Henri-Frédéric Amiel (27. September 1821 in Genf – 11. Mai 1881
ebendort) hatte ein Herz aus Gold, ein Talent aus Silber und die Gravität eines
sehr schweren, sehr selten vorkommenden Elementes. Mit so etwas kann der
Pöbelhaufen Menschheit immer wieder nichts anfangen, und so erinnert sich heute
kaum einer mehr an den armen Amiel. Dabei kann man bei Amiel vieles lernen und
vieles sehen, denn Amiel hat in einer höhere, bessere Welt geblickt, und auch
die niedere, empirische Welt begriffen;
er war eine diesseitige und eine jenseitige Figur. Amiel war der
seltsame Fall eines Genies, das weder als Gelehrter noch als Künstler etwas
Bleibendes hinterlassen hat (und unter dieser Unzulänglichkeit zeit seines
Leben stark gelitten hat). Seine rastlose Produktivität hat sich in der
Niederschrift seines (insgesamt 17.000 Seiten umfassenden) Tagebuchs
manifestiert, das erst posthum erschienen ist, dann aber für einiges an Wirbel
gesorgt hat – neben Hugo von Hoffmansthal waren auch Fernando Pessoa und
Friedrich „Manche werden posthum geboren“ Nietzsche unter den Bewunderern; der
wirkungsmächtigste Anhänger wurde aber Leo Tolstoi, der die Tagebücher in
Russland herausgegeben hat und sie bis zu seinem Tod in seiner unmittelbaren
Nähe bei sich hatte, stets griffbereit: hat er sie doch in eine Reihe mit den
Werken von Epikur oder Marc Aurel gestellt! Gegenwärtig ist im deutschen
Sprachraum nur eine Anthologie von gut 300 Seiten erhältlich. Ich habe sie vor
einigen Jahren mal gelesen (ich bin auf Amiel gestoßen, nachdem Pessoa ihn in
seinen Aufzeichnungen zum Thema Genie und
Wahnsinn kurz einmal als „trauriges Beispiel“ erwähnt hat), und jetzt,
nachdem ich mich ein wenig mehr mit Tolstoi konfrontiert habe, noch einmal. Das
Genie ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt, es untersucht seinen
eigenen Geist – eitel und selbstbezogen ist es deswegen nicht, denn in
seinem Geist und in seinen Beschäftigungen mit dem Geist spiegelt sich,
hochgradig urtümlich, die Welt; es bedeutet im Wesentlichen eine abnorme
Introspektionsfähigkeit in einen Gegenstand, daher ist es introvertiert und
unkommunikativ – gleichzeitig aber eben extrem kommunikativ und extravertiert,
weltzugewandt. Seine Kommunikation mit der Umwelt ist paradox, und öfters wird
es eben darum posthum geboren. Das alles hat man bei Amiel, dessen Unglück es
dabei war, offenbar kein Talent zum künstlerischen, wissenschaftlichen oder
philosophischen Ausdruck zu haben; seine Form war die intimste und am schwersten
zeitgenössisch vermittelbare: eben das Tagebuch. Das war das Kreuz, das er
tragen musste, wie wir alle es irgendwie tun müssen. So mag Amiel noch dazu den
Hohn zu spüren bekommen von unkonstruktiven Geistern, die gerne alles
herabsetzen, und die Amiel als gescheitert sehen mögen. Soweit ich das
beurteilen kann (ich habe ja nur eine Auswahl von gut 300 aus den insgesamt
17.000 Seiten Tagebuch gelesen), ist er das aber eben nicht. Wie
ausdifferenziert und analytisch und facettiert die Ausführungen von Amiel immer
wieder sind! Bei all der schönen, synthetischen Betrachtung! Herrlich!
(Wenngleich man eben sagen kann, das hier der Keim des Konfliktes liegt: der
Konflikt zwischen einem kritischen Geist und einem gläubigen Menschen; besser
aber eher, man spricht vom Keim einer Dynamik, die sich in der
Abarbeitung am Absoluten vollzieht.) Der Herausgeber der deutschsprachigen
Anthologie, Ingold, meint (was im Übrigen nicht notwendigerweise ein Vorwurf
sein muss), Amiels Entwicklung sei „statisch“ gewesen; er habe sich im Lauf der
Zeit und der drei Jahrzehnte, über die hinweg er das Tagebuch geführt hat, eben
nicht (wirklich) entwickelt (und wie gesagt, ich kenne das Tagebuch an sich
nicht, nur diese kleinodiöse Auswahl; die Beschäftigung über weite Strecken mag
vielleicht schon enervierend sein). Wenn aber Amiel mehr oder weniger gleich am
Beginn sagt: Für den Geist gibt es Ruhe
nur im Absoluten, für das Gefühl nur im Unendlichen, für die Seele nur im
Göttlichen. Nichts Endliches ist so wahr, so interessant, so würdig, dass es
mich halten könnte. Alles, was besonders ist, ist exklusiv, und was exklusiv
ist, stößt mich ab. Nicht exklusiv ist nur das Ganze, in der Vereinigung mit
dem Wesen und durch alle Wesen liegt mein Ziel. Im Licht des Absoluten wird
dann jeder Gedanke wert, dass man ihm nachgeht, im Unendlichen jede Existenz
wert, dass man sie respektiert, im Göttlichen jede Kreatur wert, dass man sie
liebt. (18. November 1851) oder Einzig
von einem religiösen Standpunkt aus, dem einer aktiven und moralischen, geistigen
und innigen Religion, können wir das Leben in seiner vollen Würde, in seiner
vollen Kraft erfahren. Sie macht uns unverletzlich und unbesiegbar … Man kann
die Erde nur im Namen des Himmels besiegen. Alle Güter sind dem noch zusätzlich
geschenkt worden, der nichts als die Weisheit wollte. Wenn man keinen Nutzen
sucht, ist man am stärksten, und die Welt liegt dem, den sie nicht verführen
kann, zu Füßen. Warum? Weil der Geist Meister der Materie ist und weil die Welt
Gott gehört. (27. September 1852) – wenn also Amiel das früh in seinem
Leben begriffen hat, was für eine Entwicklung soll noch großartig möglich sein?!
Er hat das Absolute und das positive Göttliche begriffen und ist damit in der
obersten Kammer der Pyramide angelangt. Von der aus man alle Himmelsrichtungen
überblickt. Alles, was man noch tun kann, ist sich in seiner notwendigen
Relativität daran abzuarbeiten; sich als Subjekt am Objektiven abzuarbeiten,
und daran – notwendigerweise und positiv – zu scheitern, beziehungsweise – und
wie es im Leben eben allgemein so ist – mal zu gewinnen, mal zu verlieren (Win some, lose some, it´s all the same to me
… That´s the way I like it, baby, I don´t want to live forever (and don´t
forget the Joker), sagte der abgeklärteste und harmonischste Mensch des
letzten Jahrhunderts; das ist die letzte Einsicht in die Dinge). Amiels
Entwicklung bestand darin, sich am Absoluten und am Göttlichen abzuarbeiten,
dabei praktisch notwendigerweise festzustellen, dass eine totale und stationäre
Aufnahme in und Verschmelzung mit dem Absoluten nicht möglich ist, da von
Inkonsistenzen durchzogen. Aber das Heil liegt in der Versöhnung von Glück
und Pflicht, in der Verschmelzung des persönlichen Willens mit dem göttlichen
Willen, im Glauben, dass dieser höchste Wille von der Liebe gelenkt wird. (6. Dezember 1869) Was aber, wenn dieser
Glaube erschüttert wird? (Allgemein: Der höhere Mensch wird das Religiöse und
das Heilige begreifen und sich stark von ihm angezogen fühlen; als ein Mensch
des wissenschaftlichen Zeitalters wird es ihm aber schwer fallen, an Religion
tatsächlich zu glauben und in ihr eine Geborgenheit zu finden, wie es höheren
und extrem wissenschaftlichen Menschen der Vergangenheit möglich war – das ist
tatsächlich ein sehr schwieriger Konflikt, an dem sich im Jahrhundert Amiels ja
auch Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Dostojewski oder eben auch Tolstoi
abgearbeitet haben.) Solange wir
zwischen der Wahrheit und uns auch noch den geringsten Abstand zulassen, sind
wir außerhalb von ihr. Das Denken, das Gefühl, das Verlangen, das Bewusstsein
des Lebens sind noch nicht ganz das Leben. Wir
können aber unseren Frieden und unsere Ruhe nur im Leben und im ewigen
Leben finden. Und das ewige Leben ist das göttliche Leben, ist Gott. Göttlich
sein, das ist das Ziel des Lebens. (27. Oktober 1853) Jung und naiv, mag
man solches denken, glauben, erhoffen. Wenn man aber eben genau diese Bewegung vollzieht, sieht man, dass die Wahrheit nur da
liegt, wo zwischen der Wahrheit und einen selbst eben immer ein gewisser
Abstand gelassen wird. Da Wahrheit
immer wieder relativ oder fraktal ist. Das Absolute beinhaltet notwendigerweise
Paradoxa; die absolute Wahrheit hat man dann (am Ehesten) begriffen, wenn man
erkennt, dass die Wahrheit fraktal, daher letztendlich unauslotbar ist; dass
die absolute Wahrheit unendlich ist, aber eben eine fraktale, unvollständig
einsehbare Wahrheit ist. Diese Einsicht ist dann eben das Ruhen in der Ewigkeit
und in der völligen Identität mit sich selbst und mit der Wahrheit. Die
Weisheit altert nicht, denn sie ist der Ausdruck der Ordnung selber, das heißt
des Ewigen. Der Weise allein kann dem Leben und jedem Alter seinen vollen
Geschmack abgewinnen, weil er seine Schönheit, seine Würde und seinen Wert
fühlt (…) Alle Dinge in Gott sehen, aus seinem Leben eine Reise durch das Ideal
zu machen … das ist der bewundernswerte Standpunkt von Marc Aurel (…) Das ewige
Leben ist nicht das zukünftige Leben, sondern es ist das Leben in der Ordnung,
das Leben in Gott, und die Zeit muss lernen, sich als eine Bewegung der
Ewigkeit zu begreifen, als ein Wellengang im Meer des Seins. Das Wesen, das
sich als zeitlich bedingt versteht, kann von der Substanz dieser Zeit ein
Bewusstsein haben, und diese ist die Ewigkeit. Und mit seinem Bewusstsein sub
specie aeterni leben heißt weise sein, wenn man das Ewige personifiziert, ist
man religiös. (4. Dezember 1863) Das, was dem gewöhnlichen Verstand als entgegengesetzte Extreme
erscheinen mag, muss angenähert und verschmolzen werden, so hören diese auf,
widersinnig, widerstreitend und paradox zu sein (in der extremen Zeitlichkeit –
dem Augenblick – liegt das Ergreifen der Ewigkeit, in einer höheren Heiterkeit
liegt der absolute Ernst etc.); Amiel hat das ja gesehen, dass die wahrhaft
ernsthaft erkennenden die am wenigsten ernsthaften sind: Bei
meinem scharfen, durchtriebenen, komplexen und chamäleonartigen Geist habe ich
das Herz eines Kindes; ich liebe nur entweder die Vollendung oder den Scherz,
die zwei entgegengesetzten Extreme. Die wahren Künstler, die wahren
Philosophen, die wahren Religiösen verstehen sich kaum auf etwas anderes als
die Einfachheit der kleinen Kinder oder die Erhabenheit der Kunstwerke, das
heißt, auf die reine Natur oder das reine Ideal. In meiner Armut fühle ich doch
gleich. (18. Mai 1862) Mit dem Chamäleon
(einem freilich eher, was herkömmliche Standards angeht, unschönen Tier)
vergleicht sich Amiel auch an anderen Stellen: Ich fühle mich als Chamäleon, Kaleidoskop, Proteus, aus alle möglichen
Arten beweglich und polarisierbar, flüssig, virtuell, folglich latent sogar in
meinen Kundgebungen, abwesend sogar in der Erscheinung. (Dezember 1866)
Und: Die energische Subjektivität, die
sich im Selbstvertrauen äußert, die nicht davor zurückschreckt, etwas
Besonderes, etwas Bestimmtes zu sein, und das, ohne sich ihrer subjektiven
Illusion bewusst zu sein oder zu schämen, ist mir fremd. Ich bin, wo es um
intellektuelle Ordnungen geht, im Wesentlichen objektiv, und es ist meine
ausgesprochene Spezialität, dass ich jeden Standpunkt einnehmen, mit jedermanns
Augen sehen kann, was heißt, dass ich nicht eingeschlossen bin in irgendeinem
individuellen Gefängnis. (18. November 1851) (Das ist als Hinweis auf einen
Mangel an Persönlichkeit und eigentlicher, origineller Schaffenskraft bei Amiel
ausgelegt worden: eventuell kann das so sein – aber in meiner Armut fühle ich
doch gleich.) Dererlei objektive, kaleidoskopartige Existenz – ja, der Wunsch,
Kaleidoskop zu werden – scheint freilich irgendwie selten in dieser Welt – oder
ist er das? Ich weiß es nicht! Fast jeder (oder zumindest fast jede) scheint
das doch zu wollen! Amiel aber auf jeden Fall (mit seiner
Stubenhocker-Weisheit, könnte man einwenden, die die Welt nicht kennt, sie sich
ganz einfach nach ihrem Wunschbild zurechtmacht, solipsistisch etc.): Die Unparteilichkeit und die Objektivität
sind ebenso selten wie die Gerechtigkeit, von der sie zwei besondere Formen
sind. Der Eigennutz ist eine unerschöpfliche Quelle angenehmer Illusionen. Die
Anzahl der Lebewesen, die die Wahrheit sehen wollen, ist außerordentlich klein
(…) Die Menschheit hat schon immer diejenigen hingerichtet oder verfolgt, die
ihre eigennützige Ruhe gestört haben. Sie verbessert sich nur wider Willen. Der
einzige Fortschritt, den sie will, ist die Vermehrung des Genusses. Alle
Fortschritte in Sachen Moral, Gerechtigkeit, Heiligkeit sind ihr durch
irgendein edles Ungetüm auferlegt oder abgenötigt worden. Das Opfer, das die
Lust der großen Seelen ist, war nie das Gesetz der Gesellschaften (…) Vom
Standpunkt des Ideals aus gesehen ist die menschliche Welt traurig und
hässlich, wenn man sie aber mit ihren mutmaßlichen Anfängen vergleicht, hat die
menschliche Gattung ihre Zeit doch nicht ganz verloren. Daher die drei Arten,
die Geschichte in den Blick zu nehmen. Pessimismus, wenn wann vom Ideal
ausgeht; Optimismus, wenn man rückblickend betrachtet; Heroismus, wenn man
bedenkt, dass jeder Fortschritt eine Flut von Blut oder Tränen kostet (…) Die
Fanatiker, die sich aufopfern, sind ein anhaltender Protest gegen den
allgemeinen Egoismus. Wir haben nur die sichtbaren Idole gestürzt, aber das
ständige Opfer hat noch überall Bestand, und überall leidet die Elite der
Generationen für das Heil der Menge. Das ist das strenge, bittere,
geheimnisvolle Gesetz der Solidarität. Das gegenseitige Verderben und Gedeihen
ist das Schicksal unseres Geschlechtes. (1. März 1869) Ja, das ist der
ewige Kampf zwischen Geist und „Materie“, dessen Fortschreiten der Krebsgang
ist. (Eine freilich idealistische, unmaterialistische Perspektive, die die eigentlichen
(und größtenteils unschuldigen) Schwierigkeiten, in denen sich die materiellen,
faktischen Verhältnisse befinden tendenziell verkennt (wenn die diesseitigen
Probleme so leicht lösbar wären, würden sie ja gelöst werden: soziale,
politische und individuelle Probleme sind in der Regel aber eben nicht
leicht lösbar (und haben oft die Form von Dilemmata))). Wie konziliant aber von
dem milden, allesverstehenden Amiel, dass er den historischen Fortschritt dann
doch nicht verkennt! Ein ganz und gar aufrechter Mann! Und so platzt diesem
ganz und gar aufrechten Mann an anderer Stelle wieder der Kragen, wenn er eine
Weile in die Menschheit und in die Gesellschaft hineinhört, und unschuldig und
voller Interesse, versuchtem Wohlwollen und Teilnahme wissen will, was sie zu
sagen hat (doch nur, um sie zu verstehen; doch nur, um ihr mit seinen
bescheidenen Kräften versuchen zu helfen…): Das
Schlimmste ist, dass hinter diesem Geplapper die Eigenliebe steht und dass sich
darum diese gewöhnlichen Ahnungslosigkeiten energisch behaupten, dass sich
dieses Gegacker für eine Überzeugung hält und dass sich diese Vorurteile als
Prinzipien geben (…) Wenn man vor den Menschen Respekt haben will, muss man
vergessen, was sie sind, und an das Ideal denken, das sie verleugnen, aber doch
in sich tragen… (6. November 1877) An den einen und anderen Stellen äußert
er sich sogar noch
pessimistischer über die Seelenhaftigkeit der mehrheitlichen Menschheit; ich
will das aber gar nicht zitieren, da es mir dann doch aus irgendeinem Grund
missfällt (man kann es sich ja denken, wie mieselsüchtig große Denker und
Seelen sich dazu äußern könnten; diese sind freilich selten und man trifft sie
kaum persönlich im Leben; aber um eine Vorstellung von der Materie zu bekommen,
muss man ja nur hören, wie negativ die Menschen selbst über ihre Nachbarn
reden). Mir persönlich macht das alles immer wieder sehr viel und gleichzeitig
aber auch nichts, aber auch gar nichts aus. Vom Standpunkt des Absoluten, im
Auge Gottes, in Gott sind alle Seelen gleichermaßen Seelen, und in Gott werden
alle Seelen gleichermaßen bewahrt. Wenn ich in die Welt blicke, sehe ich einen
riesigen Diamant, in dem sich alles spiegelt, wenn ich mich bewege, bewege ich
mich durch ein unsichtbares, aber ganz reales Feld, wo alles mit allem
verbunden ist; für mich sind alle Seelen gleich und in meinem Geist wird alles
bewahrt. Der Geist trennt und ist analytisch, die Seele verbindet und ist
synthetisch. Der Geist ist
aristokratisch, die Güte demokratisch (…) Güte schränkt bewusst den Scharfsinn
ein; es ist die Güte, die vor den allzu scharfen elektrischen Strahlen der
Hellsicht einen Wandschirm aufrichtet; sie ist es, die sich weigert, die
Hässlichkeiten und das Elend des intellektuellen Spitals auszuleuchten (…) Hat
nicht Fénelon gesagt: Die schönen Seelen allein kennen die ganze Größe der
Güte. (19. Januar 1879) Ja, der Geist trennt und ist analytisch, die Seele
verbindet und ist synthetisch. Darüber hinaus aber – und es ist wichtig, diese
Bewegung zu vollziehen! – ist der seelenvolle Geist außerdem synthetisch und
die geistvolle Seele außerdem analytisch. Das ergibt dann einen
Geist-Seele-Gesamtkomplex, der zwar irgendwie paradox ist, dafür aber eben
weder vorsätzlich kritisch noch naiv. Das ist dann die Absolutheit des
göttlichen Geistes, die notwendigerweise (da sie alles enthält) paradox ist,
gleichzeitig jenseits des Paradoxen: meta-paradox, insofern sie mit dem
Paradoxen und Anstößigen auf einer höheren Ebene der Ausgeglichenheit operiert.
Das ist dann die absolute Freiheit. Doch
vermag er diese Befreiung nur zu vollziehen, indem er die Dinge in ihr
Gegenteil verkehrt und den Raum im Geist statt den Geist im Raum sehen lernt.
Indem der Geist auf seine Virtualität zurückgeführt wird. Raum ist Streuung,
Geist ist Sammlung. Und so ist Gott allgegenwärtig, ohne eine Milliarde
Kubikkilometer einzunehmen und auch nicht hundertmal mehr oder hundertmal
weniger. Als Gedanke nimmt das Universum nur gerade einen Punkt ein, doch im
Zustand der Streuung und Analyse braucht dieser Gedanke alle Weiten des
Himmels. (1. Februar 1876) … Die
Ausdehnung und die Zeit werden dann zu bloßen Punkten. Ich wohne der Existenz
des reinen Geistes bei, und ich sehe mich sub specie aeternitatis. (Wäre der
Geist demnach nichts anderes als die Möglichkeit, die Wirklichkeit in die
Unendlichkeit der Möglichkeiten aufzulösen? Anders gesagt, wäre der Geist
vielleicht die universale Virtualität? Oder das latente Universum? Seine Null
wäre der Kein des Unendlichen, die sich in der Mathematik durch das
Unendlichkeitszeichen ausdrückt.) (13. Januar 1879) Ja, das sind dann die so
genannten letzten Dinge. Die so genannten letzten Dinge sind der absolute
Geist. Es gibt hin und wieder Individuen, die den absoluten Geist erreichen,
die zu einer Erkenntnisebene vorstoßen, wo sich die Erkenntnisobjekte nur mehr
durch Paradoxa beschreiben lassen, und die eventuell diese Paradoxa, eben
gerade dadurch, überwinden; und es gibt Individuen, die sich all dem intensiver
angenähert haben und damit verschmolzen sind als Amiel – diese aber können und
wollen des Amiel nicht entbehren! Amiel ist ein wesentlicher Stein im Mosaik,
oder besser gesagt im Hologramm des absoluten Geistes; führt vor, wie sich der
absolute Geist selber begreift und prozessiert – und er führt vor, wie man die
Dinge ergreift und mit ihnen verschmilzt. Wenn man die Dinge so ergreift, wie
Amiel, dann ist man glücklich. Amiel
lehrt uns das Glück. Amiel war kein Versager. In einer höheren
Dimension, die freilich nicht alle sehen, war er ein geschlossener Kreis, und
er hat alles im Leben erreicht.
Das
Leben muss gleich der Geburt der Seele sein, der Freisetzung einer höheren
Wirklichkeitsschicht (…) Die blinde, gierige, egoistische Natur muss sich in
Schönheit und Adel verwandeln.
(Dezember 1880) … Seinen eigenen Beitrag
zur Vermehrung des Guten in der Welt leisten, dieses bescheidene Ideal ist
genug. Zum Sieg des Guten beizutragen ist das gemeinsame Ziel der Weisen und
der Engel. Socii Dei sumus, hat Seneca nach Cleanthus wiederholt. (24.
April 1869)
(Anm.: Falls man diesen Text jetzt unnötig
mäandernd findet, oder gar irgendein Arschloch glaubt, mir deswegen einen
Strick drehen zu können, so möchte ich dazu sagen, dass ich mir hier zuerst die
Textstellen von Amiel herausgeschrieben habe und sie dann irgendwie
zusammengeleimt habe, und das außerdem nicht in ganz linearer Vorgehensweise. Was
aber neben der Erinnerung an Amiel und dem Hochhalten seines Bildnisses hier
wichtig ist, sind die Ausführungen zum Charakter des absoluten Geistes, die ich
dermaßen kompakt vorher gar nicht vor Augen hatte, und die eher zufällig
passiert sind. Ich will mir diesen Text, nachdem ich ihn jetzt (19. Februar
2020, 09 Uhr 18 vormittags) fertiggestellt habe, gar nicht mal mehr durchlesen,
da ich ihn möglicherweise katastrophal finde. Die meisten anderen Male werde
ich ihn aber wohl gut finden und zufrieden mit ihm sein. So ist das immer
wieder.)
Krieg und Frieden von Leo Tolstoi habe ich einmal vor langer Zeit, im Alter von ungefähr 4 Jahren versucht zu lesen; bin aber nur bis zu ca. Seite 400 gekommen: dann ist mir dieses Aristokratengeschwätz einfach zu sehr auf die Nerven gegangen und ich habe es daunegehaut. Jetzt, im Exil, ist es mir gelungen, durch das ganze Massiv zu manövrieren, die ganzen 1500 Seiten; dabei glaube ich festzustellen, dass ich in meinen deutlich dünneren (und zumindest in der Hinsicht zugänglicheren) Büchern noch deutlich großflächigere Panoramen ausgebreitet habe, als eben Tolstoi in Krieg und Frieden. Das liegt offensichtlich daran, dass ich deutlich klüger bin als Tolstoi (der gemeinhin als einer der klügsten Schriftsteller gilt) und meine Aussichtsplattform, von der aus ich auf die irdischen (genau gesagt, die insgesamt kosmischen) Verhältnisse blicke, deutlich weiter oben ist. Naja. (Daher auch die Fallhöhe gewaltiger „lol“.) Zumindest aber bin ich mit Sicherheit lustiger. Auf 1500 Seiten Krieg und Frieden habe ich kein einziges Mal gelacht.
