten, das Sein des Seins, in dem das Seiende erscheint, als etwas Kosmisches, als etwas Chaotisches… Allein die Natur ist doch „aus heiligem Chaos gezeuget“. Wie gehen „Chaos“ und „Nomos“ („Gesetz“) zusammen? „Chaos“ bedeutet uns doch das Gesetzlose und Wirre (…) Deshalb nennt Hölderlin das „Chaos“ und die „Wirrnis“ „heilig“. Das Chaos ist das Heilige selbst. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.62f.) Bei Heidegger fehlt dieses Chaos, dieser Zugang zum „Irrationalen“, in seinen Möglichkeiten, sich auszudrücken. Er strebt freilich danach (und so ist es denn kein Wunder, wenn seine Philosophie in ihrem monomanischen Streben an und für sich selbst irrational wird bzw. keine rationale Grundlage für einen Umgang mit der Welt mehr bilden kann (daher also Heideggers „Ahnungslosigkeit“ und sein „Unverständnis“ von Politik…)). Das letzte Prinzip der Welt, und warum es Seiendes im reinen Sein gibt, ist das von Nomos und Chaos, dem Zusammenspiel von Ordnung und Zufall, der Chaosmos. Hölderlin ist Dichter des Chaosmos und gewährt mit seiner Dichtung Einblicke und Anschauungsformen vom Chaosmos. Wer Nomos und Chaos gleichermaßen bändigt und gegeneinander abwägt, beherrscht das Geviert und ist am vollständigsten im Sein, am vollständigsten ein Sein. Heidegger war vielleicht zu sehr Nomos, Hölderlin zu sehr Chaos. Der Chaosmotiker durchbricht die Hyle der Dinge und rammt den Speer in den Urgrund, das Artusschwert in das Sein: Wer, außer der reine, starke Held vermag es herauszuziehen? Er rammt einen Signifikanten in das Offene und macht so die Erscheinungen im Offenen deutbar. „Äther“ und „Abgrund“ nennen zumal die äußersten Bezirke des Wirklichen, aber auch die höchsten Gottheiten (…) Das Offene vermittelt die Bezüge zwischen allem Wirklichen. (ebenda S.61) Hölderlins Dichtung hat etwas Absolutes und Endgültiges. Das deswegen, weil sie zu den „letzten Dingen“, den Transzendentalien, tatsächlich gelangt ist; Transzendentalpoesie ist. Daher die ständige Anwesenheit und Abwesenheit Gottes. Das ist die Dynamik der Welt und des Geistes, der sie erkennt und der schöpferisch in sie eingreift. In der jeweiligen Gegenwart, der „dürftigen Zeit“, ist das Göttliche immer „abwesend“, da er brütend schafft und umwälzt, mit unklarem Ausgang. Als Vermögen ist das Göttliche immer (virtuell) anwesend. Was heißt Denken? Nun ja, das heißt Denken.

Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschickes zum Leuchten. (Die Technik und die Kehre S.34) Die Kunst ist ein menschliches Existenzial. Sie ist die Entfaltung der artistischen Fähigkeiten des Menschen sowie seiner metaphysischen Fähigkeiten und der zu seiner Transzendenz. Jetzt ist der Status der Kunst und des Künstlers an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in der Welt (scheinbar) recht unterschiedlich, aber es macht Sinn, sie als Erscheinungsform des absoluten Geistes (nach Hegel) aufzufassen: Mit der Kunst will der Mensch (höhere) Wahrheit feststellen oder sie ausdrücken, höhere Wahrheit (als solche) glorifizieren. Sie ist ein investigatives und tranzendierendes Unternehmen. Mithilfe ihrer will der Mensch die Wahrheit seiner subjektiven Eingelassenheit in eine objektive Welt feststellen und zum Ausdruck bringen. „Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit“, so Nietzsche in Rekurs auf Schopenhauer. Und auch bei Heidegger ist die Kunst ein Wahrheits-entbergendes Unternehmen:  Das Wesen der Kunst, worin das Kunstwerk und der Künstler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.59) Das Kunstwerk eröffnet in seiner Weise das Sein des Seienden. Im Werk geschieht diese Eröffnung, d.h. das Entbergen, d.h. die Wahrheit des Seienden. Im Kunstwerk hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. Die Kunst ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Was ist die Wahrheit selbst, daß sie sich zu Zeiten als Kunst ereignet? Was ist dieses Sich-ins-Werk-Setzen? (ebenda S.28) Das ist, in einem gewissen Sinne, wandelbar; das große Kunstwerk bringt die Wahrheit eines Zeitalters zum Ausdruck; und je größer es ist, desto mehr scheinen darin Wahrheiten über alle Zeitalter auf: um gleichzeitig wieder verrätselt zu werden, aus einem dunklen Abgrund scheinen die Wahrheiten hervorzutreten, um auch wieder potenziell in ihn zurückzufallen. Abermals ist es die Sache der Kunst eine der Entbergung von Wahrheit: Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Wahrheit ist also Entringung jeweils in der Weise der Entbergung. (Platons Lehre von der Wahrheit S.25) Das Kunstwerk ist ein subjektiver Ausdruck einer objektiven Wahrheit. Es ist der Ausdruck eines Subjekts, das sich einen privilegierten Zugang zum Objektiven verschafft hat und auf überraschende Weise das scheinbar innere, tatsächliche Wesen dieses Objektiven (heißt in dem Zusammenhang: seine Wahrheit) zu erschauen imstande ist und uns ebendies im Kunstwerk mitteilt. Das Kunstwerk ist so eine Epiphanie dieser tieferen objektiven Wahrheit, die (vielleicht nur) subjektiv erschaut wird (bzw. die vielleicht nur in der subjektiv-menschlichen Anschauung Sinn macht oder Referenz hat). Um dorthin zu gelangen, muss die Künstlerin, neben genuin künstlerischen Fähigkeiten, in der Lage sein, Konkretes und Individuelles zu abstrahieren und zu verallgemeinern, wie dann wieder diese Verallgemeinerungen zu konkretisieren und, vor allem, zu individualisieren (und eben in Form von ganz konkreten Individualitäten auszudrücken). Die Künstlerin muss, um zu solchen Antworten zu gelangen, also abermals, wie die Philosophin, tief ins Fragen verstrickt sein. Bist du ein Fragender? Einer aus dem Geschlecht jener, die nicht taumeln und süchtig sind nach Neuem, jener die im Ab-grund den Grund wissen und fester stehen als alle nur Überzeugten? … Diese Fragenden setzen den neuen Rang der Zugehörigkeit zum Seyn. Ihr Bund – ihnen selbst verborgen – kennt nicht die Zahl, bedarf keiner Einrichtung und Bestätigung. (Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938) S.285) Heideggers Vertiefungen und sein vertieftes Fragen nach den Möglichkeiten der Kunst geschehen dabei übrigens im Zusammenhang mit seiner zunehmender Sorge über eine andere Möglichkeit – eine Aktualität! – des dem Menschen gewährten Entbergens in der jüngsten Zeit des abendländischen Geschickes: der Herrschaft der Technik, des Ge-stells. Ge-stell bedeutet nicht Technik, sondern ein neues Verhältnis zum Entbergen von Wahrheit. Mithilfe des technischen „Stellens“ von Artefakten schafft der Mensch neue Wahrheiten und neue Weisen und Entbergungen seines In-der-Welt-seins: die Herrschaft des Ge-stells bedeutet, dass dieses technische und technologische Stellen zum privilegierten Modus des dem Menschen gewährten Entbergens wird bzw. überhaupt zu einer Heteronomie, die anonym über ihn herrscht und die er nicht mehr begreift noch kontrolliert (wie freilich vormals die Religion). Wir nennen jetzt jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen – das Ge-stell. (Die Technik und die Kehre S.19) … Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist. (S.20) Insofern das Ge-stell zum privilegierten Modus des dem Menschen gewährten Entbergens wird, degradiert es alle anderen Modi: Die Herrschaft des Ge-stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren. (ebenda S.28) So verbirgt denn das herausfordernde Ge-stell nicht nur eine vormalige Weise des Entbergens, das Her-vor-bringen, sondern es verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d.h. Wahrheit ereignet. Das Ge-stell verstellt das Scheinen und Walten der Wahrheit. (ebenda S.27) Heidegger ist pessimistisch über die Möglichkeiten der Philosophie, sich als privilegierter Modus des Entbergens von Wahrheit unter solchen Umständen zu behaupten: Die Ausfaltung der Philosophie in die eigenständigen, unter sich jedoch immer entschiedener kommunizierenden Wissenschaften ist die legitime Vollendung der Philosophie. Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit aber ist ihr kybernetischer, d.h. technischer Charakter. Vermutlich stirbt das Bedürfnis, nach der modernen Technik zu fragen, im gleichen Maße ab, in dem die Technik die Erscheinungen des Weltganzen und die Stellung des Menschen in diesem entschiedener prägt und lenkt. (Zur Sache des Denkens S.64) Ja, er sieht die Gefahr, dass die Herrschaft des Ge-stells den ganz primären Modus des Entbergens von Wahrheit: des Fragens unter sich verschütt gehen lässt. Seine Hoffnung, dass der Mensch im Zeitalter der Herrschaft des Ge-stells zu Autonomie und „Jemeinigkeit“ in den Möglichkeiten des Entbergens von Wahrheit und dadurch zu Authentizität gelangt, setzt er daher in seiner späteren Philosophie in die Kunst. Diese hat, als moderne Kunst, in den 1950er und 1960er Jahren tatsächlich einen ihrer Höhepunkte. Um dann aber bekanntlich in etwa ab dem Zeitpunkt von Heideggers Tod an irgendwie ihren Biss zu verlieren. Das „Irgendwie“ ist wohl nicht so schwer zu bestimmen: Ob die Kunst diese höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist, vermag niemand zu wissen. … Freilich (kann sie das) nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen. (Die Technik und die Kehre S.35) Kunst ist entbergend und metaphysisch, eine Anstrengung, die man unternimmt, um auf was Neues,  Bahnbrechendes oder Tiefsinniges draufzukommen. So sahen die Künstlerinnen der Moderne das auch im Wesentlichen. Aus irgendeinem Grund ist das in etwa seit dem Tod Heideggers als Selbstverständnis von Künstlern nicht mehr verbreitet. Und so ist man mit einer Gegenwartskunst konfrontiert, die nicht metaphysisch ist, gedankenlos scheint und ohne scheinbar eigentlichen künstlerischen Anspruch. Das „Warum“, wonach das so ist, bleibt, trotz allen möglichen multikausalen Erklärungsmöglichkeiten rätselhaft. Die Möglichkeiten, auf was Neues oder Bahnbrechendes in der Kunst draufzukommen, sind so vielleicht nicht mehr da, da zu viel Neues und Bahnbrechendes in der künstlerischen Moderne bereits passiert ist. Tiefsinn sollte aber immer möglich sein. Er wird nur scheinbar nicht gesucht. Aber verzage man deswegen nicht: Das große Wesen des Menschen denken wir dahin, daß es dem Wesen des Seins zugehört, von diesem gebraucht ist, das Wesen des Seins in seine Wahrheit zu wahren. (ebenda S.39) Lichtungen sind selten im Wald. Vielleicht sind es heute auch derer zu viele, da zu viel Wald geschlägert wird, aufgrund der Herrschaft des Ge-stells, das eine viel potentere Wahrheit und ein viel potenterer Modus der Entbergung von Wahrheit ist als zum Beispiel die an und für sich schwache Kunst. Aufgrund der Vielzahl von Lichtungen kommt es also auf Lichtungen durch die Kunst nicht mehr an. Oder aber: als Geschäft hat die Kunst, inmitten einer kunstunsinnigen und materialistischen Menschheit zu ihrer eigentlichen Wahrheit, zur Lichtung ihres Wesens gefunden, und versucht daher auch gar nicht mehr zu sein, als eben Geschäft. Aber dennoch bleibt der Mensch ein transzendentes, ek-sistierendes Wesen, und so bleibt auch der transzendierende, ek-sistierende Anspruch der Kunst, die entscheidende Beiträge zur Öffnung, zur Entbergung und zur Lichtung leistet und leisten wird. Das Werk hält das Offene der Welt offen. (Der Ursprung des Kunstwerkes in Holzwege S.34)

Das Dunkel liegt nicht in der unklaren Ausdrucksweise Heraklits, sondern in der „Philosophie“ selbst, weil sie in einer Weise denkt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht vertraut und deshalb für ihn jederzeit schwierig ist. (Heraklit S.29) Schopenhauer würde dagegen teilweise protestieren: Die höchste Logik und die höchste Wahrheit stellt sich dar in der höchsten Einfachheit und der höchsten Klarheit. Einfachheit ist die höchste Form der Vollendung, sagt einer, der es ja wissen muss: Leonardo da Vinci. Eine Eigentümlichkeit Heideggers liegt darin, dass er von Schopenhauer gar nicht viel hält; ihm sogar abspricht, ein echter Philosoph zu sein (sondern eher ein philosophierender Schriftsteller). Seine Polemiken gegen andere Philosophen, vor allem gegen Hegel, Fichte und Schelling – das Dreigestirn des Deutschen Idealismus –, verargt er ihm und meint überhaupt, dass Schopenhauer – neben seiner neidischen Befindlichkeit – nicht einmal in der Lage gewesen sei, die Raffinessen des deutschen Idealismus zu durchschauen. Naja. Schopenhauer zu lesen sollte bedeuten, zu sehen, dass man es hier mit einem gründlicheren, tiefer im Grund verankerten Geist zu tun hat, als beispielsweise Fichte (oder eben auch Schelling oder Hegel). Schopenhauers Sprache ist die eines Geistes, der vollständig in sich selbst gegründet, in sich zur Ruhe gekommen, mit sich selbst identisch ist. Bei Fichte merke ich ein nervöses Herumlaufen; bei Hegel — Eigenartig vor allem ist, da Schopenhauer ja gerade das einlöst, was Heidegger stets einfordert: Eine Philosophie, die nicht humanistisch ist, indem sie nicht den Menschen ins Zentrum stellt, sondern das Sein an sich. Schopenhauer erklärt ja, was das Sein ist: Ein blinder, egoistischer und sich ins eigene Fleisch schneidender Wille, den der Mensch, als Ausdruck dieses Willens, allerdings mithilfe seiner Vorstellungskraft in der Lage ist zu durchschauen und zu überwinden, und so in einem höheren, transzendenten Sein schließlich zur Ruhe zu kommen. Voraussetzung dafür ist moralische Einsicht. Im ekstatischen Mitleidenkönnen liegt die eigentliche eks-tatische Möglichkeit des Menschen bzw. des Seins an sich. Aber diese moralische Einsicht und ekstatisches Mitleidenkönnen haben, so scheint es ein weiteres Mal, bei Heidegger eben gefehlt bzw. waren keine Wurzeln seines Antriebes. So hat er, scheinbar konsequentermaßen, auch Schopenhauer verfehlt, obwohl Schopenhauer die konsequente Forderung von Heideggers Philosophie einlöst. Dass die wahre Philosophie trotzdem dunkel und schwierig ist, weniger wegen ihres mehr oder weniger klaren Ausdrucks, sondern weil sie in einer Weise denkt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht vertraut und deshalb für ihn jederzeit schwierig ist, wird Schopenhauer sehr wohl unterschrieben haben. Er hat es ja an eigenem Leib erfahren. Heidegger gilt als dunkler und schwieriger Autor, geradezu als ein Mysterium. Zumindest wenn man eine gewisse Vertrautheit zur Philosophie hat, kann man das wohl nicht bestätigen. Sein Ausdruck hat nicht die anschauliche, ergreifende Plastizität von Schopenhauer, aber doch Intensität gepaart mit Unmittelbarkeit genug. Es ist eine klare und einfache, gleichzeitig charismatische und soghaft wirkende Sprache. Sie ist mysteriös, weil sie um das Mysterium des Seins kreist. In diesem Kreisen ist sie aber einfach und klar, und ihre Ausdrücke sind hilfreich. Man meint vielleicht, Heideggers selbstgeschaffene Terminologie sei dümmlich und steif, tatsächlich ist sie aber unmittelbar innerlich erlebt und, wenn man sich umschaut, scheint es kaum eine bessere zu geben. Wie Schopenhauer hat auch Heidegger gedichtet. Schopenhauers Dichtung ist nicht so gut wie seine Prosa, und er sieht auch ein, dass er kein Dichter ist. Heideggers Dichtung ist ebenfalls so gut nicht wie seine Prosa (die wiederum nicht so gut ist wie die von Schopenhauer). Heideggers Dichtung ist geistiges Konzentrat. Als Dichter kommt er beinahe aus dem Fernen Osten. – Im Schopenhauerschen Mitleidenkönnen hat man das Ekstatische, Ek-sistierende, nach dem Heidegger sucht. Indem er mit-leidet, löst der im principium individuationis gefangene Mensch seine Ich-Grenzen auf, und erweitert sich zu den Grenzen der Welt, der grenzenlosen Grenze des Seins und somit überwindet er das Sein. Damit wird der Mensch in höchstem Grade zu einem eigenen Sein. In jedem Menschen liegt diese Möglichkeit. Jeder Mensch, jedes Lebewesen, jedes Objekt der Schöpfung ist eigentlich immer schon – kein Seiendes, sondern – ein Sein. Sodass sich die Seinsfrage so gar nicht stellt. Ich, du, wir sind jeweils ein Sein. Allerdings ist dazu eventuell eine spirituelle Sichtweise auf sich und andere notwendig. Man muss erst die Seinsfrage durchquert haben – wie Schopenhauer – um sich wahrhaft – nicht bloß als Seiendes, sondern – als Sein zu begreifen. Inwieweit stellt sich dann noch – die Seinsfrage?

Der Grund der Ideen und ihrer Einheit, d.h. der Grund des Systems ist dunkel. Der Weg zum System ist nicht gesichert. Die Wahrheit des Systems ist fraglich. Und doch – die Forderung des Systems ist unumgänglich. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.53f.) Die Forderung nach dem philosophischen System stellt sich immer wieder neu. Da der Mensch ein philosophierendes Wesen ist, und Philosophie jene Art von Fragen, in der sich der Mensch seiner Subjektivität in einer objektiven Welt gegenwärtig zu machen versucht. Die triumphale Erforschung der objektiven Welt durch die Wissenschaften scheint die anderen Erscheinungsformen des Geistes: Kunst, Religion und Philosophie in der jüngeren Neuzeit auf hintere Plätze zu verweisen. Heidegger war ein Philosoph, der in einem solchen Zeitalter der triumphierenden Wissenschaften gelebt hat, und der versucht hat, die Philosophie (und die Kunst) zu retten. „Die Wüste wächst“ sagte Nietzsche vor fast 70 Jahren. Er fügte hinzu: „weh dem, der Wüsten birgt“. (Was heißt Denken? S.12). Mit Nietzsche kritisiert Heidegger die metaphysische Wüstenhaftigkeit und Obdachlosigkeit des Zeitalters. Gleich Nietzsche schießt er über sein Ziel hinaus. Gleich Nietzsche verschätzt er sich dann doch (ein wenig) in seinen Prophezeiungen, die Wissenschaften würden die Welt vollständig „entzaubern“ und Philosophie, Kunst und Religion schlechthin obsolet machen. Gleich Nietzsche ist er wissenschaftlich ein wenig borniert (allerdings nicht so sehr, wie man das vielleicht glauben mag). Allerdings respektiert Heidegger natürlich die Wissenschaften. Sie seien allerdings eben eine andere Art zu fragen und denken, als die Philosophie. Die Philosophie und die Wissenschaften seien unterschiedliche Systeme, auch wenn sie sich natürlich (z.B. über die Geisteswissenschaften: also eben die Wissenschaften vom menschlichen Geist und seiner Erzeugnisse) auch überlappen. Zwischen der Philosophie und den Wissenschaften gebe es einen „Sprung“ zu vollziehen. Die Wissenschaft denkt nicht … Das ist ein anstößiger Satz … Diese Weise ist allerdings nur dann eine echte und in der Folge eine fruchtbare, wenn die Kluft sichtbar gemacht worden ist, die zwischen dem Denken und den Wissenschaften besteht, und zwar besteht als eine unüberbrückbare. Es gibt hier keine Brücke, sondern nur den Sprung. (ebenda S.4) Das ist vielleicht etwas dramatisch. Was aber Heidegger tut: Er versucht, den Status der Philosophie, in ihrer Urtümlichkeit, zu bestimmen. Wie Heidegger zu denken, wie Heidegger zu fragen, ist wie eine Philosophin zu fragen. Wenn man Heidegger aus dem Fenster wirft, wirft man die Philosophie gleich mit. Darin gründet sich die Solidität Heideggers, und seines philosophischen Systems bzw. seiner philosophischen Systematik. Das System allein verbürgt ja die innere Einheit des Wissens, seine Wissenschaftlichkeit und Wahrheit. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.50) Heideggers philosophisches System ist eine „Wissenschaft“ vom Sein im Ganzen. Dieses ungegenständliche Wissen des Seienden im Ganzen weiß sich jetzt als das eigentliche und schlechthinnige Wissen. Was es wissen will, ist nichts anderes als das Gefüge des Seyns, das nun nicht mehr als ein Gegenstand irgendwo dem Wissen gegenübersteht, sondern das im Wissen selbst wird, welches Werden zu sich selbst das absolute Seyn ist. (ebenda S.55) Wie erlebt man das Seiende im Ganzen oder eben das Gefüge des Seyns, das absolute Seyn? Als etwas ewig Verborgenes und sich ständig Entbergendes: in dieser Doppeltheit. Das Wesen des Zeichens ist die entbergende Verbergung. (Heraklit S.179) Das Wahre ist das Ungesagte, das nur im streng und gemäß Gesagten das Ungesagte bleibt, das es ist. (S.180) Wisse denn: Die Wahrheit ist geheimnis- und ahnungsvoll; wer in der Wahrheit lebt, haust am Geheimnis, könnte man mit Heidegger sagen. Das ewig Wahre und das ewige Geheimnis ist dort, wo sich der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring des Seins so schließt. Der Wahrheitssucher ist zurückhaltend und nachdenklich, er versucht zu spüren: die Tiefengestaffeltheit des Seins; die Schichten des Seienden hinter den Schichten des Seienden; das Experimentierfeld der Möglichkeiten des Seienden in der Virtualität des Seins; die Unendlichkeit des Seins, die sich in einer fraktalen Struktur zeigt. In dieser fraktalen Struktur zeigt sich die Allgegenwart des Seins, in ihrer paradoxen Einheit. Diese Einheit der Allgegenwart ist das Entrückende. Die allgegenwärtige Natur berückt und entrückt. Das Zumal der Berückung und Entrückung ist aber das Wesen des Schönen (…) Die Schönheit ist die Allgegenwart (…) (D)er Gott vermag doch den höchsten Schein des Schönen und kommt so dem reinen Erscheinen der Allgegenwart am nächsten. (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung S.54) Das Schöne ist das Hervorscheinende (des Seins), gleichzeitig das Entrückteste. Damit ist das Schöne gleichsam über-sinnlich, und damit ähnlich der Wahrheit und der Logik, ein der Subjektivität übergeordneter Wert. (vgl. Nietzsche 1. Band S.199–204) Die Wahrheitssucherin wird dieser Allgegenwart und Schönheit des Seins – und des Seienden im Sein – gewahr. Die Wahrheitssucherin wird sich des Absoluten gewahr. Dieses Ganze des Seyns ist verhältnislos zu anderem, nicht relativ, und in diesem Sinne schlechthin abgelöst von jeglichem anderen, herausgelöst aus Relationen, weil es solches gar nicht zulässt. Abgelöst sein heißt das Ab-solute. (Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit S.52) Wer, was, also kann dem Ganzen des Seyns entsprechen, dem Absoluten? Der absolute Geist in der absoluten Form. Der absolute Geist in der absoluten Form versammelt alle Erscheinungsformen des Geistes – Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion – und synthetisiert sie; die Rede des absoluten Geistes in der absoluten Form ist Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion in einem. Er ist qualitativ verschieden von allem relativen Geist. Aber der absolute Geist in der absoluten Form ist ein Leitbild für den Geist und für den Menschen in der Zukunft. Daher ist er so wichtig, und wichtig ist es – wenn man dabei sein will – sich mit dem absoluten Geist in der absoluten Form schon heute vertraut zu machen. Der absolute Geist in der absoluten Form überwindet das heutige Seinsverständnis, hin in eine neue Totalität. Das Sein selbst überwinden wollen hieße (aber), das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben. (Nietzsche 2. Band S.330) Heidegger will gleichsam, in seinem Apell zum Verständnis des Seins und seiner Ablehnung des Humanismus neue Möglichkeiten im Menschen entdecken – die Ek-sistenz des Menschen ist seine Substanz … gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt… Heidegger ist eine Art Transhumanist. Er ruft einen neuen Menschen aus, der sich mit dem Sein in ein intensiveres Verhältnis setzt, die Allgegenwart des Seienden und des Seins spürt; der, wie man sagen kann, das Geviert beherrscht: einen nietzscheanischen Übermenschen. Der Über-Mensch ist derjenige, der das Wesen des bisherigen Menschen erst in seine Wahrheit überführt und diese übernimmt. Der so in seinem Wesen festgestellte bisherige Mensch soll dadurch in den Stand gebracht werden, künftig der Herr der Erde zu sein… (Was heißt Denken? S.26) „Der Übermensch“ ist der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens. (Nietzsche 1. Band S.224) Das Reich des Seienden ist ein Reich von bisweilen schroffen Gegensätzen, Inkommensurabilitäten und Animositäten. Der große Stil glättet das Reich des Seienden hin in das Reich des ebenen und ideell pazifizierten Seins. Wahrhaft groß ist daher nur jenes, was seinen schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich und niederhält, sondern ihn in sich verwandelt hat, aber gleichzeitig ihn so verwandelt, daß er nicht verschwindet, sondern zur Wesensentfaltung kommt (…) Das eigentliche Wesen der Kunst ist im großen Stil vorgezeichnet. Dieser weist aber hinsichtlich seiner eigenen Wesenseinheit in eine ursprünglich sich gestaltende Einheit des Aktiven und Reaktiven, des Seins und des Werdens (…) Die dem großen Stil eigene Fügung des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen sein. Der Wille zur Macht ist aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben, in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt nennt. (ebenda S. 137f.) Dieser Übermensch und große Stil sind Telos der Ek-sistenz des Menschen. Die Grundlage dieser Ek-sistenz ist die Freiheit des Menschen, aus der heraus er seine Möglichkeiten wählt. Die Freiheit ist der Grund des Grundes … Als dieser Grund aber ist die Freiheit der Ab-grund des Daseins. Nicht als sei die einzelne freie Verhaltung grundlos, sondern die Freiheit stellt in ihrem Wesen als Transzendenz das Dasein als Seinkönnen in Möglichkeiten, die vor seiner endlichen Wahl, d.h. in seinem Schicksal, aufklaffen. (Vom Wesen des Grundes in Wegmarken S.174) Hinwiederum sind Sein und Grund wesentlich identisch. Sein und Grund „sind“ im Wesen das Selbe. (Der Satz vom Grund S.152) Am Ende stellt sich freilich heraus, dass das Sein aber „grundlos“ ist und „ein Spiel“.

Das „Weil“ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne „Warum“. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste.

Aber dieses „nur“ ist Alles, das Eine, Einzige.

Die Frage bleibt, ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels hörend, mitspielen und uns in das Spiel fügen. (ebenda S. 188)

Welt-Rad, das rollende

Streift Ziel auf Ziel:

Noth – nennt´s der Grollende

Der Narr nennt´s – Spiel…

Also sprach auch Zarathustra. Und weiter spricht er:

Welt-Spiel, das herrische

Mischt Sein und Schein: –

Das Ewig-Närrische

Mischt uns – hinein!

Still wendet sich das Seyn zur Bergung des Lichten, in das einst das noch verwahrte Einstige seine Huld verschenkt, um dem Menschenwesen die einzige Würde beginnlich zu schenken: das Wahrende der Wahrheit des Seyns zu werden. (Heraklit S.386f.)

Sommer 2021

Erwähnte Literatur von Heidegger:

Besinnung, Frankfurt/Main, Klostermann 1997

Der Satz vom Grund, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1957

Die Technik und die Kehre, Pfullingen, Verlag Günter Günther Neske 1962

Die Grundprobleme der Phänomenologie (Marburger Vorlesung Sommersemester 1927), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 1975

Einführung in die Metaphysik, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1953

Einführung in die phänomenologische Forschung (Marburger Vorlesung Wintersemester 1923/23), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 1994

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung Frankfurt/Main, Klostermann 1981

Hebel – Der Hausfreund, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1957

Heraklit, Frankfurt/Main, Klostermann 1979

Holzwege, Frankfurt/Main, Klostermann 1972

Nietzsche 1. Band/Gesamtausgabe Band 6.1, Frankfurt/Main 1996

Nietzsche 2. Band/Gesamtausgabe Band 6.2, Frankfurt/Main 1997

Identität und Differenz, Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann 2006

Platons Lehre von der Wahrheit, Frankfurt/Main, Klostermann 1967

Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Tübingen, Max Niemeyer 1971

Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1993

Überlegungen II-IV (Schwarze Hefte 1931-1938), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann GmbH 2014

Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939-1941), Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann GmbH 2014

Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, Verlag Günther Neske 1959

Was heißt Denken?, Tübingen, Max Niemeyer 1987

Was ist Metaphysik? (Antrittsvorlesung 24. Juli 1929), Frankfurt/Main, Klostermann 1969

Wegmarken; Frankfurt/Main, Klostermann 1996

Zur Sache des Denkens, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1969

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Günther Neske (Hrsg.): Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen, Verlag Günther Neske 1977

Warum ich ein Schicksal bin

Einer (offenbar falschen) Erinnerung zufolge ist es mir, als hätte einer einmal gesagt: Zum Schluss sei Nietzsche in seiner Selbststeigerungsdramatik nichts mehr übrig geblieben, als, entpersönlicht, eins zu werden mit dem Schicksal. Zum Schluss führe das Transzendenzbestreben zu nichts mehr, als, lapidar und fatalistisch, darin aufzugehen, dass man „ein Schicksal“ werde. Das sei der Weisheit letzter Schluss (vielleicht also sollte man ihn besser vermeiden: denn was bringt so was denn?). Im Schlussabschnitt von Ecce homo, betitelt Warum ich ein Schicksal bin, seinen tatsächlich in etwa letzten Worten als geistig noch Lebender, schwelgt Nietzsche dann auf jeden Fall endgültig in Phantasien von der Heraufkunft des Bösen, der Vernichtung, des Antichristentums, des Immoralismus. Das ist es, wohin sein Transzendenzbestreben und Übermenschentum ihn zum Schluss gleichsam hingebracht hat. Ja, das kenne ich alles nur zu gut! Ich habe ja auch meine Freude am Antichristlichen und dem radikal Bösen. Bands wie Blasphemy, Bethlehem, Beherit, Proclamation, Abruptum oder Archgoat, die den besonders radikalen und abgefuckten Bestial und War Black Metal bzw. Ritual Black Metal spielen oder das Splitalbum von Pure Evil und The True Werwolf geben mir schon Land und ermöglichen mir (zeitweiligen) Aufenthalt, in sehr entfernten Regionen des Seins. Besonders der Pure Evil/The True Werwolf Split ist sehr weit draußen, wo das stabile Raumzeitgitter in einen Abgrund stürzt und man dann nur mehr die absolute Wand des Nichtidentischen, die absolute Begrenzung des Seins vor sich hat. Ja, so ist das. Es ist notwendig, sich in diesen Denk- und Seinsbezirken unbeschwert aufhalten zu können, genauso unbeschwert, wie in zentraleren Denk- und Seinsbezirken. Nur dann, so vermute ich, ist man in der Lage, das Zentrum zu verstehen, von dem alle Verbindungen ausgehen; nur dann ist es einem möglich, den ganzen Schaltplan des Seins zu erfassen: Wenn man Archgoat und den Pure Evil/The True Werwolf Split versteht, wenn man zu Nether Tombs of Abaddon und allgemein dem Zeug vom Nuclear War Now! Label eine osmotische Verbindung herstellen kann! Wenn man diese Denkmöglichkeiten erfassen kann! Das praktisch Böse hingegen ist mir zu dumm, ihm fehlt die Komplexität und Ausdifferenziertheit. Es ist, zwar vielleicht labyrinthhaft verworren, aber beschränkt und endlich, und daher nichts für unendliche Geister. Nietzsche hat das Böse nicht wirklich verstanden, seine Ausführungen dazu sind von bestürzender Naivität. Ob er Nether Tombs of Abaddon oder den Pure Evil/The True Werwolf Split verstanden oder geschätzt hätte, ist zumindest nicht sicher. Der elitäre Hochmut hätte es vielleicht verhindert, der Antithese tatsächlich furchtlos ins Auge zu blicken, so wie er zu seiner Zeit und zu allen Zeiten den Armen nicht furchtlos ins Auge blicken konnte, den Tschandala, den Sozialisten und Anarchisten und der Disharmonie in der Musik. Denn so war Nietzsche. Aus dieser Ab-gespaltenheit heraus ist ihm die Selbststeigerung dann auch nur unzulänglich gelungen, indem sie immer wieder nur auf sich selbst verwiesen hat und weniger auf die Möglichkeit der Symbiose mit dem Anderen und mit der Welt, war sie gewissermaßen ein Leerlauf, der den Übermenschen immer verfehlt, dafür dann aber mit der Herrschaft und mit dem Bösen gemeinsame Sache machen will. Als paranoide Persönlichkeit hat Nietzsche mit dem Willen zur Macht und der (redundanten, zirkulären, nicht-transzendenten) ewigen Wiederkehr des Gleichen und seiner Sympathie für die Herrschaft und für das Böse, an denen er, entgegen seiner allgemeinen Gewohnheit als Denker, dann so entschieden festgehalten hat, eventuell seinen eigenen, echten Wesenskern erkannt bzw. als metaphysische Prinzipien verkannt, genauso wie er – in an und für sich krankhaftem Ausmaß – von den Armen, der „décadence“, den lebensverneinenden Kräften erschrocken war und sich dauernd von ihnen bedroht gefühlt hat, so sehr eben, dass er sich in den Immoralismus geflüchtet hat.  Der Bestial und War Black Metal hingegen sagt frei heraus, dass er gegen das Leben gerichtet ist, und er ist so obskur und seine Musik ist so schlecht, dass es zum herrschaftlichen Mainstream nie irgendeine Verbindung geben wird. Wer den Bestial und War Black Metal als Denk- und Seinsbezirke kennt und schätzt, ohne ihnen freilich bedingungslos zu verfallen, hat hingegen die Möglichkeit, den hochzeitlichen Ring der Ringe zu schmieden und seine Transzendenz so abzurunden, dass sie ein perfekterer Kreis als das Sein, ein perfekterer Kreis als die Schöpfung wird. Er ist dann definitiv draußen aus diesem Sein.

Um aber zum Eigentlichen zurückzukommen: der Gedanke, dass einem als letzte und höchste Seinsstufe nur mehr bleibt, „ein Schicksal“ zu werden. Lapidar und fatalistisch, ohne echte Persönlichkeit und Idiosynkrasie, wie es scheint: Lohnt sich der Aufwand? Wird man, vor allem, dabei nicht auf eine viel niedrigere und primitivere Seinsstufe zurückgestoßen, ist es ein unwürdiger Regress? Das Schicksal ist blind und blöde. Das Schicksal ist aber auch der Chaosmos – das Zusammenspiel von Zufall und Ordnung – und damit das tiefste und eigentlichste Prinzip der Welt. Wenn man eins wird mit dem Schicksal, hat man die größte nicht mehr hintergeh- und transzendierbare Identität mit dem Sein gewonnen; höchste Weisheit ist es bekanntlich, mit „dem Flow zu gehen“; wenn man ein Schicksal wird, geht man definitiv mit dem Flow. Man ist der Flow. Wird man ein Schicksal, so verliert man, so scheint es, nicht nur das Ego/Ich, ja, man verliert sogar die höhere Stufe des Ego/Ich: das Selbst. Die Persönlichkeitsgrenzen aufzulösen ist gut: während Depersonalisierung ein Regress ist, ist Transpersonalisierung, also eine Osmose mit dem Sein, ein Progress. Es ist gut, ein Schicksal zu sein. Dafür muss man freilich sehr viel tun, im Hinblick auf Selbstüberwindung und darauf Achten, dass die eigenen Lebensbahn Sinn macht. Man bezahlt sein Karma ab, wenn man ein Schicksal wird. Überwindet es, denn das Schicksal ist eine tiefere Macht als das Karma (indem es gar keine Macht ist, sondern eben ein Chaosmos). Ein Schicksal wird man, wenn man ein authentisches Streben hat und so, eventuell, zugrunde geht. Das erhöht dann, post mortem, das Charisma, das von einem ausgeht, denn die Menschheit braucht so etwas, um sich ihrer eigenen Authentizität zu vergewissern. Bands wie Behexen, Bethlehem oder Archgoat, die Bestial und War Black Metal spielen, sind authentisch. Sie sind so antithetisch und seltsam, dass sie sehr wohl ihr eigenes Süppchen kochen. Und eigene Süppchen zu kochen, macht glücklich. Studien zufolge sind Metal Fans glücklicher als der Rest der Gesellschaft. Das erscheint paradox, ist aber leicht nachvollziehbar unter anderem dadurch, weil ihre Musik eben authentischer und realistischer ist. Während der Gutteil der populären Musik über Statussymbole und Fake-Beziehungen und, aller-allerjüngstens, über den Feminismus singt, singt der Metal über den Satan und blickt ihm unvermittelt ins Auge und nimmt ihm so seinen Schrecken. Der Gutteil der populären Musik ist unhörbar und schlecht, allerdings nicht, wie der Bestial und War Black Metal, absichtlich. Man mag die Philosophen fragen: Warum machen sie denn nichts Normales, warum reden sie denn nicht wie normale Menschen? Nun, weil die Normalität ein schlechter Gegenstand für die Philosophie ist. Die Normalität hat man schnell verstanden; denn die Normalität besteht darin, dass viele Leute ein paar einfache Verhaltensweisen voneinander kopieren. Die Ritualmusik von Abruptum hingegen kommt von den äußersten Bezirken des Seins, die kaum kolonialisiert und umdefiniert werden. Also muss man auch die verstehen. Nur wenn man über diese Außenbezirke des Seins das Integral legen kann, sie flexibel in seinen Bannkreis ziehen kann, osmotisch, kann man wohl eine integrale und integrative Sicht auf die Totalität des Seins haben (und das ist dann der Übermensch). Weil Nietzsche das nicht gut konnte, ist er wunderlich geworden und hat zwei verschiedene Bahnen gezogen, eine progressive und eine degressive (entsprechend der gesunden Anteile seiner Persönlichkeit und der kranken), ohne den hochzeitlichen Ring der Ringe schmieden zu können, der sich nur über eine Osmose des Denkens und des Empfindens mit dem Sein ergeben kann. Eines der führenden Plattenlabel für Black Metal heißt übrigens Osmose.