Ich kenne wenig von Tolstoi (daher diese Annäherung hier auch
nur ein wenig launisch und rhapsodisch); aber ich habe schon mal bemängelt,
dass mich seine radikale Immanenz stört. Seine langweiligen, alltäglichen
Figuren, mit ihren langweiligen, alltäglichen Konflikten. Kann man sagen: Ja,
so ist das Leben halt einmal! (wobei: Dass das Leben dermaßen unspiritualisiert
sein soll, ist mir dann in der Praxis auch wieder nicht aufgefallen; allein
schon einmal die nächtlichen Konzerte im Dreiraum in der Arena sind deutlich
spirituell und entrückt; im gesamten Krieg
und Frieden hat man dergleichen überhaupt nicht; nichts, was irgendwie
zauberhaft wäre, obwohl man dem Zauberhaften im praktischen Leben doch dauernd
begegnet etc.), nun gut, das eine aber ist das Leben, das andere die Kunst. Die
Kunst verleiht dem Leben Sinn, interpretiert es, spiritualisiert es. Bei
Dostojewski ist keine einzige Figur ein alltäglicher Langeweiler! Die
fieberhafte Welt des Dostojewski, seine Figuren, in die sich dauernd etwas
schiebt, die dauernd aus sich heraustreten – die sind zwar vielleicht der
Realität enthoben, aber sie machen DEN ZUSAMMENHANG sichtbar. Das Band zwischen
den Menschen, die inwendige Verflochtenheit der Schöpfung. Fiebernde Welt! Es
sollte doch so sein, bei genialer Kunst, dass in der Präsentation und
Schilderung einer Welt noch eine andere Welt zum Vorschein kommt, durch sie
hindurchschimmert. Das hat man dauernd bei Dostojewski. Bei Tolstoi – ohne
dessen Fähigkeiten klein reden zu wollen – hat man das nicht. Ich habe mich auch mit dem Fanatismus des alten Tolstoi für
die Bauern nicht sehr genau beschäftigt, aber in dieser Mischung aus
Grandiosität und Verschrobenheit scheint durchzuscheinen, dass Tolstoi einfach
die Balance zwischen den beiden Welten, also hinsichtlich des spiritualisierten
Existenzvollzuges im Hier und Jetzt, nicht eindeutig gefunden hat. Eventuell
eine unverschämte Bemerkung. Sollte sie das aber sein, werde ich sie, sobald
ich mehr darüber weiß, einfach korrigieren.
(„Aber
Tolstoi ist ein Meister des westlichen Romans —
Anna Karenina wird von
keinem zweiten auch nur entfernt erreicht — , ganz
wie er auch
in seinem Bauernkittel ein Mann der Gesellschaft
ist, Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dostojewski ist ein Heiliger,
Tolstoi ist nur ein Revolutionär.
Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er
sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das
nächste Jahrtausend“.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II., S. 235ff)
(Eben und noch einmal: die warme, fiebernde, irritierende, instabile Welt bei Dostojewski (die das Schließen des stabilen Kreises aber immer zumindest andeutet, indem es das höhere moralische Gesetz, das ethische Band zwischen den Menschen als Fluchtpunkt hat) – die kalte und, trotz ihrer gewaltigen Kriegs- und Friedensspektakel völlig unspektakuläre und reizlose und – in ihrer geordnet beschriebenen Weise – anarchische Welt bei Tolstoi (der als Stilist (zumindest in Krieg und Frieden) völlig uninteressant war). Welt ist bekanntlich durchaus eine Frage der Weltwahrnehmung. Kann es sein, dass der epileptische, fiebernde Dostojewski inmitten seiner fahrigen Lebensverhältnisse die dem literarischen Genie eigene Spiritualität und Religiosität im Hier und Jetzt viel besser realisiert hat, und immer vollständig präsent war, als der gefeierte Literatursalonlöwe Tolstoi, der dann, aus Beschämtheit heraus, in seinen späteren Jahren alle Kultur und Kunst, inklusive seiner eigenen, verwirft und die Einfachheit des russischen Bauernlebens feiert, in einer offenbaren Mischung aus Grandiosität und Verrücktheit? Zu untersuchen, zu untersuchen, zu untersuchen!!)
Was mir bei Krieg und Frieden intellektuell gut gefällt, ist die pessimistische Sichtweise auf die Menschheit! „Pierre hatte die unselige Gabe vieler Menschen, und ganz besonders vieler Russen, an die Möglichkeit des Guten und Wahren zu glauben und gleichzeitig die Herrschaft des Bösen und der Lüge im menschlichen Leben allzu deutlich zu sehen, um noch an diesem Leben einen ernsten Anteil nehmen zu können. In seinen Augen gab es kein Arbeitsgebiet, das nicht mit Schlechtigkeit und Trug durchsetzt war. Was er auch zu sein oder zu tun versuchte, überall stießen ihn Schlechtigkeit und Lüge zurück und versperrten ihm alle Wege zu tätiger Mitwirkung. Aber dabei musste er doch leben, musste sich doch auf irgendeine Weise beschäftigen! Es war furchtbar und unerträglich, beständig unter dem Druck dieser unlösbaren Lebensfragen zu stehen, und so überließ er sich den ersten besten Zerstreuungen, um nur diese Lebensfragen zu vergessen.“ JA, dazu möchte ich schon einen wichtigen, treffenden Kommentar abgeben, nämlich – (unleserlich)
„Alle Erzählungen und Schilderungen, die dieser Zeit gelten, sprechen ausnahmslos von nichts anderem als von der selbstlosen Hingabe, der Vaterlandsliebe, der Verzweiflung, dem Leid und Heroismus der Russen. In Wirklichkeit lagen die Dinge ganz anders (…) Die Mehrzahl der Menschen jener Zeit kümmerte sich um den allgemeinen Gang der Dinge überhaupt nicht, sondern ließ sich von persönlichen Gegenwarts- und Augenblicksinteressen leiten. Und gerade damit (fügt Tolstoi hinzu, Amn.) haben diese Menschen damals der Allgemeinheit den denkbar größten Nutzen gebracht … Diejenigen aber, die den allgemeinen Gang der Dinge zu verstehen suchten und mit Heroismus und freiwilliger Selbsthingabe an ihm teilnehmen wollten, waren die nutzlosesten Mitglieder der Gesellschaft; sie sahen alles verkehrt und alles, was sie für nützlich hielten und daher taten, erwies sich als nutzloser Unfug…“ Ach, die Schilderungen des Jahres 1812! Wie sie in Krieg und Frieden eine der großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte vor Augen führen, allerdings auch, dass auch während großer Katastrophen oder zum Beispiel innerhalb von Diktaturen das allgemeine Leben seinen Gang geht, von aller Autorität unbeeinflusst, unpolitisch, und ebenso gelacht und gescherzt wird, wie geliebt, getrauert und geweint (im losen Zusammenhang damit auch: „… er hatte erkannt, dass es auf der Welt nichts Furchtbares gibt. Er hatte erkannt, dass, wenn es auf der Welt keine Situation gibt, in welcher der Mensch glücklich und vollkommen frei ist, es ebenso wenig eine Situation gibt, in welcher er unglücklich und unfrei ist. Er hatte erkannt, dass es eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit gibt, und dass diese Grenze sehr nahe liegt…“). Wie Tolstoi einen gewahr werden lässt, dass auch die mächtigsten und tatkräftigsten Akteure und Auslöser von weltgeschichtlichen Prozessen dem anonymen, schicksalshaften weltgeschichtlichen Prozess unterworfen bleiben, in ihrer Macht reduziert, ihn nur teilweise beeinflussen und lenken können, hin und wieder auch von ihm zermalmt werden. Gewaltige Ereignisse des Jahres 1812! Ich sollte mehr über 1812 erfahren! In der Bibliothek meines seligen Vaters stand ein Buch, das nur 1812 gewidmet ist, verfasst von dem eminenten sowjetischen Historiker Eugen Tarle. Daneben steht die ebenfalls von Tarle verfasse Biographie über den höchst interessanten Talleyrand. Die Biographie über Talleyrand habe ich gelesen (sogar zweimal!), das Buch über 1812 nicht – also sollte ich das beizeiten tun. Der eigentliche Held und die eigentlich große, überdimensionale Persönlichkeit der gesamten Ereignisse von 1812 sei nicht der tragische Napoleon gewesen (habe ich bei Tolstoi gelernt und höchst interessiert zur Kenntnis genommen), sondern der unprätentiöse, verkannte, (im eigenen Land) geschmähte Kutusow: ein wirklich guter Geist und in sich selbst ruhender Mensch, deswegen aber leider auch dazu angetan, die Frechheit der Menschheit auf sich zu ziehen, während rohe Gewaltmenschen wie Napoleon idealisiert werden: „Für einen Lakaien kann es keinen wirklich großen Menschen geben, weil der Lakai eben seinen Lakaienbegriff von Größe hat.“ Ich sollte also dringend über Kutusow in Erfahrung bringen, ihn studieren und ihm gegebenenfalls ein Denkmal setzen, da mich stille, einfache menschliche Größe zutiefst begeistert und berührt (auf Wikipedia zumindest aber kann ich zunächst mal erfahren, dass die idealisierte Darstellung Kutusows durch Tolstoi „(h)istorisch bedeutsam … eher nicht (ist), da die russisch-patriotischen Elemente im Vordergrund stehen“ (sowie außerdem, dass ihm, zumindest in Russland, eh viele Denkmäler gesetzt worden sind)). Die Lektüre von Krieg und Frieden hat mich außerdem daran erinnert, bald wieder Claude Simon lesen zu wollen, Die Akazie und Die Straße nach Flandern zum Beispiel; eindringliche Bilder vom Krieg hat man bei Simon, der die zwei Weltkriege miterlebt hat (und vor allem eben Bilder, da Simon sehr immersiv und impressionistisch ist). Mit Tschaikowsky kann ich immer wieder eher wenig anfangen, aber der Anfang von der 1812 Ouvertüre – das betende russische Volk in der Kirche angesichts des wütend heranrückenden Napoleon und seiner Horden – gehört zum Besten was es gibt. Der ganze Sinn des Lebens und der eindringlichen Erfahrbarkeit der Existenz liegt da darin!
Unabhängig davon weiß ich: Tolstoi war ein begeisterter Leser der Tagebücher von Amiel. Amiel war der seltsame Fall eines Genies, das weder als Gelehrter noch als Künstler etwas Bleibendes hinterlassen hat (und unter dieser Unzulänglichkeit zeit seines Leben stark gelitten hat). Seine rastlose Produktivität hat sich in der Niederschrift seines (insgesamt 17.000 Seiten umfassenden) Tagebuchs manifestiert, das erst posthum erschienen ist (auch Friedrich „Manche werden posthum geboren“ Nietzsche war von Amiel dann sehr angetan). Eine sehr schöne Seele, Amiel, die in eine höhere, bessere Welt geblickt hat und die Dinge im Wesentlichen begriffen hat und von der man einiges lernen kann. Tolstoi hat die Tagebücher von Amiel in eine Reihe mit den Werken von Epikur oder Marc Aurel gestellt und bis zu seinem Tod immer wieder darin gelesen. Amiel ist heute praktisch unbekannt (und aufmerksam auf ihn geworden bin ich auf ihn nur, weil Pessoa in seinem (seinerseits wenig bekannten, und ja auch sehr spezialisierten) Werk Genie und Wahnsinn Amiel an einer Stelle als „trauriges Beispiel“ erwähnt. Was zur Folge hatte, dass ich sofort was von Amiel lesen musste!). Im Deutschen ist zeitgenössisch nur eine einzige Anthologie dieser Tagebücher erhältlich; die, die weiland von Tolstoi selbst herausgegeben wurde. Der Herausgeber und Übersetzer der deutschen Ausgabe ist ein Universitätsprofessor, von dem ich in Erinnerung habe, dass er sich in seinem Nachwort dauernd an die Brust des schöpferischen Genius Tolstoi geworfen hat (um den es ja auch gar nicht wirklich geht in dem Zusammenhang), den scheinbar unproduktiven Gelehrten Amiel (um den es primär dabei geht) aber dauernd schmäht und abwertet, scheinbar völlig unzugänglich für dessen schönen Geist und seine erhebende Seele. Kurios und kurioser! Wieso ein solches Nachwort? Da hat wohl jemand Mist gebaut, habe ich mir gedacht. (Das ganze habe ich mir jetzt wieder ausgeborgt und gelesen. Naja, jenes Nachwort ist dann doch nicht so geartet, wenngleich eine gewisse Tendenz da schon gegeben ist, glaube ich jetzt feststellen zu können; jetzt ist es Sonntag, 8. Februar 2020, 12 Uhr 03 mittags. Ich werde mich jetzt ein paar Zerstreuungen hingeben, und als nächstes will ich mich wieder zusammennehmen, um Amiel ein Denkmal zu setzen.)
DENKMAL FÜR ROZA SHANINA ” The war correspondent Pyotr Molchanov, who had frequently met Shanina at the front, described her as a person of unusual will with a genuine, bright nature.[22] Shanina described herself as “boundlessly and recklessly talky” during her college years.[10] She typified her own character as like that of the Romantic poet, painter and writer Mikhail Lermontov, deciding, like him, to act as she saw fit.[7] Shanina dressed modestly and liked to play volleyball.[66] According to Shanina’s sister-in-arms Lidiya Vdovina, Roza used to sing her favourite war song “Oy tumany moi, rastumany” (“O My Mists”) each time she cleaned her weapon.[22] Shanina had a straightforward character[67] and valued courage and the absence of egotism in people.[7] She once told a story when “about half a hundred frenzied fascists with wild cries” attacked a trench accommodating twelve female snipers, including Shanina: “Some fell from our well-aimed bullets, some we finished with our bayonets, grenades, shovels, and some we took prisoners, having restrained their arms.”” [22]https://en.wikipedia.org/wiki/Roza_Shanina
“I was
within and without, simultaneously enchanted and repelled by the inexhaustible
variety of life.“
F. Scott Fitzgerald
Das Universalgenie ist nicht notwendigerweise erleuchtet, und die Erleuchtete nicht notwendigerweise künstlerisch oder wissenschaftlich. Beides sind eher seltene Erscheinungen, und dass beides in einer (oder einem) zusammentrifft, eher noch seltener. Erleuchtet sein bedeutet: der Geist ist der offene Raum, das Subjekt verfügt über volle Manövrierfähigkeit und Navigationsfähigkeit über den offenen Raum, ist eins mit den Dingen, die Fähigkeit zur mentalen Rotation ist maximiert; außerdem kann man es mit Worten nicht ganz genau beschreiben oder definieren. Man erkennt es, wenn man es sieht. Erleuchtet sein ist Transzendenz, das Durchstoßen der materialen Hyle. Allerdings führt der (oder die) Erleuchtete in seinem Geist, der dem offenen Raum gleicht, nicht notwendigerweise analytische bzw. wissenschaftliche oder künstlerische oder philosophische, vielleicht auch nicht mal explizite moralische Operationen durch. Erleuchtung ist ein anderer Zustand, der sich vom fragmentierten Normalbewusstsein unterscheidet. Er bezieht sich nicht auf die wissenschaftliche Physik und (eigentlich) auch nicht auf die Metaphysik (sondern er ist vor- wie meta-metaphysisch). Allerdings wird zumindest die Metaphysik viel interessanter, wenn sie aus einem Zustand der Erleuchtetheit betrieben wird. Goethe war Universalmensch und man sieht da eine scheinbar schön abgerundete Aura von großem Radius, wenn man (als Erleuchteter zumindest) auf ihn blickt. Allerdings stand er immer nur an der Schwelle zur Transzendenz. Weder seine Dichtung noch seine Wahrheit sind positiv entrückt und machen höhere Dimensionen (irgendwie) sichtbar. Aufgrund seiner extremen Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit ist Dichtung und Wahrheit so angefüllt mit Weltwahrnehmung, dass es mir noch gar nie gelungen ist, sie zu lesen. Die geistige und sprachliche Flexibilität des früh verstorbenen (daher auch nicht gut definitiv beurteilbaren) Büchner hatte Goethe aber nicht! Dessen Lenz ist eine Über-Dichtung und Über-Wahrheit hinsichtlich der Weltwahrnehmung und, anzunehmenderweise, auf seinen dreißig Seiten reichhaltiger und ungewöhnlicher als die vielen hundert Seiten von Dichtung und Wahrheit. Einfach, weil Büchner die Welt offenbar von einem deutlich höheren Blickwinkel aus betrachtet, als Goethe, von einem höheren Niveau der Analyse und der Integration von Wahrnehmung und von Wissen. Panoramic ability hat ein Engländer dem Goethe beschieden, wofür Goethe sich geschmeichelt schön zu bedanken wusste. Allerdings ist auch das Panorama, wenngleich nichts Fragmentiertes oder Segmentiertes, was Begrenztes. Im Lenz kommt zum Vorschein, was ich als das Einheits-Bewusstsein bezeichne. Eine vollständige, intensive, einheitliche Erfahrung des gesamten Wirklichkeitsfeldes, auch hinsichtlich seiner Illusionen, wie Hinter- und Überwirklichkeiten, seiner Träume und seiner Potenziale; seiner Virtualität und seiner Aktualität. Der Geisteszustand des schurkischen Joker wird dann und wann als „Super-Sanity“ bezeichnet. „I see it all! The whole game! Ahahahahaha!“, sagt der Joker an einer Stelle. So eine Perspektive hat man bei Büchner. Büchner beherrscht auch alle Dialekte innerhalb der „stammelnden Mannigfaltigkeit der Welt“ (F. Hebbel) – und zwar besser als Goethe, wenn es um die Sprache der niederen Schichten im Faust geht – er durchdringt sie intensiv und spiritualisiert sie (macht also eine „Kunstsprache“ aus ihnen, die allerdings gänzlich ungekünstelt ist). Jetzt ist es vielleicht seltsam, dass man einen symbolträchtigen Psychopathen wie den Joker hernimmt als Vorbild für eine bessere Wahrnehmung, die es anzustreben gilt – aber das Charisma des Joker liegt darin, dass er eine vollständig autonome, aus sich selbst heraus gebärende und von außen nicht beeinflussbare, allerdings scheinbar massiv unter ihren Eindrücken stehende und diese verarbeitende Figur ist. Lenz ist zwar auch verrückt, aber er navigiert, während die Wogen der Wirklichkeitswahrnehmung auf und nieder gehen, durch diese Wirklichkeit; er selbst einmal größer als das All wird, dann wieder gegenüber dem All zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpft u. dergl. mehr. Der Geist von Büchner ist ohne Weiteres erleuchtet. Mich interessiert die Möglichkeit bzw. das eventuelle Vorhandensein der Möglichkeit, ohne Kasteiungen und Übungen in Zen-Koan den Zustand der Erleuchtung zu erreichen, und zwar eben nur, eigentlich, über das Studium der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Weltwahrnehmung. Das Studium des Koan hat etwas wissenschaftliches ja an sich, da es versucht, das Paradoxe zu begreifen, und damit die Facetten, die Mannigfaltigkeit, das ständige Wechseln der Perspektive zwischen Motiv und Hintergrund. Ein Geist, der das vollständig beherrscht, besitzt Satori. Er ist vollständig flexibel. Das Erreichen von Erleuchtung, Satori, des Einheits-Bewusstseins bedeutet das Durchstoßen der materialen Hyle der Dinge wie der Konzepte über die Dinge – und dieses Durchstoßen erfolgt, mit Leibniz gesprochen, über die Reflexion der Reflexion, also über das absolute Denken. Zunehmende Intelligenz bedeutet auch, dass komplexe, systemisch zu begreifende Inhalte wie Wissenschaft oder Philosophie für einen einfach werden, das (scheinbar) Einfache, wie alltägliches Verhalten der Menschen, Sittlichkeit oder Politik, in der Wahrnehmung des Intelligenten zunehmend komplex erscheinen (er bisweilen eine Komplexität an ihnen wahrnimmt oder in ihnen vermutet, die gar nicht besteht). Das Komplexe wird für den (wirklich) Intelligenten einfach, das Einfache komplex. Ich habe gesagt, das Einheits-Bewusstsein bedeutet eine demokratische Wahrnehmung aller Dinge (bei gleichzeitigem Vorhandensein der Möglichkeit ihrer analytischen Unterscheidung und Trennung). Das ist wahrscheinlich so, weil auf der Ebene des Einheits-Bewusstseins alles gleich einfach und gleich komplex geworden ist. Es gibt nichts wirklich Gescheites und nichts wirklich Dummes mehr. Das Komplexe wird einfach und das Einfache komplex. Das ergibt, inmitten dieser Homogenität freilich auch immer wieder eine ungewöhnliche Perspektive, denn es bedeutet auch, dass man, gleichsam mit einem Auge wie mit einem Teleskop in die Welt blickt, und mit einem anderen wie mit einem Mikroskop (wenn man so will, hat man hier die Gleichzeitigkeit von analytischem und synthetischem Geist). Ständig steigt irgendwas auf, und fällt irgendwas ab. Flächen erheben sich, Plateaus senken sich. Dynamische Geysire brechen aus. Es ist somit eine wabernde Homogenität (die freilich teilweise durchaus unheimlich sein kann – wie es aber eben die Realität an sich ist). Diese wabernde Realität bzw. der Eingelassenheit des Subjektes in die objektive Welt hat man im Lenz. Einen solchen Geist – den des Einheits-Bewusstseins – hatte der Büchner, der sehr wissenschaftlich war. Bei Goethe hat man immer wieder Figuren – den Faust, den Werther, den Tasso – die sich in der Wirklichkeit auf erstaunliche Weise nicht zurechtfinden, und in eigentümlicher Disharmonie mit ihr leben (oder eben sterben). Sie sind neurotisch; als der krankhafte Ausdruck des normalen, fragmentierten Bewusstseins (Lenz und der Joker sind psychotisch, als der krankhafte Ausdruck des Einheits-Bewusstseins). Das Einheits-Bewusstsein hingegen bedeutet ewigen und absoluten Frieden, da man in der Überwirklichkeit angelangt ist, und die Welt beherrscht. Man sieht zwar das Chaos, vor allem aber unglaublich robuste, unzerstörbare Verstrebungen und Architekturen – das ist der Blick auf die Ewigkeit und das Absolute – und das ist der Blick auf den eigenen, ewig gewordenen transzendenten Geist. Das ist das Konx Om Pax, sind die elysischen Felder. Schau, wie autonom der Träger des Einheits-Bewusstseins geworden ist (oder eben die Trägerin)! Sie sind etwas ganz anderes als die immer wieder grotesken Figuren von Goethe. Das Einheits-Bewusstsein steht über aller Welt und ist stärker als alle Welt. Es ist unsterblich und ewig.
Jetzt ist es nun allerdings nicht so, dass das das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt wäre. Das Einheits-Bewusstsein steht über aller Welt und ist stärker als alle Welt. Es ist unsterblich und ewig. Das heißt nun aber nicht, dass es in der Welt herrscht und irgendeine Macht haben muss. Das Einheits-Bewusstsein ist gut, und mit den Worten von Bhagwan, hat der Träger des Einheits-Bewusstseins den Zustand des ewigen Werdens (also des produktiven, allerdings auch gehetzten Zustand des entwicklungsfähigen Menschen) unter sich gelassen, und ist in einem unerschütterlichen Sein angelangt – „der Alptraum ist zu Ende“. Das Ego, das die Perspektive verzerrt und verengt, ist abgefallen – da ist eben nur mehr der offene Raum. Allerdings ist das eine eben das Bewusstsein, das andere ist das Sein, und wie Goethes Freund Schiller (im Wallenstein) dichtet:
Eng ist die Welt, und das Gehirn ist
weit
Leicht beieinander wohnen die
Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die
Sachen
Da ist es nun
allerdings doch so, dass das großartige Einheits-Bewusstsein, das die
elysischen Felder sieht, in Wahrheit auf eine kompartmentalisierte Wirklichkeit
blickt und sich bezieht, und wenn man die spiritualisierte Perspektive
wegrechnet, worüber sich alles an ihr als eine schöne, farbenprächtige
Mannigfaltigkeit und Vielheit ausnimmt, eben auf eine vielfach unangenehme,
heterogene bis einander feindselige Wirklichkeit, eine empirisch-sittliche
Wirklichkeit, von der Goethe (in den Maximen
und Reflexionen) sagt:
Die empirisch-sittliche Welt besteht größtenteils
nur aus bösem Willen und Neid.
Im Wallenstein heißt es weiter:
Dem bösen Geist gehört
die Erde, nicht
Dem Guten. Was die
Göttlichen uns senden
Von oben, sind nur
allgemeine Güter,
Ihr Licht erfreut, doch
macht es keinen reich
Von den Reichen heißt es immer wieder, ihr Leben sei dann
doch nicht so beneidenswert; Alexander wusste einst (doch eher glaubwürdig) zu
berichten, dass in der Welt der Hollywood-Stars, in der er sich eine Zeitlang
aufgehalten habe, ein doch deutlich empfundenes Sinndefizit herrsche. David
Bowie, der alles erreicht hatte, hat in späteren Jahren gemeint, wenn er noch
einmal auf die Welt käme, würde er ein spirituelleres Leben führen wollen („ein
Mönch sein, der allerdings viel Gitarre spielt“). Das Einheits-Bewusstsein ist
das Höchste, was an diesseitiger Spiritualität erreichbar ist. Es ist
wahrscheinlich das, was alle wollen. Allerdings halt einmal das
Einheits-Bewusstsein allein zu haben, ist auch ungemütlich, noch dazu, wenn es
den Neid und die gekränkte Eitelkeit unter den Mächtigen hervorruft, also dazu
beiträgt, den Außenseiterstatus zu zementieren. Bhagwan hat gemeint, von seinem
Rolls Royce aus (den ihm reiche Bewunderer geschenkt haben), der letzte Sinn
liege nicht unbedingt in der Askese allein – der Sinn liege darin, ein
materiell wie ideell reiches Leben zu führen. Bhagwan hat die Erleuchtung
selbst erfahren. Sloterdijk nennt ihn einen „Wittgenstein der Religion“ Gegen
Ende seines Lebens hat Bhagwan pessimistisch gemeint, dass er keine großen Hoffnungen
für die Menschheit mehr habe. Mit einer großen Hoffnung habe er zu lehren
angefangen, doch ganz allmählich habe die Menschheit diese Hoffnungen zerstört.
Jetzt habe er nur mehr für einen kleinen Teil der Menschheit Hoffnung. „Ich
nenne ihn: meine Leute“. Im Einheits-Bewusstsein kommen seltene und höchst
qualitative Sachen und gute Eigenschaften zusammen. Das Problem ist, dass es
einen in eine intensivere Verbindung mit der Welt bringt, allerdings eben auch
von der empirisch-sittlichen Welt entfernt. Diese Paradoxie muss man dann doch
erst einmal aushalten; vor allem für den Träger des Einheits-Bewusstseins mag
das eine besondere Herausforderung sein (nicht allein, weil sein Empfinden ja
allgemein viel intensiver ist, sondern eben auch, weil es ihn – und ihn ganz
allein – ja auch persönlich betrifft). Was sind die Mächte der Geschichte? Das
kann man nicht übergeschichtlich sagen, vielfach sind sie anonym. In seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen sagt
Jacob Burkhardt:
Gegenüber von solchen
geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger
Ohnmacht zu fühlen (Problem
des Woyzek, Anm.); es fällt in der Regel
der angreifenden oder der widerstreitenden Partei zum Dienst anheim. Wenige
Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge
gewonnen und vermögen die Dinge „geistig zu überwinden“ und vielleicht ist
dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls
nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst
in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit
schweben.
Das Einheits-Bewusstsein ist überweltlich und überzeitlich. Durch seine überzeitliche, ewige Perspektive ist es in der späteren Zeit bereits heute angekommen. Also können ihm die Kämpfe der heutigen Zeit ein wenig egal sein (unter anderem auch, weil sie sowieso so dumm sind, und im Einheits-Bewusstsein gibt es eben keine Kämpfe). Es sieht allerdings auch – und empfindet vor allen Dingen auch – , dass die spätere Zeit der heutigen irgendwie ähneln wird. Allerdings kann man Einsicht in die Ewigkeit ja auch nur haben, wenn es ewiges, das heißt einigermaßen identisches gibt. Transzendenz und Erleuchtung bedeutet, dass es eben etwas niederer Ordnung geben muss, über das sich die Transzendenz erhebt, und auf das sich die Transzendenz, in einer schwer beschreibbaren und nicht eindeutigen höheren Dimension aus bezieht. Wenn jetzt einer in zusätzlichen räumlichen und zeitlichen Dimensionen lebt, lebt er aber eben doch auch in denselben Dimensionen wie alle anderen. Büchner ist erst Jahrzehnte nach seinem Tod bekannt geworden, sein Geist erst relativ spät vollkommen frei über solcher Vergangenheit geschwebt. Aber er hatte Recht, auch in seinen Einsichten in den geschichtlichen Gang, auch als zunächst radikaler, dann gemäßigter, reformerischer Revolutionär. Lemmy von Motörhead sagte einmal, er und John Lennon seien letztendlich darin gescheitert, die Welt zu verändern (zumindest bezogen auf ihren ursprünglichen, naiven Idealismus), denn sie wollten das Geld bekämpfen. Aber man kann das Geld nicht bekämpfen. Nun denn, aber das Geld und jegliche wirtschaftliche und politische Macht können auch das Einheits-Bewusstsein nicht bekämpfen und ihm nicht den geringsten Schaden zufügen, selbst wenn sie es wollten. Macht hat man letztendlich nur dann vollständig erlangt, wenn man die nicht allein die äußerliche, sondern die innere Freiheit des Anderen auslöscht oder korrumpiert. Das Einheits-Bewusstsein ist aber nicht mal allein unkorrumpierbare innere Freiheit, sondern die absolute Freiheit des chaosmotischen Prozesses der Welt. Es ist unbesiegbar, weil die Welt in ihrer Totalität, die es abbildet, unbesiegbar ist. Es ist so unbesiegbar wie das Geld. Es richtet sich auch nicht notwendigerweise gegen das Geld, so wie das Geld sich ja nicht notwendigerweise gegen das Einheits-Bewusstsein richtet. Sollten diese beiden Mächte gegeneinander kämpfen, geht es unentschieden aus; unter anderem, da sie ja zu einem guten Teil unterschiedlichen Sphären angehören. Schau, da oben, über der Erde, in der Exosphäre: da ist die Möbiusschleife des Einheits-Bewusstseins, und die Möbiusschleife des Laufs der Welt. Das ist das Sinnbild, wie sich, in Einsamkeit, die Welt und das Welt-Bewusstsein prozessiert. Das ist die Ewigkeit der Dinge. Büchner hat das alles verstanden; Goethe auch; jeder versteht das, aber die Vision bei Büchner finde ich am besten und am Intensivsten. Büchner war erleuchtet. Es kommt im Leben einfach darauf an, nicht bloß Universalgenie, sondern eben auch erleuchtet zu sein. Dann hat man ein gutes Beispiel gegeben; war allerdings auch eine prekäre Erscheinung.
Es
lässt sich nicht leugnen, dass tief fühlende Herzen und Menschen von großem
Verstande durch einfache Begebenheiten am meisten gerührt werden.
Alexandre Dumas
Da liege ich nun, zusammengekrümmt, in einer Embryonalstellung, mit beinahe geschlossenen Augen und schmerverzerrtem Gesicht, in der unheilswolkenschwangeren Einöde, dem Jammertal, Schlangen und Blindscheichen und Frösche und kleines Getier zischt ein wenig um mich, in Misanthropie und Verzweiflung über die Schöpfung gebannt, kann und will mich kaum mehr rühren – jede Regung verheißt eine neue Enttäuschung, einen neuen Schmerz – da geht plötzlich eine Öffnung über mir auf, kommt ein Licht von oben; eine engelsgleiche Gestalt sinkt nieder über mich, mit mildem Gesicht, mariengleich die Arme ausgebreitet und bedeutet mir mit ihrer Aura: No te preocupes … todo está bien…. No te preocupes … todo está bien…. – Fernán Caballero (eigentl. Cecilia Francisca Josefa Böhl de Faber y Larrea, geb. 24. Dezember (!!) 1796 in Mortes (Schweiz), eingegangen in die Verwandlung 7. April 1877 in Sevilla)! Fernán Caballero, Mittlerin und Brückenbauerin zwischen Romantik und Realismus, ist primäre Exponentin des spanischen Sittenromans und wichtige Figur des Sittenromans im 19. Jahrhundert allgemein, in dem sie auch mitunter mit Walter Scott verglichen wird. Darüber hinaus gilt sie auch als wichtige Darstellerin Spaniens und seiner Gebräuche und Gepflogenheiten zur damaligen Zeit. Von sich selbst behauptet sie dabei lediglich: „Meine Absicht war durchaus nicht, Romane zu schreiben … ich suchte vielmehr eine wahre, genaue, echte Vorstellung von Spanien und seiner Gesellschaft zu vermitteln, das innere Leben unseres Volkes zu beschreiben, seine Ansichten, seine Gefühle, seinen Mutterwitz; ich wollte Dinge wieder zu Ansehen bringen, die das unkluge neunzehnte Jahrhundert mit verwegenen schweren Füßen niedergetreten hat, heilige und religiöse Dinge, die religiösen Bräuche und ihre hohe und zarte Bedeutung, die alten reinen spanischen Bräuche, Wesen und Art des nationalen Empfindens, die Bande der Gesellschaft und der Familie, mithin alles, was als Zügel zu bezeichnen ist namentlich für jene lächerlichen Leidenschaften, die man affektiert, ohne sie wahrhaft zu fühlen (denn die große Leidenschaft ist zum Glück selten), die bescheidenen Tugenden. Der Teil, den man als romanhaft bezeichnen könnte, dient lediglich als Rahmen für das ausgedehnte Bild, das zu zeichnen ich mir vorgesetzt habe.“ Ja, ihre Erzählungen streben nicht nach künstlerischem Olymp, sie wollen erbauliche Geschichten sein, die mit Beispielen des Guten und Bösen die Thesen, die ihr am Herzen liegen, beleuchten und zur Darstellung bringen; aus dem Dunkel und der Rätselhaftigkeit der Welt heraus plastische, exemplarische Formen schmieden, die da abbilden, dass das Leben und die Menschen gut sind und einfach und ohne rätselhafte Hintergründigkeit, wenn sie es nur wollen. Das ist das einfache Zentrum und das ist das Herz der Dinge: Ohne große Geistesfähigkeiten besaß die Gräfin das Talent des Herzens; sie fühlte richtig und zart. Ihr ganzer Ehrgeiz beschränkte sich darauf, sich ohne Übermaß zu zerstreuen und zu gefallen, wie der Vogel, der fliegt, ohne es zu wissen, und singt, ohne sich anzustrengen. Das ist eine exemplarische Skizzierung, wie einfach und geradlinig die Caballero den Menschen (wie er sein soll) auffasst und wie er, ihrer Ansicht nach, im Wesentlichen in der Welt anzutreffen ist: Ähnliches kommt nicht selten in Spanien vor, dank der unerschöpflichen Mildtätigkeit seiner Bewohner, die es im Verein mit ihrem edlen Charakter nicht zulässt, Schätze zu sammeln, sondern das, was sie haben, dem, der es bedarf, zu geben. Man frage nur die aus ihren Klöstern vertriebenen Mönche und Nonnen, die Handwerker, die Witwen der Militärs und die dienstlosen Beamten. Ei, scheint sie uns zuzurufen, ihr verachtet die plumpen spanischen Kirchen und sprecht von der Unwissenheit und Rohheit des spanischen Volkes – bemerkt ihr denn nicht die täglichen Beweise, die es von Uneigennützigkeit, Opfersinn, gutem Verstand und Urteil und edlem Stolz gibt, und wie das Früchte einer langen christlichen Erziehung sind? Ursprung und Ende allen Glücks auf Erden? Was wollt ihr mit euren aufrührerischen politischen Hasspredigten, mit denen ihr euch an die Armen richtet, im Sinne der Beförderung von „Fortschritt“ und „Humanität“, mit denen ihr die Menschen entzweit – wisst ihr denn nichts von der heiligen Freudigkeit, der Resignation im eigenen Zustand, der Harmonie, die ausfüllt, wenn nur jeder seinen Platz gut ausfüllt und in einem harmonischen Verhältnis zu ihm ruht wie die goldene Kugel? Er kümmerte sich weder um Politik noch um irgendetwas anders, außer seiner Kirche und seinem Hause. Die Welt war für ihn ein Chaos, das er nicht weiter begrenzte: er wusste bloß, dass der Engländer, der Franzose und Indien vorhanden seien. Wie gut wusste er, wenn das Essen gut oder der Wein schlecht war! Welche herrliche Ruhe fühlte er in seinem Bett! Wie angenehm war die Tätigkeit des Tages! Gott lieben und ihm dienen, den Nächsten lieben und ihm helfen, und „gelobt sei die Jungfrau“. Das war seine Devise. So entsteht große Ordnung und Herrlichkeit – das sagt schon Konfuzius. Die Philosophie und die Geistigkeit, die niemals weiß, was sie will, wonach sie überhaupt sucht – kann sie je jene Quelle kristallklaren Wassers aufwiegen, die fortwährend in jenen quillt, die vom Katechismus leben und zu sterben gelernt haben? Ha, traurige Philosophie, die du die Wimpern über deinen Büchern versengst und den Verstand mit deinen Haarspaltereien zerrüttest, nach dem Stein der Weisen suchend, dies ist die Wahrheit und das Glück, das du niemals findest! Was bist du im Vergleich zu dieser Geistesruhe, dieser Seelenreinheit, die nichts sucht und alles findet? Der wahre Schatz liegt in der einfachen Tugend, die unüberbietbar und unhintergehbar ist: Maria war vernichtet. Ihr Stolz, der kühn gegen jede Überlegenheit kämpfte, der dem Ansehen adliger Geburt, der Rivalität der Künstler, der Macht der Autorität und selbst den Vorzügen des Genies trotzte, beugte sich wie ein Rohr vor der Größe und der Erhabenheit der Tugend. Die höchste mentale Repräsentation der Tugend ist die Religion, und die hervorragendste von allen Religionen ist der Katholizismus. Fernán Caballero ist streng katholisch, und von der Struktur her finde ich den Katholizismus ja auch sehr gut: Die Hierarchie und die Tiefengestaffeltheit des Seins, die er andeutet; ein warmes, allerdings auch entrücktes Licht flackert da in der Finsternis, vor uns, tiefer im Sein; es verheißt und Wärme, es verheißt und die Möglichkeit von Behausung und Herd im winterlichen, einsamen Dunkel; gleichzeitig ist diese göttliche Instanz eine, die deutlich über uns steht, und uns letztendlich fremd und unnahbar entrückt ist, uns übergeordnet und wo das Glück darin liegt, dass wir gegen sie immer im Unrecht sind! Das ist wahre Frommheit und der große Geist und das große Herz sind katholisch und fromm. Wie ordinär und distanzlos dagegen der Protestantismus, dem das Pathos der Distanz (gegenüber dem hierarchischen Tiefsinn des Seins) fehlt, und der heillose Verwirrung in die Welt bringt, wie den Kapitalismus, der dann zu allem Überfluss auch noch den Kommunismus in die Welt bringt! Wie war die Caballero dagegen doch gesund skeptisch gegenüber ausländischer Neuerungssucht, Modernisierungswahn und Kosmopolitismus, ob dass ihr so vollendete Schilderungen und Skizzen gelingen wie diese: Diese neue Sprecherin war nicht lange erst von Madrid angekommen, wo ein bedeutender Prozess ihres Vaters Anwesenheit erheischt hatte. Sie kam vollständig modernisiert und so durchdrungen von dem, was man ausländischen guten Ton zu nennen pflegt, von dieser Reise zurück, dass sie unausstehlich lächerlich geworden war. Ihre fortwährende Beschäftigung war Lesen, aber sie las fast nur französische Romane. Mit der Mode trieb sie eine Art Kultus, war eine leidenschaftliche Musikfreundin und verachtete alles, was spanisch war. Ei, der Nationalismus ist unbesiegbar, denn die Nation, das Heimatliche, ist das Seelenhafte, das das Individuum nährt und trägt und ihm Schutz bietet, es aufnimmt und doch niemals, außer durch dessen eigenes Verschulden, aus seinem schützenden Schoß entlässt; daher solle man erst gar nicht versuchen, gegen den Nationalismus anzukämpfen, denn er reflektiert eben auf die Formen, in die wir Menschen geworfen sind, so bringt das Ankämpfen gegen ihn notgedrungenermaßen Unheil: Und die aufgeklärte Dame, genährt mit weinerlichen Romanen und Gedichten, heiratete den großen Gauner, der, wie wir später erfuhren, schon zweimal verheiratet war. Nach Verlauf einiger Monate und nach dem er alles Geld, das sie ihm zugebracht, vertan hatte, verließ er sie in Valencia, von wo der unglückliche Vater sie abholte und entehrt, weder verheiratet, noch Witwe, noch ledig, zurückbrachte. Da seht ihr lieben Kinder, wohin die törichte und falsche Ausländerei führt. Großes Mitgefühl hat sie mit dem Leid von Tieren, und sie lässt keine Gelegenheit außer Acht, um gegen Grausamkeiten gegen Tiere zu protestieren. Die Orte, die sie schildert, die Dörfer, die ländlichen Häuser, die Weinlauben, die Gässchen, die Kirchen, alles das schließt ihre Sehnsucht, ihre Zärtlichkeit gleichsam in die Arme – und, ach!, sind ihre Worte immer einfach und sprechen in so einfacher Weise das aus, was jeder um sich gewahr werden kann, nicht ohne immer wieder von einer elementaren Verwunderung, und von Schmerz und Reue ergriffen zu werden: Der spanische Nationalcharakter ist der Feind alles erkünstelten Wesens, er verlangt daher weder, noch erkennt er an, was man in anderen Ländern guten Ton nennt. In Spanien besteht der gute Ton in der Natürlichkeit, denn was hier natürlich ist, ist zugleich auch elegant. (In ihren späteren Werken nimmt nichtsdestotrotz das Gewicht der sittlichen Aussage und Demonstration ein wenig Überhand, und sie treten uns nicht mehr mit demselben primitivistischen Charme und jener Simplizität entgegen, aber das ist wohl bei der fortlaufenden ethischen Intensivierung unvermeidlich, denn auf dem Grunde des Bechers des katholischen Prinzips wartet der heilige Ernst.) Oh, Fernán Caballero! Nährende, tragende, bergende Mutter! Sancta simplicitas, die Einfalt der Sitten, die Reinheit und Selbstidentität und –genügsamkeit der Tugend! In meiner Embryonalstellung liege ich da, im Jammertal, außerhalb des Schoßes der Großen Mutter – das kommt davon, wenn man sich von ihr entfernt; wie dann der Intellektuelle lebenslänglich geneigt ist zu trauern, ob all der intellektuellen Differenzierungen, innerhalb derer er lebt, mithilfe er sich erweitert, ohne jemals glücklich zu sein! Denn das, was jenseits von Differenziertheit und Raffinesse liegt, ist die selbstgenügsame Einfachheit und die monolithische, monotheistische Solidität der harmonischen Sphäre, die die Caballero so anmutig, und darin scheinbar ohne irgendeine Anstrengung oder Vortäuschung in ihren Werken da werden lässt. Natürlich muss man, um all das völlig ernst nehmen zu können, auch ein wenig dumm sein. Diese Dummheit gilt es in sich aufzunehmen. Selig sind die Armen im Geiste. Dererlei spricht die engelhafte Figur über mir, haucht ihren göttlichen Odem über mich und kühlt mich: die heute beinahe vergessene Fernán Caballero! Wir sehen und im neuen Jerusalem!
(Anm.: Fernán Caballero habe ich in Poesie und Nichtpoesie von Benedetto Groce getroffen, dem ich dafür dankbar bin.)
… Wer diese Schilderung
für übertrieben hält, der erinnere sich an Kants famosen Ausspruch in der
Anthropologie, wo der Alte vom Berge alles Ernstes erklärt, das poetische
Vermögen, von Homer an, beweise nichts, als eine Unfähigkeit zum reinen Denken,
ohne jedoch die sich mit Notwendigkeit ergebende Konsequenz hinzuzufügen, dass
auch die Welt in ihrer stammelnden Mannigfaltigkeit nichts beweise, als die Unfähigkeit
Gottes, einen Monolog zu halten.
Friedrich Hebbel, Vorwort zu Maria Magdalena
Dieser Büchner
war ein toller Hund. Nach kaum 23 oder 24 Jahren verzichtete er auf weitere
Existenz und starb. Es scheint, die Sache war ihm zu dumm…
Alfred Döblin
Woyzeck sucht Sinn, sucht den Gesamtzusammenhang zu erkennen, vermutet ihn eventuell (heute wie damals) als von den Freimaurern gesteuert, bleibt aber in seinem fragmentarischen Sprechen hängen, fremde Mächte verfügen über ihn, er mag ihnen leicht reinscheißen, indem er zu früh pisst, aber auch, und vor allem, die höheren Hierarchiestufen sind von albernen Figuren bevölkert, von guten, jovialen Menschen eventuell, aber ohne wirkliche Moral, denn Moral, das ist wenn man moralisch ist – traurige Absage an die Idee davon, der Mensch könnte seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit tatsächlich und effektiv groß entkommen; die Französische Revolution, ihre Agenten und ihr Stimmvieh, unentschieden wandelt sich das Bild rund um Dantons Tod ständig von einer interessanten bis heilsverkündenden Sinfonie der produktiven Heterogenität und Vielfalt unter Menschen und ihrer Ansichten und der einer nihilistischen Kakophonie, der der Dirigent abgeht. Ich studirte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Ach! Das ist jenseits der Frage von Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? – es ist eine nüchterne (feurig artikulierte) Einsicht in den Lauf der Dinge und in den Chaosmos (dem Zusammenspiel von Zufall und Ordnung), den zu erkennen das Höchste, den zu beherrschen unmöglich ist. Es ist eine Einsicht in die absolute Beweglichkeit der Dinge, die bei Büchner korrespondiert in einer absoluten Beweglichkeit der Sprache, die selbst Shakespeare (vor allem aber Goethe) ein wenig unbedarft aussehen lässt. Büchners Sprache ist Fähigkeit zum reinen Denken und artikuliert einen Monolog Gottes, der alle stammelnde Mannigfaltigkeit der Welt beinhaltet. Büchners Sprache legt sich über die Welt. Die Welt ist etwas Subjektives wie Objektives, solipsistisches Abbild im Gehirn einer dennoch unermesslichen und indifferenten Weite da draußen – sie realisiert sich, für uns, in den Verhältnissen, in denen wir zu ihr leben. Satori und Erleuchtung und kosmisches Bewusstsein bedeutet Amalgamierung von Subjekt und Objekt und (Quasi-) Transzendierung von Mensch und Welt hinsichtlich uns allgemein bekannter Formen von Mensch-Welt-Verhältnissen. Im Lenz hat man das in einer höchst produktiven Weise. Den 20. ging Lenz durchs Gebirg … es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlorenen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunterzuklimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengen, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, sodass ein helles, blendendes Licht über den Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriss, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt in das Moos und schloss die Augen halb, und dann zog es ihn weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Überwältigende Wanderungen des wandernden Geistes! Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wusste von nichts mehr. Im Lenz hat man das Einheits-Bewusstsein, eine alles durchdringende und einheitliche, demokratische innere und äußere Wirklichkeitserfahrung, die natürlich auch den ungeheuern Riss, der durch die Welt geht, wahrnimmt (schmerzlich), diesen aber durch ihre eigene Intensität ohne weiteres kompensiert (solange das Subjekt gesund ist; wenn es krank wird, hat es dann möglicherweise nur mehr n i c h t s). Ei, in Lenz sind alle Dinge verwoben, man hat die Decke der Welt und das empathische Ergreifen aller Dinge im ultimativen Subjekt, das den Kelch der Welt austrinkt, als unendliche Aufgabe, in einem unendlichen Fest und Bacchanal. Es dehnt sich aus, es zieht sich zusammen, es vergewissert sich seiner Geborgenheit, es vergewissert sich seiner Isoliertheit… es stabilisiert sich von Zeit zu Zeit in reiner, abstrakter Geometrie, die bald wieder zu tanzen anfängt, zu rauschenden Tönen inmitten von Farben, es reitet die Welle. Er durchstrich das Gebirg in verschiedenen Richtungen, breite Flächen zogen sich in die Täler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter hinaus die weite rauchende Ebne, in der Luft ein gewaltiges Wehen, nirgends eine Spur von Menschen als hie und da eine verlassene Hütte, wo die Hirten den Sommer zubrachten, an den Abhängen gelehnt. Er wurde still, vielleicht fast träumend, es verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das leise auf und ab wogte. Manchmal saß er, dann ging er wieder, aber langsam träumend. Er suchte keinen Weg. Der Weg zu Erleuchtung und Satori ist bekannt als der weglose Weg. Der weglose Weg reflektiert auch das Blinde des Schicksals und das Elementarische des Lebens, das sich in seiner eigenen Mimesis am Elementarsten realisiert. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist´s gut; wir haben dann nicht mehr zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, das was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es und nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles Übrige kann man ins Feuer werfen … Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur … Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldene Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon … Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert, man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen und dann Jung und Alt herbeirufen, und die Buben und Alten darüber radotieren (lt. Duden: „ungehemmt schwatzen“, Anm.) und sich entzücken lassen. Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen. Büchner ist der Alte vom Berg, der alle Welt überblickt. Dass ein (noch dazu sehr Junger) von einem so hohen Berg aus alle Welt überblickt, ist extrem selten. Dass im 19. Jahrhundert gleich drei solche da waren (außerdem eben: Rimbaud und Lautréamont), ist vielleicht das curioseste von allem. Köstliche Kuriosität!