Wie man mit dem Hammer über Nietzsche philosophiert

Philosophie sind Versuche des menschlichen Geistes, mit der Welt zurecht zu kommen; PhilosophInnen errichten geistige Gebilde von unterschiedlicher Qualität und Reichweite um die Welt zu interpretieren und zu verändern. Der große, systematische Philosoph sitzt auf dem Berggipfel, ein lächelnder Buddha, unter wohlig abgerundeter, harmonischer Sphäre, sein Auge erfasst die ganze Welt. Wir (stellen uns das vor und) blicken bewundernd zu ihm hinauf. Betrachte nun die Meta-Philosophen: Was, wenn eineR auf einem noch höheren Plateau, einem noch höheren Level der Analyse und Integration, der Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden sowie Individualitäten und Konkretheiten (die sich den bekannten Abstraktionen möglicherweise entziehen) zu identifizieren arbeitet? Kaum schießt ein Gedanke aus ihm raus, wird er schon vom nächsten, möglicherweise als paradox dazu konzipierten durchdrungen, und kommt kaum zur Ruhe, ewig ist seine Bewegung. Kaum stellt er ein System auf, hinterfragt er es schon wieder und wertet es um. Philosophie, ja, das ist so wie wenn dein Kopf sich auftut und ein Schmetterling fliegt heraus, mag die C. romantisieren; betrachte nun den Meta-Philosophen, wie er freudig-krawutisch der Schar seiner Gedanken-Schmetterlinge hinterherjagt, in den obersten Höhen, jenseits der Eisgebirge: kaum hat er einen eingefangen, droht schon wieder der nächste davonzuflattern. Das sind die Meta-Philosophen. Es hat große Vorteile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maße zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ozean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesamte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vorteil, sie besser im ganzen zu verstehen als die, welche sie nie verlassen haben. (Menschliches, Allzumenschliches 1 616) Das ist es, was die (philosophische) Kontemplation tut. Die meta-philosophische Kontemplation entrückt sich nicht nur von der Welt, um sie in den Griff zu bekommen, sondern sie befragt die Philosophie in ihrer Gesamtheit noch dazu. Seltsam und befremdlich, ein Geisterreich. Der Meta-Philosoph ist so seltsam, dass er kaum ein Mensch scheint. Er ist kaum, im herkömmlichen Sinn, jemals abgerundet. Eher hat man da eine Aura, ein Energiefeld, das sich fortwährend transformiert und verformt, nach vorne stürzt und sich gleichsam von Mensch und Welt abnabelt. Das sind die Konvulsionen der Meta-Philosophie.

Fünf Fuß breit Erde, Morgenrot

Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!

In seiner radikalen Abgenabeltheit ist der Meta-Philosoph radikal einsam, aber auch radikal, in der Sphäre des Noumenalen, frei, und unsterblich, und unzerstörbar. Das Menschliche ist ihm am fremdesten, das Menschliche ist keinem vertraut wie ihm. Meta-Philosophie: die radikale Befragung von allem, zum Zwecke der radikalen Feststellung und Festmachung von allem, ist etwas, was man überall finden mag. So wie jeder Mensch Philosoph sein mag, mag auch jeder Mensch (und jeder Philosoph) Meta-Philosoph sein. Das heißt allerdings nicht, dass jeder permanent Philosoph ist und urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, genauso wenig, wie jeder (Mensch oder Philosoph) permanent auf dem Level der Meta-Philosophie denkt und daher urtümlich Meta-Philosoph ist. Eigentlich nur, wer urtümlich auf dem Level der Philosophie denkt, ist Philosoph; nur wer urtümlich auf dem Level der Meta-Philosophie denkt, ist Meta-Philosoph. Meta-Philosophen kommen eventuell kaum vor. Der Impulsgeber des systematischen Philosophierens, das dann eben von Platon in eine Form gegossen wurde, war aber eben ein Meta-Philosoph: Sokrates. Wittgenstein, der Begründer und gleichzeitig Überwinder des linguistic turn in der Philosophie könnte in den Sinn kommen. Kierkegaard, der das Hegelsche System gesprengt hat und das Individuum befreit und an das außerweltlich-Absolute gekettet und aufgespannt hat, auch der. Vor allem aber Zarathustra; vor allem aber Friedrich Nietzsche.

Wenn Nietzsche nicht wäre, was wäre bloß aus uns? Weder wer wir sind, noch was uns umgibt, noch was aus beidem werden kann, ist etwas, was klar wäre. So leben wir in Gleichmut und Dunkelheit. Dann und wann kommt jemand, der/die Licht anzündet. Hin und wieder, ganz selten, jemand, der die Sonne selbst ist, einen plötzlichen, gewaltvollen Blitz zündet und so unsere Augen öffnet und unsere Ohren: dann ist es für uns Tag. Zarathustra war so einer. Schau, wie er zu dir spricht, um dich aus deiner Unmündigkeit zu befreien! Die lebendige Anrede des Du! Einerseits pathetisch wie sonst nichts, andererseits empathisch wie sonst nichts. Beides ist leidenschaftlich und erreicht dich in deiner Leidenschaftlichkeit – denn es geht um dich! Zarathustra lehrt dich, Fragen zu stellen, Zarathustra lehrt dich, Antworten zu suchen, das Dunkel zu lichten, im Dunkel ohne Furcht zu navigieren. Er meint es grundgut mit dir, er will nur das Beste für dich, und ist darin, notwendigerweise, pathetisch wie sonst keiner und empathisch wie sonst keiner. Du selbst wirst zum Pathos erhoben! Du selbst wirst von unendlicher Wichtigkeit, und dein Weg, der vor dir liegt! Werde, der du bist… Er zerstört die Religion, er nimmt dir Gott; aber ist der Adel, die Wichtigkeit, die Zarathustra dir verleiht, nicht von höherem Wert als die Würde, die die Religion verleiht? Dieser Eingang, vor dem der Zarathustra-Türhüter steht, scheint immer nur für dich bestimmt. Was Zarathustra sagt, ist (wie du selbst) ohne Vorbild. Zarathustra zitiert nicht, Nietzsche zitiert kaum.

Ich wohne in meinem eigenen Haus,

Hab Niemandem nie nichts nachgemacht

Und – lachte doch noch jeden aus,

Der nicht sich selber ausgelacht.

Der originellste Denker und Empfinder vielleicht von allen. Das höchste Welt-Sensorium vielleicht von allen. Zumindest einer der höchsten Dichter. Schau, wie in seinen schön und plastisch formulierten Aphorismen die Verschachtelungen sichtbar werden, die Komplexitäten, die Dimensionen! Was er nicht alles zu sehen imstande, was er nicht alles zu erfassen imstande ist – und vor allem: was er nicht alles davon empfindet! Kannst du da mithalten? Wenn Zarathustra nicht aus seiner Höhle getreten wäre, wir wären in unserer immer noch drin. Wenn Nietzsche nicht wäre, wir könnten uns gegenseitig willkommen heißen im Club der Geistlosen, ja das ist ganz klar. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss. Wer könnte, darin, ein besserer Freund sein, als Zarathustra? Erden-Floh bleibt derjenige, an dem Zarathustra nicht vorbei ging! Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb ich dich! Ohne Nietzsche wäre ich aufgeschmissen. Ohne Nietzsche wäre die Kulturgeschichte aufgeschmissen. Und was sagt er nicht alles der Kultur, was sagt er nicht alles, ruft nicht alles zu der Kunst? Er, der Bastard, der himmlische Hermaphrodit des Erklärenden und Verklärenden, von Dionysos und Apoll, der Künstler-Philosoph! Er etabliert eine “künstlerische” Metaphysik und versetzt uns in einen Rausch, einen Taumel des Erkennens, dem wir uns umso lieber aussetzen. Und indem er eine “künstlerische” Metaphysik etabliert, kann es natürlich auch keinen anderen Ausweg aus diesem Labyrinth geben, als eben die Kunst! Und wir alle lieben die Kunst. Die Kunst ist für ihn das Mittel, die a-logische Welt auf die Ebene des Logos, in die über-logische Welt der Sphären zu heben, den klaffenden, zähnefletschenden, mahlenden Abgrund mit der himmlischen kreativen Sphäre zu überdecken. Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit. Großer Liebender, Großer Ernstnehmender der Kunst (wo bist du heute? Dein Urteil wäre umso notwendiger… doch dein Urteil fehlt)! Nach dem Tod Gottes befreit er den starrten Eispalast des Seins in die Unschuld des Werdens – alles wird Bewegung und Dynamik. Gleichzeitig hat niemand die metaphysische Katastrophe vom Tod Gottes so ernst genommen wie er, und niemand im fröhlichen Farbenspiel des Werdens, der Evolution, das Chaos und den Abgrund, die Instabilität und die Gewalt gesehen. Mithilfe seiner rasenden Intelligenz kommt er der befreiten Welt entgegen und versucht sie – lehrt sie! – in den Griff zu bekommen über das experimentelle Denken, den Perspektivismus, der die Facettenhaftigkeit der realen Welt einerseits betrachtet und den Möglichkeitscharakter der Welt – als reale und radikale Wirklichkeit – umso schärfer ins Auge fasst. Sein Geist ist so groß, überschreitet die Welt so sehr, dass für ihn die Welt zum Experiment wird. Tausende Spekulationen, Millionen von Spekulationen stellt er an, sich an der Tiefe der Welt erfreuend, wie an der Tiefe seines eigenen Geistes und seiner eigenen Seele – und er hellt darin unsere Tiefen auf! Macht uns unserer eigenen Tiefen bewusst! Der Mensch wird für ihn zum bloßen Experiment – im Hinblick auf das ultimative Experiment, den Sinn der Erde: den Übermenschen, der über das Dasein triumphiert! Dem eigentlichen Telos von dir und mir: denn der Übermensch ist das Telos von dir und mir. Er – Zarathustra, Nietzsche – richtet sich an alle und er richtet sich, da er außermenschliche Ideale aufstellt, an keinen. Wer aber ewig strebend sich bemüht, den können sie erlösen. Extremer Verkünder und Prophet! Bescheidener Mitmensch und Einzelgänger; Wanderer allein mit seinem eigenen Schatten, der keinem auf die Zehen tritt und jemals treten will – wenn es passiert, entschuldigt er sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Er nimmt sich zurück. Wenn er seine „Weibs-Wahrheiten“ verkündet, stellt er voran, dass es eben nur seine Weibs-Wahrheiten seien. So sehr ist er in der Lage, sich aus sich selbst herauszustellen! So weit ist er in der Lage, zwischen sich und anderem in sich zu differenzieren! Nein, wie erleuchtet, der große Ja-Sager, nein, wie vieldeutig! Unüberschaubar sein Maulwurfsbau, den er, einer der wenigen, uneitlen Maulwürfe, die sich durch das Dasein und seine großen Fragen graben, die es umgraben wollen, gegraben hat! Nietzsche hat, indem er seine eigenen Tiefen durchleuchtet hat, das Wissen des Menschen auf ein neues Allgemeines gehoben. Er hat neue Verständigungsmöglichkeiten geschaffen. Er hat in die kommenden zwei Jahrhundert geblickt!  Er hat das Verständnis von Mensch und Welt aus den Angeln gehoben. Er ist ständig explodiert und verursacht erhebende Explosionen in uns, wenn wir ihn lesen, wenn wir ihn uns vergegenwärtigen; er lässt es in der Kulturgeschichte explodieren! Kein Mensch: Dynamit! Unvorsichtiges Kind soll nicht – kann nicht – mit diesem Feuer spielen: Nietzsche ist nichts für Nicht-Denkende! Nietzsche ist nichts für solche, die lieber im Verborgenen bleiben wollen! Nietzsche ist nichts für Ressentiment-Menschen. Und nichts für Faschisten. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel anfangen … er ist nicht mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von Leni Riefenstahl gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde (vgl. Prideaux S.481).

Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 26) Zarathustra, der große Anti-Totalitäre. Der Befreier des Denkens, der Befreier der Seele des Denkens, der Philosophie, aus dem Gefängnis der Systemhaftigkeit! Nietzsche bringt uns das Denken bei, das Philosophieren bei, ja, er zeigt uns, wie Denken, Empfinden, Getriebensein und sich Sichtreibenlassen, Strömen u. dergl. mehr eine leidenschaftliche Einheit bilden! Die sich ohne weiteres über das Pathos ausdrücken darf, ja, ausdrücken soll! Deren lebendige Rede und Anrede und ihre Aphorismenhaftigkeit notwendig sind! Nietzsche wird dann und wann – eigentlich gar nicht einmal so selten – als „schwacher Denker“ und als „fragmentarischer Denker“ abgetan. Er stellt kein Erzgebirge hin an Monumentalem, Unüberwindlichem, wie Kant, wie Hegel. Denken aber, an sich, ist etwas Schwaches. Es ist vorsichtig, tastend, tappt letztendlich fortwährend im Dunkeln und kommt nie zu seinem eigentlichen Ziel, seine Siege bleiben Etappensiege. Je größer man als Denker ist, und je mehr man das Denken als Notwendigkeit empfindet, desto stärker ist man sich dessen bewusst. Nietzsche hat viel über die Stärken und Schwächen des Denkens nachgedacht und uns mitgeteilt – dafür lieben ihn die starken Denker (vielleicht aber nicht eben die schwachen). Sein aphoristischer Stil ab Menschliches, Allzumenschliches war ursprünglich seiner schlechten Gesundheit und seinem Augenleiden geschuldet: Es wurde für ihn zu anstrengend, längere Texte am Stück zu verfassen, also musste er sich „telegrammartig“ ausdrücken, woraus dann der aphoristische Stil entsprang. Fernando Pessoa hat es bedauert, „nur Fragmente“ verfassen zu können. Wie sollen Geister und Sensorien wie Pessoa, wie Nietzsche, die die Welt so umfassend wahrnehmen, für die Beliebiges plötzlich herausspringt und sich aufdrängt, bevor es wieder hinter etwas anderem verschwindet, die Welt aber anders wahrzunehmen und zu Beschreiben imstande sein als „fragmentarisch“? Das „Fragmentarische“ ist die notwendige Erscheinungsform der Super Sanity. Zwischen den differenzierenden, in Aphorismen gegossenen Ausformulierungen, diesen Gedanken-Inseln, kommt das undifferenzierte Licht der Welt an sich, das ihrer unendlichen Aussagbarkeit, zum Vorschein, wo der momumentale, unüberwindliche Text dieses Licht gerne verbergen will, um sich seiner Totalität und Monumentalität zu erfreuen. Aber das, was der momumentale, systematisch-geschlossene Text versucht zu verdecken, in das „Systemirrelevante“ zu verdrängen, kommt früher oder später zum Vorschein: und wie steht der monumentale, unüberwindliche Text dann da? Der „fragmentarische“ Text, das „aphoristische“ Denken kann wohl eleganter, mimetischer damit umgehen, mit der ewigen Offenheit der Welt. Mit der ewigen Tiefe der Welt. Der fragmentarische Text knallt kein Massiv hin, sondern lässt implizit Schleichwege offen, über die man eventuell durch das Massiv kommt, das ganze Massiv vielleicht, siegreich, unter sich lässt.

Nicht mehr zurück? Und nicht hinan?

Auch für die Gemse keine Bahn?

So wart ich hier und fasse fest,

Was Aug und Hand mich fassen läßt!

Fünf Fuß breit Erde, Morgenrot,

Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!

Der fragmentarische Text ist der notwendige Text des Wanderers und seines Schattens. Die Welt stellt der Wanderer tief unter sich, erlebt sie als tief unter sich: Weil er aber, wie kein anderer, empfindet: Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht! Nietzsche empfindet, wie kaum ein anderer, die Tiefe der Welt, die der Tag nicht erfassen kann. Je mehr er in diese Tiefen steigt, ehrfurchtsvoll und furchtlos, desto mehr kommt er schließlich über die Welt hinaus; schließlich steht er in einer metastabilen Position über der Welt und ihren Tiefen, die er ermessen hat – die aber nach wie vor da sind, und die ihn, wie er natürlich weiß, aus dieser metastabilen Position herausreißen und sein Schiff zum Kentern bringen können. Letztendlich wird es, aufgrund der Endlichkeit von Mensch und Welt, unweigerlich dazu kommen. Dabei hat sich die Welt dem Weltüberwinder gegenüber allerdings nicht als etwas Stärkeres oder Gefährlicheres erwiesen, es ist nur irgendwas passiert, was auch genauso gut (gerade) hätte nicht passieren müssen. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht; es geht aber eben darum, dass man das selber auch tief, und tiefer als der Tag wird. Das ist der Sinn der Philosophie Nietzsches. Das ist die Lehre von Zarathustra. – Aus seiner Position der Höhe, aus hohen Bergen, lässt es Zarathustra-Nietzsche herabschneien, seine zahllosen Weisheiten. Immer wieder glaubt man zu spüren, wie diese, in Aphorismen gegossenen Weisheiten einerseits präzise und rational und intuitiv, andererseits locker und phantastisch und scheinbar allzu spontan scheinen. Hat Nietzsche das Wesen einer Sache erfasst und dabei auf einen Grund geblickt, der uns verborgen war? Ist er sogar so klug und lässt es von so hohem Berge herabschneien, dass die Welt für ihn gar nicht genug ist? Sind seine Einschätzungen und ist seine Philosophie eine Überinterpretation der Welt, in der er Tiefen vermutet, die real gar nicht vorhanden sind? Der Genius ist das als rein anschauend Vorgestellte: was schaut der Genius an? Die Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen. Der Mensch, der Nicht-Genius, schaut die Erscheinung als Realität an oder wird so vorgestellt: die vorgestellte Realität – als das vorgestellte Seiende – übt eine ähnliche Kraft wie das absolute Sein: Schmerz und Widerspruch. (Nachlass Ende 1870 – April 1971, 7(172)) Der Genius erfreut sich nicht allein (oder: vielleicht weniger) an der Welt, sondern am Spiel der reinen Erscheinungen. Laut Schopenhauer ist der Genius derjenige, der Erscheinungen losgelöst von der ihnen zugrunde liegenden Realität und ihrer Zweckhaftigkeit enthoben anzusehen imstande ist. Diese Welt der Erscheinungen ist für ihn genauso präsent wie die „reale“ Welt, und so kann er neue Verbindungen (allerdings auch neue Täuschungen und Illusionen) in die Welt bringen. Indem er die Erscheinungen rein anschaut, schaut der Genius nicht zuletzt sein eigenes Vorstellungs- und Anschauungsvermögen an. Und so mag Nietzsche sein eigener Gaul immer wieder ein wenig durchgehen. Lou Salomé bemerkt dazu aber, dass Nietzsche einfach ein weniger genauer und präziser Denker gewesen sei, als sein ungenialer, aber wissenschaftlicherer und rationalerer Freund Paul Rée (Lou Salomé S.152). Es gibt also nicht nur atombombengleiche Fähigkeiten in Nietzsche, sondern auch Unfähigkeiten. Seinen Genius hat er vielleicht darauf verwendet, diese Unfähigkeiten zu verklären? Als Psychologe verdächtigt er immer Unfähigkeiten als Ding an sich hinter Erscheinungsformen von Fähigkeit – wurde er vielleicht sogar aus diesem Grunde Psychologe? – Philosophische Systeme, um darauf zurückzukommen, wurden spätestens in der Postmoderne arg verpönt, sie haben allerdings einen guten Grund, wenn man fragmentierte Wirklichkeit mehr als nur fragmentiert erklären will, und nicht nur allgemeingültige Erklärungen sondern auch allgemeingültige Normen ableiten will. Nietzsche hat es aber eben nicht geschafft, systematisch zu philosophieren; seine Versuche, seine Philosophie großangelegt-systematisch darzustellen (über Der Wille zur Macht und dann Die Umwertung der Werte) sind im Sand verlaufen. Und Nietzsche hat es nicht geschafft, allgemeingültige Normen zu formulieren oder die Gesellschaft überhaupt allgemeingültig zu erfassen; in einem subjektivistischen aristokratisch-faschistischen Selbststeigerungs- und Selbstermächtigungsrausch hat er die Werte ständig umgewertet und er wusste, da er Ich und Welt nicht verbinden konnte, nicht mehr wirklich, wohin. Kaum einer war so skandalös darin, kaum einer hat begriffen, was echte Selbststeigerung und was echter aristokratischer Adel der Seele ist. „Nein, mit Nietzsche kann ich nicht viel anfangen … er ist nicht mein Leitbild“, antwortete Hitler kleinlaut, als er von Leni Riefenstahl gefragt wurde, wie gern er Nietzsche lesen würde.

Die Philosophie von Nietzsche ist ein eigentliches Hybrid von Subjektivität und Objektivität. Für einen Philosophen, und erst recht für einen Philologen, stellt er sich selbst und seine idiosynkratischen Ansichten bedeutungsvoll heraus und verstößt so offensichtlich gegen das Ethos objektiver Wissenschaftlichkeit (was ihm in seiner akademischen Karriere nicht zugute gekommen ist). Für einen Dichter und Künstler, und auch für einen Philosophen und Wissenschaftler, nimmt er sich in seinem Erkennenwollen dann aber wieder so leidenschaftlich zurück und weist dem objektiven Erkenntnisstreben einen so überragenden Platz zu, dass man sich selber als der wahre Eitle und Großtuerische ertappt fühlen mag. Safranksi bemerkt: kein anderer Philosoph hat so oft „Ich“ gesagt und von sich selbst gesprochen wie Nietzsche (mit der Ausnahme vielleicht von mir). War er ein ganz ein Eingebildeter und dem Größenwahn schon immer Verfallener? Oder ist gerade sein oftmaliges Sprechen von sich selbst, sein „Ich“-Sagen, Zeichen der höchsten Philosophie und Reflexion – die notwendigerweise die lebhafte Selbstreflexion miteinschließen muss? Ist seine Verortung des Menschen, des Subjekts in der Welt – als der zentralen Aufgabe der Philosophie – umso deutlicher, plastischer, mitfühlender und mitreißender als bei so gut wie allen anderen Philosophen, weil er eben von sich – und damit genauso gut von Dir spricht? Ist ein notwendiges Korrelat zum antiautoriären Perspektivismus als fortschrittlicher, toleranter Philosophie eben nicht die Betonung des Subjekts, das diese Perspektiven allein errichten mag? Muss ein radikal fragendes und philosophierendes Ich nicht ein irgendwie auch radikales, auffälliges Ich sein? Kein anderer Philosoph würde einem aber auch einfallen, der seinen Status des radikalen philosophischen Suchens und Fragens so intensiv und leidenschaftlich empfunden hat (selbst Kierkegaard, Wittgenstein oder Pascal bleiben in ihrem Ausdruck im Vergleich zu Nietzsche geradezu nüchtern). In Nietzsche pflegten die abstractesten Gedanken sich in Gefühlsmächte umzusetzen, die ihn mit unmittelbarer und unberechenbarer Gewalt fortrissen. (Lou Salomé S.95) Daher rührt auch Nietzsches großes Charisma, gegen das jenes der anderen mehr oder weniger verblasst. Bescheiden und gequält meint er:  Ich habe fast jeden Tag zwei bis drei Stunden diktiert, aber meine „Philosophie“, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtiert, so zu nennen, ist nicht mehr mitteilbar, zumindest nicht durch Druck. (Brief an Overbeck 2. Juli 1885) Ein intensiv um die Feststellung des Objektiven ringendes Subjekt also scheinbar, dass sich in diesem Ringen also umso mehr subjektiv spürt. Gleichzeitig ringt es vielleicht aber weniger mit der Welt, sondern mit sich, und mit seinen Selbstprojektionen in die Welt hinein, die, aufgrund von Diskrepanzen, unphilosophisch werden und, weil ein rationaler Kern fehlt, nicht mehr mitteilbar sind? — Das Gefühl seiner Ichheit ist bei Nietzsche auf jeden Fall aber früh erwacht. Im Alter von zwölf Jahren beginnt Nietzsche Tagebuch und darin ausführlich über sich selbst zu schreiben, und bis in seine Studentenzeit wird er immer wieder autobiographische Abhandlungen verfassen, über die eine erhebliche Bezogenheit auf sich selbst, vielleicht auch Verliebtheit in sich selbst, zumindest aber Faszination über sich selbst zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig haben sie den Charakter von Versuchen der nachdenklichen Vergegenwärtigung von sich selbst und dem Ziehen einer bisherigen objektiven Bilanz über sich selbst – und allgemein auch ganz einfach den von Schreibversuchen. Im Alter von vierzehn Jahren dichtet er:

Ein Spiegel ist das Leben.

In ihm sich zu erkennen,

Möcht ich das erste nennen,

Wonach wir auch nur streben.!!

Ein geborener Philosoph, ein geborener Metaphysiker also. Im Gegensatz zu den meisten bescheiden Auftretenden ist da deutlich mehr Weltbezug in diesem Selbst. Bereits als Kind trachtet Nietzsche danach, sich ein „Universalwissen“ anzueignen. Ein voluminöses Selbst also, weil in diesem Selbst mehr (Bezug zur) Welt ist; ein Selbst, das von der Welt besessen ist und daher, wie bei großen Künstlern gemeinhin der Fall, auch von sich selbst – nicht zuletzt als Sensorium für diese Welt – einigermaßen besessen sein darf und ist. Dass er bei all seinem dichterischen Feuer und seiner Pathetik ein geradezu verschwindendes, wasserhaftes Ego hat, das in die Welt hinein entfließt, das indifferente Ego des wissenschaftlichen Menschen, wenn nicht gar eines tibetischen Lama, macht er auch immer wieder (glaubhaft) deutlich: Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen Vortheil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachtheilen nicht aus, die sie mir bringen (Nachlass November 1887 – März 1888, 11(300)) Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen- – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. (Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5(184)) Was ich an mir vermisse: jenes tiefe Interesse für mich selber. Ich stelle mich zu gerne außer mir heraus und gebe allem zu leicht Recht, was mich umgibt. Ich werde schnell müde, beim Versuch, mich pathetisch zu nehmen. Ich habe nie tief über mich nachgedacht. (Nachlass Ende 1880, 7(100)) Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas „wollen“, nach etwas „streben“, einen „Zweck“, einen „Wunsch“ im Auge haben – das alles kenne ich nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 9) Diese Münze, mit der alle Welt bezahlt, Ruhm – mit Handschuhen fasse ich diese Münze an, mit Ekel trete ich sie unter mich. (Ruhm und Ewigkeit) Die Eitelkeit, der Selbstbezug, die Egozentrik treten aber in vielfältigen, und gemeinhin verborgenen Formen auf, und gerade als Psychologe wird Nietzsche erhebliche Energien darauf verwenden, niedere Motive hinter glänzenden Erscheinungen aufzuspüren (was seinerseits als Hinweis für Psychologen begriffen werden könnte). Vor allem aber ist es auch so, dass verschiedenste Wünsche und Motivationen in einer Person ja auch koexistieren können, und so auch Eitelkeiten und Gleichgültigkeiten gleichermaßen: warum also nicht auch bei Nietzsche? Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind – das allein ist der gute Hang! (…) Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zu Anderen!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem „Angenehmen“ und Unangenehmen „Wahre“ ist die höchste – darum Seltenste bisher! (Nachlass Frühjahr – Herbst 1881, 11(10)) Das neutrale sachliche Sehen ist aber eine Anstrengung, die das Ich unternimmt. Je neutraler und sachlicher es sehen will, desto mehr muss es sich herausnehmen – indem es sich selbst in seiner Relativität in den Erkenntnis-Regelkreis miteinbezieht, sich selbst und seiner Relativität gewahr wird. Es redet viel von sich und denkt viel an sich, weil es sich selbst nicht anders loswerden und aus dem Blickfeld bekommen kann. So allein ist ein perspektivistisches Sehen möglich und eine Philosophie des Perspektivismus – denn die (soziale) Realität kann man nur dann am besten umfassend und objektiv begreifen, wenn man möglichst viele Perspektiven auf sie errichten kann: und das eben durch das neutrale sachliche Sehen. Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und desshalb waren sie große Lerner und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. (Morgenröte 540) Künstler, und genauso wenig Philosophen und religiöse Naturen stellt Nietzsche nicht notwendigerweise an die Spitze der Erkenntnis-Subjekthaftigkeit: die Eitelkeit, das Rechthabenwollen, die Schwärmerei mögen ihrem neutralen sachlichen Sehen entgegenarbeiten. Denker, die still ihre Maulwurfslöcher graben, seien die eigentlichen Denker und wissenschaftlichen Arbeiter in jenem Sinn (ebenda 41). Maulwürfe sind blind und auf sich selbst zurückgeworfen, auch und vor allem in ihrem Maulwurfsgängegraben. Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eignen Wege“ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muss er allein fertig werden. (ebenda, Vorrede 2) Der philosophische Maulwurf ist also urtümlich der Mensch mit sich allein. Er findet sich immer wieder, da er sich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen findet. – Ja, all das kenne ich sehr gut! Ich spreche in meinen hochintellektuellen Schriften ja auch immer wieder von mir selbst, und schäme mich auch immer wieder ein wenig dafür. Das Geheimnis dahinter ist aber das: Mein ganzes Trachten gilt der objektiven Erkenntnis der Welt. Das „Ego“ wiederum ist der Antipode dazu, und der Antipode zur Ethik und zum guten moralischen Durchnavigieren durch die Welt, die durch die gute Subjektivität gestaltet und verbessert werden kann und soll. Gerade aber wenn ich versuche, mir die Welt möglichst objektiv und unparteiisch zu vergegenwärtigen, erlebe ich mich letztendlich auf mich selbst zurückgeworfen, dem Umstand dass ich es bin, der versucht, die Welt – ein großes Außerhalb – festzustellen. Und ich versuche, die Welt ganz grundsätzlich festzustellen, mit einem tiefen Spaten tief in das Erdreich reinzugraben. Auf dem Level der Meta-Philosophie wird also beides radikal, und beides rein: das Subjekt und die Objektivität der Welt, treten wechselseitig immer mehr zum Vorschein. Es geht bei diesem Unternehmen darum, Traditionen, Theorien und Ideologien, das, was als Vorstellungsformen also vorhanden ist, zu durchdringen und diese hinter sich zu lassen (bzw. auf dem Level der Meta-Philosophie die Philosophie insgesamt), um zu reinen Anschauungen vorzudringen: um auf dieser Basis umso mehr neue reine Ideen und reine Begriffe und Konzepte entwickeln zu können. In diesem Vakuum der Reinheit bin ich also ganz auf mich selbst zurückgeworfen. Gleichzeitig erlebe ich die reine Welt. Objektivität und Subjektivität und deren Betonung gleichermaßen ist letztendlich der geschlossene Regelkreis des Selbst- und Weltbezuges. Die Objektivität und meine Subjektivität erlebe ich dann als „transzendent“ gegenüber ihren scheinbar vordergründigen und scheinbar hintergründigen Manifestationen. Sie werden, an sich, zu Möglichkeitsräumen, in denen man, über die Errichtung von Perspektiven, konkrete Wirklichkeiten betrachten oder imaginieren, und dann eben umso besser aussortieren kann. Dieses Schwert stoße ich, der geheimnisvolle Wanderer, in die Weltesche. Wer ist derjenige, der es herausziehen kann?

Nietzsche und sein Größenwahn. Alle Bücher, die er je veröffentlicht, große Klassiker der Weltliteratur und essentiell in der Philosophie! Im, mehr oder weniger, jährlichen Rhythmus rausgeschossen, jedes davon vollgepackt mit Inhalt, und noch dazu mit Inhalt der erstaunlichsten Art, getreu seinem Vorsatz, er wolle in einem Aphorismus so viel sagen wie andere in einem ganzen Buch! Ein Vulkan, der ständig ausbricht! Kannst du das aushalten? Kannst du das nachvollziehen? Schau dir doch mal die Aphorismen von Oscar Wilde an, oder die von Goethe!, sagen der Roman und der Bernhard zu mir. Naja, aber Nietzsche schlägt mit den seinigen alle. Ein Vulkan, der ständig Lava ganz weit rauf in die Atmosphäre ausspeit, permanent! Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht – mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 44) Wie soll sich so einer nicht als so was wie ein Übermensch vorkommen? Das ist ja ganz naheliegend! Dass er an Eigenlob nicht gespart hat, mag man beargwöhnen, und es wäre von seiner Seite her keine unmittelbare Notwendigkeit dafür bestanden – was aber will man jenem Eigenlob jetzt inhaltlich entgegensetzen? Ich selber kenne in keiner Litteratur Bücher, welche diesen Reichthum an seelischen Erfahrungen hätten, und dies vom Größten bis zum Kleinsten und Raffiniertesten. Daß dies außer mir im Grunde Niemand sieht und weiß, hängt an der Thatsache, daß ich verurtheilt bin, in einer Zeit zu leben, wo das Rhinozeros blüht, und noch dazu unter einem Volke, welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch jede Vorschulung fehlt (einen Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen hat!!). Wenn ich denke, daß solche M(enschen) wie R(ohde) sich im Grunde wie Hornvieh gegen mich benommen haben:  was soll eigentlich – (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887, 5(79)) Warum ich so gute Bücher schreibe… Wenn Ecce homo als Autobiographie bezeichnet wird, die an Selbstverherrlichung ohne Beispiel in der Literaturgeschichte ist; naja, ist diese Selbstverherrlichung denn nicht berechtigt (nicht zuletzt auch wegen der glasklaren und hohen und sicheren Gedankenführung innerhalb einer ansonsten rauschähnlichen und orgiastischen Schreibe)? Wenn Nietzsche (kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch) seinem Verleger zu dem „Privileg“ gratuliert, die Werke des „Ersten Menschen aller Zeiten“ (erfolglos) im Programm zu haben, stimmt´s denn nicht? Eventuell mag einem Goethe in den Sinn kommen, wenn man an einen möglichen Ersten Menschen aller Zeiten denke, doch: „Es ist gewiß hier seit Goethe noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht so prinzipielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen.“ (an Gast 5.10.1879) (zitiert bei Jaspers S.47). Ein gutes Jahrzehnt später scheint er sich dann seiner Sache noch sicherer zu sein: Daß ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu atmen wissen würde, daß Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloß ein Gläubiger ist und nicht einer, der die Wahrheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal, daß die Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen, das ist alles das wenigste und gibt keinen Begriff von der Distanz, von der azurnen Einsamkeit, in der dies Werk lebt. (Ecce homo, Also sprach Zarathustra 6) Ja, und freilich, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, daß der Verfasser von „Menschliches, Allzumenschliches“ der Visionär der Zarathustra ist. (Ecce homo, Warum ich so klug bin 4) Wenn er sagt, er sei kein Mensch, er sei Dynamit: hat er eine entsprechende geistige Sprengkraft denn nicht entfaltet? Ja, wenn er Goethe übersteigt, den Universalmenschen, ist er dann überhaupt noch ein Mensch – oder so etwas wie eine transzendente Figur? Er ist es schon, denn wo Goethes Gedanken alle Welt betreffen, übersteigen sie bei Nietzsche alle Welt. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht: aber die Geistseele von Nietzsche ist eben/offensichtlich noch tiefer! Nietzsche (oder auch Schopenhauer) hat die Welt (im Gegensatz zu dem darin erfolglos bleibenden Faust) so vollständig geistig und seelisch durchdrungen, dass er sie unter sich gelassen hat – und so in einem Reich der absoluten noumenalen Freiheit lebt. Das ist, sozusagen, der Himmel; das ist, sozusagen, das Nirwana. Nietzsche mag größenwahnsinnige Tendenzen gehabt haben, aber er war auch – und vor allem – erleuchtet. Der Erleuchtete und der Welt-Überwinder hat einen riesigen Raum in sich und daher auch eine riesige Sprache um diesen Raum für sich und andere auszudrücken und zu durchmessen. Es man einen befremden (zumindest mich hat es das ursprünglich getan), wenn Prinz Gotama sich ohne große Not als „ich bin der höchste und heiligste Buddha“ Gehör verschaffen will: aber er ist eben der (höchste und heiligste) Buddha. Er hat die Welt überwunden;  er ist höher und heiliger als die Welt. Er hat extreme Anstrengungen dafür unternommen. Er darf sich als „der höchste und heiligste Buddha“ bezeichnen. Ich habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire — es hängt von den Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim „Wesen der Dinge“ – ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indischen wäre. (Nachlass Juli – August 1882,  4(2))

Allüberwindend bin ich und allwissend;

Von allem, was da ist, bin unbefleckt ich.

Allosgelöst, befreit durch Durstvernichtung,

Erkenner bin ich selbst – wem sollt ich folgen?

Mein Lehrer kann niemand heißen;

Meinesgleichen nicht findet man.

An Hoheit kommt mir gleich niemand

Hienieden und im Götterreich.

Denn ich bin in der Welt heilig,

Ein Meister, über den nichts geht;

Höchster Buddha allein, weil` ich

In des Nirvana kühlem Reich.