Lautréamont
wird niemals eine historische Persönlichkeit sein. Er steht außerhalb der
Literaturgeschichte, außerhalb der Sittengeschichte … Unter einem zu niedrigen
Himmel, inmitten der Hast und des Gedränges, fühlt man sich erdrückt wie ein
Fisch in einem übervollen Netz; man erstickt an der eigenen Größe. Seltsames
Paradox: ein Genie erstickt und fühlt sich endgültig allein und mehr als
allein, es fühlt sich verlassen. In seinen Träumen hält es sich für einen
Schwimmer, der sich verirrt hat, Hunderte von Kilometern vom Festland entfernt,
ohne Hoffnung auf Hilfe. Für ihn gibt es nur die Wogen des Meeres, den
unbarmherzigen Himmel und den eigenen Mut… Das Drama spielt sich in seiner eigenen
Brust ab. Der Vorhang öffnet sich auf eine Wüste…
Philippe Soupault
„Geniale Intelligenz ist bewirkt durch Reibung der Gewöhnlichkeit am Traum. Büchner war ein großer Träumer, der sich der Gewöhnlichkeit ausgeliefert hat“, so Büchner-Biograph Hermann Kurzke. Die Gesänge des Maldoror von Büchners Intelligenzgenossen Lautréamont gelten als Traumliteratur, als genuine und höchst überraschende Schöpfung außerhalb aller Tradition von einem ca. 23jährigen weitgehenden Unbekannten. Was man da, auf diesen gewaltigen Textflächen hat, sind rationale und durchkomponierte Halluzinationen und Meditationen, Emanation von Bildern, von denen eines ins andere übergeht, einen schönen, demokratischen Strom von unzerreißbarer Textur – abermals das Einheits-Bewusstsein! Sein Verleger (der sich dann doch nicht getraut hat, die Gesänge zu veröffentlichen, die erst zwanzig Jahre später von einem anderen, befreundeten Verleger publiziert wurden) hat den „großen, dunklen, jungen Mann, bartlos, unruhig, ordentlich und fleißig“, für verrückt gehalten, weil so vieles abartige Zeugs – nicht nur Perverses, sondern auch offensichtlich Unsinniges – bei ihm besungen wurde. Alter Ozean, deine Wasser sind bitter. Ihr Geschmack gleicht genau dem der Galle, welche die Kritik über die schönen Künste, über die Wissenschaften, über alles ergießt. Hat jemand Genie, wird er für einen Dummkopf gehalten; ist ein anderer schön von Gestalt, nennt man ihn buckliges Scheusal. Gewiss, der Mensch spürt gewaltig seine Unvollkommenheit, die er übrigens zu dreivierteln sich selbst zuzuschreiben hat, da er sie derartig tadelt! Ich grüße dich, alter Ozean! „Aber, eben dieser Verstand ist so stark, er hat eine solche Weite, dass er zugleich alle Bewegungen des Unverstandes zu umgreifen scheint und die seltsamsten Abirrungen einbeziehen kann, jene unterirdischen Konstellationen, die ihm als Wegweiser dienen, und die er dennoch mit sich reißt, ohne sich zu verlieren und ohne sie zu verlieren.“ (Maurice Blanchot über Lautréamont) Solcherart waren Geist und Seele des Comte de Lautréamont. Ja, was man bei Lautréamont hat, ist der (absolute) GEIST (in der absoluten Form), der um die Welt und um sich selbst rotiert. Er rotiert um die Rätsel, genauer gesagt, um die Mysterien der Existenz, die er mühelos überblickt, deren metaphysischen Beschränkungen er dabei genauso unterliegt, wie alle anderen Wesen, einschließlich Tieren, Kindern und Ozeanen: Weder ich noch die vier Schwimmflossen des Eisbären im Nordmeer haben das Rätsel des Lebens lösen können. Das Rätsel des Lebens, von noch keinem befriedigend beantwortet oder gelöst, gibt es als Substanz wohl nicht. Gut und Böse gibt es, als Substanz, wohl auch nicht. Was es aber, wie Baudrillard (?) sagt, gibt, ist die Spannung zwischen Gut und Böse! Die ist etwas, was uns beschäftigt und eine Erscheinungsform des Rätsels des Lebens ist. Wenn das Rätsel des Lebens als Substanz nicht existiert, teilt es sich doch über Spannung und Intensität mit, die zumindest vom gespannten und intensiven Geist erfahren wird (Lautréamont sei der Schriftsteller mit der höchsten geistigen Intensität des 19. Jahrhunderts gewesen, urteilt Carl Einstein, unabhängig davon, über ihn). Die Gesänge des Maldoror sind Meditationen über das Böse und eine traumhafte Phänomenologie des Bösen – bei der dadurch an Schrecklichkeit aber etliches rausgenommen wird, denn auch wenn Träume oft unangenehm sind: gefährlich sind sie ja nie. Eher sieht es so aus, als wie wenn ein betrunkener Gott (der auch in den Gesängen auftritt) auf die Welt blickt und sein Weltauge errichtet. Nach den publikationsmäßigen Misserfolg der Gesänge des Maldoror plant Lautréamont das Gegenteil, dichterische Gesänge des Guten, die aufgrund seines frühen Todes nur in (künstlerisch scheinbar weniger zwingenden, intellektuell teilweise aber äußerst hochstehenden) Fragmenten vorliegen. Mit den Gesängen des Maldoror will sich Lautréamont durch das Böse hindurchschießen, mit dem Folgewerk will er sich durch das Gute hindurchschießen. Im Einheits-Bewusstsein spielt sich der meditative Kampf von Gut und Böse als (erscheinenden) Polen der Existenz und allgemein die Meditation des Welträtsels in äußerster Ruhe und Intensität ab. Albert Camus zeiht ihn der Banalität; der Mensch der Revolte, als den Camus den jungen Lautréamont auffasst, strebe letztendlich nach der eingangs erwähnten Gewöhnlichkeit, dem Konformismus, der Banalität, suche dort seine Heimat. Aufgrund von Weltekel komme er dann mit banalen versöhnlichen Lösungen und Botschaften: „die Menschheit zu trösten, sie als Bruder zu behandeln, zu Konfuzius, Buddha, Sokrates, Christus zurückzukehren … Jedes Genie ist zugleich befremdend und banal. Es ist nichts, wenn es nur eins von beiden ist“. Ich finde nun aber das Gute nicht banal. Menschen, in ihrer Invertiertheit, finden immer wieder das Böse faszinierend, und das Gute schal: wobei es ja in Wirklichkeit das Gute ist, das faszinierend ist, und nicht das Böse. Das Böse ist höchstens faszinierend, indem es eventuell labyrinthartig ist und geheimnisvoll, indem es ränkeschmiedend ist und aus dem Hinterhalt angreift, aber das Böse ist nicht wirklich komplex; das Gute ist komplex, sogar von endloser Komplexität, und es reflektiert auf das Böse umfassender als es vom Pol des Bösen aus umgekehrt stattfindet. Das Gute ist expansiv, das Böse ist kontraktiv. Im Einheits-Bewusstsein spielt sich der meditative Kampf von Gut und Böse als (erscheinenden) Polen der Existenz und allgemein die Meditation des Welträtsels in äußerster Ruhe und Intensität ab. Das Gute, wenn es nicht allein immer nur aus dem Affekt heraus geschieht, sondern konsequent durchdacht wird, ist dem Bösen an Komplexität weit überlegen. Für Gide war Lautréamont, mehr noch als Rimbaud, der „Schleusenmeister der Literatur von morgen“, was man auch zu sehen vermeinen könnte, insofern die Dichtung des Psychopathen Rimbaud, von technischen Raffinessen abgesehen, auf nichts hinausläuft, während die von Lautréamont auf alles hinausläuft und die ganze Welt überschwemmt. Ich grüße dich, alter Ozean! Im Einheits-Bewusstsein spielt sich der meditative Kampf von Gut und Böse als (erscheinenden) Polen der Existenz und allgemein die Meditation des Welträtsels in äußerster Ruhe und Intensität ab. Die Gesänge des Maldoror bestehen aus lauter Bildern, manche sehr, andere weniger plastisch; der Gedankenstrom fließt reißend und unaufhörlich bei Lautréamont, und für immer; Lautréamonts Geist wandert unaufhörlich, und da der eigene Geist auch unaufhörlich wandert, kommt es immer wieder zu unterschiedlichen Bewegungen bei der Lektüre zwischen dem eigenen Geist und dem, der da vor einem ausgebreitet wird; aber das ist gut, denn so kann man immer wieder zurück (speziell) zu Lautréamont; aufgrund seines Reichtums finden da immer wieder zufällige Zusammentreffen von Nähmaschinen und Regenschirmen auf dem Seziertisch statt (die ich z.B. bei der ersten (wiederholten) Lektüre von diesmal überlesen habe, und sie beim zweiten Mal wohl auch nur bemerkt, weil sie von den Surrealisten zu einem geflügelten Wort gemacht wurde (Amadeo Modigliani hatte angeblich immer ein Exemplar der Gesänge bei sich und immer wieder darin gelesen)). Sowohl Lautréamont als auch ich lieben Kinder (als das werdende Gegenstück zum gewordenen Erwachsenen) und den Ozean (Alter Ozean … du bist bescheiden. Der Mensch rühmt sich unaufhörlich und um nichtiger Dinge willen. Ich grüße dich, alter Ozean!). Zu Tieren (die in den Gesängen des Maldoror auch recht häufig vorkommen) habe ich zwar kein metaphysisches Verhältnis, aber ich mag dann, bei der persönlichen Begegnung, Tiere, und die Tiere mögen mich. Kinder und Tiere sind unschuldig, meint auch Tarkowski (der außerdem für sein Naheverhältnis zum Wasser bekannt ist), wobei sie in den Gesängen des Maldoror meistens böse sind (aber das hätte Tarkowski natürlich sofort verstanden (und ich manage die FB-Gruppe „Sociopathic Children“)). Während Büchner an natürlicher Ursache gestorben ist (ansonsten er aber womöglich im Knast verrottet wäre wie seine revolutionären Mitverschwörer, oder in Wahnsinn, Depression und Selbstmord geendet hätte, wenn er älter geworden wäre?), fand man Lautréamont eines Tages tot in seinem Hotelzimmer. Über die Todesursache des 24jährigen ist nichts bekannt, von einer Krankheit dieses jungen Menschen auch nicht, ein Selbstmord ist nicht auszuschließen. Kaum eine biographische Spur hat das einzelgängerische Ultragenie hinterlassen, für das die Erde aber sowieso kein richtiger Platz schien. „War es eine Bekehrung? Suchte er ein Alibi? Wahrscheinlich tauchte er für eine Weile aus dem Ozean seines Unbewussten auf und fand sich auf der Erde nicht zurecht. Vielleicht glich er Baudelaires Albatros, aus einem Element, das ihn trug, auf das Deck des Schiffes gefallen, ohne Orientierung.“ (Wolfgang Koeppen über Lautréamont) Und so gilt Lautréamont als höchst geheimnisvoll. Wenngleich nicht für mich, denn wir sehen uns durch das Einheits-Bewusstsein, das den Schleier der Maja erheblich verdünnt (wenngleich wir, wie gesagt, den metaphysischen Beschränkungen genauso unterliegen wie alle andere Welt). So will ich am Schluss auch noch definitiv erhellen, warum sich Isidore Lucien Ducasse das Pseudonym „Comte de Lautréamont“ wohl zugelegt hat! Der Legende gemäß wird auf Duhamel de Latréaumont verwiesen, einen verwegenen Abenteurer des 17. Jahrhunderts, der eine Verschwörung gegen den Sonnenkönig anzetteln wollte und die Normandie an Holland verkaufen; dass Isidore L. Ducasse den Namen leicht umgedreht hat in „Lautréamont“, scheint der homophonen Doppelbedeutung „l´autre Amon“, der andere Amon, geschuldet: eine Kreatur aus der Hölle also, eventuell auch aus dem Himmel (bei seinen Gesänge des Guten scheint er auf jeden Fall zumindest nicht geplant zu haben, sie unter dem Pseudonym Lautréamont zu veröffentlichen). Dererlei Vermutungen scheinen würdig und recht. Ich muss mich bei dieser guten Gelegenheit jetzt aber gut 25 Jahre zurückerinnern, an meinen Jugendfreund Weißi, als wir bei unseren nokturnalen Touren hin und wieder einen jungen Lehrling aus seiner Firma mitgenommen haben. Das war ein rechter Tollpatsch, der vieles falsch gemacht hat. Also bekam der in der Firma den Spitznamen „Isidor“ verpasst – denn wie sollte ein Tollpatsch, der so vieles immer falsch macht und Fehlerhaftigkeiten ausführt, auf die man gar nie gekommen wäre, dass sie überhaupt möglich sein könnten, darin also stets für Überraschungen sorgt und sogar so was wie eine unfreiwillige Phantasie, wenn nicht vielleicht sogar Genialität beweist, anders heißen als „Isidor“? Dessen war sich Isidore Ducasse wohl bewusst; das Leben teilt blind an jeden von uns seine Karten aus, und aus Scham darüber, dass er jene Karte mit dem Namen „Isidor“ zugeteilt hat bekommen, obwohl er ein offensichtlich so fähiger Mensch war, nannte sich Ducasse dann eben (in seinen anklagenden Gesängen auf die Schöpfung) „Lautréamont“. Fall gelöst. („Yorick“ ist auch ein herrlicher, wenn nicht ultimativer Name für den Hofnarren und Fettnäpfchentreter; der aber hat alles tragikomische Potenzial der Welt, wobei „Isidor“ einfach nur ein entrückter Dummkopf ist. Während ich über Yorick singe, zieht Bruder Isidore sein Ding durch, indem er sich „Lautréamont“ nennt. Der Isidor hat nicht eben die Schwingen des Baudelaireschen Albatros, wohl aber hat die der Abenteurer Lautréamont.)
ADDENDUM 1: Georg Büchner (außerdem: Goethe)
(aus dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken, 2015)
Erst vor ein paar Wochen, an einem schönen Sommersamstagabend, hat mich
mein Nachbar Oliver Stangl auf Büchner und seinen „Lenz“ aufmerksam gemacht,
und zwar beim Café Nelke am Volkertmarkt und zwar, glaube ich, deswegen, weil
ich ihm ein bisschen was vom Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken
erzählt habe. „Das ist ja so wie bei „Lenz“ von Büchner, wo beschrieben wird,
wie ein Dichter in erster Linie mit seinem Wahnsinn beschäftigt ist;
Augenblicke geistiger Klarheit hat er nur dann, wenn er über Literatur spricht.
Ansonsten wird da nur seine verzerrte, verrückte Wahrnehmung von allem
beschrieben.“ Was bedeutet hat, dass ich mir sofort am Montag den „Lenz“
besorgen musste, außerdem den „Woyzeck“. „Dantons Tod“ habe ich erst gestern
gelesen, etwas hinzuaddiert zu meiner Ansicht, Büchner sei der Größte der
deutschsprachigen Literatur, hat das nicht, es hat eher was subtrahiert, denn
wenngleich „Dantons Tod“ das Werk eines großen Genius ist, ist es durchaus kein
Meisterwerk, sondern ein grauenhaft schlechtes Stück, wen wundert es, dass es
also so populär ist, und übrigens gegenwärtig gerade in Schwechat aufgeführt
wird… Es ist wohl gut, dass ich mit Büchner und seinem „Lenz“ also erst vor
Kurzem in ernsthafte Berührung gekommen bin, denn sonst hätte sich für mich
möglicherweise das Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken erübrigt, das
mir, nach der ersten Lektüre von Büchner, bloß nur mehr wie ein sinnloser
kreativer Appendix und Wurmfortsatz zum „Lenz“, und nicht viel mehr, erschienen
ist. Was dann allerdings doch nicht stimmt, denn um auf Wahrheiten
draufzukommen, da muss man schon selber seltsam und unproduktiv denken und
leiden, anders geht das nicht, es bleibt einem nicht erspart glücklicherweise
im Unglück, unglücklicherweise im Glück, und so wie ich das sehe, könnte das
Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken Geist genug erhalten, um künftigen
Wahrheitssuchern die eine und andere Orientierung auf rauer See zu bieten,
sollte dem so sein, ist mein Sieg vollständig und total; überhaupt hat also nun
die Welt neben dem vorzüglichen, allerdings kaum gelesenen „Lenz“ nun auch das
vorzügliche, aber ? Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken. Weil gerade
Zeit ist und sich außerdem die Gelegenheit aufdrängt, möchte ich vor der
Weiterführung des eigentlichen Gedankenganges noch ein wenig bei jenem
Sommersamstag von vor ein paar Wochen verweilen. Manche mögen sich vielleicht
in dreihundert Jahren fragen, wie ich so gelebt habe. Nun, zu sieben Achteln
als denkender Eremit, wie immer in solchen Fällen; wie es bei authentischen und
gutmütigen Menschen allerdings auch der Fall ist, inmitten von Freunden und
Freundinnen. Den Samstag bin ich mit dem Soko und dem Martin am Volkertmarkt
herumgelungert. Der Soko hat mich mal spontan im Xi angesprochen und mich
gefragt, was ich so mache. Da ist der „Yorick“ ins Gespräch gekommen, der
damals noch nicht veröffentlicht war, 2009 war das. Ich habe dem Soko was
daraus zum Lesen gegeben, und er hat mich bestärkt darin, dass das ziemlich gut
sei. Der Soko ist ein guter und umsichtiger Mensch, der sich im Kampf für die
Wahrheit schon mal auf was einlässt und dafür öfter leider nichts Gutes
zurückbekommt, zum Beispiel einen Fussball mitten ins Gesicht von den Türken-
und Tschetschenenfratzen, die sich aufführen, wie nur was, und von deren Eltern
auch noch darin bestärkt werden; typisches Unterschichtenverhalten, dass
allerdings einfach nirgendwo hinführt außer in die Perpetuierung des
Unterschichtenstatus. Neulich habe ich ihn, schwer an mir zweifelnd, wie öfter
einmal, gefragt, welchen künstlerischen Status der Yorick wohl habe. Ob er zu
messen sei an Werken wie denen von Hemingway oder so; der Soko hat gesagt,
aber, das könne man nicht vergleichen, der Yorick sei eher so was nach der Art
von Joyce. Joyce finde ich, wie schon gesagt, grauenhaft, Hemingway habe ich
vor Kurzem zu lesen probiert, „Fiesta“; abgesehen von anderen Versuchen in der
Vergangenheit, bin aber kaum reingekommen, es war mir irgendwie zu
uninteressant, zu wenig überraschend und hatte zu wenig geistige Intensität,
vielleicht ist das alles ein entsetzlicher Irrtum, da aber der Charakter von
Hemingway zumindest ein entsetzlicher Irrtum, oder zumindest paradox war,
könnte das schon hinkommen. Der Martin findet meine Texte vom Quadrat und der
halbzylindrischen Wölbung und dergleichen mehr so toll, sagt er, dass er immer
aufhört, Musik zu machen, wenn ich lese, denn er macht immer die Musik zu
unseren Trauma-Lesungen. Gegen Abend hat mir die Amanda ein SMS geschrieben,
der Franz spiele ein Konzert vorm Café Nelke, wobei der Franz dem Flo zwei
Wochen zuvor beide Hände gebrochen hat, weil der Flo sich im Xi im Rausch
unmöglich aufgeführt hat, wie öfter einmal, weswegen ihn der Franz gepackt und
rausgezerrt hat, sehr gewalttätig, wobei der Flo umgeflogen ist, und sich beide
Hände gebrochen hat. – Von einer meiner Lieblingsbands, Napalm Death, gibt es
ein „Lied“ mit dem Titel „Continuing War Against Stupidity“. Bei Büchner ist so
was nicht notwendig. Bei Büchner hat man das Gefühl, der höchsten Intelligenz
gegenüberzutreten, die im Rahmen der deutschsprachigen Literatur überhaupt
tätig war, wenngleich ich keinen vollständigen Überblick über die deutschsprachige
Literatur habe, nur einen ganz passablen, und innerhalb dieser Perspektive
scheint es mir halt so bestellt zu sein. Was man bei Büchner hat, ist die
absolute Beweglichkeit der Sprache! Die absolute Beweglichkeit der Sprache, die
die absolute Beweglichkeit des Intellekts ist, und die der absoluten
Beweglichkeit der Psychose nahe ist. Es erscheint wie ein Wunder, dass sich
Büchner so gut in den halbwahnsinnigen Jakob Michael Reinhard Lenz
hineinzuversetzen wusste. Es ist aber keines, denn was Büchner in „Lenz“
beschreibt, ist ja nicht bloß die Wahrnehmung eines Psychotikers, sondern des
absoluten Intellekts des Omega-Menschen, wenngleich natürlich in seiner
krankhaften Erscheinungsform. Der mit allem in der Welt verbunden ist. Der mit
der Welt insgesamt verbunden ist, beziehungsweise verwoben. „Lenz“, ein
Schreiben, dass den beschriebenen Intellekt weit auseinanderzieht, in alle
Richtungen, und ihn schließlich in das Weltgewebe hinein aufsaugt. Aus
irgendeinem Grund denke ich an einen Fliegenflügel, so schaut das alles
irgendwie aus, ein leicht trüb gläsernes Etwas, ein Schirm, mit Faltungslinien
und Adern, das Weltganze, der Weltschirm, in dem der Lenzsche Intellekt
aufgeht, eine Ader ist er dann vielleicht, etwas, dass sich aus der scheinbaren
Indifferenz des Weltganzen hervorhebt, ohne allerdings vom Weltganzen gesondert
zu sein. – Es ist auffällig, dass dem, der gemeinhin als das größte Genie der
deutschsprachigen Literatur, wenn nicht überhaupt gilt, Goethe, das nicht so
ganz geläufig zu sein scheint, wenngleich ich jetzt kein Experte bezüglich
Goethe bin; bezüglich Büchner ja auch nicht, ich komme hier nur mit meiner
Intuition daher. Goethes Figuren und Charaktere sind alle einigermaßen komisch,
haben keine Vorbildwirkung, und wenn sie eine Vorbildwirkung hatten, dann eine
schlechte, so wie der Werther. Wenn sie gut sind, und man Sympathie für sie
empfinden kann, so wie für das Gretchen, sind sie harmlos, weltfremd und
impotent. Wenn man den „Lenz“ mit dem „Tasso“ vergleicht, so scheint deutlich zu
werden, dass Goethe vom „Dichterwahnsinn“ und der schöpferischen Psychose keine
Ahnung hat, sein Tasso ist gerade einmal ein Neurotiker.∞
Nur eine Handvoll glücklicher Wochen habe er in seinem Leben gehabt, so Goethe
zu Eckermann, der Rest seines Lebens sei ihm wie das Aufwärtsrollen eines
Steines nach dem Bild des Sisyphos vorgekommen. Von Extremzuständen im
Positiven wie im Negativen ist bei ihm nicht die Rede. Und deshalb (und
überhaupt, insgesamt) erscheint Goethe einfach nicht wie ein Omega-Mensch, sondern
wie der dauernde Simulant eines Omega-Menschen!∞
In seinem Faust individualisiert sich zwar natürlich die Menschheit, doch ist
er einfach nur eine verunglückte Gestalt, ohne, dass es Goethe jemals so zu
Bewusstsein gekommen sein dürfte, schließlich ist der Faust ja auch eine
Extrapolation seiner selbst. Faust will mit allem verbunden sein, weil er mit
nichts verbunden ist, und er ist deswegen mit nichts verbunden, weil er kein
guter Mensch ist und keine innere Moral, kein sittliches Ich hat, genauso wenig
wie Peer Gynt! Der gute Mensch, der Omega-Mensch hat die Unendlichkeit in sich,
und braucht sie daher nicht über so groteske Umwege zu suchen, wie Faust,
abgesehen davon, dass der gute Mensch, der Omega-Mensch mit und in jedem
Augenblick lebt und in jedem Augenblick präsent ist, und auch glücklich,
wenngleich natürlich ganz und gar nicht im landläufigen Verständnis von Glück.
Es ist sehr eigenartig, dass Goethe dafür gar keinen Sinn hatte. Weiters nun
die absolute Beweglichkeit, die die Sprache Goethes im Gegensatz zu der von
Büchner nicht hatte! „Woyzeck“ beinhaltet den umfassenden „Wahnsinn“,
die zugrundeliegende Psychose der Sprache, daher des Geistes, daher des
Menschlichen, will sagen, das Zusammenspiel von Rationalität und Irrationalität
als Grund der Welt, vor allen Dingen eine authentische Form des künstlerischen
Ausdrucks der Sprache der sogenannten einfachen Leute. Goethes Ansatz hierzu
weist zwar in eine richtige Richtung, die Sache geht aber einfach nicht auf,
wie man im Faust in der Auersbachkellerszene sowie in der Walpurgisnacht merkt.∞ Es scheint bei Goethe auch keine
wirkliche Sympathie für die „einfachen Leute“ vorhanden zu sein, bloß
weitgehende Indifferenz; Goethe hatte kein sonderlich ausgeprägtes soziales
Gewissen und keine sonderlich Solidarität mit den Armen und Benachteiligten! –
Wohingegen Büchner ein forscher Revolutionär war, mit dem „Hessischen
Landboten“ einen politischen Aufruf verfasst hat, der an Kühnheit selbst seinen
revolutionären Mitstreitern die Sprache verschlagen hat, beinahe wäre er
eingekastelt worden dafür; zu seinem Verdruss waren die unterdrückten Massen
für solches Gedankengut gar nicht empfänglich, so dass sich Büchner, zumindest
äußerlich wieder davon abgewandt hat, das ist die zweifelhafte Verfasstheit des
extrem schnell arbeitenden Geistes. – „Goethe war ein Egoist in ungewöhnlichem
Grade!“ – Vom Goetheschen Egoismus, mit dem er die Leute für seine Zwecke
eingespannt hat, hat freilich jeder reichlich profitiert, auch waren die Zwecke
höhere, das ist allerdings beim Omega-Menschen genauso, wobei der Omega-Mensch
allerdings Anti-Egoist sein wird! – Goethe – Ich muss hier einfügen, dass ich
mir vor eineinhalb Wochen zum ersten Mal darüber Gedanken gemacht habe, wonach
man Genies vielleicht in Genies und Hyper-Genies einteilen
könnte. Genies – unter den ganz Großen Marx, Leibniz, Tolstoi oder eben Goethe
– verkörpern ein Denken mit positiver Krümmung und errichten geschlossene
Systeme (wenngleich mit vielen Öffnungen); Hyper-Genies – Nietzsche,
Wittgenstein, Kafka, van Gogh oder eben Büchner – denken negativ gekrümmt und
errichten offene Systeme, Meta-Systeme, Stile, die in der permanenten
Veränderung des Stils aufgehen. Hyper-Genies haben daher dauernd den Eindruck,
dass ihnen ihr Geist davonfliegt, ihr ständig divergentes Denken erzeugt eine
dauernde Hyperreflexion, daher die Krisen, daher die Ekstasen. Von ihnen kommen
die rätselhaftesten und eigenartigsten, sowie die umfassendsten und
profundesten Leistungen der Menschheitsgeschichte. Shakespeare hingegen hat gar
keine Krümmung, sein Universum ist flach, außermoralisch. Daher das Problem mit
Shakespeare. Den Genies mag er als das höchste erscheinen, als der rätselhafte,
sich entziehende Himmel, für das Hyper-Genie hingegen wird er eine Zeitlang
eben ein Problem darstellen, da er außermoralisch ist; das Hyper-Genie hingegen
sieht in den Menschheitskessel, wie Shakespeare, erkennt das Chaos, und will
deshalb Werte schaffen, was Shakespeare nicht tut. – Goethes Poesie war nicht
vollständig beweglich, im Gegensatz zu der möglichen Poesie Büchners! Goethes
Poesie war eine eigenartige Mischung aus Viereckigkeit und Grazie/Zartgefühl.
Ich denke mir einen auf einer Seite ausgelösten Holzrahmen, C-förmig, im Bauch
des C sprudeln virtuelle Wellen, teilweise auch über die Beschränkung hinaus,
das ist die gute Substanz der Goetheschen Poesie. – Dann die Komik um die
Farbenlehre! Auf seine dichterischen Werke bilde er sich gar nichts ein, so
Goethe zu Eckermann, das hätten Leute vor ihm gemacht und würden Leute nach ihm
machen; dass er aber auf dem so schwierigen Gebiet der Farbenlehre, entgegen
der allgemeinen Lehrmeinung, Newton korrigiert habe, beweise ihm seine
eigentliche Superiorität. Natürlich braucht auch der Omega-Mensch etwas, das
ihn stabilisiert, und natürlich wird sich auch das Hyper-Genie was auf sich
einbilden, aber so würde ein solches Exemplar der menschlichen Gattung
das auch nicht handhaben. Wenn man das jetzt vergleicht mit Wittgenstein, zum
Beispiel, und seiner Bereitschaft zur radikalen Selbstkritik! – „Dichtung und
Wahrheit“ habe ich zweimal zu lesen versucht, bin aber ganz und gar nicht weit
gekommen. Goethe hatte eine ungeheure Erlebnisfähigkeit, das ist wahr, und die
breitet er da, wie mir scheint, voll und ganz aus. Jetzt ist es so, dass eine
sehr umfangreiche Darstellung von allem möglichen Gegebenen, oder in der
Beantwortung einer Aufgabenstellung, auf eine sehr hohe Intelligenz hinweist.
Auf eine noch höhere Intelligenz scheint mir aber hinzuweisen, wenn man sich
dann aber wieder ganz einfach knapp, präzise und alles andere als wortreich
ausdrückt. Bei „Dichtung und Wahrheit“ wuchert alles, es wuchert einem
entgegen, wie das ganze Werk Goethes. Was das Hyper-Genie anlangt, so ist es
fraglich, ob es so was wie eine Autobiographie ins Werk setzt, und wenn, dann
eher in der Art von Nietzsches „Ecce Homo“. Große Männer gehen allein in ihren
Werken auf, meint Otto Weininger. Ja. Nein. Sie werden sich auf jeden Fall
hauptsächlich für ihr Werk interessieren. – Goethe hat Kleist nicht verstanden!
– Zwar weiß ich nichts über diese Auseinandersetzung und habe Kleist auch kaum
gelesen, insgesamt scheint Kleist aber einer von den Omegas gewesen zu sein.
Bei Kleist, wie auch bei Grabbe, hatte man auf jeden Fall das Gewaltsame und
das furchtbar Irrationale. Goethe war alles Gewaltsame bekanntlich verhasst,
deswegen lehnte er auch die Revolution ab, auch konnte er kein Blut sehen und
Fäulnis und Tod nicht ausstehen. Beim Hören der Fünften von Beethoven hat er
gesagt: „Das ist ja, wie wenn ein Haus zusammenfällt!“ Der Omega-Mensch wird
das Gewaltsame und zutiefst Irrationale sehr wohl begreifen, obwohl er selbst
lammfromm und gut sein wird; ja, genau deswegen wird er dazu neigen, das
Gewaltsame und zutiefst Irrationale als den Grund der Welt anzunehmen, weil er
eben von der übrigen Menschheit zu weit entfernt ist, im positiven Sinne. –
Jetzt habe ich da mal einiges beisammen, das Wesentliche, was ich zu Büchner
und auch zu Goethe sagen wollte, zumindest im Moment. Ich frage mich, warum ich
mir solche Impertinentheiten gegenüber Goethe geleistet habe! Nun ja, weil der
Blick auf Goethe, von Büchner aus gesehen, sich tatsächlich in etwa so
ausnimmt. Büchner muss man sich auch zum Vorbild nehmen, nicht Goethe, das
erscheint ganz klar. Bleibt nur noch zu klären, warum Goethe als
Universalmensch angesehen wird. Die Omega-Menschen und Hyper-Genies erscheinen
zwar beeindruckend, aber irgendwie nicht als Universalmenschen, sondern als
sektorielle Intelligenzen, also, irgendwie. Die Antwort auf diese Frage sieht
so aus, dass Goethe zwar sehr wohl der Universalmensch ist, die Hypers und
Omegas aber der transzendente Mensch.
Die Klassik ist das Gesunde, die Romatik ist das Kranke, so Goethe.
Kleist, Grabbe und Büchner sind von nichts ein Anfang. Sie sind nicht einmal
der Anfang vom Ende, so Peter Hacks. – Kann man sich fragen, inwieweit Goethe,
Dante, Milton etc. die größten Genies sind und als solche gesunde Genies, Ausdruck einer großen Gesundheit, während
Omegas krank erscheinen, überspannt, Übermaß an pathologischem philosophischen
Zweifel sie auszeichnet, Übermaß an Subjektivität (folglich (so in den Augen
der Normalen zumindest) Exzentrikertum), Nähe zur Psychose. Ich finde die
Omegas aber interessanter und in engerem, intimeren Kontakt mit der
Wirklichkeit und der Hinter-Wirklichkeit (abgesehen davon dass die Hirne und
die Persönlichkeiten der Omegas in der Regel ja recht gut funktionieren).
Shakespeare wieder die Wasserscheide. Attar ist größer als Dante und hat die
Existenz viel tiefer erfasst und umfasst; Dante scheint im Vergleich dazu
oberflächlich (siehe weiter unten)! Goethe ist eine ziemlich konventionelle
Persönlichkeit, eine gescheitere Ausgabe von z.B. Zelter oder eben eines
Fürsten Ministers. Ein Mensch von höchster Intelligenz, aber nicht von höchstem
Genie. Ich frage mich, warum einer wie Nietzsche vor Begeisterung fast seine
Füllfeder verschluckt hat, wenn er auf Goethe zu schreiben kam. Obwohl er das
eh nicht tat, eher hat er Goethe freundschaftlich zugewunken. Nicht auszudenken,
wenn Eckermann auf einen achtzigjährigen Büchner getroffen wäre! Noch weniger,
wenn Büchner und Nietzsche (im hohen Alter) aufeinander getroffen wären! Ich
finde, über letzteres sollte ich mir Gedanken machen.
Also nein! Nochmal: Was ich mir für Impertinentheiten gegenüber Goethe
gestattet habe! Aber es sind Gedanken und Eindrücke, die sich halt mal
aufdrängen und es ist dann ja so auch wieder nicht gemeint, Goethe ist ja
weiträumig, er enthält Vielheiten. Goethe mag es außerdem verstehen, denn
Goethe war ja sehr konziliant. Daher auch der nicht ganz logische Schluss beim
Faust. Um echte Tragödien zu dichten, dafür sei er immer zu konziliant gewesen,
hat Goethe gemeint. So was finde ich sehr gut. Abgesehen davon, dass wir hier
ein Beispiel haben, dass Konzilianz und Herzlichkeit weiter sieht als Logik.
„Wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, ist ein gutes
Schlusswort und überhaupt der Goethesche Faust kein so eindimensionales
Kunstwerk wie der Faust von Christopher Marlowe.
∞ Genauso wie Goethe eben
keine Ahnung und kein Gespür für den Wahnsinn des echten Lenz hatte, den er
verstoßen hat, was man ihm jetzt freilich nicht zum Vorwurf machen kann, denn
das ist ein heikles Terrain.
∞ Der junge Beckett
bezeichnet ihn nach einer ersten, irritierten Lektüre, als eine machine á mots.
(aus dem Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken, 2015)
Wenig ist über Lautréamont, den Verfasser der „Gesänge des Maldoror“,
bekannt, der im Alter von 24 Jahren gestorben ist. Die Gesänge des Maldoror
sind ein Werk ohne wirkliches Vorbild, eine sehr eigene Leistung. Sie handeln
vom Bösen, soll heißen, vom Problem der Moral, und beruhen auf der freien,
spontanen Assoziation, sie sind Texte der Nacht, sie sind Sprache der Nacht,
und können immer wieder von Neuem gelesen werden, da sie kaum auszuschöpfen
sind. Die geistige Intensität ist so hoch, die Texte so dicht, wie bei kaum
einem anderen Schriftsteller. In den wenigen Texten, Briefen, Reflexionen, die
von Lautréamont vorliegen, kommt, wenig überraschend, ein Mensch der höchsten
geistigen Stufe zum Vorschein, der Racine, Corneille und andere der Großen und
Größten ohne weitere Umstände überblickt. Modigliani hat (natürlich) sehr viel
gelesen, ein Buch hatte er immer bei sich, die traumartigen Gesänge des
Maldoror. Man könnte meinen, es sei große Selbstsicherheit notwendig, um neben
Picasso von diesem unbeeinflusst zu bleiben, und sein eigenes, scheinbar viel
weniger komplexes Ding durchzuziehen, wie Modigliani. Wie herzerwärmend dann
aber die Kunst Modiglianis ist, während die Kunst von Picasso das nicht
ist! Modigliani hatte viel Liebe und Respekt für seine Modelle, mithin für die
Menschen. Gelebt hat er zeit seines kurzen Lebens in Armut. Als er im Alter von
35 Jahren, kurz, bevor er bekannt wurde, gestorben ist, hat sich seine Verlobte
Jeanne aus dem Fenster gestürzt, trotzdem die beiden ein Kind hatten. Man ist
einfach geneigt, eine so eine Reaktion von Grund auf zu verstehen.
Nachbemerkung: Die Aphorismen, das zweite Werk Lautréamonts, geben deutlich
weniger her als die Gesänge. Sie sind halt, so wie die Gesänge, schnell
geschrieben, assoziiert, und weniger durchdacht. So wie die Prosatexte
Rimbauds, die, meiner Erinnerung nach, auch nicht viel hergeben, trotzdem auch
sie das Werk einer ganz außergewöhnlichen Intelligenz ist. Wie vielfältig
Intelligenz insgesamt ist! Da assoziieren und kombinieren und delirieren
welche, aber es jagt im Großen und Ganzen immer nur ein einfallsloser Einfall
den anderen und insgesamt haben sie zwar viel kombiniert, aber wenig gesagt
(zum Beispiel James Joyce). Oder aber ihre schönen und beherzten, einzigartigen
Spekulationen sind zu einem guten Teil missgeleitet oder falsch (Freud), oder
unpraktisch und sinnlos (Lacan). Was jetzt natürlich nur ein begrenzter Einwand
gegen Freud, Lacan et al. ist; das Genie ist auch im Irrtum groß, oder
zumindest interessant, sowie lehrreich, und wenn schon alles andere nicht
klappt, beeindruckt zumindest die Kraft der Gedanken und ihrer Durchführung,
erhebt uns in einsamen Stunden, es wird etwas Neues in die Welt gebracht,
derjenige, der die sich die Gedanken gemacht hat, verkörpert einen heroischen
Lebenslauf et al.∞
∞ Irritierende Fälle in der heutigen Zeit sind die Schriftsteller E., D. und B., die zwar etwas Geniales an sich haben, in ihren Mitteilungen dann aber ganz schön kraftlos sind. Und vom Stil her akademisch und nicht aus der Tiefe geschöpft. E. verfasst zu seinem ersten Roman ein geniales Vorwort, sowie ein geniales Nachwort, problematisch ist dann halt, was alles dazwischensteht. Alibihandlungen und Ersatzhandlungen. Sonst würden sie ja wohl auch nicht verlegt und gelesen werden, wenn sie echte Gedanken äußern würden. Das ist, so sagen es auch andere, heute nicht erwünscht. Dann würde das Kartenhaus zusammenbrechen.
Michel Houellebecq moniert (in „Unterwerfung“), der große, übergroße Arthur Rimbaud sei „im Experiment“ stecken geblieben. Wenn aber die Intelligenz, die Kreativität, die Spiritualität solche Ausmaße ausnimmt, dass sie jegliches menschliche Maß absolut überschreitet und der Blick auf die menschlichen Verhältnisse scheinbar von irgendwo draußen im Weltall stattfindet, was soll sie denn dann sonst für eine Erscheinungsform annehmen als die des Experimentellen; dem Gegenüberstellen von mannigfachen Perspektiven, dem Einnehmen diverser Zustände, dem Testen von sich selbst, die Entrückung in ihren eigenen Phasenraum, der alle möglichen Zustände eines Systems abdeckt; Weltgeist, der in seine eigene Kontemplation versunken ist, die im Falle des künstlerisch begabten Weltgeistes dann eben die Erscheinungsform einer rauschhaften Kontemplation annimmt: ich nehme meinen Platz auf der obersten Stufe dieser Engelsleiter des gesunden Menschenverstandes ein. Und so fand die Dichtung von Arthur Rimbaud eben ihre Vollendung im „Experiment“. Anders als William J. Sidis, der als Achtjähriger bereits mehrere Bücher geschrieben hatte, mehrere Sprachen gesprochen, und eine gesamte Sprache, Vendergood (eine verbesserte Form von Esperanto, die sich allerdings nicht durchsetzen konnte), entwickelt hatte, formuliert Arthur Rimbaud im bereits fortgeschrittenen Alter von in etwa elf Jahren (es ist ja auch mehr Lebenserfahrung und seelische Reife dafür notwendig) sein Programm von der objektiven Einsicht in das, worum es letztendlich in der Kunst geht: Seher werden! Tief in das Universum zu schauen, um tiefer in seine „Geheimnisse“ einzudringen und, über den Erwerb von Einsicht und Ausdruck, absolutes Wissen zu erwerben. Um Einsicht und Ausdruck zu erwerben, deren Möglichkeiten unendlich sind, gilt es, einen Tunnel zu errichten, in dem die Einsichten und Ausdrücke durch sich selbst hindurchfallen und sich fortwährend transformieren; einem Tunnel, einem physikalischen Wurmloch gleich, der über ein Schwarzes Loch, in das alles reinfällt auf der einen Seite und einem Weißen Loch, aus dem alles heraus muss auf der anderen Seite eine extradimensionale, abkürzende Verbindung zwischen ganz unterschiedlichen Regionen des Universums herstellt; wie Rimbaud es für sich formuliert: Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne im Unbekannten anzukommen. (Die Leiden sind gewaltig, aber man muss stark sein, als Dichter geboren sein, und ich habe mich als Dichter erkannt.). Das Wurmloch, der Tunnel, in dem sich alles transformiert und umwandelt, ist der abgründige Tiefsinn des Geistes: Zur Zeit jagen mich die ewige Krümmung der Augenblicke und die mathematische Unendlichkeit durch die Welt, wo ich alle bürgerlichen Erfolge ertrage, respektiert wegen fremder Kindheit und ungeheuerlicher Leidenschaften. Das tiefste Gesetz des uns bekannten Universums ist das des Zusammenwirkens von Zufall und Ordnung, und die letzte Einsicht, die man haben kann, ist die vom Chaosmos, und die letzte Ansicht/der letzte Ausdruck, die/den man in der Kunst haben kann, ist die direkte Vision vom Chaosmos: diese hat man im Fanal der Rimbaudschen Dichtung, den „Leuchtenden Bildern“. Die Leuchtenden Bilder offerieren einen herrlichen Blick direkt in den Chaosmos! Das, was den Chaosmos anschaut, ist das Einheits-Bewusstsein, das alle Manifestationen der inneren und äußeren Wirklichkeit gleich umfasst, und das, was ihn reflektiert, ist der absolute Geist in der absoluten Form, dessen Rede Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion in einem ist. Die Dichtung von Arthur Rimbaud führt uns dort hin! Nach den Leuchtenden Bildern hat Rimbaud zum Dichten aufgehört und wurde zum Wanderer. Man könnte meinen: so schnell hat er sich durch den kreativen Prozess, das Wurmloch hindurchgetunnelt, dass er tatsächlich an einer anderen Seite vom Universum herausgekommen ist, und er die Dichtung so sehr überwunden, dass sie ihm nichts mehr bedeuten konnte: Nicht einmal, dass sie verlegt und allgemein bekannt gemacht wurde, bedeutete ihm, Jahre später, dann noch was (vielmehr hat er es abgelehnt)! Rimbaud war, scheinbar, zu schnell, als das er irgendwo hätte ankommen können. Man könnte meinen, Rimbaud hat sich schnell durch sich selbst hindurchgeschossen, dass er sich verbraucht hat, und das erhöht natürlich das Pathos und das Charisma seiner Figur! Ein Unbehauster, der in der Gegenwart nicht leben kann, auch gar nicht wirklich in Vergangenheit und in Zukunft, sondern in all dem zugleich: Bewohner einer radikal überzeitlichen (oder eben: ewigen) Sphäre! Obwohl die Gegenwart zu dornig für meinen großen Charakter war, ( – fand ich mich gleichwohl bei meiner Herrin, als dicker Vogel, grau und blau, der sich zu den Deckensimsen aufschwang und den Flügel im Abendschatten schleppte), und das kann bei großen Charakteren durchaus der Fall sein; umgekehrt aber auch der Charakter zu dornig sein kann für die Gegenwart: Obwohl ich mich, wie man weiß, bei der Betrachtung von transzendenten Menschen immer gerne dafür ereifere, in ihnen eine transzendente ethische Lebensführung und ausgezeichneten Charakter zu entdecken, scheint Rimbaud meine Vermutung eines absolut notwendigen Zusammenhanges zwischen beiden zu konterkarieren. Wenn man sein Verhalten gegenüber Verlaine und dessen Zirkel betrachtet, hat man, auch unter Berücksichtigung aller künstlerisch-philosophischen Kalkuliertheit der Amoralität als experimentellen Lebensstil, offensichtlich einen boshaften Psychopathen vor sich. Auch das spätere ziellose Herumirren über den Globus lässt sich nur bedingt als Ausdruck der „Unbehaustheit des Genies“ romantisieren; eher hat man da die planlose Rastlosigkeit des psychopathischen Individuums. In z. B. der 500-Seiten-Biographie von Robb tritt einem Rimbaud kaum als fassbares, seelisch definierbares Individuum gegenüber. Und – vor allen Dingen – in seiner Dichtung ist das auch nicht der Fall. Trotz dem Bombardement von Reizen, dem man ausgesetzt ist, steht in den Dichtungen von Rimbaud nicht eben viel drinnen. Die Eindrücke werden nicht vertieft. Die Leuchtenden Bilder stehen – außerhalb aller Dichtung, ja, aber als Art Kreaturen, die intern wenig differenziert sind, so dunkle Kuttenmänner, die da Falten haben. Sie leuchten, aber sie sind dünn und sie flirren in außerordentlichstem Grade. Das erhöht ihr Pathos und ihr Charisma: man kann immer wieder zu ihnen zurück, um versuchen, sie zu entdecken – aber man tut es dann niemals. Die frühen Gedichte wären von wenig Relevanz, wenn sie nicht die frühen Gedichte von eben Rimbaud wären, die neuen Verse und Lieder sind besser, aber man nimmt wenig mit, Ein Aufenthalt in der Hölle ist dann schon wieder jenseits der Dichtung und die Leuchtenden Bilder jenseits dann davon. Eine wahrhaft „exzentrische Bahn“ (Hölderlin) der kreativen Entfaltung! Aber – ironischerweise entsprechend ihrer Intention – : die Leuchtenden Bilder sind zwar sehr breit und füllen den Raum gut aus, aber sie sind auch sehr dünn und zerreißen sogleich. Selten, scheinbar nie, kann was perfekt sein, und bei Rimbaud hat man offenbar – adressierend das Pathos und das Charisma von der volkstümlichen Ansicht von wegen „Genie und Wahnsinn“ – , ein sonderbares Hybrid aus sehr hohem, transzendentem Genie und einem Übermenschen (denn speziell die Leuchtenden Bilder präsentieren die Wahrnehmung des Übermenschen) und einem Psychopathen (also einem Wesen, das auch, gemeinhin, als vom Menschen verschieden und als eigene Spezies gilt, allerdings eine weniger angenehme). O Fruchtbarkeit des Geistes und Unermesslichkeit des Universums!