Friedrich Nietzsche ist vielleicht der größte Philosoph, den die Welt je gesehen hat (…) Seine Philosophie kommt nicht nur aus dem Kopf, sondern ist tief im Herzen verwurzelt, und ein paar Wurzeln reichen sogar tief hinunter bis in den Kern seines Seins. Das Unglück mit ihm ist nur, daß er im Westen geboren wurde – das sagt dazu Osho/Bhagwan(S.11). Bhagwan war eine Art Zarathustra des zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bezeichnet ihn als einen „Wittgenstein der Religion“, einen Meta-Reflektierer von Religion (oder aber parallel zum Meta-Philosophen wäre er eine meta-religiöse, meta-heilige Gestalt). Bhagwan spricht viel über Nietzsche, und er zeiht Nietzsche, reich an Geist, aber arm an Leben gewesen zu sein – sein Unglück sei, dass er im Westen geboren wurde. Einen aristokratischen Brahmanen sieht er nicht in ihm: Der Mensch ist so taub, so blind, daß es für ihn praktisch unmöglich ist, Menschen zu verstehen, die von höheren Bewußtseinsebenen herab reden. Er hört den Schall, aber der Sinn trägt nicht bis zu ihm. Nietzsche ist in dieser Hinsicht einmalig. Er hätte ein außergewöhnlicher, sehr übermenschlicher Philosoph bleiben können. Aber er vergißt keinen Augenblick lang den gewöhnlichen Menschen. Das ist seine Größe. Obwohl er nicht an die höchsten Gipfel gerührt hat und er die größten Mysterien nicht erfahren hat, treibt ihn dennoch das Verlangen, alles Erfahrene mit seinen Mitmenschen zu teilen. Sein Wunsch, mit anderen zu teilen, ist ungeheuer. (ebenda, S.12) Nietzsche selber bekennt: Ich möchte der Welt ihren herzbrechenden Charakter nehmen (Nachlass Juli – August 1882, 4(34)) Das ist das gute Prinzip! Wie aber nimmt man der Welt ihren herzbrechenden Charakter? Indem man das Herz unendlich vergrößert, oder aber den Geist, auf dass er die Welt überschreitet. Nietzsches Bewegung und Zarathustras Bemühen war ja dahingehend … Und es gibt Mondsüchtige, sagt Bhagwan, die immer nur nach dem Weitentferntem, dem Entlegenen suchen, und sie bewegen sich immer nur in der Einbildung. Große Dichter, einbildungsstarke Menschen – ihr ganzes Ego ist ins Werden verstrickt. Einer ist da, der Gott werden will – der Mystiker (…) Ein Buddha (aber) ist einer, der in die Erfahrungen des Lebens, ins Feuer des Lebens, in die Hölle des Lebens eingetaucht ist und sei Ego zu seiner höchsten Möglichkeit, zum äußersten Höchstmaß ausgereift hat. Und genau in dem Moment fällt das Ego ab und verschwindet (…) Es gibt sieben Türen. Wenn das Ego vollkommen ist, sind all diese sieben Türen durchschritten worden. Danach fällt das reife Ego ganz von allein. Das Kind ist vor diesen sieben Egos, und der Buddha ist hinter diesen sieben Egos. Es ist ein vollendeter Kreis – der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring von der Erlösung von der ewigen Wiederkunft. Nietzsche versuchte den Buddha zu übertreffen – und er versuchte Schopenhauer zu übertreffen – indem er die ewige Wiederkehr freudig bejahen will, da sein Karma und sein Ego noch tief in die Welt verstrickt waren: aber wie wir noch sehen werden, ist diese Idee nicht nachhaltig. Der Mensch ist ein Werden. Mit dem Entstehen des fünften Verstandes, des Buddhaverstandes, des Christusverstandes, wird der Mensch zu einem Sein (…) Du bist zum ersten Mal ein Sein, Werden gibt es nicht mehr. Der Mensch ist über sich hinausgegangen, die Brücke gibt es nicht mehr … Alles ist vergangen, der Alptraum ist zu Ende (…) Dann ist der Mensch nicht mehr Mensch, da der Mensch nicht mehr Verstand ist. Dann ist der Mensch Gott. Und nur das kann erfüllend sein, sonst nichts. Und gib dich nicht zufrieden mit etwas Geringerem! Der Übermensch ist etwas Geringeres als ein Gott. Nietzsche scheint ewig vom Werden gesprochen zu haben, weil ihm das Sein nicht bekannt war? Weil er selber nicht ganz „war“, einen stabilen Zustand nicht erreicht hat? – Was ist der Grund dafür, dass Bodhidharma aus dem Westen kam?, lautet zufällig, ebenso verklausuliert wie handgreiflich-einfach die Frage nach dem Wesen, der innersten Essenz des Zen-Buddhismus, dem tiefsten Geheimnis der Welt. Zusammendenken von Ost und West ist sicherlich gut. Sie scheinen sich, irgendwie, zu ergänzen. Für den Übermenschen, der die Erde beherrschen will, ist dieses Zusammendenken auch ganz einfach eine Notwendigkeit, und Nietzsche selbst hatte eine deutliche Hochachtung gegenüber dem Buddhismus. Bhagwan, der aus dem Osten in den Westen kam, lehrt uns nicht allein Weisheit des Ostens, sondern auch, von einer falschen Romantisierung des Ostens Abstand zu nehmen: … Im Osten haben die Menschen sehr, sehr fragmentarische Egos, und sie halten es für leicht, sich hinzugeben … Ein Fingerschnippen, und sie sind bereit, sich hinzugeben – aber ihre Hingabe geht nie sehr tief … Genau das Gegenteil ist im Westen der Fall. Die Leute, die aus dem Westen kommen, haben sehr starke und entwickelte Egos … Der bloße Gedanke an Hingabe wirkt abstoßend, erniedrigend auf sie. Aber das Paradox ist, dass wenn sich ein westlicher Mensch, Mann oder Frau, hingibt, die Hingabe wirklich tief geht… Versuchen wir also, das Beste daraus zu machen. Der Westen hat das Individuum, die moderne Wissenschaft, der Osten das im Kollektiv aufgehende Individuum und die „Weltseele“. Der Westen kennt eine Physik und eine Metaphysik. Der Osten kennt eine „taoistische“ Prä-Metaphysik, die Konfrontation mit einer Tabula Rasa, die gleichzeitig aus sich heraus produktiv ist, Potenzial ist, als dem Seinsgrund, dessen Produktionen und Perzeptionen ständig wechseln können, und er lehrt uns Flexibilität in der Anpassung an diese Erscheinungen. Der Westen kennt die Erkenntnis, der Osten kennt die Erleuchtung. Erleuchtung bedeutet, dass man sich frei durch den Erkenntnis-Raum bewegen kann, zu aller Erkenntnis fähig ist. … Jenseits der vierten Stufe des universalen Verstandes gibt es noch die fünfte Stufe, die letzte, wenn du sogar über den universalen Verstand hinausgehst. Denn auch nur zu denken, dass es der universale Verstand ist, ist denken. Gewisse Ideen vom Individuum und vom Universum bleiben noch in dir zurück. Du bist dir noch bewusst, dass du bist eins bist mit dem Ganzen, aber du bist und du bist eins mit dem Ganzen. Die Einheit ist noch nicht total, sie ist nicht vollendet, sie ist nicht endgültig. Wenn die Einheit wirklich endgültig ist, dann gibt es nicht Individuelles, nichts Universales. Das ist der fünfte Verstand: Christusverstand. Ich möchte euch sagen, und lehre euch: Zu den höchsten Genüssen, und zu den höchsten Notwendigkeiten – in Bezug darauf, der Welt ihren herzbrechenden Charakter zu nehmen – gehört dieses Zusammendenken und Zusammenerleben von Ost und West. Lasset uns zusammendenken Ost und West! Wer das tut, der beherrscht die Vier Himmelsrichtungen! Er nimmt der Welt ihren herzbrechenden Charakter. Nietzsche muss man dafür kennen. Zoroaster lebte zwischen Osten und Westen. Bhagwan war, wie gesagt, eine Art Zarathustra des zwanzigsten Jahrhunderts. Sloterdijk bekennt, mit einem Bhagwan-Zitat macht man sich lächerlich unter Fachphilosophen. Deshalb stehen sie ja da. Ich will der akademischen Philosophie ihren herzbrechenden Charakter nehmen.

Auf dass der Lehre Rad rolle,

Ziehe ich hin zur Käsistadt.

In dieser blinden Welt rühr` ich

Die Trommel der Unsterblichkeit

Meinesgleichen die Siegreichen

Aller Gefahr entronnen sind.

Alles Böse besiegt hab´ ich:

Sieger drum heiß ich, Upaka

Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und –Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist, dämmert es bei Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (14) (was ihn allerdings nicht daran hindert, ein paar Paragraphen weiter zu diktieren: Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts außerdem (36), einerseits also die Früchte der bravsten wissenschaftlichen Anstrengungen zu relativieren, dann aber seine eigene – subjektive und höchst fragwürdige – Anschauung zu verabsolutieren). Nietzsches Anti-Totalitarismus in Bezug auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, sein intelligentes Hinterfragen und Relativieren im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen unseres Erkenntnisvermögens – was er im ersten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches an überraschenden und kreativen Einsichten diesbezüglich aus dem Hut zaubert beispielsweise ist wieder einmal durchaus magisch-verblüffend – ist grundsympathisch und prä-postmodern. Es schärft unseren Sinn für den Skeptizismus und den Facettenreichtum des Lebens – es schärfe unseren Sinn für die mannigfaltigen Gestalten von Wissenschaft und Wahrheit. Nur, was Nietzsche tut – einerseits sämtliche Wissenschaft und Wahrheit infrage zu stellen, und dann andererseits sehr subjektive und hanebüchene Einschätzungen als „Wahrheiten“ hinzustellen – geht dann doch zu weit. Nietzsche ist ein authentischer Wahrheits-Sucher, der dabei fortwährend auf Abwege gerät, was sich daran zeigt, dass er Wahrheit an sich leugnet. Wahre Wahrheit ist ein fortwährendes Verfehlen von Wahrheit, nimmt Heidegger Bezug auf Nietzsche (Nietzsche Band 1, S.559). Das ist aber so, weil die Suche von Wahrheit fraktal ist, und das Auffinden von Wahrheit meistens Hinweise auf noch tiefere Wahrheiten gibt. Nietzsche sieht anstatt der fraktalen Tiefenstruktur der Wahrheit und der Welt aber nur ein (unverbindliches) „ästhetisches Phänomen“, über welches sich die Welt allein rechtfertige. Der Gesamt-Charakter der Welt ist Chaos, daran delektiert sich Nietzsche wiederholt. Der Gesamt-Charakter der Welt ist aber der Chaosmos, das Zusammenspiel von Ordnung und Zufall. Ohne Stabilität der Naturgesetze und Naturkonstanten zum Beispiel, ohne wiederkehrende Verhaltensmuster etc. gäbe es nämlich gar keine Welt! Wer nur das Chaos in sich trägt, kann keinen tanzenden Stern gebärden, denn weder Sterne noch Choreographien können chaotisch sein! Ja, das versteht ja jeder, der will! Nietzsche aber will es offenbar nicht gerne verstehen: Und der Grund dafür ist, daß Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden. (Lou Salomé, S.91) Also die Nietzscheanische Überbetonung des Dionysischen gegenüber dem Apollinischen. Das Dionysische ist aber die Instabilität. Also eine Art chtonischer Urgrund oder aber Geistes- und Seelentiefen, aus denen alles aufsteigt, ein Urgrund von Kultur und Zivilisationsleistungen – die aber eben über das Apollinische als solche in Form gebracht werden: oder aber eben ohne dieses nicht! Nietzsche leugnet immer wieder das „Ding an sich“ und die Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Damit gerät er in die Nähe der Chinesen, die in der blumigen, allegorischen, ambivalenten Sprache ihrer Weisheit zwar dem ambivalenten Charakter der Lebenswelt gut Rechnung tragen, aber auch kein Ding an sich kennen; und damit kein Ideal der Exaktheit, der schlussfolgernden Logik und eben der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit, mithilfe derer der europäische Wille zur Macht die Welt erobert hat, während China Jahrhunderte geschlafen hat. Der Versuch der Scheidung von Erscheinung und Ding an sich ist das Um und Auf der Wissenschaftlichkeit; indem Nietzsche das unterlässt gerät seine „Philosophie der Zukunft“ wissenschaftlich wie dann eben auch moralisch in eine der archaischen Vergangenheit, in eine Philosophie des Dschungels. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt bleibt noch übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!  (Götzen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde) (Heidegger zufolge ist der Nietzscheanische „Immoralist“ einer, der zwischen „wahrer“ und „falscher“/scheinbarer Weltordnung keinen Unterschied macht – Nietzsche Band 1, S.566) Tatsächliche, sehr robuste Qualitäten werden so aufgeweicht (was aber nichts macht, denn: Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns: kein „an sich“. (Nachlass Sommer 1886 – Herbst 1887, 5(36))) Nietzsches gutgemeinter „Perspektivismus“ ist förderlich, wenn wir uns ambivalente, facettenhafte und vielfältige – soziale oder politische – Realitäten vergegenwärtigen wollen: diese bekommt man tatsächlich nicht über einen bestimmten Standpunkt oder eine bestimmte Formel möglichst gut in den Griff, sondern bestenfalls dann, wenn man sie aus möglichst vielen Perspektiven und über möglichst viele Standpunkte betrachten kann. Er öffnet aber auch unermessliche, betrachterabhängige Interpretationsspielräume und daher Möglichkeiten, allerhand Blödsinn zu behaupten, wo Eindeutigkeit und Verlässlichkeit gefragt ist. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (Die fröhliche Wissenschaft 374) Ich habe einmal in einem Buch von Donald Trump geblättert, in dem der große Geschäftsmann und Präsident Tipps zum Vermögenserwerb gibt. In seiner coolen Art räumt er ein, dass die Leute in ihrer Vielheit natürlich auch viele verschiedene Meinungen und Sichtweisen zu den Dingen hätten. Die meisten wären allerdings das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben sind.

Gemäß Otto Weininger ist der Sinn des Lebens die gleichzeitige Verwirklichung von Ethik und Logik (und dass er im Rahmen seiner einerseits grandiosen, andererseits hasserfüllten und tendenziösen Philosophie/Individualethik beides letztlich verfehlt hat, war offenbar (im konkreten oder übertragenen Sinn) der Grund für sein frühes Hinscheiden). Ethik und Logik bilden das Kreuz der Welt, die erzene, unzerstörbare Verstrebung, die stärker und dauerhafter ist als aller Weltlauf. Nietzsches Verweichlichung und letztlich Verabschiedung der Stabilität der Logik scheint gleichsam mit seinem Abgesang auf die Verbindlichkeit der Ethik in einer Linie zu stehen; seine Leugnung von wissenschaftlich bestimmbarer Wahrheit ist dann eben auch eine Leugnung von moralischer Wahrheit. So wird bei ihm alles „dionysisch“ und verliert die Konsistenz. An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt allen Sinns; an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten, nichts „Unrechtes“ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. (Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 11) Ein Zitat von vielen möglichen, in denen Nietzsche eine amoralische Sicht auf die Welt beschreibt – genauer gesagt, sich ihrer vergewissern will: denn dass Leben all das ist, aber eben auch, und vor allem, nicht nur und mehr als das, erkennt abermals jeder, der will. Indem Nietzsche nicht nur eine (diskutierbare) sittliche Weltordnung (also, als etwas ontisch Verankertes) leugnet, sondern auch die Valenz von menschengemachter Moral und Sittlichkeit, genauso wie eben die Valenz von Wissenschaftlichkeit und Wahrheit, macht er es sich leicht und kann daraus ein ihm genehmes Art Recht des Stärkeren ableiten und legitimieren. Nichts ist seltener unter den Philosophen als intellektuelle Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese „Wahrheiten“ einig sind. Da sind z. B. die moralischen Wahrheiten. (Nachlass Frühjahr 1888, 15(25)) – So wird hier nun aber vielmehr der unkorrumpierbare Wahrheitssucher Nietzsche zum Opportunisten und Subjektivisten. Lichtscheues Gesindel!, daran mag man die erkennen, die das Licht der (ethischen und logischen) Wahrheit scheuen. Was aber verbergen sie? Liegt es daran, daß sie insgeheim selber Furcht davor haben, daß man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, wer sie sind? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzu hellen Licht, an welches ihre dämmernden, leicht zu blendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so daß sie es hassen müssen? (Menschliches, Allzumenschliches 2, Vermischte Meinungen und Sprüche 7) Da hat man den Philosophen mit dem Hammer einerseits, seine gewalttätige und überströmende Philosophie, die auf so beispiellos hohem Niveau dann ebenso beispiellos Mitleid, Religion, Demokratie, Wahrheit und Ethik (also die Grundlagen für Zivilisation) verwirft. Und dann andererseits den ebenso beinahe beispiellos milden, gütigen, zu jedermann freundlichen und entgegenkommenden, mitleidenden Nietzsche, der schon als Kind „von unnatürlicher Bravheit“ war. Hat er sich wohl wegen dieser Bravheit gehasst, sie (fälschlicherweise) als Schwäche an sich wahrgenommen? Wollte er das Licht der Wahrheit nicht auf sich fallen lassen, weil er im Innersten – böse war? Mit seiner Ablehnung von eindeutigen und universalistischen moralischen Unterscheidungen könnte sich Nietzsche auf jeden Fall ein weiteres Mal mit den Chinesen zusammentun; ihrem relativistischen und situationalen Moralverständnis, das sich in seinen Verpflichtungen (in erdrückender Weise) auf die Familie und den eigenen Kreis beschränkt, weniger aber auf Außenstehende und schon gar nicht auf Fremde; das ambivalent und opak ist, was dann also ein opakes und intransparentes Reich erzeugt, das von gleichmacherischen Kaisern und Kommunisten und ihrem Terror und ihrer Korruption zusammengehalten wird, starren konfuzianischen Regeln und einer idiotischen Ritualistik, in dem es keine Zivilgesellschaft gibt, keine Aufklärung und Herdenmenschentum anstelle von Individualität. Irgendwie dem Gegenteil vom alten griechischen Ideal. Das „Chinesentum“ lehnte Nietzsche (wenngleich aus anderen Gründen) ab und behandelte es despektierlich. Mit zunehmenden Jahren fasziniert sich Nietzsche immer mehr für das Böse und blickt mit einem faszinierten Wohlwollen nicht nur auf Gewaltmenschen und Eroberer sondern auch auf „den Verbrecher“, einerseits, weil er mit dessen vermeintlich authentischer Kraft und seinem transgressiven Wesen sympathisiert, andererseits, weil „das Böse“ etwas ist, das Nietzsche gerne in sich selbst freilegen möchte – oder aber konstruieren – im Rahmen seiner Selbststeigerungsphilosophie, die nicht allein das Gute isst und verdaut, sondern auch das Böse: um so also jenseits von Gut und Böse, in scheinbarer Transzendenz zu sein. Hatte der gehemmte Nietzsche Lust auf Böses? Oder aber ein verborgenes Böses in sich auszuleben? Die Aggressionen gegen das, was er als seine Schwäche wahrnahm? Hierauf gibt es eine ganz klare und einfache Antwort, und die ganz klare und einfache Antwort hierauf lautet: — (unleserlich)

Der Grund dieses Versagens könnte sein, daß Nietzsches Kommunikationswille letzthin ohne Bindungen an das Selbstsein des Anderen, daher kein eigentlicher Kommunikationswille wäre. Nietzsche ist ungemein liebenswürdig, er arrangiert, ist hilfsbereit und von ungewöhnlich aktiver Hilfe, aber er scheint immer nur sich und den Andern nur als Gefäß des Seinigen zu lieben: ihm fehlt die wirkliche Hingabe an einen Menschen (…) Er will das Höchste und beurteilt in diesem Maße richtig; aber er läßt jeden anderen in seiner Verstrickung oder Verengung (…) Litt er an der Einsamkeit im Grunde noch mehr, weil er nicht liebte, als weil er nicht geliebt wurde? (Jaspers S. 86) Trotz seiner, und vor allem in seiner expansiven Kraft, seines weltumsegelnden Geistes, seines schon früh vorhandenen Dranges, sich ein „Universalwissen“ anzueignen, seines psychologischen Genies (also, wie man meinen würde, seines tiefen Interesses am Menschen) und seiner guten Manieren kann man sich Nietzsche in der eigentlichen Konsequenz – vielleicht, eventuell, hypothetisch – als ziemlich ich-bezogen vorstellen. Sein Sein ist kein eigentliches Mit-Sein. Trotz seiner übergroßen ästhetischen und emotionalen Empfänglichkeit, Zarathustras gutem Rat, sich das Leben erträglicher zu machen, indem man sich mit „kleinen, guten Dingen“ umgibt, dem schimmernden Reichtum, der in seiner Philosophie und Dichtung liegt, seiner Mitleidigkeit usw., hat man bei Nietzsche wenig Hinweise auf ein lebendiges, emotionales oder empathisches Verhältnis zu dem, was ihn umgibt. Dass er sich mit kleinen, guten Dingen umgeben hat, war eher nicht der Fall. Kinder oder Tiere, von denen sich die Seele des Genies normalerweise wie magnetisch angezogen fühlt, haben ihm nicht viel bedeutet. Er hatte ein (wahrscheinlich weniger „unterdrücktes“ als ein) eher flüchtiges Interesse an Frauen (oder, wie manche, die verkappte Homosexualität als Nietzsches eigentliches „Problem“ vermuten: an Männern). Seine Poesie – gemeinhin des Dichterherzens Oden an so Dinge wie Wald, Wiesen und Mond – hat vorwiegend sich selbst (oder Zarathustra) zum Gegenstand. Als Philosoph der Vitalist Nummer 1, war er kein Lebemann, kein Hedonist, als Jünger von Dionysos hatte er es nicht mit Wein (Wozu, wozu dir – Wein? richtet Nietzsche die Frage eines Wassertrinkers An Hafis – egal, ob Allahs trunkene Poeten – Hafis, Rumi, Omar Chayyam el al – Asketen waren oder durchaus auch weltlich dann und wann mal bei aller meditativer Versenkung sich einen über den Durst getrunken und über die Stränge geschlagen haben: Der Wein und der Rausch bei den (zumeist mehrdeutig dichtenden) Sufi-Dichtern steht für die große Liebe und die Vereinigung mit dem Göttlichen; also für etwas tatsächlich Empfundenes, während die Dionysos-Metaphorik bei Nietzsche dann doch vorwiegend intellektuell bleibt). Trotz aller möglicher Stärke und Entschlossenheit bleibt ein ich-bezogenes Sein, das das Mit-Sein nicht genuin kennt, schwach und verletzlich: vor allem, wenn sich im Leben Enttäuschungen einstellen. Von Anfang an fühlt sich Nietzsche bedroht, mit den zunehmenden Enttäuschungen immer mehr. Das hat einerseits sehr gute Gründe, denn solche Geister wie er leben gefährlich. Andererseits hat man neben seiner zunehmenden intellektuellen Aggressivität insgesamt ein ständiges Kreisen um „Stärke“ und „Schwäche“ – das letztendlich seine gesamte spätere Philosophie ausmacht – ohne dass man jeweils wirklich weiß oder ganz konkret nachvollziehen kann, was er mit seinem amor fati, seinem Willen zur Macht, seinem Übermenschen und umgekehrt in seiner obsessiven Fixiertheit auf Tendenzen und Phänomene der „décadence“ eigentlich meint, oder warum das für ihn so wichtig ist. Neurotiker nun fühlen sich ständig (und ohne rational gänzlich einsichtigen Grund) schwach, und haben umgekehrt ein Bedürfnis nach geradezu maßloser Stärke (mithilfe derer sich die innere („dionysische“) Instabilität überwunden werden soll). Wenn man für etwas (bei einem Menschen) keine rationale Erklärung findet, soll man aber letztendlich etwas Irrationales als des Pudels Kern vermuten. Wir Heutigen wissen jedoch den Grund nicht, warum das Innerste der Metaphysik Nietzsches von ihm selbst nicht an die Oberfläche gebracht werden konnte, sondern im Nachlaß verborgen liegt; noch verborgen liegt, obwohl dieser Nachlaß in der Hauptsache, wenngleich in einer sehr mißdeutbaren Gestalt, zugänglich geworden ist, wundert sich Heidegger über Nietzsche(Nietzsche 2, S. 35) Das ist deswegen so, weil das Innerste der Metaphysik Nietzsches die Neurose ist, und das Innerste der Neurose eine leere Ichbezogenheit ist. – Daher muss das Ich zerstört werden, um im Sein aufgehen zu können, und damit das “Ego” zum “Selbst” werden kann, sage bekanntlich ich immer. Auf der gesunden Seite seiner Philosophie und seiner Persönlichkeit hat Nietzsche das getan, auf der kranken nicht. Daher die interne Opposition. Wenn hingegen ich versuche, in mein Innerstes zu blicken, was stellt sich da dar? Eine friedliche Wiese/Weide, links ein Baum, leicht dunst/nebelverhangen, was sich aber sogleich lichten wird, in früher Morgendämmerung. Kein Hindernis steht im Weg, nichts was einen bekämpft, noch was einer bekämpfen müsste; eine große friedliche Ebene in früher Morgendämmerung, eine Ebene der Begegnung, der Ebene des Konx Om Pax. Der triumphalistische Mittag, wie bei Nietzsche, kommt mir weniger in den Sinn (allerdings auch deswegen, weil ich ihn von meinem privilegierten Blickwinkel aus natürlich bereits im Sichtfeld habe). Bei mir ist es ewiger früher Morgen, angehender großer Aufbruch in der Lichtung des Seins. Das kommt bei den Weibern sicherlich nicht so gut an. Aber wenn die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht sein soll, wie soll das entsprechende Innerste ihrer Metaphysik anders sein, als eben so?? Praktisch primordial bin ich, älteste Weisheit, das Ur-Eine, beziehungsweise das erste Licht, dass das Ur-Eine der Nacht von sich selbst scheidet und dadurch erzeugt. Ich glaube, das macht mir nicht mal Nietzsche nach. Es ist wahrhaft göttlich.

Nietzsches „osmotisches Mitleidenkönnen und -müssen“ (Safranski, S.167), was ihn als Person betrifft, und seine beispiellose Philosophie gegen das Mitleid. Als Versuch, über Schopenhauer und Wagner hinauszukommen und etwas Neues und Spektakuläres zu sagen, so kann man das hinsichtlich der intellektuellen Ambition vielleicht verstehen. Immer wieder macht er freilich deutlich, dass sein osmotisches Mitleidenkönnen und –müssen, eine Belastung für ihn ist. Man verliert Kraft wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. (Der Antichrist 7) Selber nannte er es seine „Ketten-Krankheit“: Emotionale Bindung, die ihn auf seinem Weg behinderte, der zu werden, der er war. (Prideaux, S.287f.) Bei so einem großen und tiefen Denker, der die ganze Welt reflektiert (und der dann dabei ein wenig (aber eben nur ein wenig) unter der Fuchtel von Mutter und Schwester steht), könnte man schon nachvollziehen, dass umfassendes Mitleiden anstrengend sein muss (Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. (Abhandlung über Der Werth des Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1))) Allerdings nur eher kurz. Genauso kenne ich den Konflikt, einerseits Positionen zu beziehen, die man als „aristokratisch“ bezeichnen könnte, und solche auch als solche zu verteidigen, während man im Herzen Sozialist und Kommunist ist und am liebsten die ganze Welt umarmen möchte. Allerdings macht sich dieser Konflikt auch nur punktuell bemerkbar, und nicht systematisch. Viel eher, als dass es einen belastet, ist das Mitleid und die Empathie ja gerade das, wodurch man sich zur höchsten Selbststeigerung siegreich vollendet und endgültig stabilisiert: im Mit-Sein – also, wenn man so will, in dem, was der „abgetane“ Schopenhauer propagiert hat, während sich Nietzsche in seiner Selbststeigerung verrannt und verzettelt hat, ohne beim Übermenschen (also: dem absolut mit-seienden Menschen) jemals anzugelangen. Durch das Mitleiden und die Empathie wird man zum offenen Raum und erweitert seine Grenzen ins Unendliche (so dass sich die Grenzen also, gemeinsam mit allen inneren Konflikten, aufheben). Nietzsche war aber, vor allem, im Herzen kein Sozialist oder Kommunist. Das „Himmelreich“ ist ein Zustand des Herzens – nicht etwas, das „über der Erde“ oder „nach dem Tode“ kommt (…) Das „Reich Gottes“ ist nichts, das man erwartet … es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…. (Der Antichrist 34) Damit ist der innere Reichtum des Religionsgründers gemeint. Das hat Nietzsche von Anfang bis Ende, bis zum Antichrist (erstaunlich) gut verstanden, und vor allem im Antichrist sehr gut beschrieben. Das „Reich Gottes“ ist da, wo permanent gute Beziehungen herrschen und hergestellt werden können. Wie geht das? Über den Intellekt, die Sinnesorgane, die ästhetische Rezeption, den Humor… insgesamt und vollständig geht das aber nur über die Empathie. Das hat Nietzsche eventuell nicht ganz so gut verstanden. Von Anfang bis Ende war Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch hat Nietzsche sozialem und demokratischem Reformismus bekanntlich entgegengearbeitet. Das eine war sein schon früh irgendwie vorhandener Überlegenheitsdünkel, der sich hinter der Maske der Freundlichkeit verbarg bzw. der mit einer durchaus authentischen Freundlichkeit unbehindert einherging, und den man bei einem überlegenen Menschen wie Nietzsche ja verzeihlich finden mag. Das andere war aber etwas, das man vielleicht am besten als eine neurotische Angst und eine Paranoia vor den unteren Schichten bezeichnen könnte, das jegliches Mitleid bei ihm mit diesen verunmöglicht hat und sich in seiner späteren Periode zu einem verfolgenden Hass gesteigert hat, zu Vernichtungsphantasien oder einer Faszination für das Kastenwesen. Denn alles andere, was noch lebt, ruft nein. Das Monumentale soll nicht entstehen – das ist die Gegenlosung. Die dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft um alles Große qualmend, wirft sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg, den der Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat. Dieser Weg aber führt durch menschliche Gehirne! Durch die Gehirne geängstigter und kurzlebender Tiere, die immer wieder zu denselben Nöten auftauchen und mit Mühe eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Denn sie wollen zunächst nur eines: leben um jeden Preis, schreibt er in seiner Zweiten Unzeitgemäßen (2), und anderorts. Dass man den Pöbel zurückweisen und in Schranken halten sollte, darüber kann man sich schon einig sein. So feindselig, wie Nietzsche immer wieder tut, sind „die Kleinen“ gegenüber allem Großen dann flächendeckend aber auch wieder nicht. Zur selben Zeit, während der Basler Professur, votiert Nietzsche gegen eine Arbeitszeitverkürzung von 12 auf 11 Stunden, für das Erlauben von Kinderarbeit ab einem Alter von 12 Jahren, sowie gegen die Zulassung von Arbeiterbildungsvereinen (Safranski, S.148). Die sinnlose und erbitterte, irrationale Feindseligkeit liegt hier wohl also auf Seiten von Nietzsche. War es eine neurotische Furcht vor irgendwelchen eigenen Minderwertigkeits- oder Insuffizienzgefühlen? Oder ein Neid auf das vermeintlich „einfachere“ Leben der Massen? Hatte Nietzsche eine paranoid gestörte Persönlichkeit? Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien, sagt Lou Salomé (S. 239). Aber was steckt dann eigentlich tief? So dass es mit besonderem Hasse verfolgt wird? Alles Tiefe ist klar, wie Nietzsche öfter bekräftigt. Tief und grundlegend erscheint so bei Nietzsche der psychologische Widerspruch an sich. Um über das Mitleid so zu phantasieren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel des Menschen liegen, da werden seine Ideale phantastisch. (Nachlass Frühjahr 1880, 3(30)) Naja, Schopenhauer hat sich aber immer, und so auch über seine Mitleidsethik, ganz klar ausgedrückt und ebenso glasklar hergeleitet und geschlussfolgert. Man versteht ihn, wenngleich es eventuell Schwierigkeiten macht, sich in seine Gefühlswelten hineinzuversetzen. Bei Nietzsches negativem Mitleidsideal versteht man den Kern nicht wirklich, man mag es drehen und wenden, wie man will. In seinen Polemiken gegen das Mitleid delektiert sich Nietzsche dann  natürlich auch (wieder einmal) daran, dass die Motivation für das Mitleid gemeinhin Egoismus sei und der Selbstbespiegelung der Tugendhaften diene. Vielleicht war es ja nicht der griesgrämige, aufbrausende Schopenhauer, der das Mitleid aus authentischer innerer Erfahrung nicht gekannt hat, sondern der osmotische Mitleidenkönner Zarathustra.

Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer als ein Nothstand (Morgenröthe 179), also spricht der letzte unpolitische Deutsche. Ja, mit zunehmender Selbststeigerung erhebt man sich in kosmische Dimensionen, der (obendrein meistens ziemlich dämliche und eitle tages-) politische Krimskrams gerät einem aus dem Fokus. Gut aber dennoch, wenn man sich in ihn nichtsdestotrotz hineinzoomen kann. Ordnung zu schaffen, richtige Unterscheidungen zu treffen, Zukunft zu gestalten: das ist ja der Sinn und die Aufgabe des Geistes. Zwar ist das bei Intellektuellen (bzw. Menschen allgemein) keine Seltenheit, aber die Unfähigkeit, das Soziale und das Politische angemessen zu reflektieren, oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ist bei Nietzsche schon auffällig. Angesichts seiner zahllosen und nur von ihm so produzierbaren Einfälle und Ideen, die er (mehr oder weniger) dazu hervorsprudeln lassen kann, mag er die auch interessanter und unterhaltsamer finden als trockene soziologische Analyse zu betreiben und seine einmaligen Ressourcen darauf zu verwenden. Wieder aber scheint man einen Ausdruck, eine Erscheinungsform eines Mangels an Mit-seinkönnen bei Nietzsche vor sich haben, der ihn einerseits (und jeweils im konstruktiven wie im destruktiven Sinn) unpolitisch, dann wieder überpolitisch (und über-politisch) macht. Zunehmend steigert sich Zarathustra in (gewalttätige) Regierungs-Phantasien hinein (die einfach nicht bloß metaphorisch gemeint sind). Man fragt sich, warum.

Von der Rangordnung der Werthe-Schaffenden (in Bezug aus das Werthe-Setzen)

  1. Die Künstler
  2. Die Philosophen
  3. Die Gesetzgeber
  4. Die Religionsstifter
  5. Die höchsten Menschen als Erd-Regierer und Zukunft-Schöpfer. (zuletzt sich zerbrechend) (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(258))     

Jetzt muss aber, wer die Erde regieren will, sich z. B. auch mit den Arabern und ihren unlösbaren Problemen im Nahen Osten gezwungenermaßen herumschlagen. Schau, wie er so langsam von der Erdoberfläche, in den Treibsand der Wüste herabgezogen wird und dort verschwindet, verzweifelt, gravitätisch; die Robe des Erd-Regierers verfängt sich im mächtigen Zahnrad, im langsamen aber sicheren Wüten der donnernd-stillen Walze, unmerklich, aber mit eiserner Konsequenz wird er ins Verderben gezogen; also begann Zarathustras Untergang etc. pp. Es ist vielleicht kein großer Vorteil, die Erde zu regieren. Da chille ich doch lieber ab und ziehe mir einen Ofen an kontemplativer Betrachtung rein, anstatt die Erde regieren zu wollen. Der Geist ist aktiv, und er ist aber auch (vorsichtig und) träge. Wenn der Geist chillt und sich einen ganz großen Ofen an kontemplativer Betrachtung reinzieht, auf was mag er dann kommen, was mag Zarathustra dann sprechen?:

Künstler (Schaffender), Heiliger (Liebender) und Philosoph (Erkennender) in Einer Person zu werden: – mein praktisches Ziel! (Nachlass Herbst 1883, 16(11))

Zur Überwindung der bisherigen Ideale (Philosoph, Künstler, Heiliger) that eine Entstehungs-Geschichte noth.

An die Stelle des Heiligen-Liebenden stelle ich den, der alle Phasen der Cultur liebevoll-gerecht nachempfindet: den historischen Menschen der höchsten Pietät.

An die Stelle des Genies setze ich den Menschen, der über sich selber den Menschen hinausschafft (neuer Begriff der Kunst (gegen die Kunst der Kunstwerke)

An die Stelle des Philosophen setze ich den freien Geist, der dem Gelehrten, Forscher, Kritiker überlegen ist und über vielen Idealen noch leben bleibt: der ohne Jesuit zu werden, trotzdem die unlogische Beschaffenheit des Daseins ergründet: der Erlöser von der Moral. (Nachlass Herbst 1883, 16(14))

Soll also bedeuten: Auf dem höchsten Level der Ausgereiftheit und der kontemplativen Betrachtung überschreitet der Geist alle Beschränkungen und Verständnisse, die in der Welt bisher vorhanden sind, und er erkennt, dass er damit wirkungsmächtig weltumgreifend Verständnisse erweitert und Beschränkungen zurückdrängt. Er regiert nicht allein im Reich der Gedanken, durch das er mühelos navigiert, sondern er greift – in all seinem ursprünglich un- und überpolitischen Charakter – tatsächlich regierend in die Welt ein. Er macht etwas unglaublich Profundes. Wenn Deleuze sagt: Philosophie ist keine Macht. Religion, Staat, Kapitalismus, Wissenschaft, Recht, öffentliche Meinung und Fernsehen sind Mächte, nicht aber die Philosophie, daher führe die Philosophie höchstens einen Krieg ohne Schlacht gegen die Mächte, eine Guerilla etc., dann, weil er, anders als Nietzsche, Platon oder Hegel, den/seinen Geist als allmächtig und erd-regierend, als weltumspannend oder –überschreitend offenbar nicht gekannt hat. Der große Geist aber ist allmächtig und leitet die große Transformation ein, die Philosophie als die Zusammenführung allen Geistes, auch wenn sie sich in Sein und Zeit mühevoll prozessiert, ist mächtiger als alle Welt. Bei Nietzsche kommen dann sein Dionysos-Kult und sein Wille zur Macht noch dazu. Diese ganze Denkweise nannte ich bei mir selber die Philosophie des Dionysos: eine Betrachtung, welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt und in der „Moral“ nur ein Mittel, um dem herrschenden Willen eine solche Kraft und Geschmeidigkeit zu geben, dergestalt sich der Menschheit aufzudrücken. (Nachlass April – Juli 1885, 34(176)) Er will, von seinem Wesen her, gestalten, regieren, herrschen, eingreifen, umformen. Aufgrund seines gespaltenen Wesens kommt es zu gespaltenen Ambitionen hinsichtlich der Politik. Politik muss sich mit dem Ungeist auseinandersetzen, und das will Nietzsche natürlich nicht. Gleichzeitig steht Politik aber auch mit dem Geist in Zusammenhang (und eben der Geist, wie erwähnt, aufgrund seines unterscheidenden, konstruktiven, analytischen und synthetischen, zukunftstiftenden Charakters und seiner inhärenten Sinnhaftigkeit, im Zusammenhang mit der Politik und dem Appell, der von der Politik an ihn ausgeht). Politik ist ein Mittler und Verhandler zwischen Ungeist und Geist, also von Partikularinteressen, die auf ein sinnvolles und harmonisches Ganzes hin abgestimmt werden sollen. Da Nietzsche schon früh ein einziges echtes Ziel der Menschheit und der Zivilisation anerkennen will: Nährboden für das Heranwachsen des sinn- und bedeutungsstiftenden (und darin, da für ihn die Welt ja nur als ästhetisches Phänomen „gerechtfertigt“ ist, vorwiegend künstlerisch-ästhetischen) Genies zu bilden; und da das Genie aristokratisch ist und von den plebejischen Massen bedroht bis gehasst wird, sympathisiert er mit aristokratischen Regierungsformen und hat eine, einerseits berechtigte, andererseits in ihrem eigentlichen Kern starrsinnig-irrationale (und auch aus dem Zeitkontext nicht verstehbare) Furcht vor allem Demokratischen und Sozialistischen. Ein einziges Mal in seinem Leben hat sich Nietzsche freiwillig unter „das Volk“ gemischt (und sich spontan an einen Tisch mit kegelspielenden und pokulierenden Soldaten gesetzt). Dass das Genie in aller Regel gleichzeitig aristokratisch und volkstümlich ist, ist Nietzsche entgangen. Laut Schiller ist das Genie sogar eben das privilegierte Wesen, das die verschiedenen und diversen Sphären der Lebenswelt und das Aristokratische und das Volkstümliche authentisch miteinander verbinden kann, und so eine über-politische kulturelle Klammer, ein Selbstverständnis für einen Kulturraum schaffen kann (so meinte er im Hinblick auf Goethe, wohl aber auch (und eher) auf sich selber). Im Gegensatz zu den wohlbeheimateten Goethe und Schiller ist Nietzsche das nicht gelungen, er bleibt aristokratischer Wanderer und sich in sadistische Phantasien gegenüber dem Volkstümlichen verzehrender Schatten. Politik ist, wie Hannah Arendt sagt, Management von menschlicher und gesellschaftlicher Diversität, und der Verschiedenheit unter Menschen. Die hat Nietzsche einerseits fasziniert, andererseits neurotisch abgestoßen. Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht: und meine größte Freude ist, dem individuellen Mustern zu begegnen, welche mir nicht gleichen. Hol der Teufel alle Nachahmer und Anhänger und Lobredner und Anstauner und Hingebenden! (Nachlass Herbst 1880, 6(50)) Nietzsche adressiert sich vorwiegend an das Individuum. Und sein facettierter und kreativer Geist mag Diversität. Nietzsche adressiert das Individuum in seiner Selbstheit, in seinem Werde, der du bist, in seiner Selbstkultur, in seinem (weltlichen) Seelenheil. Das ganz Individuelle und Persönliche sind Bereiche, die von der Politik nicht erfassbar sind, und wo Politik auch draußen zu bleiben hat (Nietzsches Ablehnung der inhärent totalitären Vergemeinschaftungsutopien der (radikaleren) Sozialisten (und wohl auch der ihm noch nicht bekannten Nationalsozialisten) hat da schon Berechtigung). Bei extremer Individualität kommt es leicht zu Paradoxien, die mitunter schwer auszuhalten sind (Der höchste Grad von Individualität wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Anarchie sein Reich gründet als Einsiedler. (Nachlass Herbst 1880, 6(60))). Dass er in der Anarchie zu leben hatte und nicht als wohlsituierter Brahmane, hat Nietzsche, in freilich seinem ganz ursprünglichen Aristokratismus, immer aggressiver gemacht. Von der Diversität der anderen bzw. des Gesellschaftlichen wollte er (wie freilich schon seit jeher) nichts mehr wissen, sondern sie möglichst gleich ganz wegsperren oder sie zu verformbaren Ton für seine dionysische Selbststeigerung plattwälzen. Das höchste Verhältniß bleibt das des Schaffenden zu seinem Material: das ist die letzte Form des Übermuths und der Übermacht. (Nachlass Herbst 1883, 16(32)) Also sprach Zarathustra zwar nicht vom Faschismus oder gar Nationalsozialismus, aber mit zunehmender Bewunderung vom (dem altgriechischen Ideal ziemlich entgegengesetzten) indischen Kastenwesen. Und von Politik hatte er von Anfang bis Ende einfach nicht wirklich eine Ahnung. – Herrschen? Meinen Typus Andern aufnöthigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer? Problem. (Nachlass Herbst 1883, 16(86)) Safranski gelingt es endlich, die Widersprüchlichkeit auf den Punkt zu bringen: Das Problem lässt sich so formulieren: Nietzsche ist nicht imstande, die Ideen der Selbststeigerung und der Solidarität miteinander zu verbinden oder sie doch wenigstens nebeneinander bestehen zu lassen. (S.308f.) Das ist deswegen so, weil Nietzsche im Herzen eben kein Sozialist und Kommunist war. Und er von höchst konstruktiven Impulsen in der lebendigen und bildenden Anrede des Individuums getrieben war, aber von höchst destruktiven gegenüber den „Massen“. Aber das war eben sein Problem (und nicht die von seiner Philosophie an sich). Die meisten politischen Karrieren enden im Versagen. Die von Nietzsche auch.

Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ichs ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? Der Blick des Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – ach! (Nachlass Mitte 1880er Jahre, aus dem Gedächtnis zitiert) Sokrates, der große Menschenprüfer und der weiseste aller Zeiten war also Pessimist, erheitert sich Nietzsche (und zwar will er das angesichts von Sokrates` grandiosen letzten Worten: Oh meine Jünger! Ich bin dem Heilande Asklepios noch einen Hahn schuldig! (also begleicht für mich bitte diese Rechnung) identifiziert haben wissen (Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 1)) Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurteilt: es taugt nichts … Immer und überall hat man ihrem Munde denselben Klang gehört – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermut, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. (ebenda) Naja, (auch wenn der Weise vom Typus her gemeinhin Melancholiker ist) so flächendeckend und generalisierend würde mir das gar nicht auffallen – aber dann war Nietzsche Pessimist? Nietzsche, der große Vitalist, Jünger des Dionysos, Verkünder der Lehre von der ewigen Wiederkunft und Prophet des Übermenschen – ein Lebensmüder nur, der eine Maske aufsetzt? Problem: Man hat (wie Nietzsche) von Anfang an keine sanguinische (sondern pessimistisch-tragische) Weltsicht. Noch erheblicheres Problem: Die Welt ist, nüchtern betrachtet, tatsächlich kein Ort, der eine sanguinische Weltsicht so einfach bestätigen würde. Bei Nietzsche dann aber auch: schäumender, heiterster Übermut, große Gestaltungskraft und ihr inhärenter großer Optimismus, eine ausgelassene (zumindest intellektuelle) Geselligkeit, eine kreativ-rauschhafte Sicht auf die Welt und den Weltprozess gleichermaßen. Man will nicht tragisch sein, sondern komödiantisch (bis, klarerweise, in die ganz unmittelbarste Emotionalität hinein, um furchtbare, eigentlich tödliche Depression abzuwehren). Problem dann also insgesamt: Wie macht man eine tragische, gottverlassene Welt fröhlich?

Mein neuer Weg zum „Ja“

Meine neue Fassung des Pessimismus als freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich wurden. „Wie viel „Wahrheit“ erträgt und wagt ein Geist?“ Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre.

Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig begreifen, sondern als wünschenswerth; ….. (Nachlass Herbst 1887, 10(3)(138))

Soll also heißen: Indem man den tragischen Charakter des Daseins ins Fröhliche verklärt; oder aber zumindest ins Künstlerische, wie man es als Grundthema bereits in der Geburt der Tragödie hatte. Indem man den tragischen Charakter des Daseins bejaht: Aufgabe des Übermenschen (oder des Überschurken, des Cesare Borgia, der sich aus diesem Chaos gebiert). Der schöpferische Geist, und vor allem das Genie, will nur eins nicht: defätistisch sein. Und schon gar nicht will einer wie Nietzsche defätistisch sein. Nietzsche haut mit seinem Stock auf den Tisch: Es muss doch etwas geben! Er verteidigt, seiner Natur gemäß, die Substanz gegenüber der Nichtigkeit, die Kultur gegenüber der Gleichgültigkeit der bloßen Natur. Nietzsche kämpft wie immer, seinen harten Kampf um die Substanz, und gegen die Nichtigkeit. Leben – das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben – das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: „Du sollst nicht töten!“ (Die fröhliche Wissenschaft 26) Goethes Stirb und werde und Nietzsches Werde, der du bist. Das sind beides so brauchbare Prinzipien! Nietzsche mit seiner Neigung, innere Konflikte in die Außenwelt zu projizieren, bereitet hier aber wieder seine eugenischen und Vernichtungsphantasien vor, die mit der fortwährenden Steigerung seines vitalistischen Pathos in den späteren Jahren dann einhergehen. Dabei hatte alles so gut begonnen, und stand im Zeichen von so großer Unschuld (die dann im Verlauf des Werdens verloren gegangen ist). Zwei der rührendsten Stellen in Nietzsches gesamten Werk sind: Ich habe beschlossen, mir Tristram Shandys Leben und Meinungen selbst zu kaufen und Don Quixote zum Geburtstag zu wünschen. Ich hoffe in sechs Wochen das nötige Geld, die zwanzig Silbergroschen zu besitzen. – (8. August 1859) Und sein Vorsatz zum neuen Jahre, mit dem er das Vierte Buch (Sanctus Januarius) der fröhlichen Wissenschaft einleitet: … Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief … Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen:  – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: da sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (Die fröhliche Wissenschaft 276) Neujahrsvorsätze haben es so an sich, dass sie immer wieder kaum eingehalten werden können. Verkünder einer Lehre zu werden, die nur in dem Maße erträglich ist, als die Liebe zum Leben überwiegt, die nur da erhebend zu wirken vermag, wo der Gedanke des Menschen sich bis zur Vergötterung des Lebens aufschwingt, das mußte in Wahrheit einen furchtbaren Widerspruch zu seinem innersten Empfinden bilden, – einen Widerspruch, der ihn endlich zermalmt hat. (Lou Salomé S. 255) (Freilich war es nicht dieser Widerspruch, der Nietzsche zermalmt hat, sondern organisch bedingter Wahnsinn und Tod. Aber wahrscheinlich hätte er diesen Widerspruch immer weiter prozessiert. Seinem widersprüchlichen Wesen gemäß. Und vor allem deswegen, weil dieser Widerspruch ja nur auf den tatsächlichen doppelgesichtigen Charakter der Welt Bezug nimmt.) Wie lebensspendend Nietzsches Vitalismus ist! Längere Zeit habe ich während meiner Jugend an nicht unerheblichen Depressionen gelitten. Dann, nach Jahren, die Situation: Freundin weg, Zivildienst (wegen ihr) in Steyr gemacht, Dienstmoped endgültig kaputt, bin in strömendem Regen durch die Senke wieder mühevoll die Anhöhe raufgegangen (ein völlig unsportlicher Mensch wie ich!), zu einem Patienten, wie an einem Nullpunkt der Existenz… da aber sagte alles in mir plötzlich: Amor fati! Amor fati, und möge dieser Augenblick ewig wiederkommen! Die Depressionen waren weg (auf viele Jahre) – und das alles dank Zarathustra! Das habe ich Nietzsche zu verdanken! Wie lebensspendend Zarathustras Vitalismus ist, und wie ewig charismatisch dadurch Nietzsche! Deswegen lesen ihn alle, wegen dieses Charisma! Ich frage mich, ob ich je ein solches Charisma werde entfalten können. Ob ich mit meiner vergrübelten, emotional unergründlichen Art je bei den Weibern ankommen werde. Allerdings ist das Nietzsche ja auch nie. Der mittelgroße Mann konnte in der Menge leicht übersehen werden, so Lou. Wir sehen eben nicht gut aus. So wie die verwegen-süßen E-Boys. Ich interessiere mich für die ganz nachwachsende, nach-millenniale Generation. Und da gibt es die E-Boys. Die E-Boys machen nichts als dunkle Kleidung und nervige, modische Scheitelfrisuren zu tragen. Ansonsten, von irgendeinem Inhalt her, geht es bei ihnen um nichts. Sie machen das, um die Soft Girls zu beeindrucken, die sich durch ein süßes, niedliches Erscheinungsbild definieren. Ansonsten geht es auch bei den Soft Girls um nichts. Ja, Aussehen ist eben das Wichtigste, das haben sie ganz erkannt. Ansonsten geht es in der Welt um fast nichts, nicht einmal um das Dionysisch-tragische. Der letzte Mensch lebt am längsten. Das Zeitalter des letzten Menschen bereitet allerdings, spricht Zarathustra, das Zeitalter des Übermenschen vor.

Dionysos

Versuch einer göttlichen Art, zu philosophieren

Von

Friedrich Nietzsche

(Nachlass April – Juli 1885, 34(182))

Mit dem Wort „dionysisch“ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens,… ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens;… die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens … Mit dem Wort apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen Individuum, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz. (Nachlass Frühjahr 1888, 14(14)) Das Dionysische ist ein doppelbödiges Prinzip. Einerseits orgiastische Produktivität und Formenwerfen aus dem Daseinsgrund heraus, andererseits eine zerstörerische Instabilität, die alle Formen wieder vernichtet. Das Dionysische meint die intensive Erfahrbarkeit von Selbst und Welt, Auflösung der Beschränkungen und Ich-Grenzen, die Erfahrbarkeit dessen, dass die Welt tief, und tiefer als der Tag gedacht ist – es ist etwas Lustvolles, und alle Lust will Ewigkeit (allerdings will sie das, zumindest in meinem Fall ja gar nicht: unwillkürlich will man bei aller Ausgelassenheit wieder einmal zur Ruhe kommen. Das ist so aufgrund des wandernden Geistes. Den lustvollen Augenblick braucht man nicht zum Verweilen einladen, noch dessen ewige Wiederkehr einfordern: Man braucht nur die Fähigkeit, allerhand Augenblicke und so genannte Kleinigkeiten als höchst amüsant und lustvoll zu empfinden: dann lebt man von sich aus in einer wohligen Sphäre. Wenn man dieses Feeling, dieses Feeling zum Feeling, die Fähigkeit zum Herstellen von guten Bezügen hat: das ist das Himmelreich; es liegt im eigenen Herzen. – Bei Nietzsche hingegen besteht das Leben aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns bestenfalls die Schattenbilder jener Momente umschweben (Menschliches, Allzumenschliches 1 586) und das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet … nicht aber auf glückliche Zeiten (ebenda 471). Natürlich will man aber nicht bloß ein paar glückliche Augenblicke, sondern es ist da die Hoffnung auf glückliche Zeiten (wenn nicht gar der Wille zur Macht, der halt auch alles Gute und Vorzügliche für sich einfordert: also spricht Zarathustra vom großen Glück, dionysisch zu empfinden… Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des triumphierenden Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus (…) Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. (Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke 4)). Und gleichzeitig ist das Dionysische ein Abgrund, den man unmöglich willkommen heißen kann, ein Chaos. Außer eventuell eben im Rausch, der beschwingt und übermütig und lustig macht (oder außer eventuell, man ist schmerzverliebt und sadomasochistisch). Auf Rausch folgt Kater. Vielleicht ist das Dionysische, wenn man so will, ein Nullsummenspiel, und der Versuch, sich darüber zu erheben, es gar zu bejahen, hauptsächlich (und auch von ihren inneren Möglichkeiten her) eine nutzlose Trotzreaktion. Dionysos ist ein primitiver, archaischer Gott, ein Ungeheuer. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. So wurde Nietzsche immer mehr zum dionysischen Abgrund, als Ausdruck, scheinbar abermals, eines Abgrundes innerhalb seiner selbst. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch“), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. (Die fröhliche Wissenschaft 370) Kurios und kuriöser: Beides scheint auch in einer Person zusammenkommen zu können! Noch kuriöser: Vielleicht ist hinter den besonders großen, weit ausholenden Gesten und der besonders orgiastischen Rhetorik der Kultur- und Geschichtsumgestaltung von Grund auf in Philosophie und Kultur (und anderswo) die übergroße, positive Gestaltungskraft ein Elternteil, das übergroße, negative Ressentiment und der (nur ungenügend oder scheinbar differenzierende) Wille zur Zerstörung der andere (vgl. dazu also auch Rousseau oder Marx oder Wagner? (nicht aber Schopenhauer?))? Nietzsche spricht vom „romantischen Pessimismus“, den man bei Schopenhauer und Wagner habe, als einer Art Verklärung des inhärent tragischen Charakters des Seins. Er aber will halt mehr, er aber will auch was sagen, und so spricht er halt, fröhlich und gleichsam in aller Unschuld kindlich-triumphierend – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipssisimum (ebenda) – vom „dionysischen Pessimismus“, als einer Artisten-Metaphysik. Eine unglaublich kraftvolle vitalistische Geste, wieder einmal, die Nietzsche unsterblich macht. Allerdings auch auf eine Begrenzung verweist, die möglicherweise weniger in der Welt, sondern im Nietzsche-Subjekt selbst liegt – von Anfang bis Ende. Und der Grund dafür ist (scheint!), daß Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnisvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermaß gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden, umLou Salomé (S. 91) nochmals zu bemühen, mit der er auch das berühmte Foto vom Weib mit der Peitsche, das hinter Nietzsche steht, aufnehmen hat lassen. Es hat also auch was irgendwie Sadomasochistisches an sich. Sadomasochismus kann ein reines, vitalistisches, orgiastisches Spiel sein, eine Steigerung der gewöhnlichen Sexualität, aber auch, und wohl meistens, was Gezwungenes haben. Das Zusammenspiel von Apollinischem und Dionysischem, als gleichsam (aber eben: gleichsam) Urprinzipen, sehe ich übrigens auch. Wobei das Apollinische einfach das Analytische (in allen möglichen Hinsichten) ist, das Dionysische das Synthetische. Ich habe mir dazu noch mehr notiert, aber es scheint eben verlorengegangen. Aber es wird schon wiederkommen.  

Das Dasein ist laut Nietzsche Wille zur Macht, ewige Wiederkehr des Gleichen; und das Subjekt, dass auf diese Prinzipen reflektiert, der Übermensch, ist der „Sinn der Erde“. – Philosoph sein ist nicht leicht. Es wird von einem verlangt, Antworten zu geben auf Fragen, die keiner richtig beantworten kann. Sich was auszudenken, wie was sein könnte, wo die exakten Wissenschaften im Dunklen tappen. Das mag bisweilen komisch sein, hinsichtlich der Intention wie auch der Ergebnisse, allerdings schreiend komisch ist es auch wieder nicht. Den großen Künstler und Philosophen, den großen Menschen, zeichnet es (wie auch Nietzsches Bekannter Jacob Burckhardt sagt) aus, dass er innerhalb des Weltganzen aufgeht, mit dem Weltganzen in einem bewussten Zusammenhang steht, und das Weltganze ausdeutet. Auch Heidegger meint: Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der Philosophie: „Was ist das Seiende?“ (…) Dagegen soll der Hinweis darauf, daß Nietzsche in der Bahn des Fragens der abendländischen Philosophie steht, nur deutlich machen, daß Nietzsche wußte, was Philosophie ist. Dieses Wissen ist selten. Nur die großen Denker besitzen es. Die größten besitzen es am reinsten in der Gestalt einer ständigen Frage. Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet, auch Nietzsche bleibt in der Leitfrage. (Nietzsche 1 S.2) Es ist tatsächlich keine kleine Frage, was das Seiende ist. Diese Frage stellt sich eventuell jeder (zumindest ein paar Sekunden lang während des Lebens) und irgendeine Antwort darauf hat jeder (die ein paar Sekunden lang ist). Aber tatsächlich offenbar nur ganz wenige denken permanent darüber nach bzw. auf einem derart hohen Niveau der Abstraktion. All seine Kunst sei nur ein Versuch gewesen, eine Antwort zu geben auf die Frage: Was ist das Dasein?, hat Samuel Beckett einmal gesagt (und sogleich hinzugefügt, als denkender Mensch eben, dass er trotz all seiner Leistungen das Gefühl habe, stets nur an der Oberfläche gekratzt zu haben). Ich glaube nicht, dass es noch sehr viel mehr Schriftsteller pro Jahrhundert gibt, deren grundlegende Frage und Motivation auf einem solchen Abstraktionsniveau angesiedelt ist (und darum scheint das eine die Literatur von Beckett, Kafka oder Pessoa zu sein, das andere eben dann die andere Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts). Die Welt ist also laut Nietzsche Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen. Und, mehr noch, nur diejenigen hätten ihn wirklich verstanden, die seinen tiefsten Gedanken, der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verstanden hätten. Beides, sowohl das mit dem Willen zur Macht und auch der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ist sowohl verständlich als auch unverständlich, und mag somit leicht den Sog von ahnungsvollen Tiefen erzeugen (die dann aber eventuelle eine Täuschung sind). Der Wille zur Macht referiert auf etwas, das unter Menschen und Lebewesen im Allgemeinen einigermaßen vorhanden ist. Wie weit kann man das aber substantialisieren, letztendlich sogar als eigentliches, ausschließliches Weltprinzip? Mit dem Fortschreiten seines Philosophierens und also auch der erstaunlichen analytischen Auflösung von allen möglichen starr vorhandenen Konzepten in Philosophie, Wissenschaft, Moral und Alltag wird Nietzsche gleichzeitig immer starrsinniger in seiner Behauptung, alles in der Welt, das Ding an sich, sei Wille zur Macht – und nichts außerdem (so als wie wenn es sich dabei eben um das Ding an sich in der Psychologie von Nietzche gehandelt hätte…). Die „naturwissenschaftliche“ Basis des kosmischen Konzeptes von der ewigen Wiederkehr des Gleichen hinwiederum ist: Ein endliches Quantum an Kraft und Materie wird, in gegenseitigem Aufeinandereinwirken (also über den Willen zur Macht) ständig neue Formen werfend, durch einen unendlichen Zeitenlauf gejagt. Was also bedeuten würde: dass also alle konkreten Formen und Transformationen immer wiederkehren müssen. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in der zeitgenössischen Kosmologie (der Theorie der Multiversen oder aber Penrose´s „Zyklen der Zeit“). Das ist das eine: dass eine solche Möglichkeit der Weltinterpretation besteht. Das andere aber ist: wieso man sich gerade für eine solche entscheidet. Die ewige Wiederkehr des Gleichen erscheint als ein großes Paradigma einer allgegenwärtigen Präsenz des Daseins. Es spielt sich nicht, jeweils vorgeblich eigentlich oder uneigentlich in einer Vorder- oder Hinterwelt ab, sondern in einer, der unmittelbar gegebenen Welt. Es ist dynamisch und die Dinge, die passieren, die Dinge, die mit einem passieren, sind aufdringlich. Man könnte sagen: diese Ewigkeits-Metaphysik lässt uns den Augenblick umso intensiver erleben. Dann aber eben auch: das Elend und die Elenden, die immer wiederkehren, ohne je eine Aussicht auf Besserung. Jeder tatsächlich intelligente Mensch kennt das, und es ist eine erschreckende Vorstellung: macht es deswegen aber nicht notwendigerweise zu einer Philosophie, gar zu einer Basis für Philosophie. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist nichts, was man will. Außerdem schafft hier Nietzsche einen Widerspruch zu sich selbst.  Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat (…) Eine Art Einheit, irgend eine Form des „Monismus“: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit (…) aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! (Nachlass, November 1887 – März 1888, 11(99)) Gleichzeitig setzt aber eben Nietzsche mit seiner Metaphysik dann wieder lautstark ein solches Allgemeines, und unterwirft die konkreten Erscheinungen dann darunter – um wieder erneut befreien zu können, indem er den Übermenschen postuliert.  Nietzsche befreit zunächst das Werden, verkündet die Unschuld des Werdens, ruft eine befreite, gottlose Welt aus, eine überschäumend-dionysische. Er befreit also von der sphärischen Ganzheit, der Organisierung und einengenden Systematisierung der Welt. Dann aber, gleichsam, macht er wieder einen Schritt zurück, indem er die Welt systematisiert und konzeptionalisiert als Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr der Gleichen! Natürlich eben, der große Philosoph, der mit dem Weltganzen im bewussten Zusammenhange steht, muss diesen Zusammenhang ja aussagen. Die Sucht nach einem Zusammenhang, und sei es auch ein nihilistisch-negativer, ist dem Menschen (als dem Tier, das abstrakte Zusammenhänge herzustellen vermag) wesenseigen. Er muss sich etwas ausdenken. Im Wesentlichen hat er sich mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht eine Systematisierung des Dionysischen ausgedacht – das Dionysische kehrt hier also wieder. Das „Dionysische“ hat es an sich, dass es nicht fortschrittlich ist, sondern, in seiner überschäumend-tragischen Bewegung, statisch und stationär.

Welt-rad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel:

Noth – nennt´s der Grollende,

Der Narr nennt´s – Spiel…

Was Nietzsche dann eben will, ist aus der Empfindung der Not eine Empfindung des heiteren Spiels zu machen. Wer das tatsächlich schafft, sei (obwohl Nietzsche hier eben vom Narren spricht) der Übermensch, der das Leben und das Dasein umfassend bejaht – der Sinn der Erde. Und Lou addiert, nur der Umstand, daß der Weltverlauf kein unendlicher, sondern ein sich in seiner Begrenzung stetig wiederholender ist, macht es möglich, ein Ueberwesen zu construieren, in dem der ganze Weltverlauf ruht und sich abschließt. (S.265)  – Nirgendwo aber hat Nietzsche dann eben den Übermenschen wirklich deutlich gemacht. Zarathustra bleibt dessen Prophet, Nietzsche hat ihn nicht wirklich erreicht. Im Gegensatz zu seiner stationären Metaphysik spricht Nietzsche, im Hinblick auf den Übermenschen, (fast) immer nur als etwas urtümlich Verbundenes mit der Zukunft. Und jetzt will ich selbst einmal etwas sagen: Nietzsches hier so konzipierter und empfundener Übermensch geht mir nicht weit genug. Er triumphiert über die Welt und den Lauf der Welt, indem er ihn durchreflektiert, durchlebt und verinnerlicht, er tut also das, was der Mensch macht: er schafft auf der Basis von Natur eine Kultur. Aber, wenn ich mir das so ansehe, bleibt er dabei im kosmischen Strudel gefangen. Wieviel besser ist es wohl, einfach außerhalb davon zu sein! Jenseits von Gut und Böse bin ich zwar nicht, aber, wie ich fühle, bin ich jenseits von Leben und Tod. Es ist, zugegebenermaßen, komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Aber mein Geist und mein Empfindungsvermögen sind mittlerweile so umfassend und weitläufig, dass lebens/gesellschafts/geschichtsphysikalische Begrenzungen für mich nicht mehr wirklich erfahrbar sind. Somit bin ich ein echtes metaphysisches Wesen! Es ist komisch, ein metaphysisches Wesen zu sein. Es ist komisch, jenseits von Leben und Tod zu sein. Da hat man den Strudel mit den Galaxien, das Universum, das sich durch die Zeit wälzt. Außerhalb davon aber, links oben, eine (eventuell sichelförmig gebogene) helle Aura, die in sich selbst hineinschmunzelt. Über die Materie erhebt sich, einigermaßen, der Geist: Also machen wir das so, treiben wir die Hydraulik ins Extrem – und treiben, pressen den Geist aus dem materiellen Universum heraus. Was wir dann haben, ist jenseits vom Übermenschen: Man stelle sich einfach vor, außerhalb des Universums, außerhalb seines Verlaufs, eine Entität, eine Art Aura, die selbstzufrieden in sich hineinschmunzelt (wenngleich nicht dauernd). Das ist das Jenseits vom Übermenschen. So stelle ich mir das vor, und möchte diese Vorstellung gern präsentieren. Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat (und ganz Vorstellungsvermögen geworden ist, Anm.), diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts. Also sprach Schopenhauer am Ende seines großen Werkes. Und überhaupt ist die Welt weder Wille zur Macht noch ewige Wiederkehr des Gleichen. Und der Übermensch wird natürlich auch sogleich über sich hinaus wollen – vor allem, indem Nietzsche ihn in eine Art sadomasochistisches Weltgefängnis sperrt, aus dem er sich dann ja auch gar nicht wirklich befreien kann. Grundsätzlich: kein Mensch, der bei Trost ist, wird die ewige Wiederkehr des Gleichen wollen, nicht einmal ein Narr. An anderen Stellen charakterisiert Nietzsche den kleinen Menschen, indem dieser sinnlos und egoistisch weiterleben wolle. Selber kommt er dem mit seinem amor fati dann aber auch wieder nahe. Und so fällt Nietzsche Steigerungs-Metaphysik auf der Basis vom Willen zur Macht wieder in sich zusammen (wenngleich sie natürlich unwillkürlich wieder aufstehen mag). Wille und Macht sind unendlich in ihrem Streben, aber endlich und zeitlich in ihrer Reichweite, ein selbstgemachtes Gefängnis. Der Geist ist unendlich und befreit. Er will nichts, er kann alles.

sii ,ya lo vi , y tambien lei ,la nota ,y siempre fui y soy una persona feliz pero ,las cosas que veo a mi alrededor lejos o cerca me duelen y yo estoy orgullosa de mi misma porque he logrado sobreponerme a muchas cosas malas ,ahora mismo ,pense ,hace unos dias que iba a morir ,ja¡¡¡pero no ,ya me siento mejor y quiero hacer muchas cosas aun

Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, weshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet deshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? (Nachlass Winter 1876 – 1877, 20(12)) OH JA, darauf wartet die Menschheit! Auf die Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann. (Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5(180)) Soweit ich erkennen kann, wartet die Menschheit nicht so intensiv auf den höchsten Intellekt oder auf das Genie. Nietzsche wiederum rächt sich bekanntermaßen so, dass er die Menschheit gerade einmal zu einem Bodensatz degradiert, der für die Erzeugung des Genies und des höchsten Intellektes da ist, wenn nicht da zu sein hat. Trotzdem sie egoistisch sind und sich furchtbar wichtig nehmen, haben die einen und anderen Menschen wenig Selbst, und daher auch wenig Sinn für den Wert; und dass, weil sie weder sich noch den anderen kennen. Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben (…) Also ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche auf das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele (…) Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinweist. (Abhandlung über Der Werth des Lebens von E. Dühring, Nachlass Sommer 1875 9(1), fast wörtlich übernommen auch in Menschliches, Allzumenschliches 1 34) Wer ist aber desselben fähig (angesichts eines Gesamtbewusstseins über die Menschheit nicht zusammenzubrechen, Anm)? Gewiß nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. (Menschliches, Allzumenschliches 1 34) Und niemand lügt so viel wie dich Dichter, also spricht dann Zarathustra. Aber:

Das Leben selber ist ein Gegensatz zur „Wahrheit“ und zur „Güte“ – ego

Das Leben-Bejahen – das selber heißt die Lüge bejahen. – Also kann man nur mit einer absolut unmoralischen Denkweise leben. Aus dieser heraus  erträgt man dann auch wieder die Moral und die Absicht auf Verschönerung. – Aber die Unschuld der Lüge ist dahin! (Nachlass Frühjahr 1884, 25(101))

Dabei liegt Sinn und Glück im Leben doch darin, dass man gute Taten tut und eine ethische Existenz führt! Damit baut man die unsichtbaren Verbindungen auf, die die Erde umrunden und unter sich lassen, die gute, erzerne Stabilität. Aber aus irgendeinem Grund will Zarathustra über die Moral hinweg, weil sie ihm lästig ist, hinderlich erscheint (und tut sich dann halt schwer, einen Wert und Sinn des Lebens zu erkennen). Vielleicht weniger subjektiv aber interpretiert: Der Sinn des Lebens eines Lebewesens ist zu überleben und sich fortzupflanzen, und das möglichst auf einem höheren Niveau. Der Sinn von Gesellschaften ist sich zu reproduzieren, wenn möglich auf einem fortwährend höheren Niveau der Qualität des Lebens. Der Sinn des Lebens ist ein gutes, angenehmes Leben führen zu können. Der Sinn des Lebens ist, eben, ein Ja-Sagen: dass man ja zu sich selber sagen kann und zu den anderen (und Nietzsche hatte, in seiner emphatischen Betonung des Ja-Sagens seine Probleme damit). Das Leben kann äußerlich und/oder innerlich angenehm oder unangenehm sein. Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie glücklich man sich fühlt, kann immer wieder erstaunlich subjektiv sein, und wenig abhängig von den äußeren Umständen. Der Wert oder der Unwert, den das Leben für einen haben kann, hängt davon ab, ob man gesund ist oder ob man krank geworden ist. Es gibt Lebensumstände, die einen durchaus krank machen. Wenn das Leben eine zu große Qual, eine zu große Krankheit für einen geworden ist, besteht vielleicht kein Grund, sich dieser Qual weiter auszusetzen. Ansonsten, sei guter Dinge. Goethe, der zumindest bei den weniger Eingeweihten als der höchste Intellekt gilt, meint, egal, wie hoch man steigt: die Welt und das Leben werden immer eine gute und eine schlechte Seite haben (sowie außerdem: Die Welt ist eine Glocke, die einen Riss hat: sie klappert, aber klingt nicht). Ja, das scheint mir bei allem Steigen so zu sein und zu bleiben (oder eben, beim Steigen oder Fallen jeweils neue Lösungen wie auch Probleme aufzuwerfen (dass man zu gescheit ist, dass man zu blöd ist oder dass man zu mittelmäßig ist)). Diese (letztendlich) Dialektik würde man gerne überwinden. Das ist das Streben nach Transzendenz. Heil dem, der Transzendenz erreicht! Transzendenz reflektiert aber auf Immanenz, also darauf, dass es einen Verweiszusammenhang gibt, der außerhalb der Transzendenz, unterhalb ihrer liegt, und ganz real ist, als umso realer erlebt werden mag, je transzendenter man ist. Nietzsches illustrer Kollege Jacob Burckhardt, drückt es (in seinen Weltgeschichtliche Betrachtungen) so aus: Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen; es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstreitenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge „geistig zu überwinden“ und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben. Manche werden posthum geboren… Aber wir wollen ja jetzt lachen, und für den Rest des Lebens. Nun, jeder ist seines Glückes Schmied, und die Philosophie hingegen kann, wie so oft, auch hier nur eher allgemeingültige Regeln angeben, ohne den Einzelnen gleichermaßen allgemein zu erreichen. Weißt du noch, was ich dir über den Begriff der Philosophie mitgeteilt habe?, fragt es in der Möwe bei der beschränkt-weltklugen Fernán Caballero – Ja, Senor, antwortete Maria: sie ist die Lehre vom glücklichen Leben. Allein hierüber gibt es keine gültigen Regeln. Jedermann versteht das Glück nach seiner Weise. Don Modesto glaubt es darin zu finden, dass man sein Fort, welches eine eben solche Ruine wie er selber ist, mit Kanonen besetzt. Bruder Gabriel erkennt das Glück darin, dass sein Kloster wiederhergestellt wird und wiederum seinen Prior und seine Glocken erhält. Maria ist glücklich, wenn sie nicht abreisen, mein Vater, wenn er eine Krähe fängt, und Momo, wenn er alles mögliche Böse tun kann. (Bei der Gelegenheit frage ich mich gerade, wie weit Nietzsche mit seiner Peitsche bei der naiv-allwissenden Caballero wohl gekommen wäre. Sie hätte sie ihm wohl kurzerhand weggenommen.) Nietzsches Glück (Mein Glück! Mein Glück!) über seine wohligen Visionen ist sehr groß, er kennt die halkyonischen Tage und Zustände und sein Genueser Schiff treibt friedlich dahin. Ein vollkommen glatter, herrlicher, friedlicher See. Aber dann packt es ihn immer wieder. Grimmig-pathetisch spricht er vom eigentlichen Glück, das – nicht im Augenblick sondern – in der Zukunft liegt: Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – In Intime Beleuchtung von Ivan Passer gibt es eine Szene, wo die fröhliche Stepa (die die unbeschwerte, lebenslustige und auch respektlose Jugend gegenüber dem sklerotischen Alter verkörpert) aufgrund von einem kleinen Unfall bei Tisch, der ein wenig das Zeremoniell stört, in ein langes Gelächter ausbricht und fröhlich lachend, unfähig aufzuhören, durch das Haus wandert. Intime Beleuchtung habe ich vor Jahren gesehen, aber das ist mir hängen geblieben, daran erinnere ich mich gerne, an die einfach aus sich heraus lachende Stepa. Ich glaube also, wenn Nietzsche daherkommen würde mit Auf andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuß nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! (Also sprach Zarathustra IV, Die Begrüßung) – würde die Stepa denselben Lachanfall bekommen (der im Übrigen nicht bösartig gemeint ist – und wie könnte man Zarathustra besser recht geben?). Das habe ich unweigerlich bei mir gedacht, als ich im Zarathustra das mit den lachenden Löwen gelesen habe. Darüber muss ich schon immer wieder mal in mich hineinschmunzeln.

Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.

Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – (Nachlass Mai-Juni 1888, 17(3))

Nietzsche ist ein mystisches, gleichsam archaisches Doppelwesen auch in der Hinsicht, dass er in höchsten Maße Philosoph ist (Erkennender und Erklärender: „apollinisch“) als auch Künstler (Schaffender und „Verklärender“: „dionysisch“), ja, beinahe ein Künstler, der sich über das Medium der (Poesie und) Philosophie ausdrückt, oder aber wieder ein Philosoph, der sich künstlerisch ausdrückt und eine zutiefst „künstlerische“ Metaphysik formuliert. Eigenwillig will Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie die griechische Tragödie als einen Versuch der Vergegenwärtigung und Verklärung der tragischen Welt begreifen (und daraus eine „harmonische“ Gesellschaftsform ableiten, in der einzelne höhere, brahmanengleiche Menschen eben jene höchsten Anschauungsformen schaffen, in und durch Leiden am Leben, und der Rest der (zur Herstellung wie auch zur angemessenen Rezeption dieser Anschauungsformen mehr oder weniger unfähigen) Gesellschaft, inklusive vor allem der Sklaven, arbeitet, und leidet: Damit habe man einen solidarischen Leidenszusammenhang in Gesellschaft, Kultur und Dasein). Mehr noch, ist die Kunst für Nietzsche eine Versöhnung mit dem „Ur-Einen“ der Welt und eine Aufhebung des principium individuationis. Kunst wird in die Nähe zu Traum und Rausch gestellt, bzw. zu einer Art hochintelligenten Rausch, der vereinigt mit der Welt, und kalkuliertem Traum, der spontane Eindrücke plötzlich heraushebt, durch Assoziation ein alternatives Ganzes schafft, in dem sich die Realität spiegelt und deren „Wahrheit“ zum Ausdruck kommt, und unvermittelt intuitive Einsichten und Erkenntnisse mitzuteilen scheint. Nietzsche hatte ein ausgeprägtes Assoziationsvermögen (ein Vermögen, spontan Assoziationen zu Eindrücken zu bilden), und er dachte und sah anschaulich (laut Schopenhauer das Charakteristikum des Genies). Bei einer Gelegenheit erzählte er einem Gesprächspartner, er habe schon immer das Gefühl gehabt, auf einer Mission zu sein, und dass er vor seinem inneren Auge „sehr lebendige“ Bilder sehe, die sich ständig wandeln (und die, je nach Gesundheitszustand, entweder erhebende oder erschreckende Qualitäten annähmen). (Prideaux S.319) Ja, so ist der Geist des tiefsinnigsten Künstler und Philosophen, des Rimbaud´schen Sehers: Alles ist bei ihm darauf ausgerichtet, in den „Urgrund“ zu sehen und, hoffnungsvoll, zum Ur-Einen (der umfassenden Versöhnung) vorzustoßen. Diese Kunst, und diese Philosophie, ist, in jeder Hinsicht, transgressiv und transzendent. Sie macht es auch, dass Individuen wie Nietzsche oder Rimbaud, in diesem Drang zum Ur-Einen und zum Absoluten vorzudringen, einerseits angestrengt in eine praktisch nicht auffindbare Ur-Vergangenheit blicken und andererseits in ein undifferenziertes, Formen auflösendes gleißendes Licht fernster Zukunft, weniger aber in der Gegenwart leben, gerade aber eben in ihrer „Unzeitgemäßheit“ avantgardistisch sind und die Gegenwart überwinden.  Apollo steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offenliegt. (Die Geburt der Tragödie 16) Was aber ist das Ur-Eine oder sind die Mütter des Seins? Die Sehnsucht nach der Frau oder nach der Mutter, mögen Feministinnen jetzt triumphierend aufheulen. Aber man sollte das vielleicht allgemeiner betrachten. Die Sehnsucht, das Urtümliche und Eigentliche zu entdecken ist eine Sehnsucht des Geistes; die Sehnsucht, in diesem Urtümlich-Eigentlichen in Geborgenheit aufzugehen, ist eine Sehnsucht der Seele. Dichtung, Kunst, Schöpfung, Philosophie in ihrer tiefsten Form, und also der, wie man sie bei Nietzsche hat, die Vergegenwärtigung der totalen Realität, ist mit einer ständigen Vergegenwärtigung von Vordergrund und Hintergrund begleitet: die sich allerdings gegenseitig bedingen, oder gegenseitig aufeinander verweisen. Konkrete, apollinische Formen werden erzeugt (oder, wie es scheint, vom Urgrund abgespalten) und werden eben konkret; so mächtig sie auch sind, und je konkreter man versucht sie festzustellen (was sie dann eben wieder zweifelhaft macht), desto mehr fallen sie scheinbar wieder in den Urgrund zurück, der undifferenziert, aber allmächtig erscheint: die apollinischen Formen aber eben als bloße Abspaltungen vom Urgrund, als relative Qualitäten gegenüber einem scheinbar Absoluten. Das ist es, was das Denken und was das Assoziationsvermögen macht. Das Ur-Eine und die Mutter des Seins ist nun also der Geist und das Assoziationsvermögen an sich (und die sich abspaltenden apollinischen Formen eben die Bilder und Gedanken, die er erzeugt). Es ist dann also etwas, wie der Geist konkret funktioniert, und keine allzu angestrengte und künstliche Metapher. Dionysos ist Nietzsches Assoziationsvermögen. Die Metapher ist für den echten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt … Wir reden über Poesie so abstrakt, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach: man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterscharen umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühlte nur den Trieb, sich selber zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. (ebenda 8) Bekanntlich hat sich Nietzsche dann immer mehr mit Dionysos (und vielleicht zunehmend weniger mit dem doch eher besonneneren Zarathustra) verglichen. Es stellt sich, bei genauerer Betrachtung, die Frage, wieso Nietzsche so ausschließlich auf die Kunst rekurriert, hinsichtlich seiner Weltrettungspläne. Die Welt ist ja mehr als die Kunst. Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, und sollte sich auch noch anders denn als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lassen. Die Wissenschaft hat die Welt im zwanzigsten Jahrhundert auf ein ganz anderes Level gehoben als alle Kunst. Die Unterhaltungskunst hat nicht weniger erstaunliche und gehaltvolle Phänomene produziert als die hohe Kunst im Lauf der Zeit. Usw. Nietzsche beharrt aber starrsinnig auf der entscheidenden Rolle der Kunst. Neben all seiner eher persönlich zu nehmenden Kunst-Metaphysik (Der tragische Künstler ist kein Pessimist – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch… (Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie 4)) stellt Nietzsche Gravierendes und Entscheidendes über den Status der Kunst fest, und macht sich berechtigte Sorgen über den drohenden Verlust dieses Status. Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit, rekurriert er auf Schopenhauer. Aufgabe der Kunst ist (ähnlich der Metaphysik), den Status des Menschen in der Welt auszusagen bzw. (im Gegensatz zur Metaphysik) auszudrücken und ein geheimes, verborgenes „Wesen“ der Dinge und der Individuen an die Oberfläche zu bringen. Kunst befragt den Status des Seienden (Ontologie), die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten (Epistemologie) und nach ihrem eigenen, weltverbessernden Sinn (Deontologie). Sie tut darin dasselbe wie die Metaphysik. Sie unternimmt große und solitäre Anstrengungen, um auf etwas drauf zu kommen. Denn der eigentliche Künstler will auf etwas draufkommen, Tiefenschichten freilegen, um dann einen neuen hochzeitlichen Ring der Ringe, den Ring der Sinnhaftigkeit zu schmieden. Der echte Künstler (und Philosoph) fragt (wie Nietzsche) nach dem Status des Menschen im Weltganzen, im Universum. Man soll das nicht kleinreden als (antiquierten) Geniekult (oder aber die Feministinnen aufheulen lassen von wegen: Da! Machtphantasien des alten weißen Mannes!); denn ohne solche Anstrengungen geht Entscheidendes verloren, versinkt alles in Dekadenz und Anarchie. Ohne die Dichter und Künstler würden die höchsten Ideen, welche die Menschen vom Universum haben, rasch verfallen, die Ordnung, die in der Natur erscheint und die nur das Ergebnis der Kunst ist, würde verschwinden. Alles würde ins Chaos versinken … Die Dichter und Künstler determinieren im Wettstreit die Gestalt ihrer Epoche, und gelehrig richtet sich die Zukunft nach ihren Weisungen. (Guillaume Apollinaire) Tatsächlich scheinen derartige Anstrengungen in der Kunst der letzten Jahrzehnte nicht mehr sonderlich verbreitet (im Gegensatz aber eben zum beginnenden Massenzeitalter, das auch das Zeitalter der avantgardistischen modernen Kunst war, und damit ein Höhepunkt in der Kunstgeschichte). Sie erscheint nicht mehr sinnstiftend, umfassend und avantgardistisch antizipierend, sondern bestenfalls als ein schlaffer Kommentar zu dem, was in der Wirklichkeit bereits passiert ist. Sie wirkt passiv und defensiv. Wieso das so ist, ist ein Rätsel, das mich über alle Maßen beschäftigt. Nietzsche würde es als décadence-Phänomen bezeichnen, oder als Rechnung, die man für Demokratie und Vermassung eben präsentiert bekommt. Als Ausdruck des Zeitalters des letzten Menschen. Man ist immer wieder geneigt, erstaunt zu sein, wie genau Nietzsche so vieles vorhergesehen zu haben scheint. Aber wie gesagt: das Gesellschaftliche zu denken, oder es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, war Nietzsches Sache nicht. Moderne ist kein Dekadenzphänomen, sondern, wie Max Weber es festmacht: die Ausdifferenzierung der Lebenssphären. Mit der Ausdifferenzierung der Lebenssphären relativiert sich auch ihre jeweilige Bedeutung, bzw. reflektieren die Lebenssphären verstärkt aufeinander. Es scheint nach dem Ende des Massenzeitalters (das zuletzt noch umfassend in der Pop Art reflektiert wurde oder von den Beuysschen Ausbruchsversuchen, eine Gesellschaft von Künstlern zu schaffen) schwierig geworden zu sein, umfassende künstlerische Klammern und Symbole zu schaffen (nicht zu reden von der Ausreizung der Ausdrucksmittel, die in den verschiedenen Kunstgattungen schon vor langer Zeit und für lange Zeit stattgefunden hat). Dann gibt es die postmoderne Ironie und Relativierung usw. Große kathartische Zusammenkünfte und Vereinigungen hat man weniger über Bayreuther Festspiele als über Popkonzerte, ganz zu schweigen von Fußballspielen. Und allgemein gibt es den Wandel der Zeit, dem auch die Gegenwart einst unterliegen wird. Es gibt Epochen des kulturellen Aufschwungs und solche des Verfalls (auf längere historische Sicht gesehen also eine Angleichung an den Mittelwert). Aber dennoch: Wo sind sie, die lachenden Löwen der heutigen Kunst? Warum finden da nicht mehr Anstrengungen statt? Ich glaube, die Stepa würde da auch nachdenklich bleiben. Ich denke, die Welt wartet hier abermals auf die Erscheinung des höchsten Intellectes, der das gesamte Weltganze im und über das heutige Zeitalter begreift und ihm einen Sinn zu geben vermag. Oh ja, das tut sie abermals ganz bestimmt! Also spricht Zarathustra vom Übermenschen, der auf das Zeitalter vom letzten Menschen folgt.

Der Zauber, der Nietzsche auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners macht, erklärt sich namentlich daraus, daß Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur verwirklichen wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im Grunde nichts anderes hinzu, als die Steigerung dieses Ideals ins Mystische, ins unergründlich Bedeutungsvolle…. (Lou Salomé S.88) Nietzsches große ursprüngliche Anhänglichkeit an Wagner erklärt sich daraus, dass Wagner so groß ist. Und Nietzsche so empfänglich ist für alles Schöne, Große und Gute. Ein naiver Schwärmer, der ein Idol braucht, ist er natürlich nicht, und so gerät er zunehmend in Konflikt mit Wagner, nicht zuletzt aufgrund von dessen menschlicher Kleinheit, die dem so lauteren Nietzsche immer klarer vor Augen tritt. Bereits Mitte der 1870er Jahre notiert er beispielsweise bei sich:  Wagner als Schriftsteller giebt nicht sein Bild treu wieder: Er componiert nicht: das Gesammte kommt nicht zur Anschauung: im Einzelnen schweift er ab, ist dunkel, und nicht harmlos und überlegen. Er hat keine heitere Anmassung. Es ist ihm alle Anmuth, Zierlichkeit versagt, auch dialektische Schärfe. (Nachlass Anfang 1874 – Frühjahr 1874, 32(30)) Die „falsche Allmacht“ entwickelt etwas „Tyrannisches“ in Wagner (…) Der Tyrann lässt keine andere Individualität gelten als die seinige und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten lässt: oder die Juden. (ebenda 32(32)) Seine Begabung als Schauspieler zeigt sich darin, dass er es nie im persönlichen Leben ist. Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft zu überzeugen. (ebenda 32(41)) Die vierte Unzeitgemäße Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, ist dennoch vordergründig noch eine große Lobpreisung Wagners, wenngleich sie einige Ambivalenzen enthält (in Ecce homo gesteht Nietzsche dann, dass die dritte und vierte Unzeitgemäße, die dem Werden und Bestehen, dem Lebensweg des kulturellen Heros und Genius gelten, schon damals eher Selbstbetrachtungen und –reflexionen waren, denn solche über Schopenhauer und Wagner). Dennoch ist es, wenn man den Nachlass liest, bemerkenswert, wie tief das Misstrauen Nietzsches gegenüber Wagner schon lange vor seiner luziden Streitschrift Der Fall Wagner gewesen ist, und wie differenziert und originär die Beobachtung von dessen Stärken und Schwächen (ebenso bemerkenswert, wie dass er in den früheren 1880er Jahren in den unveröffentlichten Aufzeichnungen selbst gegen „das Genie“ polemisiert und es auseinandernimmt, es teilweise sogar für nichtig erklärt, möglicherweise auch im Zusammenhang mit seiner immer vollständigeren Loslösung und dem Hintersichlassen von Wagner und Schopenhauer). Der Fall Wagner ist vielleicht eine der erstaunlichsten Schriften von Nietzsche. Was er da, einerseits nach langer, qualvoller innerer Auseinandersetzung, andererseits kurzerhand hinknallt: man kann einem so kosmischen Dokument kaum irgendetwas Irdisches entgegensetzen. Klare und nüchterne Analyse und höchster kulturgeistiger Ernst treffen sich mit Übermut, Ausgelassenheit und Polemik, teilweise auch blödsinniger Polemik (vgl. z.B. Abschnitt 3). Zarathustra zoomt sich gleichermaßen tief in die Subjektivität von Wagner hinein und dann in eine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik wieder heraus. Gleichzeitig streng und heiter ist er gerecht, genauso wie an anderen Stellen, wie ein davonlaufendes Kind, das etwas angestellt hat, unfair und ungerecht. Ist es heiliger Ernst und göttlicher Spaß – oder beides zugleich? In ihrem bescheidenen Umfang von einigen Dutzend Seiten einerseits gleichsam eine Gelegenheitsschrift wie auch ein profundes, gleichsam endgültiges Dokument nicht nur zu Wagner, sondern zur deutschen Kultur, ja, vielleicht sogar zur Kultur überhaupt, eine gleichermaßen fette wie schmale, scheinbar abschließende Akte zum Fall Wagner. Und: ist sie deswegen so, wie sie ist, weil Nietzsche nicht nur in Wagner und dessen Probleme – lauter Hysteriker-Probleme – hineinschaut, sondern auch in sich selbst? Wagner wird verspottet, seine grandiose Idee vom „Gesamtkunstwerk“ beruhe in Wahrheit auf seiner Unfähigkeit, tatsächlich etwas Ganzes zu machen und aus dem Ganzen (zu) schaffen (10), er wolle „mehr“ machen als nur Musik – so redet kein Musiker (ebenda). Wagner mag darob gelassen bleiben: So gut ist geht, ist sein Gesamtkunstwerk gelungen. Wenn er „mehr“ gewollt habe, „als nur Musik“: so liegt das eben im transzendenten Wesen und Streben des kulturellen Heros – Zarathustra (oder zumindest Nietzsche) wolle ja auch immer mehr. Als Musiker bzw. als Komponist wurde er, der die Musik so liebte, von Wagner und anderen aber eher vernichtend kritisiert (wenngleich Gustav Mahler – im Übrigen einer der wenigen frühen Leser von Nietzsche – Nietzsche für einen unterschätzten Komponisten gehalten hat). Die schwierige Persönlichkeit Wagners! Die ideologischen Differenzen rund um den Parsifal (von Nietzsche dann, als er ihn Jahre später zum ersten Mal gehört hatte, als das Beste, was er je komponiert hat empfunden). Eine Kunst, die nicht überschäumend Ja! sagt zum Leben – und deswegen eine der „décadence“ ist (?). Dionysos gegen den Gekreuzigten. Wagner hat Erfolg, Nietzsche nicht. Und dann noch der Fall Cosima Wagner. Ah, dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre Frauen und schleppt sie in seine Höhle … Ah, dieser alten Minotaurus! Was er uns schon gekostet hat! (Der Fall Wagner, erste Nachschrift) René Girard hat eine imposante (wenngleich totalitäre) Heuristik, wonach mimetische Konkurrenzkämpfe das eigentliche Ding an sich des Zwischenmenschlichen und des Sozialen seien. In Die verkannte Stimme des Realen deutet er Nietzsches verfolgende Wut auf Wagner als Konkurrenzkampf („Nietzsche contra Wagner“) darum, wer der eigentliche definierende kulturelle Heros der Zeit sei – und nicht zuletzt um dessen Trophäenfrau. Restlos überzeugend ist das nicht. Im fieberhaft-luziden Ecce homo wird Wagner aber siebzigmal erwähnt, auch eine Erwähnung von Cosima schlüpft dabei durch. Bei seiner Einweisung in die Nervenheilanstalt Jena gab Nietzsche bekannt: „Meine Frau Cosima Wagner hat mich hierher gebracht“. Kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch hat Nietzsche Briefe an Cosima aufgesetzt – an im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt habe…  Insgesamt aber: war Wagner ein großer kultureller Heros. Nietzsche aber war eine praktisch singuläre Gestalt. Der große kulturelle Heros hat eine Intelligenz, wie man sie vielleicht bei einem Menschen unter hunderttausend(en) findet. Die praktisch singuläre Gestalt aber hat ein intellektuelles Level wie vielleicht unter hundert Millionen Menschen einer. Es ist also anzunehmen, dass der große kulturelle Heros von der praktisch singulären Gestalt mittelfristig durchschaut werden wird (weswegen die praktisch singuläre Gestalt auch kaum einer in seiner Nähe haben will).

Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?, so Nietzsche in seiner nachträglichen Vorrede zur Morgenröte (2). Nein, man versteht ihn bekanntlich, und aus gutem Grund, nicht wirklich. Nietzsches furiose Abrechnung mit der Moral, seine erstaunlichen Einsichten, seine Grenzüberschreitungen, sein Wille zum Bösen – all das ist grell und sensationell, noch nie dagewesen, eine enorme Überwindung und scheinbar übermenschliche Anstrengung: Nietzsche gewinnt dadurch abermals sein flackerndes Charisma. Es schärft den skeptischen Sinn, das psychologische Wissen, die persönlichen Möglichkeiten hinter die Erscheinungen zu blicken, und sich von moralischer Heuchelei nicht so leicht täuschen zu lassen. Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Nietzsche, der Überwinder der Moral, weiß dabei genauer als praktisch jeder andere, inklusive der großen Weisen und Heiligen der Geschichte, was Moral ist und eine tugendhafte Natur. Er weiß, was ist vornehm? Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln. (Nachlass Anfang 1880, 1(65)) Wenn es wirklich vorkommt, daß der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt … wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden – sogar etwas, das man hier klugerweise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll. (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 11) Seine Feinde, seine Unfälle, seine Untaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen-machender Kraft ist (ein gutes Beispiel aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit einem Ruck von sich, das sich bei anderen eingräbt (…) Dagegen stelle man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert – und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat den „bösen Feind“ konzipiert, „den Bösen“, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst!… (Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung 10) Vor allem schärft es den Sinn, was das Gute ist, wie Selbstkultivierung und individueller Ethos auszusehen hat. Nietzsche wusste, was vornehm war, denn er war sehr vornehm. Allerdings ist das Ethos bei Nietzsche immer eine individuelle Angelegenheit und eine der Selbstkultivierung, seine Ethik ist eine Individualethik und keine Sozialethik, die sich für den anderen tatsächlich interessieren würde. Ebenso bleibt Moral und Ethik bei Nietzsche in ihrer Intention ein psychologisches Phänomen und keines, das sich aus der Frage nach vernünftigem sozialem Ausgleich aufdrängen würde. Bei einer Wanderung durch die vielen feinen und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmäßig miteinander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verrieten, und ein Grundunterschied heraussprang: Es gibt Herren-Moral und Sklaven-Moral (Jenseits von Gut und Böse 260) In Nietzsches einerseits filigranen und filigransten Untersuchungen, andererseits willkürlichen Projektionen hat man immer wieder einen (für ihn) paradiesischen Urzustand, wo sich die starken, vollen, aristokratischen Naturen tummeln und sich gegenseitig feinfühligst in ihrer Selbstkultivierung helfen, in ihrer Herren-Moral unbeeindruckt von der Not der Nicht-Aristokraten. Dann hat man vor allem die unteren Schichten, die sich ebenfalls lustig und selbstgenügsam tummeln und ihren brutalen und/oder harmlosen Vergnügungen nachgehen, zufrieden mit sich und der Welt – bis dass der böse Geist des Ressentiment und des Neides auf die Aristokraten in sie fährt (in der Regel durch ein intelligentes, ressentimentgeladenes Mitglied ihrer Klasse oder einen Sympathisanten). Insofern sich Ressentiment und Neid in einem Kampf um Deutungshoheiten nicht als solche zu erkennen geben können und auch nicht nachhaltig-zersetzend wirken können, oder aber sich selbst verkennen, kleiden sich dieses Ressentiment und dieser Neid in den Mantel einer überlegenen, universalistischeren, allgemein gerechteren Moral (welche aber vorwiegend dazu diene, die starken, vollen Naturen zu schwächen und sie gar nicht erst mehr aufkommen zu lassen). Nietzsche hat Recht, das zu bedenken zu geben. Nietzsche hat auch Recht, dass zwischen Mensch und Ressentiment-Mensch deutlich unterschieden werden muss. Der Ressentiment-Mensch ist eine negative Qualität, an der ein humanistisches Menschenbild in letzter Konsequenz scheitert. Allerdings – und das wird in Nietzsches mannigfachen Aufspürungen ja deutlich – sind die Formen, die das Ressentiment produziert, zahllos (sowie auch die Motivationen und Grundlagen von Ressentiments und Neurosen nicht einheitlich), und die Kompensationsversuche für das Ressentiment (z.B. übertriebene Härte, übertriebene Erfolgssucht oder übertriebene Fürsorge) werden sich in gesellschaftlichen Teilbereichen gut einsetzen lassen. Nietzsche ist es nun aber nicht möglich, einzusehen, dass moralisches Aufbegehren sich weniger aus Ressentiment sondern primär aus tatsächlich vorhandenen Ungerechtigkeiten in der sozialen Welt speist. Und das ist deswegen so, weil er derjenige ist, in dem ein kompaktes Ressentiment, in seinem Fall gegen die unteren Schichten und gegen die „Schwachen“ (ergo also auch gegen das schwache Geschlecht) schaltet und waltet. Dass er keine echte Einsicht in dieses Ressentiment hat und es nicht versprachlichen kann, verschärft es noch, wohl durch ein Ressentiment auf sein/das Ressentiment. Wenn neurotische Menschen aus neurotischen Gründen (unbewusst) hassen, heißt das nicht, dass sie das auch wollen. Vielmehr mag ihnen dieser Hass zuwider sein. Sicher wird das auch bei Nietzsche so gewesen sein, der im konkreten Umgang mit Menschen alles andere als ein Hasser war, was dann neue Spiralen von (Selbst)Hass und schlechtem Gewissen und Versuchen der Immunisierung dagegen nach sich gezogen hat. Die treibende Kraft (beim Christentum) bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen (Nachlass, November 1887 – März 1888, 11(240)). Lou Salomé bezeichnete Nietzsche als ein religiöses Genie – was er auch war. Religion ist die höchste Repräsentation von Ethik und Moral – in ihrer Doppeltheit von positiven menschlichen Werten und negativer sozialer Kontrolle (die die herrschenden Klassen als auch die weniger selbstständigen Menschen einerseits lieben, andererseits auch lieber umgehen würden). Zarathustra hat Nietzsche zum Alter Ego gewählt mit der scheinbar eigenartigen Begründung: da Zarathustra der erste (gewesen) ist, der den religiösen Gegensatz und Kampf zwischen Gut und Böse in die Welt gebracht hat, sei er auch, anzunehmenderweise, der erste, der die Relativität dieser Grundlage und der darauf aufbauenden Werte durchschaue und diese hinter sich lasse und überwinde. Nietzsche hatte viel vom Wesen und der Intelligenz eines Religionsgründers. Zum wahren Genie eines Religionsgründers gehöre aber weniger die Einsicht in authentische Werte, sondern eine Einsicht, welche Werte in seiner eigenen Gesellschaft am besten vertretbar sind: So spiritualisierte Jesus (bzw. Paulus) das bescheidene, tugendhaft gedrückte Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz, Buddha die inoffensive Trägheit und Bedürfnislosigkeit der Asiaten (Die fröhliche Wissenschaft 353). Wie dem auch sei, eine soziale Dimension hat Nietzsches Individualethik und „Religion“ der Selbststeigerung nicht – daher ist sie auch keine, und ist auch nicht als solche gedacht. Das religiöse Genie von Nietzsche tobt sich also an der leidenschaftlichen Kritik an aller Religion aus. Ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Raths erholen können; welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(173)) Das ist eine zutiefst ethische Angelegenheit, und ich kenne dieses Anliegen sehr gut. Ein Band zwischen allen Menschen schaffen kann man nicht. Aber ich habe nach einem Band von idealistischen Menschen gesucht, die stellvertretend das Band der Menschheit und des Menschheitsideals zusammenhalten. Das würde mich beruhigen. Allerdings gibt es vielleicht auch dieses Band nicht; Zarathustra bleibt Einzelgänger – der aber fortwährend nach Gefährten Ausschau hält und sich darin nicht beirren lässt. Ich für meinen Teil stelle fortwährend spirituelle und empathische Verbindungen her und knüpfe virtuelle Bänder. Ahhhh…. diese virtuellen Bänder… ! Sie beherrschen und verknüpfen die Welt. Sie sind die eigentliche, ungeteilte Welt. Um Nietzsche herum aber ist es, aufgrund der Inkompatibilität seiner Philosophie mit der zeitgenössischen Welt, zunehmend einsam geworden. Immer mehr fasziniert sich der spätere Nietzsche für das Böse, unter anderem auch, weil er darin etwas Ganzes, Kraftvolles und Authentisches erkennen will (und weil es ihm, wie man merkt, fremd bleibt); immer mehr jedoch steigert er sich in Hass und Verachtung gegen „die Mittelmäßigkeit“ hinein (die allerdings tatsächlich der wahre Feind des Ideals ist und die sich dadurch auszeichnet, dass sie uneindeutig und durchwachsen ist). Zwischendurch notiert er dabei – entweder als Vorboten des nahenden Wahnsinns oder aus plötzlicher, punktueller Scham heraus – auf einmal: Der Hass gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem Recht auf „Philosophie“. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selber zu erhalten (Nachlass Herbst 1887, 10(175)), bevor er mit seinen Vernichtungsphantasien gegen die Mittelmäßigen wieder fortfährt. Zuletzt vergleicht er seinen Übermenschen, als Typus höchster Wohlgerathenheit, mit Cesare Borgia (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 1), also einem interessanten Schurken, dessen Waghalsigkeit und moralisches Abenteurertum aber damit in Verbindung stehen, dass er ein innerlich verarmter und gelangweilter Psychopath war, dessen Karriere auch nur kurz dauerte. – Aufgrund seiner mangelnden psychologischen Selbstintegration und seiner damit in Verbindung stehenden Metaphysik vom chaotischen dionysischen Urgrund als dem tiefsten Weltprinzip glaubt Nietzsche eine Unverbindlichkeit der moralischen Weltordnung herleiten und begründen zu können. Aber Dionysos und das Chaos ist nicht die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt. Soll ich dir sagen, was die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist? — Die tiefste Vision vom tiefsten Grund der Welt ist der Chaosmos und das Kreuz. Aus dem Urgrund heraus und mit dem Urgrund verschmilzt das Kreuz, die eherne Verstrebung, die Ordnung und Stabilität schafft und die vier Himmelsrichtungen und Dimensionen beherrscht. Aus dem Kreuz des Chaosmos ergibt sich DAS GESETZ; und aus dem GESETZ ergibt sich Ethik und Moral. Der Mensch ist Gattungswesen sowie Individuum. DAS GESETZ bedeutet, dass er diese beiden Naturen harmonisch in Einklang zu bringen hat. Daraus ergibt sich dann der Appell an die Ethik und die Moral. Ethik und Moral sind einigermaßen kulturrelativ, aber DAS GESETZ, also der Appell, Ethik und Moral zu schaffen, ist älter als wir alle. DAS GESETZ, also die Grundlage von Ethik und Moral, ist ideell und auch real in der Welt vorhanden, und kann daher weder in der einen noch in der anderen Hinsicht, zwar manipuliert und umgangen, aber nicht zerstört werden. DAS GESETZ steht über uns allen (und der Übermensch verinnerlicht DAS GESETZ). Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 6) Der Übermensch aber wird die christliche Moral gleichzeitig über sich und unter sich fühlen. Er wird die Religion ansehen wie einen um ihn kreisenden interessanten Planeten, DAS GESETZ aber als etwas, das sich aus dem Universum ergibt. Weil Nietzsche das nicht angemessen verstanden hat, wurde Nietzsche auch nicht angemessen verstanden.

Nietzsche gilt als einer der größten Psychologen. Für Sigmund Freud war Nietzsche einer der wahrhaft großen Männer aller Zeiten, er habe eine tiefergehende Einsicht in sich selbst gehabt als jeder Mensch, der gelebt habe und, wahrscheinlich, auch jeder, der noch leben werde. (Wobei Otto Weininger, zumindest von seinem Potenzial her, wohl noch über Nietzsche gestanden wäre. Was aus ihm geworden wäre, kann man aber nicht sagen, da er sich vor lauter Einsicht in sich selbst und seine „Verbrechernatur“ ja früh erschossen hat.) Was kann man über Nietzsche nicht alles über die verborgenen Seiten der menschlichen Natur und der Raffinessen psychologischer Verstellungen und Verwicklungen lernen! Gleichzeitig bemerkt Jaspers, dass Nietzsche die Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, die tiefe Einsicht in sich selbst, aber dann wieder nicht zu weit treibt: Der Mensch vermag gewöhnlich nicht mehr von sich als seine Außenwerke wahrzunehmen. „Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar“…. „Jeder ist sich selbst der Fernste“ … „Täglich erstaune ich: ich kenne mich selber nicht“ … „Ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht … Es muß eine Art Widerwille in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben“ …. „Es scheint mir, daß man sich die Tore der Erkenntnis zumacht, sobald man sich für seinen persönlichen Fall interessiert“ (zitiert in Jaspers S.378f.) Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anriet: „Erkenne dich selbst!“ Hieß es vielleicht: „Höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!“ – Und Sokrates? – Und der „wissenschaftliche Mensch“? (Jenseits von Gut und Böse 80) Selbstkenner! Selbsthenker!… (Zwischen Raubvögeln) Einerseits betonen Jaspers und Nietzsche diesbezüglich, dass Selbstreflexion und Selbstbeobachtung einerseits mit produktivem Reflektieren und Beobachten einhergehen muss, andererseits, ins Extrem oder Selbstzweckhafte getrieben, konkrete Bestimmung und Erkenntnis verunmögliche, da man in der totalen (Selbst)Reflexion mit endlosen Möglichkeiten konfrontiert sei, wie was sein könne oder nicht. Totale Selbstreflexion verfehle also Selbstbestimmung. Wieso das so sein soll, erscheint nicht klar – vorausgesetzt, man verfügt über ein Selbst mit einem realen Kern, zu dem man also ohne weiteres vordringen kann, den man feststellen und bestimmen kann. Das muss aber nicht so sein. Nietzsches Sich selbst aus dem Spiel nehmen, seinen persönlichen Fall hintansetzen, um zu vollkommenerer objektiver Erkenntnis zu kommen, war ein authentisches Streben von ihm. Gleichzeitig bleibt seine ganze Philosophie, im positiven wie im negativen Sinn, sehr subjektiv. Immer wieder spricht Nietzsche auch von der Maske (hinter der sich tief verwundete Seelen verbergen): Alles, was tief ist, liebt die Maske (Jenseits von Gut und Böse 40) (dann aber wieder, im (irgendwie) Gegensatz dazu: Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. (Die fröhliche Wissenschaft 173)). Vor allem erfreut sich Nietzsche an seiner Eigenschaft als psychologischer Spürhund – und wir freuen uns darüber mit ihm. Winkel-Ausleuchter! Seelen-Prüfer! Innerer Richter! Kann man vor Zarathustra bestehen? Was wüsste man vom Menschen, wenn man es nicht von Nietzsche wüsste? Was für riesige Tore zum Unbewussten hat er doch aufgestoßen – im Vergleich zu Freud, der die Perspektive auf das Unbewusste in pedantischer, schulmeisterlicher (und recht subjektiver) Weise wieder auf ein paar Grundmechanismen verengen will (und erst recht gilt das von seinen Schülern)! Er hat weiters große Tore aufgestoßen für ein Verständnis, dass hinter der Formulierung von objektivem Wissen oftmals subjektive psychologische Intentionen stecken – ein allerdings offenbar zu weites Tor, denn hinter der Produktion und Selektion von objektivem Wissen rein subjektive psychologische Motivationen aufspüren zu wollen, wird bei ihm zu einem zunehmend totalitären und verabsolutierenden Vorgehen, an den sich abermals zu zeigen scheint, dass Nietzsche in seinem Über-Perspektivismus eine Einsicht in die Objektivität der Außenwelt (wie auch der Innenwelt) ziemlich weit hinten anstellt. Was außerdem auffällt und bekannt ist, ist seine Lust, mit dem Hammer über die besseren Elemente der menschlichen Psychologie zu philosophieren. Dass es authentische Liebe, authentisches Mitleid, authentischen Altruismus gibt, leugnet er zwar nicht, meistens sieht er darin aber nur Masken für den Egoismus. Angesichts des Reichtums seiner Einsichten und der übernatürlichen intellektuellen Penetration, die aus ihnen spricht, wird man geradezu desorientiert darüber, wie viel man auch in seinen besseren Regungen wohl nichts anderes sei als ein Egoist. Aber eben angesichts dieser Sophisticatedness von Nietzsches Analysen fragt man sich gleichermaßen, wieso Nietzsche immer nur maskierten Egoismus vermuten will hinter Dingen, hinter denen normalerweise keiner ist. Offenbar, weil er in seiner eigenen Introspektion immer wieder darauf stößt. Larochefoucauld und jene andere französischen Meister der Seelenprüfung … gleichen scharf zielenden Schützen – aber ins Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. (Menschliches Allzumenschliches 1 36) La Rochefoucauld und Nietzsche (und auch Freud) waren Meister des psychologischen Verdachts. Was bei der Lektüre von La Rochefoucauld aber auffällt, ist dass er mit seinen raffinierten Maximen zwar interessante und raffinierte Verdächtigungen formuliert, eigentlich aber nie ins Schwarze (der Wahrheit) trifft, wenngleich er wohl irgendwie die Zielscheibe trifft. Bei Nietzsche (und Freud) bekommt die Lektüre einen ähnlichen Beigeschmack. Vor allem einer dermaßen imposanten Erscheinung wie Nietzsche wagt man kaum so einfach zu widersprechen. Er scheint höchste Weisheit erlangt zu haben, so hohe, dass die Unschärfe und Vagheit vieler seiner Bestimmungen und seiner so kantigen psychologischen Verdächtigungen dem Umstand geschuldet scheint: Zarathustra ist einfach zu gescheit und überreich für die spezifische Erfassung der Welt! Er denkt über alle Welt hinaus, weil er an Geist und Seele so groß ist! Weiters fragt man sich bei Nietzsche, La Rochefoucauld et al immer, ob aus ihren Sentenzen Einsichten oder Einfälle sprechen, also Erkenntnisse oder aber Manipulationen von Erkenntnissen (offensichtlich, in genialer Weise, beides). Nietzsche ist bei weitem nicht eine so deprimierende Lektüre wie La Rochfoucauld (oder Freud). Nietzsche ist heiterer, sanfterer, vor allem in seiner freundschaftlichen persönlichen Ansprache und seinem Willen, einem bei der Selbstfindung zu helfen sympathischer. Aber mit seiner Systematik des Verdachts rückt er zuletzt vielleicht weniger die Menschheit in ein schiefes Licht, als sich selbst. Selbstermächtiger! Selbstverdächtiger!

Du suchtest die schwerste Last:

da fandest du dich –,

du wirfst dich nicht ab von dir…

Selbstkenner!…

Selbsthenker!…

Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie gibt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich. (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen 11) Heidegger, der versucht, das ganze Sein zu denken, hat an Vorlesungen und Essays Texte im Umfang von tausend Seiten über Nietzsche verfasst: weil der ebenfalls versucht habe, das ganze Sein zu denken. Nietzsche gehört zu den wesentlichen Denkern. Mit dem Namen „Denker“ benennen wir jene Gezeichneten unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer „über“ das Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. (Heidegger: Nietzsche 1 S. 427) Nun, das wäre mir nicht bekannt, und dass ich (oder andere) nur einen einzigen Gedanken denken würden, kann ich, zumindest an mir, nicht entdecken. Dass allerdings all diese Gedankenarbeit unter einem (einem siegreichen!) Banner läuft, schon eher: das Seiende im Ganzen festzustellen und Lichtungen des Seins herzustellen. Das Sein stellt sich, nüchtern betrachtet, als eine eigenartige Mischung von großem Stil und großer Stillosigkeit (und vor allem: hybrider Mittelmäßigkeit dazwischen) dar. Jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind; sie führen bis in´s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein. (Die fröhliche Wissenschaft 322) Ich selbst kann mich – auch und vor allem für religiöse oder neuplatonische – Vorstellungen und Realitäten von Ordnung, Harmonie, Gesetzmäßigkeit, Ausgleich, Ideal und Sphärenmusik bekanntlich sehr begeistern. Ebenso für den Zufall, das Idiosynkratische, die Abweichung von der Norm, das Aleatorische: Sie bringen nicht nur Dynamik und Fortschritt, sondern auch Heiterkeit und Leichtigkeit in das starr ideale Sein. Das eine ist, eventuell, der Geist, das andere, eventuell, die Kreativität. Sowohl Ordnung als auch Zufall (als auch Mittelmäßigkeit) haben gute und ungute (und mittelmäßige) Aspekte. Das ganze Sein ist ein Gemisch aus allem: sein metaphysisches Bild ist der Chaosmos, in dem sich Ordnung und Chaos ständig mischen (und offenbar auch sein ganz mathematisch-physikalisches: insofern dynamische Systeme, wie eben unser Universum, sich tatsächlich als eine Zweiheit aus Ordnung und Zufall beschreiben lassen – wie übrigens auch die Musik: insofern treffen schopenhauer-nietzscheanische Vorstellungen von der Musik als Urbild der Welt also tatsächlich zu. – Beweisen lässt sich das allerdings nicht durch die Kontemplation, sondern durch die Mathematik). Um eine solche Ontologie des Chaosmos möglichst gut zu begreifen, bedarf es also wohl einer chaosmotischen, vielfältigen Epistemologie, also eines chaosmotischen Erkenntnissubjektes, und eines chaosmotischen ethischen Subjektes (zur Feststellung der Deontologie des Chaosmos). Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischenrinnen seine großen Augenblicke grandiose Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 26(119)) Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie (Brief an Ferdinand Avenarius 10. Dezember 1888) Das tatsächlich chaosmotische Erkenntnissubjekt ist nun aber nicht widersprüchlich, und auch nicht unbedingt frivol. Es löst die Widersprüche letztlich auf und stellt ein großes, weites Feld her, in dem allerhand Dinge passieren/passieren können. Es stellt das Einheits-Bewusstsein her. Und die natürliche Sprache des Einheits-Bewusstseins ist der große Stil. Wahrhaft groß ist daher nur jenes, was seinen schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich und niederhält, sondern ihn in sich verwandelt hat, aber gleichzeitig ihn so verwandelt, daß er nicht verschwindet, sondern zur Wesensentfaltung kommt (…) Das eigentliche Wesen der Kunst ist im großen Stil vorgezeichnet. Dieser weist aber hinsichtlich seiner eigenen Wesenseinheit in eine ursprünglich sich gestaltende Einheit des Aktiven und Reaktiven, des Seins und des Werdens (…) Die dem großen Stil eigene Fügung des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen sein. Der Wille zur Macht ist aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben, in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt nennt. (Heidegger: Nietzsche 1 137f.) Der Chaosmos, der nach dem großen Stil verlangt, ist tragisch in seiner Komik und komisch in seiner Tragik. Um diese schärfsten Gegensätze ineinander zu verwandeln, so dass sie nicht verschwinden, sondern zur Wesensentfaltung kommen, bedarf es eines komischen und eines tragischen Sinnes. Für Kierkegaard sind die höchsten Sinne Ironie und Humor. Jaspers (s.345) glaubt festzustellen, dass bei Nietzsche Ironie und Humor weitgehend fehlen (was als Ironie bei Nietzsche zum Vorschein kommen mag, ist eher ein nonkonformistischer intellektueller Möglichkeitssinn, sein Humor blitzt hauptsächlich als grimmiger Humor auf) (außerdem würden bei Nietzsche fehlen: Liebe, Angst und Gewissen). Die Sehnsucht nach den lachenden Löwen war bei Nietzsche freilich prominent. Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! (Die fröhliche Wissenschaft 1) Doch! Ich! HAhahahaha! Ach, der gute Yorick! (In Yorick-Sterne sah Nietzsche übrigens den freiesten Geist, der je gelebt habe – obwohl er darin freilich auch etwas Unentschlossenes, in seiner Zweideutigkeit Gefangenes verkörpert habe (Menschliches Allzumenschliches 2 113) – Ach, armer Yorick! Wer soll das Reich jenseits der zehnten Stufe jemals erobern, und über das Dasein triumphieren?)