Ich wiederhole nochmal: Wenn man Rimbaud vorwirft, „im Experimentellen“ stecken geblieben zu sein, verkennt man, dass die Herrschaft über alle Dinge, und die Übersicht über den Phasenraum aller Dinge, eben nur über das „Experimentelle“ möglich ist bzw. über einen Geist, der in seiner Selbstbetätigung eben selbst „experimentell“ wird. Wissenschaft geschieht über Postulieren von Hypothesen, also experimentelle Annahmen, die dann experimentell durchlaufen werden. Kunstwerk ist, im ersten und letzten Sinn, Studie über den Gegenstand der Darstellung oder über sich selbst. Das war zunächst nur eine Studie. Ich schrieb das Schweigen nieder, das Nächtliche, ich zeichnete das Unsagbare auf. Ich bannte Taumel und Rausch. Taumel und Rausch und Unsagbares sind, eventuell, nicht unendlich, markieren aber eine Grenze zwischen der Endlichkeit unserer Verständnisse, und dem, was „jenseits“ dessen liegt, eine Grenze, die vom Grenzgänger durchstoßen wird. Das ist die Aufgabe des Grenzgängers: Grenzen weiter hinaus ins Unbekannte zu stoßen und die Bezirke des Bekannten zu vergrößern. Andere schreckliche Arbeiter werden kommen; sie werden an jenen Horizonten beginnen, an denen er (der aktuelle Grenzgänger, Anm.) hinsank. Das ist die Öffnung in die Unendlichkeit der Zukunft hinein und in den Fortschritt hinein: So legte der Dichter das Maß des Unbekannten fest, das in seiner Zeit in der universellen Seele erwacht: er gäbe mehr – als die Formel seines Gedankens, als die Aufzeichnung seines Weges zum Fortschritt! Wenn das Enorme zur Norm wird und von allen aufgenommen, wird er wahrhaftig zum Vervielfacher des Fortschritts! Der Fortschritt von Rimbaud vollzog sich so schnell, dass er scheinbar innerhalb von wenigen Jugendjahren sich ganz durch die Mysterien der Dichtung hindurchgetunnelt hat; in den äußersten Grenzregionen zuletzt angelangt, jenseits derer es dann eben nichts mehr zu sagen gibt. Diese Sprache wird von Seele zu Seele gehen und alles zusammenfassen, Düfte, Töne, Farben, den Gedanken, der sich dem Gedanken anhaftet und ihn nach sich zieht. Das ist gut, das ist die Basis für das Einheits-Bewusstsein und für die wahre Erleuchtung. Rimbaud war so gut, dass er alles gleichzeitig gesehen hat, und daher nur mehr schwer von anderen erkannt werden konnte: Ich zeigte euch unerhörte Reichtümer. Ich verfolgte die Geschichte von Schätzen, die ihr gefunden. Ich sehe die Folgen! Meine Weisheit wird ebenso verachtet wie das Chaos. Rimbaud, das transzendente Genie und der große Abenteurer – der Unbehauste. Entsprechende geistige und kreative Fähigkeiten legen Unbehaustheit ihres Trägers in dieser Welt nahe. Ein Studium der Biographie Rimbauds legt aber vor allem nahe, dass es sich bei Rimbaud (neben den entsprechenden positiven Charakteristika) um einen Psychopathen gehandelt haben könnte. Psychopathen sind gefühllos, bösartig/boshaft, rastlos, irrational, planlos und leben aus dem Augenblick heraus, und hinter einer eventuell interessanten bis faszinierenden Fassade haben Psychopathen wenig echte Persönlichkeit und erst recht nicht so was wie „Seele“. In der Dichtung von Arthur Rimbaud frage ich mich aber auch, wo genau die Seele ist. Die Seher – Briefe des Kindes sind von einer unglaublichen intellektuellen Solidität, und alles andere auch (auch als umtriebiger und hellsichtiger Geschäftsmann in Afrika ist Rimbaud eher an der trägen Umgebung gescheitert) – aber es steht halt mal ziemlich wenig in all dem drinnen. Weiters – auch wenn Rimbaud-Biograph Robb nahelegt, Rimbaud habe zum Dichten aufgehört, weil er nach der Verhaftung von Verlaine (seinetwegen) niemand mehr hatte, mit dem er vernünftig poetisch hätte kommunizieren können – ist die Gleichgültigkeit von Rimbaud gegenüber seiner Dichtung unheimlich; er scheint etwas so Wertvollem keinen Wert beigemessen zu haben, und das, in was er sich in seiner Jugend hineingesteigert hat – „Seher“ zu werden und übernatürliche Kräfte erwerben. Und siehe! ich muss meine Phantasien und Erinnerungen begraben! Dahingeweht, der schöne Ruhm des Künstlers und Erzählers! War ihm die ganze Unternehmung nur ein ephemerer Zeitvertreib, der beim Kind und beim Psychopathen immer wieder von neuen Zeitvertreiben abgelöst wird? Übernatürliche Kräfte erwirbt man, ganz einfach, – oder zumindest ich tue das –, indem ich zum Beispiel da meinen Finger an die interessante zinnoberrote Häuserwand halte. Dadurch bildet sich ein Komplex, eine Assemblage, die mächtiger ist als das, was vorher war und was Neues, ich ist reduziert und ist dann ein anderer, und man hat übernatürliche Kräfte erworben. Das hätte Rimbaud natürlich sofort verstanden, aber konnte er es auch leben? Ich liebe einfältige Zeichnungen, die Gesimse über den Türen, Bühnendekorationen, die Zelte der Gaukler, Wirtshausschilder, bunte Bilder fürs Volk; die aus der Mode gekommene Literatur, das Latein der Kirche, erotische Bücher mit fehlerhafter Rechtschreibung, die Romane unserer Großväter, Feenmärchen, Büchlein für Kinder, alte Opern, harmlose Kehrreime, naive Melodien. So weit, so herzig. Alte, kindliche Seele! Aber wie alles andere auch wird das zwar mannigfach aufgezählt, aber nie vertieft, was da sein sollte, wenn man eben ein tatsächlich tiefes Verhältnis zu naiven Melodien et al. hat. Die Leuchtenden Bilder sind sinnlos, wirr und ephemer. Man ist (heute) geneigt, den dicken Polizisten auszulachen, der Rimbaud mitgenommen hat und über ihn geurteilt: Rimbaud sei ein außerordentliches Individuum, er könne Verse machen, wie kein anderer – nur seien diese Verse völlig unverständlich. Aber das sind sie ja auch! Man ist natürlich geneigt zu meinen bzw. sich vor lauter Schreck unter den Tisch zu flüchten; von wegen, einen so großen Geist kann man unmöglich dechiffrieren, was er da gemeint hat – ich allein habe den Schlüssel zu dieser wilden Schau – ICH aber, ich bin (ein andrer und) Rimbaud intellektuell und an poetischer Begabung gleichrangig, stehe dabei aber seelisch viel höher, und kann mir daher, eventuell, ein Urteil erlauben. Und mein Urteil ist also gespalten: Rimbaud ermöglicht uns einen Blick in den Chaosmos, aber sein Chaosmos hat keine Substanz. Der Blick in den Chaosmos ermöglicht die Herstellung des Einheits-Bewusstseins – wenn Geist und Seele vereint sind. Bei Arthur Rimbaud hatte man ein Missverhältnis zwischen Geist und Seele. Er begreift die Dinge zwar mit unerhörter Leichtigkeit, aber inwieweit er sie auch ergreift, scheint gar schwer auszumachen. Und so fand die Dichtung von Arthur Rimbaud eben ihre Vollendung in der Verwirrung der Sinne (nicht in der Erlangung des Einheits-Bewusstseins und einer produktiven Vision vom Chaosmos, welche die Herrschaft über die vier Himmelsrichtungen ermöglichen und über das Heideggersche Geviert). So ist das dann eben, wenn Ich ein Anderer ist. Und so ergibt sich, dass meine Vermutung, dass Geist und „Seele“ zusammenspielen müssen, sie voneinander getrennt nur bedingt was ausrichten können, offenbar korrekt ist. Und das ist nicht nur sehr gut; es ist auch alles, was mich interessiert. Kunst, die Schönheit, die Wahrheit, das Gute, interessieren mich, in Wahrheit, nicht. Was mich interessiert, ist dass meine Theorien richtig sind. Was mich interessiert, ist dass ich mich ausbreiten kann, Raum einnehmen (eventuell auch den anderen wegnehmen), indem ich Theorien aufzustellen imstande bin, dadurch meine eigene Stärke fühle, die dann verunendlicht wird, indem festgestellt werden muss, dass meine Theorien stimmen. Oder auch nicht einmal, dass es sich dabei um Theorien handelt, also um Orientierungshilfen und objektivierbares Wissen für andere, eigentlich ist es zunächst und vor allem wichtig, dass etwas sich als richtig herausstellt, nur weil ich es einmal gesagt habe. Dass etwas richtig und wichtig ist, nur weil ICH es gesagt habe, ist alles und das einzige, was mich da anficht und interessiert.
Ich hasse jetzt die
mystischen Überschwänglichkeiten und die Verschrobenheiten des Stils.
Jetzt kann ich sagen,
dass die Kunst eine Dummheit ist.
(Die) Unsere großen
Dichter (unleserlich) ebenso leicht:
die Kunst ist eine Dummheit.
In „Poesie und Nichtpoesie“ versammelt Benedetto Groce in einer Zeit, in der es mit der Literatur und ihrer Kritik noch anders bestellt war als heute, vor gut hundert Jahren, Essays über zwei Dutzend Dichter und Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts, und (neben Werner) ist es Heinrich von Kleist, der am schlechtesten dabei wegkommt. Groce verübelt Kleist, dass er den Gegenstand der Dichtung – die Leidenschaften – zwar durchaus gekannt hat, sie aber scheinbar nicht im Zaum halten und sie reflektieren konnte – dass er daher auch nicht über sie triumphieren konnte und nicht den eigentlichen Zweck der Dichtung erreichen: das sittliche Ideal zu errichten. Heute ist man viel eher geneigt zu feiern Kleist als Ahnherr des psychologischen Dramas, Menschenkenner und Metaphysiker, der Ahnung hat von einer gewichtigen Eigenschaft der Welt, die da in ihrer Instabilität und in ihrer Verhängnishaftigkeit liegt. Ja, bei Heinrich von Kleist hat man diesbezüglich schon eine Angefülltheit mit Raffinessen, dass es einen umhaut! Das Käthchen von Heilbronn, das stark/schwach, unbeirrt/somnambulent ihrer reinen Liebe folgt – zu einem unsympathischen Adeligen, der eher das männliche Ebenbild seiner/ihrer Antagonistin Kunigunde ist (oder aber auch an Kleists frühe Geliebte Wilhelmine von Zenge erinnern mag, mit der Kleist (möglicherweise auch unter dem Eindruck seiner latenten Homosexualität) ziemlich eigenartig umgegangen ist)! Adam, der mit Eve rücksichtsvoller spricht als der ungehobelte Ruprecht! Das Genie der Tat (Robert Guiskard), das, Napoleon gleich, kurz davor steht, eine tiefe Schneise in die weltgeschichtlichen Verhältnisse zu ziehen und sie signifikant umzupflügen, kurz davor aber qualvoll von der Pest niedergerafft wird und mit seinen Mannen einigermaßen sang- und klanglos verschwindet! Hermann, an dem sich die Unterschiede zwischen Recht und Unrecht, Zivilisation und Barbarei und, vor allem, Altruismus und Egoismus einebnen, im Rahmen einer schicksalshaften Konstellation, die nur mehr einen weitgehend moralfreien Dezisionismus zulässt (Ist man für die Römer? Oder gegen sie?)! Der Prinz von Homburg, der entweder in einer höheren (und extrem sozialen und geistesgegenwärtigen) Trance ist, oder in einer niedrigen (und selbstbezogenen), der Held ist, Feigling, Opportunist, der die Umstände umwirft und die Wellen bricht und dann wieder von ihnen umgeworfen wird und beinahe gebrochen! Götter, die mit Menschen eher schlecht als recht kommunizieren können und Götter- und Menschenwelten, die sich eventuell gegenseitig kaum was angehen und bei denen das Trennende über das Gemeinsame und Verbindende überwiegt – ach! Die entrückten Opfer der heiligen Cäcilie, die in einer Art Stupor leben, nachdem sie das Licht Gottes gesehen! Nicht zu reden von den extrem unheimlichen Verwandlungen (?), die diverse der Figuren im Kleistschen Kosmos durchmachen, um von unauffälligen oder gar gutherzigen Zeitgenossen plötzlich in Monster zu mutieren. Kleist ist als metaphysischer Künstler sehr groß, denn er sieht hinter das Wesen aller Dinge und wirft zeitlose, transhistorische Bilder. Auf einem so hohen Niveau der Abstraktion und des Begreifens arbeiten gar wenige. Gar viel hat Kleist verstanden. Kleist hat den Höheren Frieden verstanden, er hat den sicheren Weg des Glücks zu finden verstanden (weniger aber, auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen), und er hat das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt gelesen (Über das Marionettentheater); er hat auch somnambulent fremdgesteuerte Wesen der Liebe oder der Verklärtheit über sich selbst verstanden und Wesen des Hasses, der Rache und der Gewalt, von denen man nicht weiß, ob sie außer sich sind oder eben völlig bei sich. Er hat die Welt umrundet. Das ist allerdings nicht eben ein Kunststück, sondern es ist das, was das Genie eben tut. Der Stammtischbruder versteht (hin und wieder) den gesamten Umfang der Existenz ja auch, aber flach und unbeeindruckt; sogar der Intellektuelle tut das, wobei er sich meistens aber vor lauter großem Schreck unter den Tisch flüchtet, wenn er sich mit Manifestationen der Wirklichkeit konfrontiert findet, die ihm nicht in sein Weltbild passen: das Genie hingegen tritt dem gesamten Existenzkreis (intellektuell) unerschrocken gegenüber und lässt nichts unter den Tisch fallen. Allerdings fragt man sich auch immer wieder, inwieweit Kleist all das eben auch tatsächlich verstanden hat; sich vom höheren Frieden ein seelisches Abbild machen konnte, und von den leidenschaftsgesteuerten Wesen seiner Imagination ein intellektuelles…. Auf jeden Fall aber fällt bei Kleist die Leichtigkeit auf, mit der er seine Bahn um den gesamten Existenzumfang und um die Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse zu ziehen imstande scheint, Wesen wie die Penthesilea einschließend, die auch für Goethe zu fremdartig und unverständlich erscheinen. Kleist war nicht allein ein Genie, er war einer der ultrakomplexen Menschen. Das Innere der ultrakomplexen Menschen ist der unendliche Saal der Spiegel, wo sich alles in allem spiegelt! Wieland bemerkt weiland „unter mehrern Sonderlichkeiten, die an ihm (Kleist, Anm.) auffallen mussten … eine seltsame Art der Zerstreuung, wenn man mit ihm sprach, so daß zum Beispiel ein einziges Wort eine ganze Reihe von Ideen in seinem Gehirn, wie ein Glockenspiel anzuziehen schien“, sowie „daß er bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich selbst murmelte und dabei das Air eines Menschen hatte, der sich allein glaubt oder mit seinen Gedanken an einem andern Ort und mit einem ganz andern Gegenstand beschäftigt ist“. Hell yeah, die ultrakomplexen Menschen! Das Gute an der Ultrakomplexität (oder Allumfassenheit) ist der höhere Frieden in seiner höchsten Form, insofern sie ihre gesunde Vergegenwärtigung in der Weißen Hütte hat, in der Dichotomien nicht mehr existieren und alle Inhalte (äußerer oder innerer Natur) nur mehr, eventuell, Kräuselungen in einem angenehmen, strahlenden weißen Licht darstellen. Das ist das Reich des absoluten Friedens. Selige Öde auf wonniger Höh` (Wagner, Siegfried, Dritter Aufzug, Dritte Szene). Das schlechte ist, wenn sich durch die Ultrakomplexität die Widersprüche und Konflikte potenzieren, was vor allem der Fall sein mag, wenn der ultrakomplexe Mensch auf eine unterkomplexe, sehr simple Welt trifft, die für solcherlei Raffinessen wenig Verständnis aufbringt. Wenn er nicht stark ist, kann der ultrakomplexe Mensch da zerschellen. Vielleicht kann das Problem des ultrakomplexen Menschen aber auch in ihm selbst liegen, denn natürlich sind sich auch die Ultrakomplexen nicht alle gleich, und natürlich haben sie auch ihre individuelle Psychologie. Komisch ist, dass ich, wenn ich auf Kleist schaue, immer ein dunkles Grün sehe (das bestenfalls links oben von einem dunklen Schwarz begrenzt wird). Die Ultrakomplexität schimmert meistens in unendlichen Farben – bei Kleist sehe ich aber tatsächlich immer nur dieses tiefe, dunkle, monochrome Grün (bestenfalls eben teilweise begrenzt von (annähernd) schwarzem Rand). Ach! Das ist dann schon unheimelig. Wenn Groce vorschlägt, in Kleist einen zu sehen, der von momentanen Leidenschaften beherrscht war, die er sehr differenziert (weniger aber reflektiert) zu beschreiben wusste, und die der Anfang und auch das Ende seiner Dichtung waren, kann er teilweise schon recht haben, denn man hat bei Kleist schon eine gewisse Morbidität, die vielleicht weniger in der Extremität der geschilderten Leidenschaften liegen mag, sondern in einem offenbaren Fehlen ihres inneren Zusammenhanges. Bei Dostojewski hat man da einen leuchtenden Feuerkreis, der alles zusammenhält, und alle Figuren leuchten und treten hervor, bei Kleist hingegen wirken sie alle irgendwie eingefallen. Bei Kleist stehen die Charaktere (von (etlichen) Ausnahmen abgesehen) immer mindestens 10 Meter auseinander; bei Shakespeare hat man auch eine nebelhafte Welt und einen gasförmigen sittlichen Zusammenhang, aber bei ihm haben die Figuren durchschnittlich nur immerhin einen Abstand voneinander von gut zwei Metern; ja, eigentlich wirken sie überhaupt wie ein unauflöslicher Knäuel ineinander amalgamiert, wenn ich mir das jetzt eben zu vergegenwärtigen suche: bei Kleist sind es aber eben durchschnittlich zehn Meter; seine Welt ist so nebelhaft, dass man immer den Eindruck hat, man würde durch sie hindurchfallen. Wenn man keine entschiedene Position bezieht und skeptisch bleibt, ist das gut (und zumindest für den Philosophen auch allein angemessen), wenn man sich aber auf Positionen, auch zur Not, nicht festlegen kann, ist das schlecht, und scheint ein Hinweis, dass man sie eben gar nicht wirklich verstanden hat. – Der Ausdruck von Kleist ist einzigartig und unnachahmlich, aber er verursacht mir ein gewisses Unbehagen: Und zwar immer dahingehend, ob es auch der richtige Ausdruck ist! Das mit der eindeutig genialen Dichtung geht so: Man hat da den Kessel und undifferenzierten Quasi-Hintergrund der Imagination und als starre, robuste Formationen die Sätze und Wortflächen, in sich selbst solide gebunden und von äußerster Stabilität im (Quasi-) Vordergrund; sie mögen gleichsam als Protuberanzen aufsteigen oder über so Stangen mit dem Feuerkessel verbunden sein; es gibt da eine Verbindung, wenn nicht gegenseitige Verwachsenheit: Das dynamisiert dann die Sprache und das Bild, für immer und in alle Ewigkeit. Das Spiel und das ständige gegenseitige Verweisen von Motiv (dem Ausdruck) und Hintergrund (der Ausdrucksfähigkeit): das ist das Unendliche, das man in der genialen Dichtung hat. Ewiges Spiegeln und Ineinanderversenken der Welten und Hinterwelten. Bei Kleist hat man das recht eindeutig; ja, man hat trotz erzerner Starrheit und Solidität eine galoppierende Sprache, wie es Deleuze bei Kleist in etwa feststellt. Kleist galoppiert uns immer davon, und wir jagen ihm nach und werden nicht müde dabei. In der Prosa (speziell seiner Novellen) sehe ich einen schönen Strom, in dem sich fortwährend kleinere Wirbel bilden. Groce, der da moniert, die Novellen von Kleist wirken wie die Erzählung von Anekdoten, eine bloße Aneinanderreihung von Fakten habe man da, ohne literarische Ausschmückung bzw. Aufarbeitung bzw. Verwandlung, da Kleist die Gestaltungskraft fehle. So einfach kann man sich das nicht machen, und man kann sogar jubilieren, dass in Kleists Novellen die übertriebene „literarische“ Geschwätzigkeit fehlt, die man bei anderen ja genug und übergenug hat; allerdings wirft Groce da schon wieder eine Nuss hin, die man nicht so einfach knacken kann. Noch einmal und zusammengefasst: ist es sehr gut, wenn man im literarischen/künstlerischen Werke das Ineinanderversenken zwischen tatsächlichem Ausdruck (im Vordergrund) und dem Hinter/Untergrund/Schoß der Imagination hat, zwischen der Gestaltung und der Gestaltungskraft; das dynamisiert alles, das macht es ewig, das sind die „Tiefen“ – aber bei Kleist frage ich mich doch immer wieder, ob man die betreffende Stelle, oder das gesamte betreffende Stück nicht ganz anders hätte schreiben können, oder, mehr noch, hätte schreiben sollen! Verfluchte Unentscheidbarkeit! – Dass Amphitryon ein Lustspiel sein soll, ist mir erst aufgefallen, als ich das nachher im Nachwort explizit so definiert gesehen habe; den zerbrochenen Krug habe ich jetzt drei Mal gelesen (um ihm endlich ganz folgen zu können), gelacht habe ich noch immer nicht, obwohl der zerbrochene Krug ja als das deutsche Lustspiel Nr. 1 gilt; da können wir Österreicher möglicherweise wieder sagen: Jaja, die Deutschen und der Humor; ei, da haben wir Österreicher den Deutschen was voraus und wir haben auch den „Villacher Fasching“; wenn Groce sagt, der Humor von Kleist sei rein intellektualistisch, hat er wohl recht; die Stücke von Moliere sind immer wieder tatsächlich sehr komisch und sie sind eine gute, hervorragende Schule für die Menschenkenntnis; die metaphysische Weite von Kleist haben sie aber nicht, und metaphysisch bestimmt wird der Mensch bei Moliere eher nicht – bei Kleist aber eben schon! Natürlich sind weder der Amphitryon noch der zerbrochene Krug tatsächlich Lustspiele, sondern sie werfen die Frage auf Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? – ohne sie jetzt allerdings tatsächlich zu beantworten; diesem allsehenden Auge/Auge Gottes, das da errichtet wird und in den Weltkessel blickt, fehlt irgendwie dann eine Teilhabe (oder so; irgendwas fehlt aber irgendwie, oder scheint (irgendwie) zu fehlen). Der zerbrochene Krug ist groß, ja; eine Ellipse, deren Brennpunkte ein volkstümlicher Schwank einerseits und die letzten Rätsel der Welt und die Mysterien der Schöpfung andererseits sind; und, um bei geometrischen Metaphern und Veranschaulichungshilfen zu bleiben, hat man bei Kleist ein negativ gekrümmtes Universum, bei dem alles ins Unendliche und Unbekannte und ins Sich-Entziehende flieht. Aber eben: beim größten deutschen Lustspiel – hätte ich mir was anderes erwartet. Am Anfang vom zerbrochenen Krug hat man Dialoge, die das seltsamste von der Welt sind – und zwar AUCH wenn man in Betracht zieht, dass „die wahrheitsbildende Kraft der Sprache“ (Günter Blamberger) dort zerbrochen sei, und AUCH wenn man das mit der allmählichen Verfertigung von Gedanken beim Reden in Betracht zieht (was ich von mir aus recht gut kenne, aber, wie mir scheint, vor allem im Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken (und vor allem in meiner ersten Kurzgeschichte, der vom Quadrat, besser bildlich dargestellt habe). – Aufgrund des wandernden Geistes oder auch der Unkonzentriertheit, die einem Mangel an geistigen Fähigkeiten entspringt, hat man immer wieder Mühe, Theaterstücken oder auch Abhandlungen über Spezialgebiete der Differentialgeometrie zu folgen. Zumindest ich habe bei Kleist erhebliche Schwierigkeiten gehabt, seinen Dramen zu folgen, und sie mehrmals lesen müssen um sie, natürlich unter Heranziehung diverser Sekundärliteratur, einigermaßen zu verstehen und ihnen folgen zu können. Komisch, wie man bei ihm schwafelnde Umständlichkeit ohne viel Aussage hat, und dann wieder entscheidende Hinweise in einen Halbsatz verpackt, der unter seinen Kollegen keineswegs hervorragt – so wie, eventuell, im (sogenannten) richtigen Leben, aber eben auch, und dann auch wieder, nicht. Ist das eine Stärke? Ist das eine Schwäche? Man weiß es nicht. – Goethe hat sich bekanntermaßen über die „Unnatur“ des Heinrich von Kleist ereifert, und Kleist wollte Goethe zum Duell fordern. Man hat bei Kleist eine ausgeprägte Ruhmsucht, Unstetigkeit (möglicherweise nicht allein des Genies, dem die Welt immer wieder zu eng wird, sondern als etwas Grundsätzlicheres), hohe Empathie und dann wieder erschreckend niedrige Empathie, man hat die unintelligenten Provokationen im Phoebus u. dergl. mehr. Man ist heutzutage leicht geneigt, Goethe für eine Art Tattergreis zu halten, dem immer wieder entscheidende Hinweise entgangen seien – aber ich, ICH, will, nachdem ich in der Vergangenheit darauf hereingefallen sein mag, dieser Versuchung nicht mehr so einfach erliegen! Wenn die Zeitgenossen losprusten, wenn Goethe zum Beispiel urteilt: Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die Basis der höheren Bildung bleiben! Chinesische, indische, ägyptische Altertümer sind immer nur Kuriositäten; es ist sehr wohlgetan, sich und die Welt damit bekannt zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten; so werde ich weitgehend schweigsam und nachdenklich bleiben (denn etwas anderes als eine düstere Herdenmenschencultur haben die Chinesen oder die Inder oder die alten Ägypter ja bis auf den heutigen Tag nicht zustande gebracht). So ist das, was Goethe bei Kleist als „Unnatur“ wahrnahm, bei heutigem medizinischem Wissen möglicherweise (wie Günter Blamberger zur Debatte stellt) eine narzisstische oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung gewesen, an der Kleist gelitten haben mag und die dann in Verbindung mit der Anomalie des Genies und dessen grundsätzlich enorm gesteigerter Wahrnehmung und intensiven Innenlebens die eigenartigsten, und letztendlich kaum entwirrbaren, Erscheinungsbilder abgegeben hat. Was hätte Kleist an Werken wohl noch von sich gegeben, und wie wäre er und seine Entwicklung zu interpretieren, wenn er ein so ansehnliches Alter wie Goethe erreicht hätte? Genau kann man das freilich nicht sagen, da Kleist ja gleich wieder gestorben ist; wenige auch der hohen Genies erreichen einen Grad abgründiger Tiefe vor ihrem fünfunddreißigsten oder vierzigsten Jahr – die „abgründige Tiefe“ wird erreicht, wenn der Adler in den Abgrund des Abends fliegt und, gemeinsam mit einem hellen Morgen, hinten wieder aus dem Abgrund aufsteigt, nachdem er die Welt umrundet hat – natürlich gibt es auch Frühvollendete (die dann möglicherweise sich nicht mehr nur nicht mehr weiter entwickeln sondern „ausbrennen“), und vielleicht war ja Kleist auch ein Frühvollendeter, der am Ende seiner „exzentrischen Bahn“ (Hölderlin) angelangt ist; vielleicht ist es ja so, dass wir mit dem vierunddreißigjährigen Kleist dann eben auch den ganzen Kleist vor uns haben: vielleicht, vielleicht (ja, das würde einer schon gern wissen!) (und, auch wenn ich mich anstrenge: sehe ich bei Kleist nach wie vor immer nur ein dunkles Grün, eventuell teilweise von einem schwarzen Viertelrund begrenzt). Bei Goethe hat man das Architektonische, die Stabilität, das Ideal; bei Kleist die Bewegung des Unterlaufens; und beide waren eventuell ein bisschen zu sehr in ihrem eigenen Stück gefangen, somit also naturgemäß Antipoden. Den Eisernen Ring, der die Welt zusammenzuhalten imstande ist, schmiedet man aber über beide Bewegungen gleichermaßen. Durch die Stabilität, das Errichten, das Ideal sowie das Unterlaufen von alldem, um erneut, und ohne Sterilität, errichten zu können und Ideale glaubhaft revitalisieren zu können. Sowohl Goethe als auch Kleist haben die Welt umrundet. Aber beide haben sie nicht überschritten. Goethe hat es sich in der Welt gut eingerichtet, und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er noch heute; Typen wie Kleist (oder Baudelaire oder Nietzsche) sind dem jeweils zeitgenössischen Bildungsphilister unheimlich, er kann sich in ihnen nicht selbst erkennen, sie werden (wie Amanshauser vermutet), womöglich immer wieder von Neuem zu Lebzeiten von ihm nur in die Gosse getreten. Ewige Wiederkehr des Gleichen und Amor Fati und Manche werden posthum geboren. Symboltriefende Rätselhaftigkeit des Heinrich von Kleist in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Welt. Endlosschleife? Möbiusschleife? Die Welt ist stark, und das Genie ist schwach. Allerdings ist das ja gar nicht so, vielmehr ist es die Welt, die schwach ist, und das Genie, das stark ist! Das Genie hebt die Welt aus den Angeln, da das Genie eben stärker als alle Welt ist: so sagt das auch Kierkegaard in Der Begriff Angst. Da allerdings auch das Genie, wie auch die Welt, dem Schicksal unterworfen ist, und das Schicksal mächtiger ist als alles andere, da blind und dumm, kann das Genie (und, wie man fairerweise dazusagen sollte, die Welt) Angst haben vor dem „Schicksal“, eventuell Angst vor dem Schicksal, verkannt zu werden und letztendlich nutzlos zu bleiben; diese Angst kann das Genie in den Selbstmord treiben. Auch eben nicht die Stärke, sondern die ewige nervtötende Schwäche der Welt mag das Genie dazu bringen, sich aus der Welt zu verabschieden. Normalerweise wird das aber nicht der Fall sein; jeder Mensch, und erst recht jedes Tier hat sein Kreuz zu tragen, und ganz so schlimm ist es ja meistens nicht. Kleist hingegen hat behauptet, seine sei die „qualvollste Existenz, die je ein Mensch geführt hat“. Hm. Was ist dann aber erst die Existenz von Kurt? Wenn der äußere Reichtum fehlt, hat man da immer noch den inneren Reichtum; wenn die äußere Freiheit fehlt, hat man immer noch die innere Freiheit: und die inneren Reichtümer und Freiheiten sind dabei die eher wichtigeren. Im Zusammenhang mit seiner unsicheren materiellen Situation, seiner dauernden Erfolglosigkeit, seiner hartherzigen Familie und seinem scheinbaren Schicksal, zu einem ständigen glorreichen Scheitern verurteilt zu sein, in allem, was er in Angriff nimmt, und trotzdem er es ja gut ausführt, kann schon sein, nicht nur, dass es Kleist irgendwann gereicht hat, sondern dass er all das als ungeheure Kränkungen wahrgenommen hat, infolge einer irgendwie pathologischen inneren Struktur, die er mit Penthesilea oder Michael Kohlhaas (oder Congo Hoango, oder dem Bettelweib von Locarno, oder Piachi, oder dem Vater der Marquise von O… ….) zu teilen schien, und die die andere Seite seiner, ebenfalls psychologisch nicht eben stabilisierenden, übertriebenen Ruhmsucht gewesen sein könnte. Im Selbstmord, dem er mit kindischer, ausgelassener Heiterkeit entgegengegangen ist, hat er dann nicht nur seine innere Freiheit wiedergefunden, gegenüber dem verhängnisvollen Monstrum Welt, sondern eventuell auch eine Möglichkeit, es der Welt heimzuzahlen (neben einer Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen und sich für die Nachwelt dauerhaft interessanter zu machen). Aus einem Mangel an organisiertem und robusten Selbst hat sich Kleist also (eventuell) erschossen, aus ausufernder Komplexität bei gleichzeitig fehlender innerer Zusammenhaltigkeit (wenngleich mir Kleist da möglicherweise durchaus was voraushat, und ich, wenn ich wüsste, wie Neid sich eigentlich anfühlen würde, eventuell auf Kleist sehr neidisch sein könnte, denn aufgrund meines starken Selbst, meinem extrem festen Haften an der Welt und meiner seelischen Verbindung mit dem Weltgeist, scheint es mir letztendlich dann nicht möglich, Selbstmord dann auch tatsächlich auszuführen, weswegen ich mich dann immer der Perspektive der Qual eines weitgehend sinnlosen Lebens ausgesetzt sehe, ohne daran was ändern zu können). Kleist war einer der ultrakomplexen Menschen, aber er war nicht eben der Gescheiteste von ihnen. Hell yeah, die ultrakomplexen Menschen!
Doch so, wie sich der
Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem
Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite
einfindet, oder das Bild eines Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche
entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn
die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder
ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am
reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein
hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
Mithin, sagte ich ein
wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den
Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete
er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
H. v. K. (Über
das Marionettentheater)
Der ist der
glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung
setzen kann.
Genie bezeichnet, wie man weiß, weniger das Höchstmaß an Intelligenz, wahrscheinlich auch gar nicht einmal das Höchstmaß an Kreativität, vielleicht sollte man eher sagen, es bezeichnet ein ungewöhnliches geistiges/kreatives/spirituelles Penetrationsvermögen; die Fähigkeit, in die Materie einzudringen, und vielleicht weniger, sie zu durchschauen (was letztendlich nicht möglich ist, da sie sich selbst nicht durchschaut), als zu ungewöhnlich tiefen, profunden und überraschenden – und genuinen und authentischen und richtigen und wichtigen Einsichten über sie zu gelangen (ein genialer Pianist wie Horowitz durchschaut die Möglichkeiten des Klaviers in dieser Hinsicht – er ist zutiefst introspektiv was die Möglichkeiten des Klavier anlangt). Das Genie, wie auch Thomas Bernhard eines war, versteht die Zeichen der Zeit – nicht vollständig, aber besser als andere (was wiederum nicht ausschließt, dass es von seinem Verständnis der Zeichen der Zeit überwältigt ist und sich seiner begrenzten Einsicht wie auch seiner begrenzten Konfusion bewusst). Heute ist es Michel Houellebecq, der die Zeichen der Zeit versteht wie sonst niemand, und der sich mit seinen überraschenden Einsichten, in das was eigentlich klar zutage liegt, sogar den Ruf des Propheten erworben hat – nicht zuletzt aufgrund des ominösen Umstandes, insofern das Erscheinen seiner Romane meistens mit einem Unglück oder einem böswilligen Akt in der realen Welt einhergeht, so wie es in jenem Roman scheinbar vorhergesehen wurde. In seinen Romanen und in der Behandlung seiner Figuren hat man eine große Zärtlichkeit und große Seele, ein Verständnis für Zärtlichkeit und für Seele zumindest. Er weiß, was Zärtlichkeit und was Seele ist und ist in tiefer Trauer darüber, dass sie in dieser Welt prekäre und bedrohte Erscheinungen sind. Man hat eine sehr hohe Authentizität; alles an ihm und seinen Romanen und seinen Einsichten ist originär. Aufgrund seines Genies kann er außerhalb von ideologischen Trampelpfaden denken und vor allen Dingen Sachen genuin durchdenken, die sich in kein bisher bekanntes intellektuelles oder weltanschauliches Schema einordnen lassen. Und aufgrund seines Genies kann er diese Sachen auch erfühlen. Das literarische Genie wirft einen zutiefst melancholischen Blick auf die Menschheit, wenngleich dieser Blick bisweilen sehr komisch sein kann. Zwischen Komik und Tragik, Zärtlichkeit und Verachtung, der Bernhardschen Frage „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“ herumpendelnd etc. scheint es bei aller inneren Harmonie zerrissen; das ist es aber nicht notwendigerweise – als Sensorium für die Welt widerspiegelt es eben die komplexe Doppelgesichtigkeit der Welt. Im Gegensatz zur reinen Intelligenz, die das Komplizierte durchschaut, durchschaut das Genie die Komplexität, welche aber letztendlich undurchschaubar ist und sich in ihrem Gemengelage ständig ändert. Aufgrund der Komplexität, die es verkörpert und die es lebt, wird das Genie nicht wirklich verstanden. Und heute macht sich Michel Houellebecq einen Spaß daraus, über alle Maße hinaus komplex zu sein und nicht wirklich fassbar. Bei aller offensichtlichen Eindeutigkeit seiner Positionen ist er in allen diesen Positionen transgressiv. Schlaumeier, die meinen, ihn in einen Sack stecken zu können, werden wohl eines Besseren belehrt (sofern sie überhaupt belehrbar sind; falls sie es nicht sind, bleibt ihnen aber wohl immerhin das vage Bewusstsein, dass sie mit ihren Zuschreibungen dann doch einfach zu kurz greifen).
(Ich sehe, ich habe mich jetzt schon wieder einigermaßen ausgelassen und bin wieder einmal bei einem meiner Lieblingsthemen angekommen: dem vom (literarischen) Genie! Leute, denen es an Verständnis fehlt, wären ja geneigt zu behaupten, damit würde man auf ein „überkommenes Verständnis“ aus dem 19. Jahrhundert rekurrieren, obwohl die Kategorie des Genies ja kaum so präsent ist, wie in der heutigen Literaturkritik; wo jeder Autor, der zumindest irgendwie überdurchschnittlich ist, zumindest irgendwo in der FAZ oder NZZ als „Genie“ gefeiert wird; der dickste Roman der jeweiligen Saison vom jeweiligen Verlag beworben wird in etwa: „Muss in Zukunft in eine Reihe gestellt werden mit Joyce und Faulkner!“ u. dergl.; während ein echtes Genie wie Houellebecq eher nicht als solches bezeichnet wird, und ein sehr tiefes Genie anzunehmenderweise überhaupt ignoriert wird etc.; diese Auslassungen dienen auch ursprünglich hier allein dazu, Dinge richtig einzuordnen und sie ihrem Wesen gemäß festzustellen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen etc.)
Man könnte meinen, bei aller Begabtheit als Schriftsteller – ein großer Intellektueller sei Michel Houellebecq dann nicht: wobei er das allerdings ohne Weiteres in seiner sympathischen Art von sich zugibt. Seine viel weniger gelesenen Essaybände sind aber in Wirklichkeit gar nicht so dumm oder derivativ. Man muss sie nur lesen. Dass ihnen die triumphale monolithische Geschlossenheit des großen philosophischen Systematikers oder intellektuellen Theoretikers abgeht, liegt daran, dass die Zeit der großen Erzählungen bzw. Systementwürfe vorbei ist und sie nicht mehr greifen – nicht nur, weil die Gesellschaft heute zu komplex scheint, sondern weil die großen Erzählungen und Systementwürfe der Vergangenheit auch in der Vergangenheit nie wirklich richtig waren. Weiters mag einen stören (und ihn selber stört es ja am Meisten), dass sowohl der Romancier als auch der Essaysist Houellebecq einigermaßen ausweglos erscheint und unengagiert. Wenn da jetzt ein Romancier und Essayist daherkommt, und die Malaisen der Gegenwart feststellt, sollte man doch meinen oder hoffen, dass sich daraus ein Aktivismus ableiten lässt; wenn ein großer Romancier und Essayist daherkommt und die Gegenwart als Malaise feststellt, sollte man meinen oder hoffen, dass er dann ein ganzes Großprogramm oder –projekt formuliert oder es aus seinen Einsichten ableitbar erscheint, wie man dieser Malaise den Garaus bereiten kann! Dass das bei Houellebecq nicht der Fall scheint, kann man ihm allerdings auch eher nicht anlasten, sondern dem Umstand, dass eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die Gesellschaft und den Menschen heute nicht mehr möglich erscheint. Vielmehr präsentiert sich das menschliche Reich heute als eine Abstufung von Grautönen. Eine einfache Identifizierung von Problemen oder von eindeutigem Gut und Böse – das ist nicht mehr drin (und ist auch gut so, denn sich dieser Anforderung zu stellen und authentische mit ihr umzugehen, steigert das Differenzierungsvermögen und die geistige Tiefenschärfe). Wirklich große metaphysische Probleme, bei denen man in den unermesslichen Abgrund starrt, so wie man es bei Dostojewski (und, wie es scheint, zu der Zeit Dostojewskis) hatte, hat man im heutigen Reich des letzten Menschen nicht. Man hat da seelische und zwischenmenschliche Verarmung innerhalb der Wohlstandsgesellschaft, deren Wohlstand abbröckelt, Tristesse im Liberalismus u. dergl. – weil sich der Mensch in seiner Durchschnittlichkeit wiederfindet und sich das befreite menschliche Reich halt mal, scheinbar endgültig, nicht ganz so darstellt, wie von den Humanisten envisioniert (in Unterwerfung wird ein wenig darüber monologisiert, wie der Humanismus und die Errichtung von humanistischen Idealen eine Selbstbeschreibung der großen Humanisten war und weniger eine des durchschnittlichen Menschen). Veredelung des Menschen, als ein bzw. das letzthinnige Ziel der klassischen und humanistischen Kunst ist da nicht drin. So gute Dinge schienen möglich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch: „Die Welt neigt zum Verfall. Das Gute manifestiert sich von Zeit zu Zeit in einzelnen Personen oder in Ereignissen … doch insgesamt ist die Entwicklung negativ“, meinte einst Kurt Gödel. Jaspers meint auch, der geschichtliche Fortschritt sei zuerst ein Vorandringen einzelner Menschen: „Aber die Geschichte bleibt zugleich das bloße Geschehen, in dem es ständig wie ein vergebliches Rufen, ein Absacken und Nichtfolgen ist. Ein ungeheures Schwergewicht scheint alle Aufschwünge immer wieder zu lähmen. Die gewaltigen Massenkräfte mit ihren Durchschnittseigenschaften ersticken, was ihnen nicht entspricht.“ Houellebecq endlich selber: „Es zerrt allmählich an den Nerven, in einer Ära der Mittelmäßigen zu leben, umso mehr, wenn man sich selbst außerstande sieht, das Niveau wieder anzuheben. Ich werde gewiss keinen einzigen neuen philosophischen Gedanken hervorbringen; in meinem Alter hätte ich sonst wohl schon entsprechende Anzeichen zeigen müssen. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich bessere Romane hervorbringen würde, wäre das geistige Klima um mich herum nur ein wenig fruchtbarer.“ (In Schopenhauers Gegenwart, 2017, S.9). Als ein Thema, die sein ganzes Werk durchzieht, macht Houellebecq-Biographin Julia Encke „jene Mittelmäßigkeit“ aus, „die er als den Grundzug der Gegenwartskultur ausmacht“ und die „dem System der großflächigen Kultursteuerung und –verwertung immanent“ sei. „Ob auf dem Kunstmarkt oder in der intellektuellen Welt, in der Hauptsache gehe es darum, Netzwerke zu organisieren, Karrieren zu lancieren, Definitionsmacht zu gewinnen, Posten zu besetzen. Mit der Produktion von Ideen, Werken oder Theorien, die für sich selbst stehen, haben die entsprechenden Aktivitäten nichts zu tun.“ (Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq?, 2018, S.182) Dementsprechend bemerkt auch Sabine Maria Schmidt in ihrem Essay „Chronische Moderne“ im Kunstforum: „Finanzökomonische Maßstäbe haben längst eine Definitionsmacht über die Kunst geschaffen, die die Befragung ihres ästhetischen, konzeptuellen und funktionellen Mehrwertes zunehmend überlagern. Was Kunst oder gar gute Kunst ist, im Sinne verkündeter Urteile unbestechlicher Autoritäten, ist kaum mehr von Interesse.“ (Kunstforum 252, S.53) Wenn das so ist, wird es schwierig. Was soll die Kunst dann für Aussagen treffen angesichts einer quasi ontisch verankerten Beliebigkeit? Wenn Mittelmäßigkeit oder Dummheit denselben Applaus bekommen wie Exzellenz, ist es ja kein Wunder, wenn das Niveau in den Arsch geht (schreibt auch gestern Kira auf Facebook). Man hätte damit das Zeitalter als Post-Truth festgestellt, und zwar nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit längerem, und als quasi inhärente Qualität. Dazu sei allerdings gesagt, dass das meistens so ist und die wenigsten Zeiten transzendent sind, sondern vielmehr von ihrer eigenen Immanenz erheblich konsumiert werden. Die Unwahrheit ist letztendlich keine Macht, sondern etwas, das gegenüber der Wahrheit eher schwach ist. So lohnt es sich also, an der Wahrheit zu arbeiten. Und Houellebecq will ja gar keine aktivistische Literatur machen, für ihn sei Literatur dazu da, Gewissheiten ins Wanken zu bringen. Ja, das kann er. Und es ist auch schon berechtigt so. Bevor man die Welt verändern will, muss man nämlich erst mal lernen, sie korrekt zu interpretieren.