„Der Übermensch“ ist der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens. (Heidegger: Nietzsche 1 S. 224) Der Sehr Tiefe Denker durchdringt denkend das Sein – in seiner Tiefsten Form alles Sein. Der große Schöpfer greift in das Sein ein, schafft im Sein, schafft Sein. Der große Überwinder überwindet das Sein. Das Sein selbst überwinden wollen hieße, das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben. (Heidegger: Nietzsche 2 S.330) Der, der das Wesen des Menschen aus der Angel hebt, ist also der Übermensch. Der Übermensch akkumuliert Welt und Mensch. Er bläht sich auf, ins Gigantische, der übermenschliche Ballon, und nabelt sich schließlich, selbststabilisiert, ab. Mit meinen Tränen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder (ich hätte übrigens gesagt, und sage da übrigens meistens: Schwester!)! Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra 1, Vom Wege des Schaffenden) Der Übermensch reflektiert alle menschlichen Probleme, die Totalität aller menschlichen Probleme, und ist daher „der Sinn der Erde“. Das meiste Menschliche wird ihm vertraut sein, und das meiste Menschliche wird ihm fremd sein. Und daß du unter Menschen immer wild und fremd sein wirst: – wild und fremd auch noch, wenn sie dich lieben (Also sprach Zarathustra III, Die Heimkehr). Nietzsche verortet den Übermenschen einerseits in der Zukunft (und in seiner eigenen Hoffnung auf die/seine Zukunft), andererseits findet man Übermenschliches und Übermenschen zu allen Zeiten. Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren; oder Stärkeren; oder Höherem dar, in dem Sinne, in dem es heute geglaubt wird (…) in einem anderen Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus, in denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältniß zur Gesammt-Menschheit eine Art „Übermensch“ ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden viell<eicht> immer möglich sein… (Nachlass November 1887 – März 1888, 11(413)) Man kann vielleicht sagen: Ideale zeichnen sich dadurch aus, dass man nach ihnen streben soll, es allerdings gleichzeitig außerhalb des Menschenmöglichen liegt, sie tatsächlich zu erreichen. Allerdings werden authentische kleinere und größere Ideale ja auch von irgendjemand erreicht, aufgestellt, vertieft, verkörpert – sonst gebe es ja keine authentische Vorstellungen von Idealen. Wer also Ideale erreicht, kann man vielleicht sagen, hat also übermenschliche Qualitäten. Wer umfassende Ideale, die die ganze Welt betreffen, erreicht, wie zum Beispiel der Buddha, ist Übermensch. Selten ist der Übermensch, wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und Gespenst (Also sprach Zarathustra I 3). Die großen Philosophen sind selten gerathen. Was sind denn diese Kant, Hegel, Schopenhauer, Spinoza! Wie arm, wie einseitig! Da versteht man, wie ein Künstler sich einbilden kann, mehr als sie zu bedeuten … Goethe steht gut da. (Nachlass Sommer – Herbst 1884, 16(3)) Der große Stil des Übermenschen liegt darin, dass er in der noumenalen Sphäre völlig autonom und ohne Beispiel agiert und sein Stil der Geist selbst ist (Goethe steht da nicht so gut da, man könnte unter den Schriftstellern und Dichtern aber vielleicht an Rimbaud, Büchner, Lautréamont oder Emily Dickinson denken). Auratischer, sphärischer Übermensch! Goethe wurde von einem Engländer „panoramic ability“ zugesprochen (wofür er allerschönstens zu danken habe). Büchner (Lenz) oder Rimbaud aber sehen alles gleichzeitig. Das, was sie sehen, und was sie in ihrem Stil beschreiben, ist der Chaosmos. Ihr Stil ist der große Stil. Sie beherrschen alle individuellen Stile und amalgamieren das Gestammel der Welt zu einem Monolog Gottes (F. Hebbel). Das Ich erst in der Heerde. Gegensatz dazu: im Übermenschen ist das Du vieler Ichs von Jahrtausenden zu Eins geworden. (also die Individuen sind jetzt zu Eins geworden (Nachlass Juli – August 1882, 4(188)) Weniger Du-zentriert und mehr Ich-zentriert formuliert: Allein die vollendete Subjektivität verwehrt ein Außerhalb ihrer selbst. Nichts hat den Anspruch auf das Sein, was nicht im Machtkreis der vollendeten Subjektivität steht. (Heidegger: Nietzsche 2 S.272) Diese Subjektivität „vollendet“ sich aber, indem sie profund Innerhalb wie Außerhalb ist, ein offener Raum, der das ganze Sein umfasst, der sich in das ganze Sein, und in sein Geheimnisvolles, offen erstreckt. Ihr Machtkreis ist ein Empathiekreis. Der Übermensch ist nur im technischen Sinne Einzelgänger. Wenn man ihn als das Resultat einer reinen Selbststeigerung und Selbstermächtigung begreifen will, verfehlt man ihn, denn reine Selbststeigerung läuft naturgemäß letztendlich ins Leere. Denn das eine ist das Ich, das andere ist das/der Andere, und beides zusammen ergibt die Welt. Der Übermensch ist der absolut  mit-seiende Mensch. Er ist nicht nur der höhere Mensch, der den Menschen unter sich lässt, sondern auch die höhere Welt, die die Welt unter sich lässt. – Nietzsche war der Philosoph des Übermenschen, gleichzeitig spricht er aber eigentlich nur im Zarathustra vom Übermenschen (eine ansonsten so zentrale Gestalt ist er in seinem Gesamtwerk eigentlich gar nicht). Und Zarathustra ist nicht der Übermensch, sondern der Prophet des Übermenschen. Der Übermensch selber bleibt bei Nietzsche einerseits ein kraftvolles, andererseits ein vages, widersprüchliches und ahnungsvolles, aber nicht wohlformuliertes Konzept. Und Nietzsche wäre freilich auch nicht Nietzsche gewesen, wenn er nicht auch den „Übermenschen“ wieder infrage gestellt und „überwunden“ hätte: … alle diese Götter und Übermenschen. Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde… (zitiert in Jaspers S.169). Wie Lou Salomé es formuliert hat, war das Ziel von Nietzsche die Steigerung aller Lebenskräfte – und daher auch die Steigerung des Bösen als Werkzeug dafür, als Lebensmöglichkeit (S.232). Diese absolute Steigerung der Lebenskräfte ist dann der Übermensch, der jenseits von Gut und Böse ist. Jenseits von Gut und Böse bedeutet allerdings auch: amoralisch-indifferent. Ursprünglich wäre der Übermensch bei Nietzsche eine Art Über-Künstler, Über-Genie, Über-Heiliger gewesen: also etwas Gutes. Jenseits von Gut und Böse bedeutet aber auch die Möglichkeit, dass eines in das andere rutscht. Wenn es mit dem einen nicht klappt, probiere man es halt einfach mit dem anderen. Das Wort „Übermensch“ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit … ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als „idealistischer“ Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger“, halb „Genie“ … Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehen, der traute seinen Ohren nicht. (Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 1) Zarathustra ist an Nietzsche vorbeigegangen. Sein Übermensch ist unter all die gescheiterten höheren Menschen aus dem vierten Teil von Also sprach Zarathustra gerutscht, auf die Stufe eines attraktiven, dann aber auch wieder nur mäßig interessanten Bösewichts. Darin scheint freilich weniger zum Vorschein zu kommen, dass der eigentliche Kern von Nietzsche böse war, sondern eher, dass Nietzsche vom Bösen einfach keine Ahnung hatte.

Karl Japsers glaubt erste Vorboten des Wahnsinns bei Nietzsche bereits um 1880 herum ausfindig machen zu können (Jaspers S.98). Seine Visionen würden ab da in Art und Intensität auch über das Maß hinausgehen, das bei Künstlern gemeinhin vorhanden ist, und sie würden neben etwas Eigenem auch etwas irgendwie Beklemmendes und Fremdes enthalten. Cosima Wagner wollte Anzeichen des Wahnsinns bereits in ihrer sehr flüchtigen Lektüre von Menschliches, Allzumenschliches ausmachen (dem Werk halt freilich auch, mit dem Nietzsche seinen Bruch mit Wagner und dem Wagnerianismus implizit deutlich gemacht hat). Die zunehmend intensivere und radikalere Sprache und die Ideen, ihre Entfesseltheit und Enthemmtheit, das Prophetentum im Vortrag, zumindest ab dem Zarathustra, scheinen auch allgemein grelle Schatten, die der spätere Wahnsinn bereits vorauszuwerfen scheint, nicht zu reden von den allerletzten Schriften. Jedoch wirken, wenn man sie dann wieder liest und genauer kennt, aber weder Der Antichrist noch Ecce homo als so irrational und entrückt. In all der Fieberhaftigkeit und Rauschhaftigkeit des Vortrages hat man eine große Klarheit und geradezu simple Konsequenz der Gedankenführung, die eben die Resultate zeitigt, die in der längeren Denkbahn von Nietzsche ja bereits vorgezeichnet waren. Von den Wahnsinnsbriefen, die Nietzsche kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch verschickt, sind sie auf jeden Fall grundsätzlich verschieden, so dass man von einem graduellen Absinken in den Wahnsinn bei Nietzsche nicht gut sprechen kann. Dieses war ein plötzlich eintretendes Phänomen (auf organischer Grundlage). Nietzsches Entwicklung in Inhalt und Stil kann man genauso gut als die selbstentfesselnde und –ermächtigende Entwicklung des absoluten Genies sehen, das von seiner eigenen, „dionysischen“ Intensität einerseits fortgerissen wird, diese gleichzeitig aber auch kontrolliert lenkt und kanalisiert, zu dem Zwecke, fortwährend neue inhaltliche, „apollinische“ Formen zu werfen bzw. Gedanken zu produzieren, oder eben „Werte zu schaffen“ und (sich in seiner permanenten Selbsttransformation) „umzuwerten“. Im Lauf dieser Entwicklung, sagen wir eben ab 1880, treten aufgrund des intensiven und bildhaften Denkens im Nietzsche-Gehirn Veränderungen auf, die eine solche (bildhafte) Intensität des Denkens immer mehr begünstigen und befördern. Werde, der du bist – solche Veränderungen im Gehirn sind aber an sich nicht krankhaft, sondern Resultat dessen, was man tut, und was man tun will. Im Antichrist, in Ecce homo und in den Dionysos-Dithyramben (die teilweise allerdings schon vorher, Mitte der 1880er Jahre verfasst wurden), kommt dann eben die absolute Genialität, die Gottwerdung (bzw. Dionysoswerdung) Nietzsches, die absolute Transzendenz zum Ausdruck. Eine problematische und labile Emotionalität und Affektivität allerdings – und wie bei den altgriechischen Göttern ja – auch. Das große Ringen ist Zeichen des großen Dichters und Denkers, die große, friedliche Ausgeglichenheit, wo alle Gegensätze befriedet sind und man sich der Alltagswelt enthoben (oder „entrückt“) fühlt, auch. – Einen völlig ausgeglichenen, milden, mit sich und der Welt befriedeten Nietzsche hat man übrigens in der vielleicht am wenigsten bekannten von seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften, dem zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches, sowie auch in den Nachlassschriften der früheren 1880er Jahre; zumindest, bis Zarathustra an ihm vorbeiging. Einen wohlig sich räkelnden, halkyonischen Nietzsche, der sich, zufrieden lächelnd, mit geschlossenen Augen auf hohem Plateau ausstreckt, dem, das er wacker erklommen hat. Selige Öde auf wonniger Höh` (Wagner, Siegfried, Dritter Aufzug, Dritte Szene). Einen sich an sich selbst und an der Welt und an seiner eigenen Milde, der Milde des weltimmanenten Überwinders, erfreuenden Nietzsche, der ausgeglichen in sich selbst und in seiner eigenen Weisheit ruht ( – und dessen Schriften, wenn er so geblieben wäre, wohl heute so häufig gelesen werden würden wie die von Philosophen und Weisheitslehrern wie Proklos oder Malebranche: gut also, dass er es nicht dabei bewenden hat lassen). Aber da die Welt dann doch tiefer ist, und tiefer als der Tag gedacht, trieb es Nietzsche naturgemäß weiter. Die Welt lädt einen, wenn man sich das recht überlegt und man es recht empfindet, nicht zum Bleiben und zum Genießen und sich Ausstrecken ein. Nietzsche musste welttranszendenter Überwinder werden, auch, wenn er seine Fähigkeiten und sein eigenes, höchst eigenes Telos nicht vernachlässigen wollte. Der Überwinder ist vielleicht, insgesamt, keine so harmonische Gestalt, wie man sich das eventuell vorstellen mag, da er permanent mit dem Überwinden beschäftigt ist, mit der Aufrechterhaltung seiner Heiligkeit. Auf der anderen Seite stellt ihn diese Stabilisierung in sich selbst und in seiner eigenen Transzendenz wohl auch nicht vor allzu große Schwierigkeiten. Bei Nietzsche hingegen hat man dann aber ein ständiges Pendeln zwischen Extremen, die sich gegenseitig immer mehr aufschaukeln – ohne dass die Extrempositionen an sich eigentlich wirklich verständlich wären. Nietzsches Denken kreist ständig um „Stärke“ und „Schwäche“, Unter- und Überordnung, aufsteigende und absteigende Kräfte, formuliert einen obsessiven Vitalismus, als Kontrastprogramm zu einer Angstbesessenheit vor einer negativen, lebensverneinenden und angeblich allseitig wirksamen „décadence“: Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz (Ecce home, Warum ich weise bin 2). Gleichzeitig zu seiner Proklamierung der Stärke fühlt er sich andauernd durch irgendwas geschwächt. Sein leidenschaftliches Pathos der kettensprengenden Selbstermächtigung macht einen wundern, warum für ihn eigentlich so viel Ketten da sind, und warum von ihm überall Ketten wahrgenommen werden, bzw. warum er hochgradig multidimensionale und polyvalente Dinge wie Mitleid, Demokratie, Religion usw. geradezu ausschließlich negativ bzw. als Ketten gelten lassen will (und eben als Ketten für ihn abgeschafft wissen will, ohne sich groß zu fragen, ob sie nicht positiv für andere sind). Das ist auch aus dem bloßen Konservatismus seines Zeitalters nicht wirklich einsichtig. Sein ewiges Werde, der du bist macht vermuten, dass er nie das ist, was er sein will. Oder dass er nie das sein will, was er eben ist. Lou Salomé fühlte sich irritiert von Nietzsches Bestrebungen, sich eine Aura des Gefährlichen und Verruchten überzustülpen, obwohl er solche Qualitäten ja gar nicht besaß (so wie der den religiösen Wahnsinn tangierende Kierkegaard immer wieder mit seiner lasterhaften, ausschweifenden Jugend geprotzt hat, ohne dass Hinweise darauf vorliegen, dass es eine solche gegeben hätte). Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (Lou Salomé S.239) Dass Nietzsche gegen das Mitleid, das Christentum, das Asketentum, gegen die Bildungseinrichtungen, gegen Frauen, Schopenhauer und Richard Wagner polemisiert, weil er sie, inklusive seiner latenten und beizeiten heftigen Kränklichkeit (gegen die er dann das Pathos der großen Gesundheit setzt), in seinem Leben als vereinnahmende oder negative Mächte erfahren hat, oder aber weil er sie in seinem selbstreferenziellen Unabhängigkeitsstreben „überwinden“ will, überrascht nicht ganz, wohl aber die Vehemenz, mit der er gegen diese doch (mit Ausnahme seiner schlechten Gesundheit) eher harmloseren Mächte vorgeht. Nietzsche ist, ganz offensichtlich, neurotisch. Woher diese Neurose gekommen sein soll, ist weniger offensichtlich. Traumatische Einschnitte fehlen in Nietzsches Leben. Es enthält nichts, und nichts an kleineren und größeren Unannehmlichkeiten, womit ein normaler Mensch nicht einigermaßen fertig werden kann – win some, lose some, it´s all the same to me (that´s the way I like it, baby, I don´t wanna live forever (… and don´t forget the Joker!)) (Motörhead, Ace Of Spades). Umso mehr erscheint das dann bei einem so außergewöhnlichen Menschen wie Nietzsche befremdlich, dem, in seiner nahezu unendlichen Weisheit, eine gelungene psychologische Selbstintegration doch umso möglicher sein sollte. Andererseits kann ein unterschwelliger Größenwahn und Überlegenheitsdünkel einer solchen psychologischen Selbstintegration aber wohl hinderlich sein, indem man mit den unvermeidlichen Niederlagen in den diversen Bereichen des Lebens vielleicht weniger gut umgehen kann. Nietzsche geht aber, scheinbar, gegen eher harmlose Mächte vor, weil er seine eigene Harmlosigkeit hasst. Und diese hasst er vielleicht umso mehr, weil er alles, was seinen größenwahnsinnigen Phantasien von absoluter Machtvollkommenheit entgegenarbeitet, hasst. Betrachte die paranoide Persönlichkeit! Die paranoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch übergroße, anhaltende Verletzlichkeit gegenüber Niederlagen im Leben aus, Neid gegenüber anderen und dann also einer misstrauischen Vermutung, andere wollten einem Böses, Größenwahn und Selbstreferenzialität und dann also der Vermutung, großangelegte Verschwörungen seien gegen einen im Gange. Die Betreffenden mögen den Eindruck haben, auf einer Mission zu sein, um als Propheten die Menschheit zu erwecken, und sind dabei in ihrer Bestrebung, ein neues, besseres Miteinander zu schaffen, oftmals von unguten „Reinlichkeits“-Phantasien und solchen der gesellschaftlichen „Säuberung“ von „unreinen“ Elementen durchzogen (vgl. Hitler). Sie sind streitlustig bis –süchtig und bedienen sich dann einer radikalen, dehumanisierenden Sprache. Ihr Gefühlsleben und ihre Fähigkeiten zum menschlichen Miteinander sind eingeschränkt bzw. überwiegen die destruktiven Gefühle deutlich gegenüber den konstruktiven. Ihr (Gefühls)Leben ist ziemlich friedlos und freudlos. Ihre Ego-Pathologie scheint die zu sein, dass sie sich dem anderen gegenüber unbedingt als dominant erleben wollen und keine Frustrationstoleranz für andere Erfahrungen haben. Bei Nietzsche hat man all diese Elemente (wie im Übrigen auch bei Schopenhauer und bei Wagner). Man hat allerdings, vor allem bei Nietzsche, ganze gegenteilige und hochheilige Eigenschaften ebenfalls, und zwar offensichtlich als was ganz Authentisches und Ursprüngliches (nicht allein im Rahmen einer Kompensationsleistung bloß Verstärktes). Gerade in seinen späteren Versuchen, dem Bösen mit wohlwollender Faszination zu begegnen, wirkt Nietzsche geradezu albern, so, als wie wenn das Böse ihm eben wesensfremd bleibt. Trotzdem hat er reaktionäre, inhumane politische Entscheidungen mitgetragen und hätte vor einer Einführung eines kastenähnlichen Systems wohl nicht zurückgeschreckt. Während ein ausgezeichnetes Angriffsziel und Hassobjekt für Paranoide immer wieder die Juden sind, ist Nietzsche einer der wenigen ausgesprochenen (im Rahmen der Genealogie seiner Moral allerdings auch paradoxen) Philosemiten seiner Zeit. Während er in der konkreten Begegnung freundlich und aufmunternd bleibt, ist er auf abstraktem Niveau und bei abstrakten Entscheidungen ziemlich negativ – genau gesagt, verwundert dann seine Unfähigkeit, Qualitäten und Entitäten, die ihm nicht gefallen, anders als als abstrakt zu begreifen bzw. sie hinter Abstraktionen (von irgendetwas Negativem) verschwinden zu lassen. Ende der 1880er Jahre vertraut er seinen Freunden Köselitz und Overbeck an, er fürchte, in seinen Urteilen zu unerbittlich zu werden und selbst von der Hölle des Ressentiments erfasst zu werden; seine chronische Verwundbarkeit bräche übermäßige Härte in ihm hervor (Prideaux S.385). Inwieweit Nietzsche und Schopenhauer tatsächlich in dem Sinn gestört waren oder aber nur in die Nähe dessen kamen, also einen so genannten paranoiden Persönlichkeitsstil hatten, bleibt offen (Wagner könnte diese Qualitäten eher auf dem Level einer Persönlichkeitsstörung gehabt haben, bei Otto Weininger, gleichzeitig einem der höchsten Menschen aller Zeiten (der sich von Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ sehr abgestoßen gefühlt hat und der Nietzsche als einen „bloß originellen“ Philosophen der untersten Qualitätsstufe angesehen hat), ist die Paranoia offenbar in den Wahnsinn gegangen, bzw. in eine Klarsicht in den ihr immanenten eigenen negativen Charakter, die ihn in den Selbstmord getrieben hat). Irgendwie scheint es aber so zu sein, dass der innerste Kern der Widersprüche von Nietzsche keine dialektische und synthetisierbare Widersprüchlichkeit gewesen ist, sondern der Kern war eine Widersprüchlichkeit an sich (und die Erscheinung dann eben eine umso radikalere Aufteilung der Welt in Gut und Böse).

Jetzt –

zwischen zwei Nichtse

eingekrümmt,

ein Fragezeichen,

ein müdes Rätsel –

ein Rätsel für Raubvögel!…

 – sie werden dich schon „lösen“,

sie hungern schon nach deiner „Lösung“,

sie flattern um dich, ihr Rätsel,

um dich, Gehenkter!…

O Zarathustra!…

Selbstkenner!…

Selbsthenker!…

Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich mich beinahe jedes Jahr zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit beiseite legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das was dann jedesmal geschah, war in komischer und unheimlicher Weise das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte. (Briefe, zitiert bei Jaspers S.77) HA, ja das kenne ich – und ich kenne es natürlich auch, die unmittelbare Einsicht, dass man ja keinen Anspruch hat darauf, kein Recht darauf, geliebt oder gehört zu werden; schon gar nicht, dass andere, in all ihren momentanen Verstrickungen, alles beiseite legen müssten für einen. Ich kenne es aber auch, dass in der Realität schon komische und unheimliche Gegenteile passieren von dem, wie es in einer idealen Welt eigentlich sein sollte. Nietzsches brutale Polemik gegen den Bildungsphilister in der ersten Unzeitgemäßen steht eine durchaus brutale Realität des Bildungsphilisters eben gegenüber. Es ist deprimierend und gehört tatsächlich zu den unheimlichsten möglichen Dingen, wenn sich die Träger des Bildungsgedankens gegenüber der lebendigen Produktion von Bildungsgut als indifferent oder ablehnend erweisen (nur um einen dann posthum begeistert auf die Welt zu bringen); egal, wie man sich das dann zu erklären oder zu entschuldigen versucht. Es ist deprimierend und unheimlich, wenn sich die vorgeblichen Freunde des Geistes in der Realität dann eher als indifferente Fremde oder gar als dessen Feinde erweisen. Es lebe der Bildungsphilister! Er hasst die kulturellen Erneuerer immer wieder, wenn er sie als außerhalb seines Gesichtskreises erlebt, um sie dann zu lieben, wenn er sie unter die Erde gebracht hat und sich einverleibt hat. Er liebt, vorwiegend, sich selbst. Nietzsches erste Unzeitgemäße über den Bildungsphilister hat z. B. Gottfried Keller, zu dem Nietzsche damals Kontakt gesucht hat, in ihrer Polemik abgestoßen, aber angesichts der selbstzufriedenen Bildungsdummheit von David Strauß erscheint Nietzsche vornehmlich in rächendem Zorn über den Verrat an der Authentizität des Bildungsgedankens. Bildung soll Transzendenz und Selbst-Überwindung ermöglichen; während sie bei so manchen aber das Gegenteil: Immanenz und falsche Selbstkultivierung durch Kultivierung der eigenen Eitelkeit befördert, dadurch auch Geistlosigkeit, Lieblosigkeit und Sterilität befördert. Das ist dann der Bildungsphilister. Der Bildungsphilister ist dann Freund und Feind zugleich. Man muss sich an ihm abmühen, und es kostet viel Kraft, und es ist diese Mühe ganz sinnlos und sie hilft einem nicht weiter, weil der Bildungsphilister kein dialektischer Gegner ist, sondern einfach nur wie ein Stein im Weg liegt. Es lebe der Bildungsphilister!  Dass Nietzsche und co. von den Zeitgenossen nicht verstanden werden (während sie von der Nachwelt dann ohne weiteres verstanden werden), liegt vielleicht weniger an ihrer Schwerverständlichkeit, als daran, dass man sie gar nicht verstehen will. Wenn es ein menschliches „Ding an sich“ gäbe, ist das wohl die Eitelkeit, steht in Menschliches Allzumenschliches (2, Vermischte Meinungen und Sprüche 46) (oder aber auch bei LaRochefoucauldt oder dem überaus erfolgreichen Lebenshilferatgeber von Dale Carnegie). Amanshauser meint, während Typen wie Goethe oder Thomas Mann vom Bildungsbürger gern zu Lebzeiten gelitten werden, würden Individuen wie Nietzsche, Baudelaire oder Edgar Alan Poe zu Lebzeiten immer nur von demselben in die Gosse getreten werden (da sie sich in ersteren – und das auch noch in schmeichelnd vergrößerter Form – selbst spiegeln können, in zweiteren aber eher nicht). Nietzsche ist ein wilder und radikaler Denker. Er ist das so sehr, dass er quasi das Denken an sich ist. Man würde meinen, denkende Zeitgenossen würden sich von einem solchen angezogen fühlen wie von einem Magneten. Dann aber scheint die magnetische Wirkung von Nietzsche und co. eine genau umgekehrte: eine abstoßende. Abenteuer des Denkens unternehmen, Denken als wildes Unternehmen zu begreifen, ist, wie man feststellt, kein Mehrheitsprogramm. Dass Denken Leiden bedeutet, und Leidenschaft erfordert, steht im Gegensatz dazu, dass die Mehrheit hauptsächlich dem harmonisiert vorgetragenen Vortrag von Gedanken gegenüber zutraulich ist. Dass das Zentrum des Denkens woanders liegt, als sie es vermuten, nicht innerhalb ihres eigenen Kreises, mag für die denkenden Zeitgenossen, oder zumindest für ihre Egos, eine Erfahrung sein, die sie lieber vermeiden wollen – aus offensiven Gründen, oder aber auch aus ganz legitim erscheinenden defensiven Gründen. Ich muß weg über hundert Stufen, und niemand möchte Stufe sein. Das muss ich zwar auch (weg über hundert Stufen), aber ich möchte niemand als Stufe behandelt sehen wissen. Das ist in der Tat ein erheblicher Konflikt, der mir gar nicht gefällt. Von der verbreiteten Eitelkeit und Eigennützigkeit des akademischen Betriebes, und nicht zuletzt des Philosophiebetriebes, mit der auch etablierte Philosophen konfrontiert sind und behindert werden (und eventuell dann auch dasselbe machen) kann man auch lesen in der Heidegger-Biographie von Safranski (S.262) und in der Hegel-Biographie von Vieweg (S.205). Philosophen mögen sich gerne für die Könige halten; dass die Meta-Philosophie eine der Philosophie übergeordnete Instanz ist, sehen sie dann womöglich nicht so gerne. Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch, spricht also Zarathustra aber überhaupt zu seinen Jüngern. (Vom höheren Menschen 9) Leider hat Schopenhauer durch nichts zahlreiche Gelehrte mehr beleidigt als dadurch, daß er ihnen nicht ähnlich sieht, vermutet Nietzsche bereits in Schopenhauer als Erzieher (7), wo er auch (in Abschnitt 6) andere zahlreiche Vermutungen anstellt, warum Gelehrte oftmals nicht das sind, was sie zu sein scheinen (also objektive Menschen der Wissenschaft). Er (der Gelehrte) ist zutraulich, doch nur wie einer, der sich gehen, aber nicht strömen läßt; und gerade von dem Menschen des großen Stroms steht er umso kälter und verschlossener da – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmäßigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmäßigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber – abzuspannen sucht, heißt es dann in Jenseits von Gut und Böse (206). Thomas Bernhard kommt einem mit seinen Polemiken und seinen Requien für die Hollensteiners in den Sinn; ich will mir das aber sogleich jetzt vertreiben und lieber die Schönheit besingen und an das Gute glauben. OH, meine Schwestern, ich erhebe mein ideelles Glas mit euch auf die Unschuld des Werdens und der Jugend, auf die Reinheit eurer Leiber, auf die göttliche Kindlichkeit meiner Liliana —- da lese ich dann aber in der Neuen Zürcher Zeitung eben gerade: Eine Integration der Disziplinen wird es dadurch in den Sozialwissenschaften jedoch kaum geben; denn anders als in den Naturwissenschaften, wo sich die Disziplinen auf eine gemeinsame Sprache einigen konnten (genetischer Code, Periodensystem usw.), gehen die Bestrebungen in den Sozialwissenschaften in Richtung sprachlicher Abgrenzung. Dabei entwickeln sich die Disziplinen immer mehr zu selbstreferenziellen Systemen. Sie basieren auf einem Selektionsverfahren, das interdisziplinäre Forschende mit Praxisbezug frühzeitig aussortiert. Was zählt, sind weltanschauliche Kompatibilität, eine identitätsstiftende Fachsprache und die Meriten in der eigenen Zunft… Generell wirft der Trend Richtung Nabelschau in den Sozialwissenschaften ein schiefes Licht auf das moderne angelsächsische Modell. Paul Romer, amerikanischer Ökonomienobelpreisträger und selbst Kritiker des Modells, argumentiert, dass der akademische Wettbewerb innerhalb der jeweiligen Disziplin häufig auf Kosten der gesellschaftlichen Relevanz und der geistigen Erneuerungsfähigkeit gehe. Er macht dafür auch mächtige akademische Seilschaften verantwortlich, die bloss noch an der Fortsetzung der wissenschaftlichen Routineverfahren («normal science») interessiert seien und abweichende Meinungen bestraften. In der Covid-19-Krise sieht er eine Chance, die institutionellen Spielregeln an sozialwissenschaftlichen Fakultäten so anzupassen, dass sich interdisziplinäre Forschung mit Praxisrelevanz wieder lohnt. (Zu viel Nabelschau in den Sozialwissenschaften? Eine kritische Debatte ist überfällig von Philipp Aerni, NZZ 22.9.2020) Institutionen und Meta-Philosophen sind Welten, die vielleicht mehr voneinander trennt als verbindet. An Overbeck schreibt Nietzsche im Sommer 1886: In dieser Universitätsluft entarten die Besten: Ich spüre fortwährend als Hintergrund und letzte Instanz, selbst bei solchen Naturen wie R.(ohde?) eine verfluchte allgemeine Wurschtigkeit und den vollkommenen Mangel an Glauben zu ihrer Sache. Dafür, daß einer (wie ich) dio noctuque incubando von frühester Jugend an zwischen Problemen lebt und da allein seine Not und sein Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl! R. Wagner, wie gesagt, hatte es: und deshalb war mir Tribschen eine solche Erholung, während ich jetzt keinen Ort und keine Menschen mehr habe, die zu meiner Erholung taugten. Rohde und Nietzsche waren Freunde aus Studientagen. In den späteren 1870er Jahren ist die Freundschaft zunehmend loser geworden, bevor es 1887 zum endgültigen Bruch gekommen ist. Entnervt über seine Lektüre von Jenseits von Gut und Böse wendet sich auch Rohde zu derselben Zeit brieflich an Overbeck und klagt seinerseits über Nietzsche: Das eigentlich Philosophische ist so dürftig und fast kindisch, wie das Politische albern und weltunkundig … alles bleibt willkürlicher Einfall … Ich bin nicht mehr imstande, diese ewigen Metamorphosen ernst zu nehmen … Ausdruck eines geistreichen, aber zu dem, was er eigentlich möchte, eben doch unfähigen ingenium … Nietzsche ist und bleibt zuletzt ein Kritiker … Wir anderen genügen uns selbst auch nicht, aber wir verlangen auch keine absonderliche Verehrung für unsere Mangelhaftigkeit … Zur Abkühlung lese ich Ludwig Richters Selbstbiographie (Brief von Rohde an Overbeck 1886, zitiert in Jaspers S.63f.) Rohde hat es, im Gegensatz zu Nietzsche, geschafft, sich im akademischen Betrieb zu etablieren und sich zu verheiraten. Geistige Anregungen hat er aber vorwiegend von außen empfangen – was auch der Grund für seine ursprüngliche Hinzugezogenheit zu Nietzsche war, und wohl auch der Grund für sein latentes Gefühl des sich nicht selbst Genügens. Aus heutiger Sicht mag ein grobes Verkennen von Nietzsche auffallen. Allerdings ist es für Zeitgenossen wohl praktisch unmöglich, jemanden wie Nietzsche zu verstehen. Zu viele alteingesessene Vorstellungen müssten transformiert werden, innere Bilder, bis hin zu verkörperlichten Reiz-Reaktionsmechanismen und Abwehrmechanismen. Dass das umso Gescheitere, darin gleichzeitig umso klarere und Universellere, gleichzeitig aus der zeitbezogenen und konkreteren Perspektive rückt, dass die Avantgarde sich von ihrem Zeitalter entfremdet, ist eine ganz natürliche Wechselbeziehung. Theoretisch besteht eine solche Möglichkeit vielleicht, dass einer wie Nietzsche verstanden wird, praktisch kommt sie wohl kaum vor. Gleichzeitig hat Rohde das Nietzsche-Problem aber auch erkannt (was wiederum aus heutiger Sicht vielleicht die größere und originellere Leistung darstellt): Es lebe also die Universitätsluft und die guten Einsichten, die man in ihr bekommt! Wer aber war Ludwig Richter? Das muss ich jetzt nachsehen. Eventuell ein Bildungsphilister, der eine Autobiographie geschrieben hat, weil er sich für so wichtig gehalten hat. So wie sich die erste Unzeitgemäße von Nietzsche ja an der (wichtigtuerischen) Autobiographie von David Strauß entzündet hat.

Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte, um in ihm eine Fülle innern Lebens – Gedanken-Erlebens, auszulösen. Er selbst hat einmal gesagt: „Es gibt zwei Arten des Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes, welches sich gern befruchten lässt und gebiert.“ (Jenseits von Gut und Böse 248) Zweifellos gehörte er der letzteren Art an. In Nietzsches geistiger Natur lag – ins Große gesteigert – etwas Weibliches; aber er ist darin in einem solchen Maß Genie, daß es fast gleichgültig erscheint, woher er die erste Anregung empfängt (…) Seine Ueberlegenheit bestand darin, daß er jedem Samenkorn, welches in sein Inneres fiel, entgegenbrachte, was er selbst als das Kennzeichen des echten Genies anführt: „den neuen, treibenden Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft.“ (Der Wanderer und sein Schatten 118.) (Lou Salomé S.70) Kreative Menschen sind in ihre Genderidentität immer wieder hybrid. Kreative Männer sind gemeinhin mitfühlender und intuitiver als ihre Brüder, kreative Frauen aggressiver und autonomer als ihre Schwestern. Und Nietzsche war in einem solche Maße Genie, dass eine große Weiblichkeit bei ihm geradezu zu erwarten ist. Seine Sanftmütigkeit, seine Umsicht und sein Mitleidenkönnen im Umgang mit anderen sind an ihm bekannt genug. Seine Basler Wohnung (die er gemeinsam mit Elisabeth bewohnt hat) war eingerichtet mit großen, weichen Fauteuils mit Blumenmuster-Überzügen, Vasen voller Blumen auf zerbrechlichen Tischchen, verschwommenen Aquarellen auf hellen Wänden, durch die Vorhänge drang rosiges Licht in das Zimmer. Sie vermittelte Besuchern den Eindruck, „bei einer lieben Freundin“ zu sein und nicht bei einem Basler Professor (Prideaux S.172). Entgegen zu seinen Idealen und Idolen von maßloser Härte und Stärke und Durchsetzungsfähigkeit war Nietzsche weiblich-harmlos. Darin mag ein Konfliktpotenzial gelegen haben, das sich dann eben auch in seiner späteren Misogynie entladen hat; um die betreffende Stelle bei Lou Salomé jetzt, glaube ich, zum dritten Mal zu zitieren: Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt oder erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief – tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Das gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (Lou Salomé S.239) Insgesamt ist Nietzsches Philosophie nicht sonderlich weiblich (aber überhaupt auch nicht sonderlich menschlich – sondern eben übermenschlich). Wahnsinnig in Frauen vernarrt und ihnen tollkühn verliebt hinterher und ihren ästhetischen und charakterlichen Reizen zugetan war Nietzsche in seinem Leben nicht – in seinem lauwarmen Bedürfnis, Liebe zu nehmen und zu geben übrigens ähnlich den meisten Menschen. Er schätzte kluge und intelligente, selbstbewusste und unabhängige Frauen, dass er sich Frauen gegenüber jemals rüpelhaft oder herablassend verhalten hätte, ist unbekannt (von der Ausnahmesituation des Zerwürfnisses mit Lou abgesehen, wo er allerdings in seiner prompten Aggressivität in Intensität und Ausdruck – übelriechende Äffin mit falschen Brüsten – nicht zuletzt von seiner eifersüchtigen Schwester angestachelt wurde). In seinem Feldzug gegen alles „Schwache“ war das „schwache Geschlecht“ eventuell eine besondere Provokation für ihn, vor allem, wenn diese Schwäche von Frauen, als umgekehrter Ausdruck ihres Willens zur Macht, ja auch durchaus gewollt war. Immer wieder hat Nietzsche erlebt, dass die Ideale der Weiblichkeit, so wie alle anderen Ideale, in der Wirklichkeit selten auf etwas treffen, was ihnen entspricht. Nietzsche hat den Vater früh verloren und ist in einem Haushalt mit fünf Frauen, darunter zwei neurotischen Tanten aufgewachsen. Die Mutter ist im Großen und Ganzen gütig, aber in ihrer Gütigkeit beschränkt, kein Wesen, das seine Gütigkeit und seine Qualitäten insgesamt reflektieren und hinterfragen oder ändern kann; auf die Karriere ihres Sohnes will sie einerseits fördernd wirken und nur das Beste für ihn, andererseits ist er darin auch Objekt ihres verhaltenen narzisstischen Eigendünkels. Weniger Individuum als Verkörperung eines Typus, mag Nietzsche an sie gedacht haben, wenn er bei sich überlegte: Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-Sehen-Wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren „guten Eigenschaften“ usw. (Nachlass Juli – August 1882, 1(98)) Mit seiner Schwester Elisabeth hatte Nietzsche in seiner Kindheit und Jugend ein vertrauliches (manche munkeln auch: inzestuöses) Verhältnis. Elisabeths Tragödie war, dass sie einerseits zu intelligent und eigenständig für ihre soziale Umgebung war, dann aber auch nicht intelligent und eigenständig genug, um sich über diese Umgebung zu erheben. So wurde sie zu einem passiven Ressentiment-Menschen, der schließlich weder tragisch noch komisch war. Nietzsches mögliche Ehe mit Lou Salomé wollte sie vereiteln, selbst hat sie dann (wohl auch, weil sie lange unverheiratet geblieben war) einen chaotischen Antisemiten geheiratet, der gemeinsam mit seinem ebenso narzisstischen wie undurchdachten Unternehmen in Paraguay untergegangen ist – und Elisabeth beinahe mitgerissen hätte. Ihre antisemitischen Tendenzen hat sie nicht abgelegt, in Hitler zuletzt den leibhaftigen Übermenschen erblickt und ihm Nietzsches Spazierstock geschenkt. Den kranken Bruder hat sie gut gepflegt, allerdings auch Acht darauf gegeben, andere und wichtigere Personen aus Nietzsches Umkreis (wie Peter Gast) von der Deutungshoheit über sein Werk und seinen Nachlass auszuschließen. Früh hat sie von Mutter und Schule vermittelt bekommen, Intelligenz und Eigenständigkeit seien nichts für Mädchen, da die Rolle der Frau sich darauf beschränke, dem Gatten eine behagliche Gemahlin zu sein. Der Einzige, der immer wieder Anstrengungen unternommen hat, sie zu bilden und sie aus dieser Lethargie zu reißen, war eben ihr Bruder Friedrich, der damit zu seinem Leidwesen aber immer erfolglos geblieben ist. Trotz ihrer lebhaften Intelligenz hat sie sich früh in diese Passivität gefügt, und sich intellektuellen Anstrengungen stets verweigert, um sich in die Weiblichkeit in all ihrer mysteriösen Banalität und mädchenhaften Taktlosigkeit zurückzuziehen und oft zu betonen, dass sie „nur eine Dilettantin“ sei (Prideaux S.171) und so aller Verantwortlichkeit für ihr eigenes Tun auszuweichen: mit den „Waffen einer Frau“ also umso grobschlächtiger ihren exuberanten Willen zur Macht auszuleben. Cosima Wagner, im Grunde die einzige Frau, die ich (Nietzsche, Anm.) verehrt habe, hat sich nach dem Tod von Richard an die Brust von Houston Steward Chamberlain geworfen und Hitler in die bessere Gesellschaft eingeführt. Du gehst zum Weib? Vergiss die Peitsche nicht! Es ist schade, dass zwischen Nietzsche und Lou nichts geworden ist, aber dass bei allen Gemeinsamkeiten das Trennende zwischen Personen überwiegen kann, gehört zu den Tragiken des Lebens. Er betrachtete Lou schließlich – vielleicht aus Zorn darüber, dass sie nicht zu seiner Jüngerin geworden ist, vielleicht aber auch zu Recht – als Parasitin, für die das intellektuelle Streben kein authentisches, waghalsiges, gefährliches Unternehmen sei, für das man was riskiert, wie es das für Nietzsche war und wie er es selbst heroisch praktizierte, sondern eine Genüsslichkeit, die man konsumiert wie ein Bonbon, mit denen man sich dann füttern lässt bevorzugt von intellektuell authentisch strebenden und ringenden Männern, ohne sie dafür dann großartig zu renumerieren. Vor dem Zerwürfnis mit Lou (und gleichzeitig auch seiner Mutter und seiner Schwester) war bei Nietzsche keine großartige Frauenfeindlichkeit zum Vorschein gekommen – wenngleich in der Schwebe bleibt, ob z.B. seine Ausführungen zu Weib und Kind in Menschliches, Allzumenschliches eher vom Geist der Achtung oder der Verachtung getrieben sind – oder eben einfach nur, wie der Untertitel schon sagt, vom freien Geist (in etwa zur selben Zeit notiert er sich:  Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einer und derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und der Verspottung sich befindet. (Nachlass Sommer 1876, 17(16))). Nach der Affäre mit Lou will er zum Weib nur mehr mit der Peitsche gehen, im Zarathustra und in Jenseits von Gut und Böse finden sich dann die bekannten frauenfeindlichen (allerdings insgesamt der Menschheit gegenüber eben nicht freundlichen) Äußerungen. Sie verschwinden dann großteils wieder. Zu den Frauen, die Nietzsche später im Leben, über seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug kennengelernt hat, gehörten Rosa von Schirnhofer und Meta von Salis-Marschlins, beide Feministinnen. Die Beziehungen blieben bei einer freundlichen Bekanntschaft, Lebenswege, die sich gekreuzt haben, insgesamt aber anderwertig verlaufen sind. Seinen boshaften „Weibs-Wahrheiten“ in Jenseits von Gut und Böse (231-239) stellt er voran, dass und wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind. Er will sie also nicht als etwas Allgemeingültiges betrachtet wissen. Und sie sind kein eigentliches Element seiner Philosophie.

Dort draußen, jenseits der Galaxien, im Raum wo die urtümlichen Bewegungen stattfinden, schmeißt die Kelle, ächzend und gewaltig, die Materie durch die Form. Das Gedicht muss werden! Noch liegt es am Boden. Schlaff und kraftlos, es kann nicht für sich selbst stehen. Noch dazu ist die Welt stärker als das Gedicht. Die Kelle wirft Materie durch die Form, in fortwährenden Versuchen rotiert sie gegenläufig zur Form, die sich langsam aufrichtet. Etwas Materie fällt durch die Form, vieles davon prallt an ihren Begrenzungen ab. Die Materie des Ausdrucks wird durch die sprachliche Form geworfen, fortwährend, ächzend mahlt diese Mühle. Das Gedicht richtet sich langsam auf, erigiert sich, wächst über die Erde hinaus. Materie und Form füllen sich gegenseitig langsam aus, umschließen sich. Schließlich fällt nichts mehr daneben, die äußere Rotation ist beendet, der Erde enthoben stehen sie da, augenlose Augen, stumm sprechende erstarrte Feuerzeichen, in sich abgeschlossene und sich in sich selbst enthaltende Entitäten: die Dionysos-Dithyramben. Das letzte von Nietzsche herausgegebene (wenngleich teilweise schon vorher verfasste) Werk, und die letzten aller Gedichte. Die Dionysos-Dithyramben sind stehende Zeichen des Absoluten. Sie sind unbesiegbar, da sie reines Licht sind. Die Doppeltheit von Energie als Masse multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Sie können beliebige Formen und beliebige Ausdrücke annehmen, denn beides ist eins geworden und kann, in dieser Selbstidentität, in unendlichen Formen unendlich wiederkehren. Die Dionysos-Dithyramben sind das Endprodukt und die endgültige Form des transzendenten Geistes selbst. Form und Inhalt sind wechselseitig identisch, Apoll und Dionysos spiegeln sich ineinander, amalgamieren sich und heben sich jeweils in eine höhere Einheit auf – der Einheit nicht allein von Form und Inhalt sondern auch von Ergebnis und Intention. Die Dionysos-Dithyramben sind keine bloß radikale Konsequenz des Denkens und seiner möglichen Winkelzüge, wie Finnegan´s Wake oder die Diabelli-Variationen, und sie stehen ein wenig höher und straffer auch als die – stets ein wenig in sich selbst verbogen bleibende – späte und späteste Lyrik Hölderlins. Sie sind das Jenseits im Diesseits. Nietzsche hat andere geistige Zustände erreicht als selbst Rumi oder Hafis. – Freilich haben die Dionysos-Dithyramben auch etwas statisches und starres, stationäres. Dieser stationäre Zustand einer sich selbst reflektierenden und genießenden, sich selbst durchspielenden Dynamik und Intensität ist wohl der göttliche Endzustand von allem, was möglich ist, von allen Entitäten und Erscheinungen, die möglich sind. Noch aber leben wir, und unser Geist wandert dann schon wieder weiter, zu irgendetwas Banalerem, in seiner Geworfenheit in die Welt. Was hätte Nietzsche gemacht, wenn er noch länger am Leben geblieben wäre? Ständig irgendwas Neues, die endlose Bewegung und Transformation fortgesetzt? Oder wären seine Transformationen die ewige Wiederkehr des Gleichen gewesen? Hätte er, der Kriegerische, als altersweiser Starintellektueller vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg gewarnt, ja, wäre seine Autorität vielleicht so groß gewesen, dass er, der Erd-Regierer, ihn verhindert hätte? Nicht zu schweigen von ihm als Warner vor Faschismus und Nationalsozialismus und Antisemitismus? Hätte er in der Weimarer Republik eine fröhliche Freisetzung von dionysischen kreativen Energien erblickt, sowie dass die Demokratie ja gar nicht so schlecht ist, oder wäre er, im Hinblick auf das kleinere Übel, eben umso mehr in den Faschismus geflüchtet? Oder wäre er, in diesem nunmehr hochpolitischen Zeitalter umso unpolitischer geblieben? Wäre er, wie in dem fiktiven Und Nietzsche weinte, auf Freud getroffen und von seinen Neurosen geheilt worden? Was hätte er von der Avantgardekunst gehalten und allgemein von den kreativen Explosionen in Wissenschaft und Kunst und Kultur im eingehenden zwanzigsten Jahrhundert? Die Bereicherung der Welt durch Nietzsche ist kaum ermessbar, der mögliche Verlust, den sie durch seinen lebensunzeitgemäßen Tod erlitten hat, ist vielleicht aber noch schwerwiegender. Aber ist dann sein Werk Torso ohne logisches Finale geblieben, ein nach dem vierten Akt von Zarathustra unterbrochenes Drama? Oder hat Zarathustras Adler es geschafft, letztlich zu landen? Vielleicht hat Nietzsche ab 1887 deswegen eine besonders exzessive Produktivität an den Tag gelegt, weil er geahnt hat, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben möge. Denn trotz des ständig offenen Charakters seines Werkes und seines Philosophierens haben die letzten Schriften dann scheinbar auch was Abschließendes. Plötzlich schließt er die Akte zum Fall Wagner und zum/seinem „Musikanten-Problem“, er stürzt Götzen und philosophiert über die Philosophie mit dem Hammer, und bleibt dankbar gegenüber den Alten. Im Anschluss bereits an den Zarathustra hätte er mit Der Wille zur Macht ein großes systematisch-darstellendes Werk über seine Philosophie verfassen wollen, nicht zuletzt mit dem Fortschreiten seines Denkens verlief diese Intention dann aber im Sande. Stattdessen plante er zuletzt als großangelegtes, systematisches Werk in diesem Sinne das mehrbändige Die Umwertung der Werte, von dem Der Antichrist als der erste Teil gedacht gewesen war. Und Ecce homo als darauf vorbereitenden autobiographischen Abriss, mit dem er sich selbst, einerseits pompös, andererseits bescheiden und wenig voluminös (vgl. die ausladenden und geschwätzigen Autobiographien von anderen), dem breiteren Publikum vorstellen wollte. Zuletzt hat er dann aber auch den Plan zur Umwertung der Werte verworfen, und stattdessen Der Antichrist und Ecce homo als zusammengehörige Werke, als Dyade betrachtet. Seine endgültige, abrechnende Überwindung seiner Herkunft als Pastorensohn aus bigottem Hause (gleichsam stellvertretend für das Erden-Gefängnis an sich, in das jeder geworfen wird und von dem er „gemacht“ wird), und der abschließende Rückblick auf sein Leben als Dokument einer Selbsterschaffung, einer Gottwerdung, einer Einswerdung mit dem „Schicksal“? Dann die abschließende Herausgabe der Dionysos-Dithyramben: ewige leuchtende Feuerzeichen der Intensität in der Höhe, wo Apoll und Dionysos schließlich ineinander verschmelzen, eine statuarisch gewordene Dynamik, augenlose riesige Augen, die, indem sie in sich selbst blicken, in die Welt blicken, durch Brand unzerstörbare Formen des verzehrenden Brennens, ein mächtiger, zuletzt sogar der absolut triumphierende Schild gegen das Nichts… in ihrer transzendenten Selbstidentität an und für sich nicht bloß das angestrengte Ja-Sagen des Übermenschen, sondern der transzendente Sieg über die ewige Wiederkehr des Gleichen, indem sie keinem äußeren Wandel mehr unterworfen sind, sondern nur mehr fortwährender innerer Wandel sind… Also sprach Zarathustra dann zum letzten Mal —

Höchstes Gestirn des Seins!

Ewiger Bildwerke Tafel!

Du kommst zu mir? –

Was keiner erschaut hat,

deine stumme Schönheit –

wie? Sie flieht vor meinen Blicken nicht? –

Schild der Notwendigkeit!

Ewiger Bildwerke Tafel!

 – aber du weißt es ja:

was alle hassen,

was allein ich liebe:

– daß du ewig bist!

daß du notwendig bist! –

meine Liebe entzündet

sich ewig nur an der Notwendigkeit.

Schild der Notwendigkeit!

Höchstes Gestirn des Seins!

 – das kein Wunsch erreicht,

 – das kein Nein befleckt,

ewiges Ja des Seins,

ewig bin ich dein Ja:

denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! —

Tönnies über Nietzsche, ob seine Wahrheitsliebe, Ruhmgier oder Zerstörungslust größer sei. – Keines davon, sondern eine Verwechslung, dämonischer Art, von sich selbst mit dem bevor er beständig kniet. Dies ist es, was immer, auch in den zerstörendsten Wahrheitstendenzen, Höhen um ihn aufbaut, und auch, was den unheimlichsten Abgrund in seiner Natur aufreißt. Dies Gemisch von Wahrheitsdrang und Ruhmgier, Begeisterung und Eitelkeit, richtet sich als Zerstörungswut gegen alles, was außerhalb dieses dämonischen Kreises steht. Gewiß ist Nietzsche einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten Menschen, die gelebt haben. Unerwartet, aus dem Dunkel wirkend, so daß man fast fühlt, es müsse selbst aus dem verborgenen Dunkel der Irrenzelle sein Geist noch einmal mit seinem Werk herausspähen, sei es auch in einer gigantischen Fratze. (Vorwort zu Lou Salomé S. 20, Tagebucheintrag zu einem Brief an Ferdinand Tönnies) Nietzsche ist einer der reichsten, unheimlichsten, verborgensten Menschen, die je gelebt haben. Dass solche Menschen erst  posthum geboren werden mögen, liegt in der Natur der Sache. Ihre Einsamkeit ist die des Langstreckenläufers. Gescheitert ist Nietzsche nicht (notwendigerweise) im Leben, sondern an seiner Krankheit, als einer heterogenen Macht, die ihn zu früh aus dem Leben gerissen hat. Was wäre aus ihm geworden, wenn er länger gelebt hätte? Hätten sich die Nebel in ihm und zwischen ihm und der Welt gelichtet, oder wäre er immer mehr und immer tiefer im Nebel verschwunden, wo kaum ein Mensch ihm mehr nach kann, so wie der spätere Einstein, Wittgenstein oder Gödel? Wäre er Wanderer geblieben – und dessen irritierender Schatten? Als Wanderer sind wir ihm dankbar für die steilen Wege, die er erklommen hatte, und die er dennoch umso fester und sicherer unter sich fühlte. Wir sind ihm dafür dankbar, dass er uns unsere eigenen Schatten, und die Schatten unserer Kultur aufzeigt, und uns hilft, sie auszuleuchten. Wir sind ihm dankbar, für den Reichtum, für die Schätze, die er aus dem Schatten des Unbekannten holt, mehr noch aber dafür, dass die Welt, und die Welt in uns, diese Reichtümer enthalten, diese Reichtümer sind. Wenn er uns was lehrt, dann, dass die Welt tief ist, und tiefer als der Tag gedacht. Wie Hölderlin verlangt er nach einer intensiveren Erfahrung der Wirklichkeit; Kultur ist für ihn eine Anstrengung gegen die Gleichgültigkeit der Wirklichkeit; er will der Gleichgültigkeit der Wirklichkeit etwas entgegensetzen. Dass er darin aristokratisch ist, ist würdig und recht, denn: Für drei gute Dinge in der Kunst haben „Massen“ niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum –: um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden. (zitiert in Heidegger: Nietzsche 1 S.124) Hölderlin hat er, wie Kleist, deutlich früher als seine Umgebung verstanden und geliebt; er liebt die ungewöhnlichen Menschen, die Grenzgänger, und setzt ihnen Orientierungshilfen, wie sie sich über sich selbst orientieren können (Dritte Unzeitgemäße Betrachtung) und wie sie sich gegen die Gesellschaft orientieren können (Erste Unzeitgemäße Betrachtung) – beziehungsweise ist sein ganzes Werk gerade eben dem gewidmet. Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will und so zugrunde geht. (Also sprach Zarathustra, Vom Wege des Schaffenden) Die Kultur ist nicht nur das, was den Menschen über die Natur erhebt, sondern was den Menschen über den Menschen erhebt. Aufgrund seines extrem hohen Niveaus, weil er im Dachgeschoß des Denkens haust, ruft er aus eisigen, klaren Höhen herab, und lehrt uns den Übermenschen. Denn dass der Mensch was ist, was überwunden werden soll, darauf kann man sich wohl schon einigen. Jeder Mensch ist dabei in eine Lebenskämpfe geworfen, sie zu überwinden oder zu befrieden ist das Telos des Menschen, von jedem von uns: und jedem spricht er Mut zu und erteilt Ratschläge über Ratschläge, er spricht zu uns allen, und er spricht ganz konkret zum Einzelnen, der naturgemäß auch der erste ist, vielleicht sogar der einzige, der sich um sich selbst bekümmert … was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Menschheit. – Man muß der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele – durch Verachtung (Der Antichrist, Vorwort). Es ist, wie Jaspers sagt, der Kampf von Substanz gegen Nichtigkeit, den er führt (Jaspers S.446), er exerziert ein „schaffendes Denken“ (ebenda S.278); bei all der Verneinung bleibt eine kraftvolle, bejahende Stimmung (ebenda S.253). Es bleibt das Denken, das Hinterfragen, das Schaffen und Aufstellen und Umwerfen, wenn es sich als falsch erweist, an sich. Es bleibt, es ist, was Nietzsche tut, die Philosophie an sich. Der Zweck von Philosophie ist es, laut Jaspers (und wie man es auch von der Kunst einfordern kann), Transzendenz anzustreben, Lebensmöglichkeiten hinter den vorhandenen Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Nietzsche hat sich daran gehalten, und wer das tut, begibt sich wahrscheinlich auf eine gefahrenvolle Reise und entfremdet sich, einerseits indem er in der Zukunft sucht und gleichzeitig im vornehmlich ewig schon Vorhandenen, ins Unzeitgemäße. Und Nietzsche hat den Bogen dabei sehr weit gespannt: Das Seiende soll in das Offene des Seins selbst und das Sein soll in das Offene seines Wesens gebracht werden. Die Offenheit von Seiendem nennen wir die Unverborgenheit: Wahrheit. (Heidegger: Nietzsche 1 S.64) Nietzsche war für Heidegger einer der größten Denker, weil er das Seiende und seinen Charakter ins Offene bringen wollte, um Wahrheiten über das Seiende auszusagen, die von einer herkömmlichen Intelligenz nicht ergriffen werden können, sondern die eine totale Intelligenz erfordern. Derjenige ist dann Metaphysiker. Metaphysik ist die Wahrheit über das Seiende als solches im Ganzen. (Heidegger: Nietzsche 2 S.171) Nietzsche übertrifft Heidegger, der immer wieder als der größte Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen wird, indem er auch noch die Philosophie und Metaphysik selbst in sein Umwälzungs- und Umwertungswerk miteinbezieht, über sie mit dem Hammer philosophiert. Er, der Meta-Philosoph. Der Meta-Philosoph steht jenseits der Philosophie und jenseits der empirischen Welt. Wenn man ihn nicht versteht, wieso soll es seine Schuld sein? Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, und der Meta-Philosoph lehrt uns gerade das. Die empirische Welt ist zutiefst gespalten, in einen komischen und in einen tragischen Pol (dazwischen klafft gähnend die Mittelmäßigkeit). Der Meta-Philosoph will die Gespaltenheit der Welt unter sich lassen. Wieso soll er nicht formulieren einen „Pessimismus der Stärke“ (Versuch einer Selbstkritik 1 zu Die Geburt der Tragödie)? Wenn er sich dieser neurotischen Gespaltenheit der Welt aussetzt und hingibt, ohne Teile von sich und der Welt zu verlieren, wieso soll das dann nicht ergeben eine „Neurose der Gesundheit“ (ebenda 4)? Was ist an Nietzsche überhaupt schlimm? Was ist negativ? Wie eitel und ruhmgierig Nietzsche tatsächlich war, oder wie weit er, in seiner Begeisterung, vor was „kniet“ (wo er doch, im vornehmlichen Gegensatz zu den meisten Schöngeistern, die schönen Dinge tatsächlich und ganz authentisch, und so wie es ihnen gebührt, liebt), nicht einmal das ist überhaupt klar. In dem, was er sich zu Bewusstsein hat bringen können von sich selbst, war er das offensichtlich nicht – in dem, was ihm davon verborgen geblieben war, hat er sich aber offenbar umso lauter durch seine Sprache, seine Philosophie und seinen Pathos artikuliert. Fast jeder liebt heute Nietzsche, so wie ihn früher fast keiner geliebt hat. Nietzsche wurde harmonisiert. Aufgrund seiner äußerst imposanten Erscheinung und seines tiefen Nachdenkens über so viele Dinge mag man – zumindest als intelligenter und sympathetischer Mensch – geneigt sind, bei Nietzsche Einsichten zu vermuten, die so tief und gründlich sind, dass man als gewöhnlicher Sterblicher nicht in der Lage sein kann, sie angemessen zu verstehen, oder aber dass man auf seinem eigenen Denk- und Lebensweg noch nicht tief oder hoch genug gestiegen, um das tun zu können. Was aber, wenn viele von Nietzsches Positionen sich am besten so erklären lassen, dass sie nicht besonders durchdacht sind, sie deswegen von ihm nicht angemessen erklärt und verdeutlicht werden, weil sie dumm, genauer gesagt: neurotisch sind und daher in ihrem Kern für Nietzsche selbst gar nicht zugänglich? Tatsächlich klafft in Nietzsche ein tiefer Abgrund, bei aller kraftvollen Pathetik gibt es Rechnungen, die nicht aufgehen – und die das Dasein so gar nicht notwendigerweise stellt. Er stellt es sich wohl immer so vor, dass er über den Abgrund wandelt, weil er ihn in sich selbst spürt. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Licht liegen! wie frei man atmet! wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein (…) Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? (…) Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich… (Ecce homo, Vorwort 3) (Ha, wenn der wüsste, wie ich in Wirklichkeit aussehe, verschissen, verkotzt und Spermakrusten überall, ich glaube dann wäre er ruiniert!) Ich aber lehre euch: Wahrheiten und Widersprüche auszuhalten ist gar nicht schwer, wenn man kein nennenswertes „Ego“ hat. Ich brauche mich dann nicht pathetisch zu nehmen. Wer aber traut sich, gegen Zarathustra in den Ring zu steigen? Wer kann so gut dichten und denken, wer hat so viele Erfahrungen, und so viele leidvolle Erfahrungen verarbeitet, dass er sagen könnte: In Zarathustras Höhlen und Höhen finde ich mich zurecht?! „Wer mit 40 Jahren nicht Misanthrop ist, der hat die Menschen nie geliebt“, pflegte Chamfort zu sagen. (Nachlass Herbst 1881, 15(71)) Wer traut sich, über Zarathustras Misanthropie so einfach zu richten? Hat er mit seinen 80 Jahren immer noch nicht erlebt, was Nietzsche mit 40 erlebt hat? Oder hat er die Menschen, wie es ganz wahrscheinlich ist, nie wirklich geliebt? Ich bin jetzt in etwa so alt wie Nietzsche bei seinem geistigen Zusammenbruch. Zwischen meinem Leben und dem seinen gibt es Ähnlichkeiten. Während die seitherigen Philosophen und Nietzsche-Deuter ihm hinsichtlich Geist und Seelenumfang unterlegen waren, bin ich ihm an Geist nicht unterlegen und an Seelenumfang wohl eher überlegen: ich habe keine Angst vor den Armen und nicht vor Dissonanz in der Musik, meine Bücher werden gar nicht erst verlegt, zum Bildungsphilister bin ich vielleicht ein noch größerer Antitypus etc. Ich weiß, im Gegensatz zu Nietzsche, was der Übermensch ist und warte nicht, wie Zarathustra, ewig auf ihn. Dass ich aber, in meiner kleinmütigen Bescheidenheit, überhaupt jemals auf den Übermenschen gekommen wäre, so wie Nietzsche, glaube ich nicht. Auf wie viel wäre ich überhaupt gekommen ohne Nietzsche, wie viel verdanke ich dem Alten? Nietzsche war für mich, seitdem ich angefangen habe, mich mit Philosophie zu beschäftigen, der wichtigste Philosoph, an und für sich die wichtigste, prägendste Einzelgestalt für mich überhaupt. Denn er lehrt einem das Philosophieren, und nicht nur das Philosophieren: das Leben. Er lehrt einem, Innenräume und Außenräume zu durchmessen, genau gesagt, den Innenraum und den Außenraum. Er ist der Raum selbst. Heil dem, der der Raum selbst ist! Wenn ich was lehre, dann aber den Raum selbst. Mein Raum ist kein dionysischer Abgrund, und kein Chaos, dort wo er am tiefsten ist. An der tiefsten Stelle des Raumes hat man den Chaosmos und das Kreuz, aus dem DAS GESETZ entspringt. Der Machtkreis der vollendeten Subjektivität ist ein Empathiekreis, wo Subjektivität und Objektivität ineinander übergehen. Die Steigerungsdynamik der Ich-Werdung bei Nietzsche muss mit der absenkenden Dynamik der Welt-Werdung bei Schopenhauer einhergehen. Das ist der hochzeitliche Ring der Ringe, der Ring, der jenseits der ewigen Wiederkunft ist.

Nietzsche hat einmal das paradoxe Wort ausgesprochen: „Lachen heisst: schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen“ (Fröhliche Wissenschaft, 200). Eine solche überlegene Schadenfreude, die des eigenen Schadens froh zu werden, ja, ihn sich selbst zuzufügen imstande ist, geht als ein heroischer Selbstwiderspruch und ein heroisches Lachen durch Nietzsches gesamtes Leben und Leiden. In der gewaltigen Seelenkraft aber, durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen vermochte, lag, psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung, sich als mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn und Werth seiner Werke.

Denn auch uns tönt ein erschütternder Doppelklang aus seinem Lachen entgegen: das Gelächter des Irrenden – und das Lächeln des Überwinders. (Lou Salomé S.296)

Es missfällt mir ein wenig, meine Hommage an Friedrich Nietzsche ausgerechnet mit den Schlussworten seiner Erzfeindin zu beenden – auch wenn er sich vielleicht wieder mit ihr versöhnt hätte, oder jetzt, im Kontinuum, vielleicht versöhnt mit ihr lebt. Wir antworten uns aber, glücklicherweise, immer wieder über Echos und Ähnlichkeiten, Referenzen und Assoziationen. In diesem Sinn mag es vielleicht dazu herausschallen

Da, plötzlich, Freundin! Wurde eins zu zwei –

– Und Zarathustra ging an mir vorbei…

15. September – 15. Oktober 2020

*

In seinen zu Lebzeiten publizierten Werken hat Nietzsche die Absätze und Aphorismen dankenswerterweise nummeriert, so dass man, unabhängig von der jeweiligen Ausgabe, darüber aus ihnen zitieren kann.

Den Verweisen aus dem Nachlass liegt die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari editierte Kritische Studienausgabe, erschienen bei de Gruyter, zugrunde.

Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt/Main, Insel 1994

Martin Heidegger: Nietzsche 1. Band/Gesamtausgabe Band 6.1, Frankfurt/Main 1996

Martin Heidegger: Nietzsche 2. Band/Gesamtausgabe Band 6.2, Frankfurt/Main 1997

Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin, Walter de Gruyter & Co 19520

Osho (Bhagwan): Zarathustra – Ein Gott der tanzen kann, Zürich, Osho International Foundation 1994

Sue Prideaux: Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche, Stuttgart, Klett-Cotta 2020

Rüdiger Safranski: Nietzsche: Biographie seines Denkens, Frankfurt/Main, Fischer 2002

Heidegger und ich (Skizze)

Heidegger habe ich meistens für ein wenig unbeholfen gehalten und für leicht unwichtig; von wegen, da habe man hauptsächlich Trivialitäten u. dergl. Aber wenn ich versuche, Antonioni nachzuvollziehen, glaube ich zu erkennen: In den Filmen von Antonioni geht es  um die Ausleuchtung des In-der-Welt-seins, um einen durchaus Heideggerschen Gestus! Es ist gut, wenn man auf was Neues draufkommt! Bei mir geht es, wenn ich mir das recht überlege, ja auch um die Ausleuchtung des In-der-Welt-seins: Also kann ich, anzunehmenderweise, doch recht gut mit Heidegger ins Einvernehmen kommen! Und man kann Heidegger vielleicht das eine und andere vorwerfen, und man kann von mir aus auch mir vieles vorwerfen, aber nicht, dass ich seinsvergessen sei! So verstehe ich auch nicht ganz, warum Heidegger ständig Probleme mit der Eigentlichkeit und der Authentizität hat, denn ich bin ja ganz und gar eigentlich und authentisch, und wenn man seinsbewusst ist, ist man ja ganz eigentlich und authentisch. Meine Philosophie ist: man soll sich selber so ganz wie möglich vergessen, um so ganz als möglich im Sein aufzugehen. Das Sein ist weder besser noch schlechter und weder gescheiter noch dümmer als das Ich, aber das so ganz wie möglich im Sein aufgegangene Ich, und das so ganz als möglich im Selbst aktualisierte Sein: dieses Arrangement, dieses Dispositiv, ermöglicht die Herrschaft über das Geviert. Wenn man Herrschaft über das Geviert hat, ist man ganz schön eigentlich und authentisch, bzw. man ist sogar mehr als das Geviert, eine höhere Seinskategorie. Im Ich allein ist diese Lösung klarerweise ganz und gar nicht zu finden, im „Ich selbst“ sein wollen liegt letztendlich keine Eigentlichkeit und keine Authentizität ich will auch nicht ich selbst sein, es ergeht glücklicherweise kein existenzialistischer Gewissensruf an mich, dass ich „ich selbst“ sein solle. Ich will eher immer nur weg von mir, und meinen Geist und meine Seele erweitern. Ich gehe in der und mit der Fremdheit auf; und in sich selbst und gleichzeitig in der Fremdheit aufgehen, heißt eben: im Sein aufgehen. Wenn man das perfektioniert, ist der ständige, hektische Möglichkeits- und Entwurfscharakter der individuellen menschlichen Existenz überwunden, das Werden ist gleichzeitig das Sein, der Zustand des „Noch-nicht“ liegt für mich längst in der Vergangenheit, ist verwunden (indem er einen anderen Qualitätszustand eingenommen hat). Heidegger empfindet das Dasein bzw. die Umwelt als unheimlich und fremd, er ist besorgt über die menschliche Schuld und er hat Angst. Ich empfinde das Sein als nicht sonderlich unheimlich und nicht sonderlich fremd, genauer gesagt, ist mir das Unheimliche und das Fremde durchaus willkommen, ich nehme es gerne in mich auf. Ich nehme auch gerne die Schuld und die Erbschuld in mir auf. Die Erbschuld bedeutet: der Mensch begründet sich einerseits selbst, er wird aber auch vom Sein begründet, und steht daher in der Schuld des Seins; vor allem, wenn er durch sein Handeln das Sein verändert. Indem man aber eben selbst Ich und Um- und Mitwelt ist, bzw. dazu wird, indem man das Fremde in sich aufnimmt, das Eigene und das Fremde gleichzeitig ist, so überwindet man die Schuld, so überwindet man die Zeitlichkeit, so überwindet man das Sein zum Tode (und man erlangt eben Herrschaft über das Geviert). (Heidegger und der Zen-Buddhismus haben sich berührt und) wenn man das Koan verstanden und die Paradoxien und Aporien der Existenz verdaut hat, also im Satori, ist man jenseits von Leben und Tod und ist ewig. Bei Heidegger hingegen ist ein mächtiges Existenzial die Angst; Heidegger hat Angst, daher auch Angst vor den Juden, vor der Technik, vor der Welt außerhalb des Schwarzwaldes, weswegen er sich in den Nationalsozialismus flüchtet, nicht diskutiert, vor der Wissenschaft Angst hat etc. Ich kann nun nicht sagen, dass ich eine großartige Angst hätte. Mein Existenzial ist es, dass ich einfach nur da bin und das Sein studiere. Es ist einfach nur mein Wesen, in die Existenz einzudringen und intellektuelle Probleme zu bearbeiten, das ist meine Existenz, meine Jemeinigkeit. Das mit der Sorge kenne ich, denn ich bin um alles, also um das Sein, höchst besorgt: aber das ist gut so. R. meinte einmal, was ich anzustreben scheine, scheint (vor lauter Sorge um das Sein) eine Art „kosmisches Verantwortungsbewusstsein“ zu sein. Schuld und Verantwortung stehen sich gegenüber und kosmische Schuld wird durch kosmisches Vetantwortungsbewusstsein ausgeglichen, und so bin auch ich – wegen des kosmischen Verantwortungsbewusstseins – ausgeglichen und daher eigentlich und authentisch, und real besinnlich. Heidegger hatte ein solches Verantwortungsbewusstsein – trotz allem Gerede vom Menschen als Hüter des Seins – eventuell nicht ganz (und dass er niemals vom „kosmischen Verantwortungsbewusstsein“ gesprochen hat, bedeutet ja eben, dass er´s nicht kannte); es gibt keine Moralphilosophie bei ihm und auch keinen Versuch danach und überhaupt ist seine ganze Besinnlichkeit ziemlich egozentrisch. (Es ist zwar unter anderem auch sympathisch, wenn Heidegger nicht diskutieren will, und sich nicht in das Gerede der Zeit einmischen will, aber nicht, wenn das seiner Philosophie inhärent ist, seine Philosophie eine ist, die nicht verhandelt und nicht diskutiert, daher wissenschaftsfeindlich und eventuell undemokratisch ist, vor lauter Besinnlichkeit eine Grube gräbt, aber keine Bezüge herstellt. Weil Heidegger keine Moralphilosophie hat, begreift er den wahren Charakter des Seins auch nicht (bzw. umgekehrt): Denn das Sein ist eine moralische Sache, und das In-der-Welt-sein eine moralische Angelegenheit, was (von Grunde auf) Ethisches. Heidegger begreift sich als in der Nachfolge von Kant, aber er bleibt hinter Kant zurück, indem er als Monist in einem vulgären, phänomenalen, zeitlichen Seinsverständnis verhaftet bleibt; Kant hingegen, als Dualist, neben der phänomenalen Welt, das Reich der Sittlichkeit und des Noumenalen als eigenständige, und der phänomenalen und zeitlichen Welt gegenüber transzendente Sphäre anerkennt. Heidegger sieht dieses Reich der Sittlichkeit nicht, und damit auch die Eigentlichkeit nicht, und damit auch die Ewigkeit nicht, und damit auch den wahren Charakter der Seinsvergessenheit nicht. Ich bin, wenn man so will, wiederum Monist, da das In-der-Welt-sein für mich so zutiefst von ethischen Erwägungen durchzogen ist, dass man sagen kann, dass Ethik im Sein real existiert und die noumenale Sphäre der Sittlichkeit ganz real ist. Wenn man in dieser Sphäre sein Haus des Seins errichtet, ist man eigentlich und der Zeitlichkeit und dem Sein-zum-Tode nicht mehr verfallen.) Die Schwierigkeiten, die man haben mag, Heidegger zu verstehen und nachvollziehen zu können, mögen auch darin liegen, dass Besinnlichkeit etwas Unterbestimmtes und Subjektives ist, und man, in der Besinnlichkeit gefangen, nie weiß, wie besinnlich man eigentlich ist: ob man immer erst am Anfang steht oder schon an jedem möglichen Ende. Ich verstehe das mit der Besinnlichkeit zwar, aber mein Gestus ist es, dass man einfach durch alles hindurch soll. Ich sehe mir etwas an, einen chinesischen Film oder aber die Philosophie Heideggers, ich sehe mir Gut und Böse an, und muss jeweils hindurch. Das geschieht durch den beiderseits penetrativen wie meditativen Blick. Der beiderseits penetrative wie meditative Blick bohrt sich durch seinen Gegenstand durch und bleibt gleichhzeitig, respektvoll und gelassen, davor und beschädigt nichts: er bewahrt. Wisse, das ist mein Gestus, der jemeinige. Ich möchte alles bewahren, alles ist, gewissermaßen, heilig, so bin ich Hüter des Seins. Hüter des Seins wird man, wenn man das Sein transzendiert, und auch wenn man die Besinnlichkeit transzendiert. Reine Besinnlichkeit finde ich unterkomplex, und sie wird dem Sein nicht ganz gerecht. Ja, ich bin ganz allein, und auf meine Besinnlichkeit zurückgeworfen, wenn ich nicht in der (zumindest heutzutage aufregend schimmernden) Vielfältigkeit des Man untergehen will, aber ich habe die Existenz ja bei mir, da ich in-der-Welt-bin. Schwester, ich brauche nur aufzublicken und sehe vor meinem geistigen Auge ein virtuelles Gebäude, von virtuellen Verstrebungen, mit einem leicht ovalen Dach drauf, eine Art Bahnhofshalle, seine Linien sind offen und verlaufen sich weiter gegen den Horizont ins Unbestimmte (was aber nichts ausmacht, denn man ist einstweilen ja noch nicht dort): das ist die Philosophie, das ist das Haus des Seins, das ist das In-der-Welt-sein an sich. Ich stehe zwar, eventuell, nicht ganz drinnen, sondern draußen, in einer undefinierten weißen Leere, aber direkt vor mir bzw. in diesem Moment bereits bei mir beginnt schon diese Behausung, in der man ist und nicht ist, die vor einem liegt, in der man immer ankommt, am Ausgangspunkt steht – und das ist gut so, wie sollte es auch je anders sein? Vollends im Sein und in der Behausung gleichermaßen kann man niemals stehen; wie Sloterdijk anmerkt, ist der Mensch kein All-Sammler, der vollständig im Sein aufgehen kann, aber so vollständig als möglich geht man auf eben an jener Schwelle. Ich bin im Sein und habe die Zeit und die Zeitlichkeit überwunden, ich blicke auf und sehe vor mir eine abstrakte Bahnhofshalle, ovales Dach, die Ewigkeit…. Die Ewigkeit ist die Berechenbarkeit des Kosmos. Indem mein Leben/meine Existenz/Jemeinigkeit darin besteht, den Kosmos ständig neu zu berechnen, lebe ich jenseits der Zeitlichkeit in der Ewigkeit, und die Zeitlichkeit ist für mich insofern nur noch ein Problem, da sich innerhalb ihrer die Entfaltung des Kosmos/des Seins vollzieht, die berechnet und evaluiert werden muss. Heidegger selbst hatte zwar was gegen das „berechnende“ Denken der Moderne, aber „berechnen“ im vulgären Sinne bezieht sich auf das Ins-Verhältnis-setzen von Quantitäten, während der Philosoph Qualitäten berechnet, austariert, abwägt. Die Ausdeutung des Seins und des In-der-Welt-seins ist nichts anderes als das Berechnen der Seinsqualitäten. Die Ereignisse in Sein und Zeit mögen mächtig sein, aber sie sind auch dumm, daher beschränkt relevant. Wenn man in der Berechnung von Sein und Zeit lebt, existiert man dann tatsächlich und eigentlich. Die Existenz wird dadurch tatsächlich zur einzigen, eigentlichen Kategorie. Und als solche erfahren. Problem gelöst. Wenn Heidegger meint, nur ein Gott kann uns noch retten, so wird das schon stimmen, denn ich bin ja so was wie ein Gott, zumindest, und vor allem, in dessen Erscheinungsform des Heiligen Geistes: denn mein Geist ist der Heilige Geist. Ich habe extreme Anstrengungen unternommen, um das Menschliche hinter mir zu lassen, und das Menschliche zugleich extrem zu bewahren. Ich finde, das ist mir bislang ganz gut gelungen; damit es mir auch weiterhin so gut gelingt, will ich mich, nachdem ich mit Nietzsche fertig geworden sein bin, genauer mit Heidegger beschäftigen. Metal! Wie nun wirklich ein jeder weiß, kommt meine Philosophie aus der Auseinandersetzung mit dem Heavy Metal. Der Heavy Metal ist hohe Präsenz und Identität, und er ist surrealistische Übertreibung: er ist das Fremde, das Seltsame, das Andere, das es, gemäß meiner Philosophie, in sich aufzunehmen gilt. Damit erreicht man dann die Ganzheit, die Authentizität etc. und man geht im Sein auf. Heidegger hatte das Pech, dass es zu seiner Zeit noch keinen Heavy Metal gab, und so wanderte er, teilweise, auf Holzwegen, und außerhalb der Erlösung. Allerdings weiß ich auch nicht, ob er, wenn es den Heavy Metal zu seiner Zeit gegeben hätte, er ihn auch verstanden hätte. Heidegger ist somit ein Beispiel, dass auch Leute, die den Heavy Metal nicht kennen, und wohl auch nicht verstehen, trotzdem etwas zusammenbringen können und wichtige Vorarbeiten zur absoluten Erkenntnis liefern können, so unglaublich das klingen mag. Ich will mich daher genauer mit Heidegger beschäftigen. Das ist, einstweilen, die Geschichte von Heidegger und mir. Dann ist da noch der Idiot mit dem Windrad. Der erscheint auch, aber nur kurz. Schon ist er wieder weg.

Prelude to a Note About Sartre

As it appears, the 19th century philosophers have been more powerful and titan-like and dominating over the world than the 20th century philosophers, and the 20th century philosophers more significant and controlling over at least parts of the world than seem to be philosophers of the contemporary; has the world become more complicated or have intellectuals become more stupid, that seems a tricky question, that is confusing; I say, we need to regain dominance over the world again, the world may be complicated but is also not very intelligent and therefore not so difficult to conquer, if we are intellectually in tune with the world, which is, of course, largely absent among people and among philosophers; if we amalgamate Eastern (pre- and meta-) philosophy and Western philosophy, analyse and deduce out of and along the pathless path of Tao and introspection into Tao, delimit and mark off this path via the paradoxical logic of the koan, we shall gain dominance over the four cardial directions, the four points of the compass, again. Philosophy should refrain from meddling all to much into the affairs of the world, else, in an environment of „contemporary discourse“, philosophy will degenerate and lose its power over the world, this is what you are having today and this is a battle philosophy cannot truly win. Philosophy and the world are, to some degree, heterogenous realms. In reality, philosophy is more important and more dominant than the world. In a spirit of humility, Deleuze says that philosophy is not a true power; as it is not a true power, it cannot truly confront power, it would need to wage a guerilla against the powers in the world. I think this is a bit weak. I see philosophy as a some kind of grid that humbly, but also evenly and unaffectedly reaches deep and forever into space; from the earth below comes some turmoil and bedlam, activity, yet due to its curvature the body of the earth eclipses into the night, I reiterate: much unlike to the solid structure that is philosophy that humbly and in an upright way reaches into the universe and into space (whereas, I reiterate, the body of the earth eclipses into the night). Forever, the tentacles and protuberances of the earth will reach and hit the structural grid of philosophy that ranges and resides above the earth, that is how philosophy works and how it is processed, via such tangential amalgamations, but will not destroy it or tear it down. Earth has become so complicated that it cannot be subjugated to a philosophical system anymore, that is true; therefore the philosophy that will dominate over the world, at present and in the future, will not be a philosophical system but an awareness and consciousness over philosophical and real-world systems. From Socrates onward, philosophy has been established by the meta-philosophers, and 21st century philosophy will be established by the meta-philosophers as well. That is a semi-conscious message that is confusing, but the task of meta-philosophy, from Socrates onward, is to spread extreme confusion in order to, then, establish extreme clarity and contour, out of that which that cannot stand the test of confusion.

https://philosophynow.org/issues/53/Why_Sartre_Matters

https://jacobinmag.com/2020/04/jean-paul-sartre-communism-algeria-oppression?fbclid=IwAR0e-FFslrn0wRQIlT0Qd5FttHLwBQSroFjq_HBF7IJlRMKEAjia2sq94Ug

Herbert Marcuse und der eindimensionale Mensch

Die meisten Menschen können kaum denken. Aber sie sind gerne eingebildet, größenwahnsinnig und rechthaberisch, außerdem ziemlich feindselig. Sie können die Realität nicht eigenständig intellektuell interpretieren und, da sich ihr Denken und Empfinden auf keiner abstrakten Ebene abspielt, auch keine Abstrakta bilden, d.h. wenn, dann sind es sehr simplifizierende Abstrakta wie „die Juden“, „der Islam“, „der Kapitalismus“, „das Patriarchat“, „der Werteverfall“, „die Konsumgesellschaft“ oder eben „das System“, von denen sie sich dann einbilden mögen, dass diese an ihren wirklichen oder eingebildeten Problemen schuld seien. Das ist offensichtlich zu kurz gedacht. (Kritisches) Denken bedeutet, dass man zu dem, was man gerade im Kopf hat, ein hinterfragendes Negativ errichten kann; bei diesem sehr plakativen alltäglichen Denken fehlt diese Fähigkeit aber, zu viele Schritte einer logischen Schlussfolgerung können nicht unternommen werden, und so benennt die jeweilige Kategorie – „die Juden“, „die Islamisierung des Abendlandes“ etc – dann eben eine Negativität, die, ins Positive substantialisiert, dann eben ein Feindbild ergibt, an dem man sich abarbeitet und zu dem man sich dann auch noch einen „Guten“ ausdenkt: sich selber, der dann ebenfalls in dieser Eigenschaft nicht hinterfragt wird.

Einem solchen Habitus fehlt es offensichtlich an Dimensionalität. Jetzt habe ich eben „Der eindimensionale Mensch“ von Herbert Marcuse gelesen, eine sozusagen populärphilosophischere Pointierung des Denkens der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule; eine „Studie zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, ursprünglich erschienen 1964, das für die 68er Generation wichtig wurde. Dort steht in der Vorrede an und für sich: „Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft  gebricht es der kritischen Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte. Diese Kategorien waren wesentlich negative und oppositionelle Begriffe, welche die realen Widersprüche der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts bestimmten. Die Kategorie „Gesellschaft“ selbst drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen Sphäre aus – die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie „Individuum“, „Klasse“, „privat“, „Familie“ Sphären und Kräfte, die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren – Sphären von Spannung und Widerspruch. Mit der zunehmenden Integration der Industriegesellschaft  verlieren diese Kategorien ihren kritischen Inhalt und tendieren dazu, deskriptive, trügerische oder operationelle Termini zu werden. Ein Versuch, die kritische Intention dieser Kategorien wiederzuerlangen und zu verstehen, wie diese Intention durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entwertet wurde, erscheint von Anbeginn als Rückfall von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundene Theorie in abstraktes, spekulatives Denken: von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie.“

Das Interessante ist nun aber, dass, entgegen dieser Einsicht, der gesamte „eindimensionale Mensch“ einen solchen Rückfall darstellt!  Das Dilemma: Man will also was Nonkonformistisches machen, man will in die Opposition gehen – und wenn das also erfolgreich ist, verschmilzt es mit dem Mainstream, und wird scheinbar kontaminiert oder korrumpiert (verändert aber eben auch gleichzeitig den Mainstream). Wenn sich irgendein Phantasma von der absoluten Reinheit nicht erfüllt, muss man daraus dann den Schluss ziehen, dass überhaupt alles Bestehende falsch ist? Diesen Gestus hat man aber eben in der Kritischen Theorie, und im „eindimensionalen Menschen“ vom Marcuse (oder auch im späteren „Empire“ von Negri und Hardt). Die westlichen Industriegesellschaften diesseits der Eisernen Vorhanges haben in der Nachkriegszeit ihre Probleme im Wesentlichen recht gut gelöst. Wenn man grundsätzlich gegen die westliche Industriegesellschaft oder gegen den Kapitalismus oder gegen die Demokratie ist, bleibt einem da nur mehr wenig anderes als die Ohnmacht und das Verharren in der Dimensionslosigkeit. „Zu dem Zeitpunkt, da die letzten Verbote verblassen, reden zahllose Intellektuelle nach wie vor über sie, als seien sie immer erdrückender. Oder sie ersetzen den Mythos des Verbots durch den Mythos einer allgegenwärtigen und allmächtigen „Herrschaft“ – eine neue mythische Übersetzung der mimetischen Strategien“, sagt Renè Girard; und „sehn doch viele von ihnen schon aus, als hätten sie immerfort nur Einen und denselben Gedanken, unfähig irgend einen andern zu denken“, sagt Schopenhauer über die „allermeisten Menschen“. Allein schon einmal deswegen mag es Leute mit bestimmten prononcierten Ansichten und politischen Anliegen immer nur in die eine Richtung treiben, gleichgültig, wie intensiv die entsprechenden realen Missstände praktisch noch vorhanden sind. (Natürlich mag sich aus dieser Dimensionslosigkeit, oder aber dimensionalen Undefiniertheit vieles Interessante ergeben, wie etliche schöne Blüten der (damaligen und permanenten) Protestkultur zeigen. Allerdings hat man in den Protestkulturen aller Art auch Biotope der Eigensinnigkeit, in denen das seltsame und unproduktive Denken (in der negativen Art) kultiviert wird. Wie Zizek einmal launisch bemerkt hat, ist es ja viel eher der Mainstream, der offen und freundlich und unvoreingenommen und aufnahmebereit erscheint, während die Oppositionellen griesgrämig, egozentrisch und höchst possessiv im Hinblick auf ihre (geringen) Besitztümer wirken (worauf Zizek übrigens in seiner bisweilen hellsichtigen und lehrreichen Fundamentalopposition gegen die heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eigentlich hinauswill, weiß ich ebenfalls nicht). „Die Schizos, die wahren wie die falschen, finde ich inzwischen dermaßen zum Kotzen, dass ich mich fröhlich zur Paranoia bekehre. Es lebe die Paranoia“, antwortet Gilles Deleuze einem strengen Kritiker (bereits im Jahre 1973, also nur ein Jahr nach dem Erscheinen des „Anti-Ödipus“).) Die Welt hat einen schizoiden und einen paranoiden Pol. Man muss sie beide so gut wie möglich begreifen. Interessant ist, wie im Fall von Marcuse die Schizo-Dynamik so weit getrieben wird, dass sie in Wirklichkeit, und von ihrer Grundlage her, als was Paranoides erscheint; als etwas sogar Totalitäres, als die Eindimensionalität selbst. Als ein eindimensionales Menschsein, dass seine Eindimensionalität in etwas anderes paranoid projiziert.

Marcuse konstatiert in der Vorrede zum „eindimensionalen Menschen“ also die „zunehmende Integration der Industriegesellschaft“, also die zunehmende politische, wirtschaftliche und soziale Integration ihrer Mitglieder „in die etablierten Verhältnisse“. Es ist richtig, dass durch Integration allgemein was verlorengehen kann, bestimmte Ursprünglichkeiten und mehr oder weniger gute Impulse, die sich aus ihnen ableiten könnten. Aber es scheint eher, oder häufiger, der Fall zu sein, dass die Integration das Richtige und Produktive ist. Marcuse löst nun aber die Dialektik dieser Integration immer nur in das Falsche auf, den gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nicht in etwas, das sich positiv verändert, sondern negativ in ein immer umfassenderes und rein manipulatives „Empire“ des Bösen, in die Verabsolutierung von (irrationaler und sachlich unbegründeter) „Herrschaft“. Schreibt er zum Beispiel: „Die abstoßende Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit widerlegt die Philosophien, die die „poetische“ Einbildung der wissenschaftlichen und empirischen Vernunft gleichsetzen. Der technische Fortschritt ist von einer zunehmenden Rationalisierung, ja Verwirklichung des Imaginären begleitet. Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie des Friedens verlieren ihren katastrophischen Charakter. Ihr Erscheinen im täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr das von irrationalen Kräften – ihre modernen Ersatzgötter sind Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen.“ Oder (da natürlich auch die Sinnlichkeit nicht verschont bleiben darf): „Diese Gesellschaft verwandelt alles, was sie berührt, in eine potentielle Quelle von Fortschritt und Ausbeutung, von schwerer Arbeit und Befriedigung, von Freiheit und Unterdrückung. Die Sexualität bildet keine Ausnahme.“ Nun ja, man kann ja auch sagen: von Ausbeutung und Fortschritt, von Unterdrückung und Freiheit, und sozusagen die positiven, transzendenten Aspekte als die realeren, höherinstanzlichen begreifen. Vielleicht wäre das die eigentlichere Freiheit, der eigentlich – zwar nicht „kritische“, aber – schöpferische Akt. Über die zunehmende Verwirklichung des Imaginären (obwohl die eigentlich gar nichts Neues, sondern eher so alt wie die Welt ist) kann man sich freuen; man sehe sich einmal an, wie herrlich und schön sich diese Architektoniken in den Filmen von Antonioni ausmachen! Wenn Kritische Theoretiker von einer Verarmung der Wahrnehmung sprechen, und von einem verdinglichenden, verobjektivierenden, herrschaftlichen Blick, kann das ja vielleicht daran liegen, dass ihre eigene Wahrnehmung verarmt ist, und ihr eigener Blick verdinglichend und verobjektivierend (und herrschaftlich). Schau, noch einmal, wie schön die Architektoniken und Landschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind (im Zusammenhang mit dem ich eben auch den „eindimensionalen Menschen“ gelesen habe)! Gut, sie haben auch was Beklemmendes, eine Weitläufigkeit, die ihrer selbst nicht sicher ist, Jeanne Moreau flaniert in La notte durch diese Landschaften, die scheinbar gleichermaßen Freiheiten servieren, wie von Unfreiheit und Machtlosigkeit. Aber diese stummen Architekturen sprechen nicht und wissen nicht (was auch ihren eigentümlichen Reiz ausmacht), uns häppchenweise Freiheiten zu servieren und dann wieder Sackgassen, das tut das Dasein selbst. Das ist die ontische Struktur. Gibt es ein tatsächliches Außerhalb? In einer Geschichte des „exzentrischen“ Science-Fiction-Autors R. A. Lafferty gelangt einer immer wieder von neuem an die Grenzen des Universums. Mit der Zeit stellt er fest, dass es in den entlegensten Winkeln des Universums überall etwa gleich aussieht. Die Wiedererkennbarkeit ist wohl auch notwendigerweise so, das „ganz andere“, von dem Eskapisten träumen, ist ja nicht notwendigerweise was Gutes, das Gegenteil von Ordnung ist Chaos, und im reinen Chaos und der reinen Mannigfaltigkeit kann es schwer Ordnung geben. Ja, das ist ein Problem. Aber es ist ein letztendlich unlösbares Problem. Man kann es so lösen, indem man die Landschaften bei Antonioni als etwas außergewöhnlich Schönes sieht. Das ist der geheime Kern der Kunst. „Das Unbehagen der modernen Zeit ist das Unbehagen jeder Zeit. Es fehlt den Menschen der Zugang zu ihrem Geist … Neunundneunzig Prozent der Menschen haben keinen Zugang zu ihrem Geist … Die Geschichte ist für mich ein schwarzes Loch. Was zählt, ist der GEIST. Der Rest ist Schnickschnack”, (so einer der größten Künstler, Beckett, im Gespräch mit Patrick Bowles, Nov. 1955). Natürlich sieht Marcuse auch in der Kunst und der Schriftstellerei einen ursprünglich „kritischen“ Kern (der in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ebenfalls korrumpiert werde), eine Abarbeitung an der „Entfremdung“; ja, gut, aber diese Welt der Kunst ist doch viel tiefer, als der Tag von Marcuse gedacht wird, und reicht tief in die Aporien des Seins hinab. Kritische Theoretiker, die eine ursprüngliche und latent manifeste „Brüderlichkeit“ unter den Menschen angenommen haben, die leider nur von irgendwelchen ephemer herrschenden Verhältnissen korrumpiert werde, und die ganz leicht wiederhergestellt werden könne, wenn man nur diese Verhältnisse ändere, waren große/tiefsinnige Künstler eher selten – wenngleich sie vielleicht die einzigen sind, die dieses brüderliche Band unter den Menschen tatsächlich sehen und als Ideal begreifen (daran aber eben melancholisch verzweifeln, dass es eben ein Ideal bleibt). James Baldwin sagt: Die Poeten (damit gemeint sind Künstler generell) sind die einzigen, die die Wahrheit über uns wissen. Soldaten wissen sie nicht. Politiker wissen sie nicht. Priester wissen sie nicht. Gewerkschaftsführer wissen sie nicht. Nur die Poeten wissen sie. Viele (kritische) Intellektuelle scheinen sie bekanntlich auch nicht zu wissen, und auch nicht wissen zu wollen. Sie verharren in normativen Vorstellungen vom Menschen, und können und wollen von dort auch nicht weg (was vielleicht auch ganz gut ist, da normative Vorstellungen genauso ein Element, und ein Steuerelement, in der Realität sind, wie eben die „harte“ Realität). Gasdanow wundert sich auf seinen „Nächtlichen Wegen“ wie selten es sei, dass Menschen versuchen würden, tatsächlich andere Menschen, die aus tatsächlich anderen Milieus kämen, tatsächlich zu verstehen, wobei Intellektuelle da keine Ausnahme machen würden (nur die Schriftsteller wären eben anders, sonst wären sie ja auch keine Schriftsteller).

Die Kritische Theorie, wie linke und (geschlechter)emanzipatorische Befreiungsideologien leiden an dem Widerspruch, dass sie einerseits die individuelle Selbstermächtigung und Artikulierung der Subjektivität ihres jeweiligen Klientels begrüßen und fordern und fördern, andererseits aber ratlos sind, wenn sich dann was anderes artikuliert, als sie politisch im Sinn haben. (Wenn man so will, leiden sie an dem Widerspruch, dass sie einerseits Programm der individuellen Selbstermächtigung sind, aber auch der politischen; individuelle Selbstermächtigung bedeutet aber eben Freiraum von Politik und einen individuellen Rückzugsraum, wo man von der Politik auch gerne in Ruhe gelassen wird.) Nun, das lässt sich, aufgrund der doppelten (bzw. vielfältigen) Natur von Selbstermächtigung (mit ihren individuellen und politischen Implikationen) auch gar nicht ändern. Es ist eine Sache der Enge oder Weite der BefreiungsideologInnen, wie viel Spielraum sie da zulassen wollen, und es gibt solche, die da enger sind und solche, die da weiter sind. Allerdings haben Befreiungsideologien halt mal einen gewissen, mehr oder weniger absoluten, mehr oder weniger apodiktischen Anspruch, der, wenn es um die Wurst geht, schlagend werden kann, so dass sich die Freiheitsideologie realiter als Gulag-Ideologie erweist. Das Verstörende (das gegen die übermächtige Herrschaft von einzelnen schnell eine übermächtige Herrschaft des Kollektivs oder eben der Reinheitsideologie gesetzt wird) hat man in diversen Befreiungsideologien und Utopien ja überall. Eine letztendliche rechthaberische und machtverliebte Disposition kommt auch immer wieder zum Vorschein, wenn subjektive Äußerungen, die nicht ausfallen, wie es die Befreiungsideologie vorsieht, als irrelevant abgetan werden, oder als Ausdruck eines „falschen Bewusstseins“. Wenn die Leute, die Proletarier, die Unterdrückten, die Frauen, was tun, ist das aus der Sicht der Befreiungsideologen selten das Richtige. Das bedeutet aus ihrer Sicht dann: sie lassen sich manipulieren, und von ihren „wahren Interessen“ ablenken. Da sehen sie zum Beispiel fern (und lassen sich direkt wie auch indirekt manipulieren). Also sollen sie doch aufhören, fernzusehen und sich ablenken zu lassen, und stattdessen „innehalten“ und „nachdenken“ (und, am Besten, „das System infrage stellen“). Die Penetranz, mit der Kritische Theoretiker und Befreiungsideologen immer wieder einfordern, die anderen sollten doch mal „innehalten“ und „nachdenken“ ist ein Hinweis darauf, dass sie es eben von sich selbst nicht kennen, das mit dem Innehalten und dem Nachdenken und dem kritischen Hinterfragen, und dass die gedankenlose Übernahme von Gedankengut, das einem Realitätscheck gar nicht wirklich gewachsen ist, die sie also bei den anderen vermuten, halt mal der Rahmen ist, durch den sie selbst in die Welt blicken.

Natürlich besteht dann aber die Möglichkeit, Realitäten überhaupt gleich „kritisch“ wegzudenken und zu entsubstanzialisieren: „Wenn wir auf der Tiefe und Wirksamkeit dieser Kontrolle bestehen, setzen wir uns dem Einwand aus, dass wir die prägende Macht der „Massenmedien“ sehr überschätzen und dass die Menschen ganz von selbst Bedürfnisse verspüren und befriedigen würden, die ihnen jetzt aufgenötigt werden. Der Einwand greift fehl. Die Präformierung beginnt nicht mit der Massenproduktion von Rundfunk und Fernsehen und mit der Zentralisierung ihrer Kontrolle. Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein….“ Unter kritischen Theoretikern und Linken ist der Habitus stark verbreitet, handfeste Realitäten (weniger kritisch zu hinterfragen als) zu delegitimieren, wonach sie (tatsächlich oder angeblich) einfach nur (von einer bösartigen Instanz) „gemacht“ seien, wodurch sie die Konfrontation mit unliebsamen Realitäten ideell einfach beliebig hinausschieben kann, und den Fehler einfach immer nur beim anderen verorten, aber niemals bei sich selbst. Marxisten behaupten (zumindest indirekt), dass das „wahre Wesen“ des Menschen der „bessere sozialistische Mensch“ sei, wie auch, dass es ein „wahres Wesen“ des Menschen gar nicht gibt, da dieser einfach die Summe der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Das ist jeweils in etwa gegenteilig (und außerdem ist beides falsch), was sie aber in der Praxis kaum daran hindert, mal so, mal so zu argumentieren (genauso wie Feministinnen gerne mal genderdekonstruktivistisch, mal biologistisch/essentialistisch argumentieren, je nachdem, wie es die Frauen in der momentanen Situation besser dastehen lässt). Die marxistisch geprägte „wissenschaftlich sozialistische“ Linke klopft sich gerne auf die Brust, (dialektisch) „materialistisch“ zu denken („denken“), und nicht „idealistisch“. (Dialektisch) „materialistisch“ müsse man denken, nicht „idealistisch“ etc., lautet die Devise! Mit ihrer gleichzeitigen Fixierung darauf, dass vorgefundene soziale, wirtschaftliche, politische oder Geschlechterverhältnisse (sofern sie ihnen nicht in den Kram passen) „nichts Naturgegebenes“, sondern (nichts als) „sozial konstruiert“ seien, glaubt sie dann aber wieder, ganz reale Faktizitäten, die (gleichsam) materiell vorhanden und in der Wirklichkeit verankert sind, idealistisch in Luft auflösen zu können. Ihren Fluchtpunkt errichtet sie in einem reinen Imaginarium wie dem Kommunismus, dem „Reich der absoluten Freiheit“, einem „Reich Gottes“ oder einem Dritten Reich, dessen Überlegenheit gegenüber den bestehenden Verhältnissen gar nicht bewiesen ist, das gar nicht theoretisch ausformuliert ist, und das auch gar nicht theoretisch ausformuliert werden kann: Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Menschen gibt es keinen Kommunismus und kein Reich der Freiheit oder ein herrliches Reich, in dem alle Konflikte abgeschafft sind. Es gibt die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft, die das bislang Beste sind, was der Menschheit passiert ist – eben die „fortgeschrittene Industriegesellschaft“, gegen die Marcuse sich in einer totalisierenden Geste wendet. Was bestimmte, radikale Teile der „kritischen Linken“ wollen, ist diese Gesellschaft durch etwas zu ersetzen, das offensichtlich schlechter ist, als das „System“, gegen das sie sich wenden, was sie aber in ihrem revolutionären Elan gar nicht wahrnehmen oder eben kritisch hinterfragen wollen. Im schlimmsten, allerdings durchaus herkömmlichen Fall führt das dann dazu, dass die materialistischen Idealisten nie intellektuell und moralisch die Verantwortung übernehmen wollen, wenn sich ihre Realsozialismen in der Realität als was durchaus nicht so Positives erweisen, wie sie es sich – in ihrer Gedankenlosigkeit – erwartet hätten. Dann ist nicht die Idee (des Sozialismus) falsch, sondern halt leider, unglücklicherweise (immer wieder) nur die Umsetzung.

Marcuse nennt die Mitglieder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft „Sklaven“, wobei (meines Wissens) weder Marx noch Engels bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse hundert Jahre zuvor solche Begrifflichkeiten in Anspruch genommen haben (die nicht einmal auf die damalige Feudalgesellschaft in Russland korrekt angewendet werden könnten). Allegorien oder Metaphern (oder auch ganz buchstäblich gemeinte Bezeichnungen) kann man anwenden, um gewisse Symptome hervorzuheben und schärfer zu bezeichnen, genauso gut kann man damit aber auch daneben greifen bzw. aus der Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstand den Gesamtzusammenhang, in den er eingelassen ist, verkennen (ein allgemeines Charakteristikum und Problem ideologischer und tendenziöser Sichtweisen: einerseits erkennen diese bestimmte Probleme schärfer und hellsichtiger, andererseits ignorieren sie andere oder aber größere Zusammenhänge, die nicht unmittelbar auf ihrem Radar erscheinen). Oder aber die Verwendung solcher Bezeichnungen ist überhaupt falsch – oder verlogen. Und wenn man die Mitglieder der fortgeschrittenen Industriegesellschaft als Sklaven bezeichnet, so ist das eben falsch, oder verlogen. Übertriebene, utopische, transzendente Freiheits/Befreiungsideologien sind, an und für sich, inhärent verlogen. Im „eindimensionalen Menschen“ hat man Ausführungen zur „Rationalisierung“ der Sprache in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, von wegen, wie Begriffe ihrer Konnotationen beraubt werden, beschönigende, verharmlosende, ästhetisierende Begriffe verwendet werden, u. dergl. mehr (allerdings übrigens in keiner Weise aus feministischer Sicht oder im Hinblick auf gegenderte Sprache). Wenn man jetzt einmal unvoreingenommen an Diskurse wie den über den eindimensionalen Menschen aus kritischer Sicht herangeht, wird man glauben, feststellen zu können, dass man eine derartige Totalisierung und Hermetisierung, ideologische Versiegelung der Sprache und der Begrifflichkeiten in erster Linie in den Werken der Kritischen Theorie selbst hat. Dahinter steckt ein totalisierender, versklavender Geist, der sich sozusagen an seiner eigenen Neurose abarbeitet und sein eigenes Spiegelbild auf Verhältnisse wirft und projiziert. Die Wahrnehmung der Ontologie ist mehr oder weniger durch die jeweilige Epistemologie bestimmt, und die beklemmende Enge und Aussichtslosigkeit, die die Kritische Theorie überall und in allem, was mit der „fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ zu tun haben will, erblickt, erscheint so (irgendwie) als Emanation der eigenen beklemmenden Enge und Unfreiheit. Was, wenn Marcuse et al wilde Angriffe gegen die fortgeschrittene Industriegesellschaft reiten, die dann aber nur sagt: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst; nicht mir“?

Als ein weiteres Beispiel dafür, wie man etwas, das eigentlich nur als Redensart Gültigkeit beanspruchen kann, trotzdem ungeniert als wissenschaftliches begriffliches Instrumentarium gebraucht, bezeichnet Marcuse die fortgeschrittene Industriegesellschaft gerne als „irrational“. Aber an welchem Maßstab könnte man die Rationalität oder Irrationalität einer Gesellschaft messen (wenn man sich nicht in ein idealistisches, unverifizierbares „Außerhalb“ schmeißen will, das eben kein wirklicher Maßstab sein kann)? Man kann vielleicht sagen, das Ziel einer Gesellschaft sei, sich zu reproduzieren; qualitativ gesehen, sich jeweils auf einem höheren Level zu reproduzieren. Das Ziel einer Gesellschaft sei, dass Positivsummenspiele gespielt werden, dass Win-Win-Situationen entstehen und gefördert werden. Tatsächlich gibt es viele Gesellschaften, in denen das weitreichend nicht der Fall ist; korrupte Gesellschaften, in denen kein kollektives Verantwortungsgefühl herrscht, Laxheit gepaart mit Selbstüberschätzung, ein Misstrauen gegenüber dem Staat und ein betrügerischer Staat, gegenüber dem ein solches Misstrauen sogar gerechtfertigt ist; im schlechtesten Fall Gesellschaften, in denen die Mentalität verbreitet ist, den anderen übers Ohr zu hauen (was dann in eine gesamtgesellschaftliche Lose-Lose-Situation führt). Die fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind aber solche Gesellschaften, in denen diese Charakteristika vergleichsweise wenig ausgeprägt sind (falls man jetzt Umweltzerstörung hernimmt, sei dazu gesagt, dass die Verantwortungslosigkeit gegenüber der Umwelt in Ländern, die nicht den fortgeschrittenen Industriegesellschaften angehören, oftmals noch viel sensationeller ist, in einigen Fällen, wie z.B. in der Sowjetunion oder in Rotchina unter Mao im Zusammenhang mit der sozialistischen Industrialisierungs- und Fortschrittsideologie sogar regelrecht psychopathische Züge angenommen hat). Eine Gesellschaft ist gut und rational, wenn sie dem Individuum viele Freiheiten ermöglicht, gleichzeitig die freien Individuen ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen aufweisen (wenn also die Tugenden und die guten Eigenschaften von Gesellschaften mit individualistischer und solcher mit kollektivistischer Ausrichtung zusammengeführt werden, und deren jeweilige Negativa dadurch kompensiert werden). Wie mir scheint, ist das in der Schweiz am Idealtypischsten der Fall. Allgemein: Wenn man sich dafür interessiert, wie eine Gesellschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten am besten ihre Probleme lösen kann, ist es vielleicht am Hilfreichsten, wenn man mehr die Schweiz studiert und weniger (kritische oder auch andere) Theorien. Wenn das theoretisch hochtrabende „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ dann in der Praxis auf ein „sie tun so als würden sie uns bezahlen, wir tun so, also würden wir arbeiten“ hinausläuft, ist das eine Lose-Lose-Situation.

„Ich habe das Düstere übertrieben, der Maxime folgend, dass heute überhaupt nur Übertreibung das Medium der Wahrheit sei. Missverstehen Sie meine fragmentarischen und vielfach rhapsodischen Anmerkungen nicht als Spengelerei: die macht selbst mit dem Unheil gemeinsame Sache (…) vieles spricht dafür, dass die Demokratie, samt allem, was mit ihr gesetzt ist, die Menschen tiefer ergreift als in der Weimarer Zeit. Indem ich das nicht so Offenbare hervorhob, habe ich vernachlässigt, was doch Besonnenheit mitdenken muss: dass innerhalb der deutschen Demokratie nach 1945 bis heute das materielle Leben der Gesellschaft sich reicher reproduzierte als seit Menschengedenken, und das ist dann auch sozialpsychologisch relevant. Die Behauptung, es stünde nicht schlecht um die deutsche Demokratie und damit um die wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn ihr nur Zeit genug und vieles andere bleibt, wäre sicherlich nicht allzu optimistisch…“, gesteht Adorno 1959 am Ende einiger seiner üblichen, düsteren Ausführungen ein. Ja also: die Festigung der Demokratie und der liberalen Gesellschaft hat man also der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zu verdanken! Dass die Leute nicht in irgendwelche Extremismen verfallen, hat man der Konsumgesellschaft zu verdanken! Etc. Adorno ist also skeptisch, inwieweit die kritische Position die richtige sein kann. Das ist gut. Hauptaufgabe und Habitus eines Intellektuellen sei doch eigentlich, dass er skeptisch ist, nachdenklich und vorsichtig; nicht notwendigerweise kritisch (was in der Praxis dann oft bedeutet: vorsätzlich polemisch). Von unendlichem Tiefsinn sei der Intellektuelle, optimalerweise! Im unendlichen Tiefsinn liegt das intellektuelle (und spirituelle) Optimum! Natürlich hat der unendliche Tiefsinn aber auch was (scheinbar) Unbewegliches. Daher ist es auch gut, ja, notwendig, wenn es weniger tiefsinnige, also eben kritische – Intellektuelle gibt, die sich an den Sachen stoßen, während wir unendlich Tiefsinnigen uns an allem stoßen und an nichts, indem wir die Sachen transzendieren. Das ist eine gute, notwendige intellektuelle Arbeitsteilung. Das, was hier unternommen wird, ist eine kritische Kritik an der Kritischen Theorie, die vor den Reaktionären zwar beschützt gehört, nicht aber vor sich selbst. Ich will nur nicht, dass die Kritische Theorie (oder irgendjemand sonst) allzu stolz wird und apodiktisch. – Am Schluss vom „eindimensionalen Menschen“ steht: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben. Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben. Die „Hoffnungslosen“ sind aber keine einheitliche Kategorie. Sie erregen das Mitgefühl, sie sind die Ersten, denen man helfen sollte. Was aber eben, wenn sie das nicht wollen, wenn ihre Hingabe an die Große Weigerung kein schöner lebensästhetischer Ausdruck oder ein produktiver Nonkonformismus ist, sondern ein moralisches Mäntelchen für einen beklemmenden Fundamentalismus, der eigentlich gar nichts wirklich will, als sich immer nur in der Opferrolle zu sehen, und, vor allem, der deswegen gegen (eine als quasi totalitär angenommene) bestehende Herrschaft und Macht ist, weil er selbst nicht an der Macht ist, der deswegen gegen (eine als quasi totalitär angenommene) bestehende Herrschaft und Macht sich positioniert und gegen sie polemisiert, weil er in seinem eigenen neurotischen Machtstreben sich frustriert fühlt (und der darin auch die anderen Charakeristika von Machtmenschen aufweist: Neid, Paranoia, ständiges Misstrauen, der Wunsch, sich zum großen Helden zu stilisieren etc.)? Wenn also der Hoffnungslose, den man gerne an die Brust nehmen will, der Ressentiment-Mensch ist? Die Hilflosen und Schwachen erregen, wie gesagt, das Mitgefühl; die Starken sollten den Schwachen mehr helfen – man sollte aber nicht vergessen, dass die Schwachen noch viel gefährlicher werden können als die „Starken“, wenn sie in eine Position falscher Stärke kommen. Marcuse formuliert zwar keinen Machtkomplex, sondern einen Freiheitskomplex. Ständig will er mehr Freiheit, in allem aber, was in der Welt passiert, sieht er perfide und totale Unfreiheit, die sich allein verwirkliche und triumphiere. So hat man den Eindruck, dass hinter dem schrankenlosen, gar nicht mehr spezifischem Freiheitsstreben, das bei Marcuse zum Ausdruck kommt, eine fundamentale mentale Unfreiheit und Unbeweglichkeit steht. Und dass Freiheit (bisweilen durchaus enge) Grenzen hat, der Gestus und der Wunsch nach einer „totalen“ Freiheit auf etwas hinzielt, was gar nicht existiert, Herrschaftzeiten, das weiß doch, ganz grundsätzlich, jeder Depp! Wenn akademische Intellektuelle sich immer wieder, zumindest heimlich, eingedenk sind, dass sie von saufenden Stammtischgenossen durchaus unter den Tisch geredet werden können, hat das seinen Grund darin, dass sie in ihrer intellektuellen und moralischen Weltflucht entscheidende Sachen vergessen.

Aber ach, scheiß drauf, die Kritische Theorie, die Frankfurter Schule, die Hippies, die Studentenproteste, die Verweigerungshaltung, der Nonkonformismus, sind natürlich gut! Wenn es in der Realität nicht auch das Element „Kritische Theorie“ geben würde, wäre sie eine schön blödsinnige und stumpfsinnige Realität. Ihr Gestus ist es, Öffnung anzuzeigen, Hoffnung, Mut zur Selbstermächtigung, sie steht in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus, und stellt, in ihrer konkreten Form, zumindest für die Vergangenheit, eine brauchbare Ideologie und ein gesellschaftliches Selbstverständnis dar. Wenn man das glaubt, runtertun zu können, soll man erst mal was Vergleichbares auf die Beine stellen! Jetzt ist die Kritische Theorie eine einigermaßen politische Philosophie, aber Politik ist eine Domäne, wo die meisten Karrieren im Versagen enden und wo ständig unvorhergesehene Dinge passieren. Ich nehme, trotz meiner gewaltigen geistigen Fähigkeiten und meiner großen Lauterkeit, nicht notwendigerweise an, ein besserer POTUS sein zu können als Trump, dessen historisch positive Bilanz es eventuell sein könnte, dass er die größte Gefahr für unsere Zeit – China – richtig erkannt und bekämpft und besiegt hat, während wir Liberalen uns irgendwelchen Illusionen hingegeben haben und uns auf irgendwas Unwichtiges fokussiert haben. Politik, und Versuche, den Weltenlauf zu beeinflussen, sind überhaupt etwas ziemlich seltsames (das gilt freilich nicht für Lokalpolitik, die ja auch nicht versucht, den Weltenlauf zu beeinflussen; aber zur Lokalpolitik kann man sich übergeordnet intellektuell kaum äußern). Ich werde mich vor der Politik eher hüten. Ich bin auch nicht unbedingt ein politischer Denker. Ich weiß auch nicht so genau, inwieweit ich ein gesellschaftlicher Denker bin (aber das muss ich ja auch nicht, denn als Schriftsteller bin ich ja auch der Einzige, der die Gesellschaft und die Menschen letztendlich tatsächlich versteht). Laut Burkhardt stehen die Menschen den geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, in die sie geworfen sind, ohnmächtig gegenüber, und erleben ihre Herrschaft als erdrückend. Vielleicht tun sie das, vielleicht tun sie das auch nicht. Vielleicht sind sie das, vielleicht sind sie das auch nicht, und die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse ist auch zu einem gewissen Grad Einbildung, der man auch mit mehr Gelassenheit gegenübertreten kann. Auf mich selber üben die Gesellschaft und ihre (angeblichen) Normierungen praktisch keine Macht aus; ich bin kein Wesen der Gesellschaft, insofern kann ich vielleicht sehr viel und sehr wenig zur Gesellschaft überhaupt sagen. Ich sehe die Gesellschaft auch gar nicht wirklich, ich sehe nur (ha! „nur“!) die Unendlichkeit, inklusive der Fallen, die sie bereithält. Die Vorkommnisse in der Welt nehme ich als Farben- und Formenspiel wahr, als Statiken und Dynamiken, von denen ich nicht einmal genau sagen kann, ob sie besonders gescheit oder ziemlich blöd sind. Wenn jetzt ein Vulkan ausbricht hat man da auch Asche, Schwefel, Lärm, Eruption, Lava, die rauf spritzt und die vor sich hin mäandert: und man kann auch nicht sagen, ob das besonders gescheit oder ziemlich blöd ist; es ist ein Naturphänomen. Ein anderes Referenzsystem, ein anderer Bezirk des Seins. Und Politik ist für mich auch so was wie ein Vulkanausbruch, einfach ein ganz anderer Teil der Welt, mit dem man auch nicht wirklich kommunizieren kann (und von dem man besser, beobachtend, Abstand nimmt). Ich verstehe (ha! „verstehe“!) meine Position. Ich bin ein absoluter Sonderfall. Aber gleichzeitig bin ich auch äußerst universal, und keineswegs „exzentrisch“. Ich frage mich, ob ich alles zur Gesellschaft sagen kann, oder nichts. Ich frage mich, ob ich unzählige sinnvolle Beiträge leisten kann, oder keinen einzigen. Ob mein Geist, ob das Einheits-Bewusstsein, das alles begreift, was Gutes ist, oder was Sinnloses. Naja. Wahrscheinlich liegt der Effekt irgendwo in der Mitte. Und überhaupt. Meine Strategie scheint es eher zu sein, und meine Aussage scheint es eher zu sein, dass man sich über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, und über alle Theorien aller Schulen, bei genauer Kenntnis derselben, einfach so weit überheben soll, dass alle diese zu Elementen auf einem gigantischen Monitor werden, in die man sich beliebig rein- und rauszoomen kann; und dass man die Politik – also (laut Hannah Arendt) das Management der Vielheit und Diversität unter den Menschen – einigermaßen überwinden soll, indem man selbst zu einer gigantischen Vielheit und Diversität wird (und das Ego als der zentrale politische Akteur also abfällt). Einfach, dass man die menschlichen Verhältnisse insgesamt überwindet, während man zu selbst zu einem Punkt am Monitor verschwindet, der allerdings die komplette Information über das Ganze enthält. Oh ja, ich finde, so sollte man das machen! Und so wird es geschehen. – Es soll doch jeder machen, was er am besten kann, und was ich am besten kann, ist eben das mit der Allwissenheit. Das ist, soweit ich sehen kann, sogar mein Alleinstellungsmerkmal. Also sollte ich das weiter vertiefen. Vielleicht stiftet es ja sogar noch mal irgend einen Nutzen.

8. – 14. März 2020

(Anm.: Dieser sehr nichtlinear verfasste Text hat stilistisch vielleicht was Furchtbares. Aber es würde mich interessieren, wie man das noch viel weiter treiben könnte. Auch ist dieser Text ziemlich fahrig. Aber wie soll der korrekte und eindeutige Kommentar zur Frankfurter Schule anders sein als fahrig?)