In seiner sympathischen Art stellt Houellebecq auch eine gewisse Mittelmäßigkeit an sich fest, die er aber eben in seine große Stärke als zeitdiagnostischer Prophet der Mittelmäßigkeit umzusetzen weiß (insofern das Genie ja auch jemand ist, der seine Minderwertigkeitsgefühle und Gefühle der Unzulänglichkeit maximal produktiv verwerten kann). Kann mich erinnern, wie ich vor Jahren in einer französischen Zeitschrift mal ein Interview gelesen habe, wo er sich über seine „Mediokrität“ beklagt: Er habe ja nicht einmal einen eigenen schriftstellerischen Stil! Ja, das wird ihm hin und wieder vorgeworfen, wenngleich von Leuten, denen man eine solche Rute ohne Weiteres selber ins Fenster stellen kann. Sein beiläufiger Erzählstil ist der mittelmäßigen Welt und der Beschreibung des Lebens als bestenfalls halbguter Roman ja ganz angemessen. Literarischen Stil – und zwar einen bestimmten, massenhaften literarischen Stil, der immer so daherkommt der Art „Achtung! Hier wird Literatur gemacht!“ – den hat man ja eh überall und es wird ja eh überall Literatur gemacht, indem der Literarische Stil von allen kopiert wird – wie erholsam also die Stillosigkeit von Houellebecq! Außerdem und vor allem, da es einen „Stil“ ja auch gar nicht gibt. Es gibt nur die Kraft der Gedanken und die Fähigkeit, diese darzustellen. Wo keine Gedanken, da aller Stil bestenfalls hohl. Wie kraftvoll also die Romane (meistens) von Houellebecq und was für emblematische Sätze und Stellen sich darin immer wieder finden! Ja, das hat schon Schwung und es übt Macht aus, das! Zu den Gedichten von Houellebecq gelang es mir noch nicht so wirklich durchzudringen, aber ich freue mich, wenn ich sehe, wie Houellebecq Dichtung und Kunst im Allgemeinen immer wieder zutiefst versteht, und zwar von der Wurzel auf, und eine große, authentische Wärme für sie zeigt. Die Wärme, die Houellebecq für die Kunst, die Poesie und für authentische Menschlichkeit im Allgemeinen aufbringt, findet sich unter Menschen ansonsten leider so gut wie kaum. Poesie gelingt aber eigentlich sowieso selten, denn dafür ist der Mensch einfach eine zu kraftlose und verschrumpelte Lebensform, wie es scheint. An der Poesie scheitert fast jeder. Eine Reflexion über Poesie beendet er mit der Offenbarung, dass er sein Werk in der Intention mache, um „folgende winzige Botschaft“ hinterlassen zu können: „Jemand hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich die Entstehung eines monströsen und globalen Mangels verspürt; außerstande, das Phänomen klar zu umreißen, hat er uns jedoch – als Zeugnis seiner Inkompetenz – einige Gedichte hinterlassen.“ (Brief an Lakis Proguidis, 1997; Die Welt als Supermarkt, 2001, S.53)
Die F. erzählt mir, was für eine unmögliche Erscheinung M. sei, den sie einmal getroffen habe. Von sich selbst absorbiert und grauenhaft aussehend, so als wie wenn er es darauf anlegen würde, so grauenhaft, ungesund und abstoßend auszusehen wie nur möglich. Nun ja, bei Menschen mit neurotisch niedrigem Selbstwertgefühl oder einen neurotischen Bedürfnis, andere vor den Kopf zu stoßen, kann das schon sein. Wie exakt die Beschreibung des M. durch F. ist, den sie ja gar nicht kennt, weiß ich dabei aber nicht; ich kenne ja auch die F. kaum. Zumindest aber finde ich, dass M. mit seinen längeren Haaren, wie er sie seit einiger Zeit so trägt, ganz gut aussieht; zwar einerseits wie ein Clochard, aber auch wie ein schriftstellerischer Charakterkopf. Allgemein ist über ihn bekannt: er redet nicht viel, ist schüchtern und zurückhaltend, ringt nach Worten, zwischen seinen Hervorbringungen herrschen oft längere Pausen. Bravo, gut gespielt! Beckett war ja auch so (ähnlich). Das in seine eigenen Geistestiefen versunkene Genie, das außerdem sein Ego in seiner Kompaktheit nicht ganz zu finden scheint, und immer wieder von neuem mühsam zusammensuchen muss. Dem rassistischen Gentleman und radikalen Outsider HP Lovecraft, der das Leben als grundsätzlich negativ, ja, als dämonisch empfunden hat, hat er ein ganzes Buch gewidmet (und Schopenhauer ein anderes). Lovecraft, der, wie er schreibt, voller Verachtung für das Leben und die Menschheit war, aber gleichzeitig von ausgesuchter Liebenswürdigkeit gegenüber dem einzelnen Menschen; der zwischen (angeblichem) Hochmut und einer geradezu masochistischen Zurückhaltung herumgependelt ist. Der Ausländer gehasst hat, weil er sie für sein persönliches Scheitern als Gentleman alter Schule in der Gesellschaft Fuß zu fassen, verantwortlich gemacht hat, so wie Houellebecq seinen Hass auf seine Mutter in ein Ressentiment gegenüber den 68ern kanalisiert. Wie viel er davon (auch berechtigerweise) ernst meint, ist eine offene Frage; dass er es mit seinem Ressentiment gegenüber den 68ern ernst meint, ist keine Frage. Seine Biographin Julia Encke enthüllt, wie er sich nach eingehenderer Beobachtung entgegen seinem misathropischen Image „wehmütig und wider Willen“ als ein „großer Menschenfreund“ entpuppt (was er in Wirklichkeit ja auch über seine Literatur tut) (ohne aber leider ausführlich zu werden, wie sich diese Menschenfreundlichkeit bei ihm denn äußert). Die Biographie von Julia Encke trägt dabei den Titel „Wer ist Michel Houellebecq?“ – und trotzdem bleibt er ein gewisses Mysterium. „Ich mag mich nicht. Ich empfinde nur wenig Sympathie, geschweige denn Wertschätzung für mich. Obendrein interessiere ich mich nicht besonders für mich“, so M. in „Technischer Trost“ aus 2002 (Ich habe einen Traum. Neue Interventionen, 2010, S.45). Ja, wenn das so ist, kann es schon sein, dass die Eindeutigkeit der Erscheinung möglicherweise darunter leidet. Ich finde es aber gut, wenn sich einer nicht so besonders für sich interessiert. Inwieweit M. seine Kohle auf philanthropische Zwecke verwendet, weiß ich nicht. Wär aber schon eine Schande, täte er´s nicht. „Unversöhnt mit sich selbst“ sei Houellebecq – oder zumindest der Autor der Gedichtanthologie „Non réconcilié“. Stellt Julia Ecke fest. Deswegen kann er auch die Zeichen der Zeit so gut feststellen.
In einer Welt, die (zumindest in den modernen Industriegesellschaften) scheinbar zu sich selbst gekommen ist, beschreibt Houellebecq einen gewissen Widerstand der Welt gegen Verklärung und romantische oder aktivistische Vereinnahmung. Er beschreibt: Multikulturelle Gesellschaften funktionieren doch nicht so glatt, wie man sich das gedacht hätte. Sexueller Liberalismus produziert, wie der Wirtschaftsliberalismus, einige wenige große Gewinner, einen prekären Mittelstand und etliche Verlierer. Befreite Liebe wird schon mal als Instrument narzisstischer Selbstbespiegelung und Machtausübung genutzt, von Seiten beider Geschlechter. Ausrichtung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf Produktivitätssteigerung und Effizienz ist weniger eine kapitalistische oder politische Verschwörung, sondern, wie Houellebecq einsieht, hat die Zerstörung und Erosion von traditionellen Lebensformen und Selbstverständnissen und Heimaten zugunsten der Steigerung von Effizienz und Produktivität ihren Grund darin, da die Steigerung von Produktivität und Effizienz eben das letzte Wort hat (insofern Wirtschaften die möglichst effiziente Umwandlung von Ressourcen bedeutet, um so Kapazitäten für die Umwandlung von anderen Ressourcen zu schaffen, was das Leben fortgesetzt diversifiziert und in seinen Möglichkeiten und Verfügungsgewalten bereichert). Länger anhaltender Wohlstand und demokratische politische Freiheiten mögen dazu führen, dass man ihren Wert ein wenig vergisst. Wenn die Menschenrechte längere Zeit als selbstverständlich genossen werden, kann es passieren, dass die Menschen schon mal den Sinn der Menschenrechte in Frage zu stellen geneigt sind oder meinen, dass man bei den Menschenrechten mal „ausmisten“ sollte etc. Houellebecq hat jetzt nicht die Stringenz eines Sartre (den er, im Gegensatz zu Camus, allerdings sowieso für einen „Clown“ hält), und Essays wie Betrachtungen zur Judenfrage gelingen ihm vielleicht nicht ganz. In etlichen Punkten hat sich Sartre aber geirrt; unter anderem auch darin, wenn er immer wieder meint, die Einsicht in die existenzialistische Einsamkeit und die Notwendigkeit, sein eigenes gottloses Projekt zu machen wirke als Terror – obwohl sie für den Konsumtrottel überhaupt nicht terrorisierend wirkt und gar nicht irgendwie anstrengend. Ich weiß nicht, ob die mit dem Schluss von den Fliegen überhaupt irgendwas anfangen können. “Als er France-Inter einschaltete, stieß er auf eine Sendung, in der die kulturellen Ereignisse der Woche zerpflückt wurden. Die kommentierenden Kritiker prusteten los, ihr dummes Geschwätz und ihr lautes Gelächter waren unglaublich ordinär. France-Musique sendete eine italienische Oper, deren hochtrabende, gekünstelte Brillanz ihm sehr bald auf die Nerven ging. Er fragte sich flüchtig, was ihn dazu veranlasst hatte, sich auf eine künstlerische Darstellung der Welt einzulassen oder zu glauben, dass eine künstlerische Darstellung der Welt überhaupt möglich sei; die Welt war alles andere als ein Gegenstand künstlerischer Emotionen, die Welt stellte sich eindeutig als ein rationaler Bezugsrahmen ohne jede Magie und ohne besonderes Interesse dar“ (so die Einsicht, die Karte und Gebiet beschließt). Das ist eigentlich was viel Schlimmeres als jeder mögliche existenzialistische Ekel. Es formuliert einen handfesten Grund für den künstlerischen und philosophischen Welterheller, sich von vornherein eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Houellebecq beschreibt eine einigermaßen lieblose Welt. Das Problem ist dabei, dass in dieser Welt aber eben gar nicht so viel Liebe vorhanden ist. Authentische Künstler wie van Gogh haben die Welt und die Dinge geliebt. Kunsthändler lieben van Gogh in erster Linie dann, wenn sie ihn verkaufen können; Kunstkritiker, wenn sie wichtigtuerische Kunstkritiken über van Gogh schreiben können, nachdem man ihnen erklärt hat, worum es bei van Gogh eigentlich geht etc. Houellebecq liebt, wie man sieht, die Dinge; die Welt liebt er nicht: Also passt er gut in die heutige Welt und kann sinnvolle Aussagen über sie machen und die Zeichen der Zeit so gut feststellen. Es ist in der Tat eine ein wenig lieblose Welt. „Ich weiß, was man tun muss, um als nett zu gelten, ich bin nicht blöd. Aber ich habe keine Lust darauf. Ich habe viel zur heutigen Gesellschaft gesagt, und im Grunde habe ich die Nase voll von ihr.“ (Gespräch mit Gilles Martin-Chauffier und Jérome Béglé, Ich habe einen Traum. Neue Interventionen, 2010, S. 87) Ja, das hat schon was für sich, von der heutigen Gesellschaft die Nase voll zu haben. Aber scheiß drauf, noch ein paar Zitate:
„Ich persönlich bin allerdings von Grund auf a-religiös, obwohl ich mir der Notwendigkeit einer religiösen Dimension schmerzlich bewusst bin. Das Problem ist, dass sich keine der heutigen Religionen mit dem allgemeinen Erkenntnisstand verträgt. Was wir bräuchten, ist geradezu eine neue Ontologie. Diese Probleme mögen übertrieben intellektuell erscheinen. Ich glaube jedoch, dass sie in zunehmendem Maße außerordentlich konkrete Auswirkungen haben werden. Wenn in dieser Hinsicht nichts passiert, hat die westliche Kultur meiner Meinung nach keine Chance.“
(Gespräch mit Valère Staraselksi, 1996; Die Welt als Supermarkt, 2001, S. 89)
„Wenn es heute jemandem gelingen sollte, einen sowohl ehrlichen als auch positiven Diskurs zu entwickeln, wird er den Lauf der Welt verändern.“
(Gespräch mit Sabine Audrerie, 1997; Die Welt als Supermarkt, 2001, S. 83)
Und, aber siehe da! Wenn wir uns das mal so überlegen wollen und so betrachten, und alle Mieselsüchtigkeit, vor allem jene, die in den Romanen Houellebecqs vorkommt, mal beseitelassen wollen, so werden wir uns plötzlich sehr schnell klar, dass wir ja eh die ganze Zeit über schon in herrlichen, aufregenden Zeiten leben! Auch wenn die Kunst möglicherweise gerade keine so gute Phase durchmacht, explodiert das Wissen und es explodieren die (Sozial)wissenschaften und unsere Kenntnis und unsere Einsichtsfähigkeit in die Welt. Vielleicht zum ersten Mal erscheint ein globales Verständnis möglich und ein globaler Intellekt, und ein globalisiertes Empfindungsvermögen! Da gab es also die Moderne mit ihren großen Erzählungen, dann die Subversion der großen Erzählungen durch die bunte, gescheckte, verspielte, ironische Postmoderne, die auf der Rückseite ihrer Medaille eventuell eine kraftlose Uneindeutigkeit und mangelnde Originalität und (Willen zur) schöpferischen Kraft trägt, sich ihres Ablaufdatums aber implizit gewiss: Dann sollten wir da haben – die Ersetzung der großen modernen Erzählungen und ihrer ironischen postmodernen Subversion durch die Schaffung des Großen Bewusstseins! Bewusstsein entsteht durch die empathische Einsicht in die Vielfältigkeit und in die möglichen verborgenen Dimensionen einer Sache. Die Vielfältigkeit liegt klar zutage, das Gemengelage an Theorien außerdem: Lasst und also fortwährend lernen, es zu beherrschen durch Bewusstsein; also einer nicht starren, sondern flexiblen, fluiden und komplexen Intelligenz! Der Absolute Geist in seiner absoluten Form wird keine Philosophie mehr sein, sondern ein Bewusstsein über alle Philosophien etc. Als Ontologie nehmen wir den Chaosmos an und —- aber hier bricht der Text einstweilen ab. Die Dialektik von thetischer Moderne und antithetischer Postmoderne soll ihre Synthese finden in dem äußert kraftvollen, die Dinge ergreifenden Großen Bewusstsein! Das sei der Geist des 21. Jahrhunderts. Das Große Bewusstsein! Das Große Bewusstsein! Das Gro-
— und die Welt ist sowieso offen, sehr offen; und ihre Wunden sind offen, sehr offen; dann gibt es die Permanenz des Klassenkampfes, die Refeudalisierung der Welt etc. Dagegen kann man sich schon sinnvoll einbringen; und der deutsche Industrieländer Weidner, der ein neues kosmopolitisches Denken fordert, berichtet von seinem Kulturschock bzgl. seiner arabischen Dichterfreunde, für die „die Aura das Dichtertums so groß war, dass jede wirtschaftliche Vernunft an ihr zunichte wurde. Sie verschuldeten sich, halfen einander, beherbergten sich wechselseitig, liehen sich Geld und bildeten eine Art poetischen Bettelorden. Anders hätten sie kaum überleben können. Als namenlose arabische Dichter wären sie ohne ihren fanatischen Glauben an die Literatur nichts gewesen. Der aber gab ihnen, was ich in meinem Umfeld vermisste: die Überzeugung, noch etwas Relevantes zu tun zu haben, sagen zu können, sagen zu müssen. Sie hatten noch echte Anliegen, und von der seltsamen Übersättigung, die meiner Generation so oft den Wind aus den Segeln genommen hatte, war bei ihnen nichts zu spüren. Während hierzulande selbst widerspenstige Intellektuelle und Schriftsteller bald vom System vereinnahmt und integriert werden, war in der Heimat meiner arabischen Freunde jede Kritik ein sinnvoller, oft unfreiwillig provokanter Akt. Das gab ihrem Tun einen Wert. Man musste sich fragen, ob der Westen nach Gott und allem sonstigen Glauben am Ende auch den an Kunst und Literatur, wenn nicht an die intellektuelle Betätigung insgesamt entwertet und in die Isolierstation eines selbstgenügsamen Kultur- und Universitätsbetriebes abgeschoben hatte.“ (Stefan Weidner: Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken, 2018, S. 16f.) Siehe da: Von den Arabern und Persern also (von denen, ausnahmsweise, seit Jahrhunderten wirklich gute und fundamentale Poesie kommt) gehen möglicherweise die entscheidenden Impulse für die neue geistige Weltordnung aus! Von den von Houellebecq so sträflich vernachlässigten und (hin und wieder) diskreditierten Morgenländern! Hahahaha!
Am Ende habe ich mich verrechnet
wahrscheinlich im eigenen Größenwahn verrechnet hat er gesagt
ich verstehe die Zeichen der Zeit nicht mehr
die Zeichen der Zeit versteht niemand
Thomas Bernhard, Heldenplatz
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Was mich anlangt, so bin ich ein intellektuell/kreativ/spirituell sehr hochstehendes Genie, im Gegensatz zu Michel Houellebecq sind aber fast alle meine Sachen komplette Misserfolge; was für mich aber verkraftbar ist und kein Grund, den Laden dichtzumachen, da es sich bei fast allen meinen Sachen um bedeutende Schöpfungen handelt und ich daher – mit Michel Houellebecq, wie er es in Unterwerfung formuliert hat, gesprochen – zumindest teilweise in der Sphäre der Ideale lebe, der Invarianten und des Absoluten. Mit dem Unterleib wandle ich freilich durch diese Zeit; mit der darüber, also der der Geistigkeit zugerechneten Leiblichkeit, bin ich aber bereits im Kontinuum und dort ficht mich nichts mehr an. Das ergibt dann einen Bodhisattva. Also sollte es von Interesse sein, wie meine Wenigkeit wohl die Zeichen der Zeit feststellt. Tatsächlich ist eine Frage, die mich bekanntermaßen permanent beschäftigt: Wie man wohl diese Zeit – und alle Zeiten – feststellen kann; außerdem, wie heute Kunst möglich sein kann und wie Kunst heute aussehen kann. Meine künstlerischen Erzeugnisse sind ja immer von der Frage geleitet, wie Kunst heute möglich sein kann und wie eine solche Kunst aussehen könnte. Was meinen Geist anlangt, so steht er, soweit ich feststellen kann, an der Spitze des gegenwärtigen Wissens (soweit ich feststellen kann, sogar an der absoluten Spitze des gegenwärtigen Wissens und der menschenmöglichen geistigen Flexibilität und Einsichtsfähigkeit). Was stelle ich also hinsichtlich der Zeichen der Zeit fest? – Leider ist es so, dass von einer solchen Aussichtsplattform aus die Manifestationen des Gesellschaftlichen vor lauter analytischer Fähigkeit scheinbar in lauter sinnlose Einzelphänomene zerfallen, die ich obendrein, aufgrund ihrer Beschränktheit, sowieso nicht so ganz ernst nehmen kann (obwohl ich sie gleichzeitig extrem ernst nehme). Darüber hinaus ist mir bewusst, dass aufgrund der Tiefe der Welt und der verschlossenen Türen, hinter denen beschlossen wird, mein Wissen in den derzeitigen Gang der Welt beschränkt ist; und sollte auch nur ein Mosaikstein in der Gesamtansicht fehlen, kann es ohne Weiteres dazu führen, dass man sich in Spekulationen ergeht, die zwar interessant und raffiniert sein mögen, aber fehlgeleitet. Welche Abstraktionen und Synthesen soll man also bilden, was soll man als neuralgische Punkte ausfindig machen, wie Houellebecq das so gut kann? Wie die Arena begrenzten, wenn das begrenzende Rund der Abstraktion und der Synthese, der Ebene, des Plateaus, vor meinem inneren Auge eine geschwungene Kurve ist, die aus dem Unbestimmten kommt und sich ins Unbestimmte verliert? Ja, das ist schon eine verdammt gute Frage! In meinem Kopf finden ungeheure Dinge statt und findet (im Gegensatz eben zur gesellschaftlichen Wirklichkeit) die permanente Revolution statt und vor meinem geistigen Auge sehe ich Universen entstehen und vergehen – das nicht, weil ich das notwendigerweise (in dieser Form) so angestrebt habe, sondern weil es eben mittlerweile so ist. Da ich milde und allesverstehend und ohne ausgeprägtes Selbst bin und keine Komplexe oder Neurosen habe, fühle ich mich allen gesellschaftlichen Manifestationen und Problemen gleich verwandt und mich gleichermaßen von ihnen verschieden. So gesehen ist es vielleicht gar nicht meine Aufgabe, konkrete neuralgische Punkte der Gegenwart zu benennen, sondern die Möglichkeit eines vollständig klaren und geordneten Geistes anzuzeigen, mit dem man Probleme bestmöglich lösen kann. Das Problem meiner Romane war das der menschlichen Ipseität und der Gefängnishaftigkeit der menschlichen Subjektivität und der Möglichkeit ihrer Überwindung durch die Öffnung hin in Geist, Seele und Moral. Damit habe ich, soweit ich feststellen kann, in einer, zwei genialen Gesten das tiefste Problem behandelt, was man mittels des Romans überhaupt behandeln kann (mit der eigenartigen Nebenwirkung, dass meine Tätigkeiten und Möglichkeiten als Romancier damit schon wieder, zumindest für längere Sicht, beendet sind, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen haben). Das mit dem Bodhisattva ist nicht schlecht – es ist sogar sehr gut, zumindest für andere – und es ist letztendlich Schicksal. Die Spitze des gegenwärtigen Wissens und der menschenmöglichen geistigen Flexibilität und Einsichtsfähigkeit bedeutet: die Möglichkeit eines absoluten Außens gegenüber den relativen oder zeitbezogenen Phänomenen anzeigen zu können. Davon soll in den folgenden Betrachtungen zu Kierkegaard noch eingehender die Rede sein; gemeint ist damit die Aufzeigung des Menschenmöglichen jenseits des Menschenmöglichen. Dazu noch mehr. Das Gute an der Herstellung des Außen ist, dass es (über den avantgardistischen Sinn noch hinaus) Herstellung von Bereichen und Bezirken meint, die von den Apparaten nicht kolonialisiert werden können. Das weniger Angenehme ist, dass ein Dialog mit der Gegenwart von Seiten der Gegenwart nicht wirklich stattfinden wird, da es sich in keine gegenwärtigen Diskurse einordnet. Ein Buch, das nicht erfolgreich ist, gibt einem keine Sicherheit, gesteht Krishnamurti. Mein ganzes Werk, und welchen Sinn er überhaupt hat oder haben kann, ist kaum festgestellt, und gibt mir daher auch nur eine teilweise Sicherheit. Aufgabe der Kunst, so Kandinsky (vor einem Jahrhundert), ist spirituelle Erneuerung. Das hört sich heute möglicherweise sehr abgeschmackt und unglaubwürdig an, aber im Alter hat der allmächtige David Bowie, der das Leben so umfangreich durchmessen hat, Bilanz gezogen und gemeint: Wenn er nochmal von vorne beginnen könnte, würde er ein spirituelleres Leben versuchen zu leben (ein Mönch werden, der allerdings Gitarre spielt). Spiritualität ist das intensive Eindringen in die Materie mit Geist, Körper und Seele, und ein intensiverer, intuitiverer Bezug zu den Dingen. Hale sagt auch, die Aufgabe des literarischen Genies ist spirituelle Erneuerung. Aufgrund seines extremen Individualismus sei das literarische Genie in der Lage, zu authentischen menschlichen Werten vorzudringen, was allerdings wiederum damit im Zusammenhang steht, dass das literarische Genie im Wesentlichen ein Einzelgänger bleibt. „Das Leben eines Einzelgängers ist voller Schrecken“, so Agnes Martin. Der schreckliche Einzelgänger Bayer hat zwar melden lassen, die Kunst/Wissenschaft/Philosophie/Religion etc. pp sei ein Scheißdreck; er hat aber nicht erwähnt: der Absolute Geist in seiner absoluten Form (dessen Herstellung ich anstrebe) sei ein Scheißdreck. Davon hat er nichts gewusst und das war seinem Zeitalter noch deutlich zu hoch. Aber die Zeit des Absoluten Geistes in seiner absoluten Form wird und muss kommen. Meine Bücher und Schriften und mein Geist sind noch kaum festgestellt und bringen mir zur Zeit in erster Linie Unglück im Leben. Jetzt sehe ich aber schon wieder herrliche Formen und aufschießende Ekstasen vor mir, wenn ich mir z. B. den uninterpretierbaren Traum zu vergegenwärtigen suche; eine Art aufschießenden, dynamischen spirituellen Kelch formend. Dominika hat in ihrer Besprechung zum uninterpretierbaren Traum gemeint: „Gut möglich, dass diese blitzgescheite Manie dem Mysterium des Seins am ehesten gerecht wird.“ Sollte ich also tatsächlich eine Kunst geschaffen haben, die dem Mysterium des Seins am ehesten gerecht wird, habe ich das Äußerste in der Kunst geschafft und ist mir der ewige Ruhm natürlich sicher (außer viel intelligentere Roboter übernehmen noch in diesem Jahrhundert die Macht (wie von Houellebecq ja bereits im letzten Jahrhundert in seiner unnachahmlichen Weise vorausschauend angedeutet); dann ist das natürlich hinfällig, oder das, worum ich mich so intensiv bemüht habe und wofür ich so stark gelitten habe und so viel einstecken musste, für die Roboter der nahen Zukunft mit einem IQ von 400 bestenfalls eine interessante Kuriosität).
(13. – 17. Februar 2019; im Übrigen habe ich die Aufgabe, das Material vollkommen elegant anzuordnen, nicht ganz gelöst, aber Sprunghaftigkeit bildet ja auch Denken und Welt ab; mag man sich also beruhigen)
In his pequeno pero valiente book/essay about why Schopenhauer means so much to him, Michel Houellebecq refers to the Sage of Frankfurt as concerns the true center of art and the true center of artistic intuition. The true center of art and of artistic intuition is the individual that is able to observe and to contemplate the world and the various manifestations of the world as something per se and irrespective of the gravitational pull that is exercised via the subjective will – or, as we may say today, via the ego. The true artist is someone that has kept up the ability of a genuine, naive and innocent and direct observation and contemplation, that, apart from that, „only occurs in childhood, in madness and within dreams“. Contrary to others that may primarily strive for art as a strive for money, power or self-expression or self-expression of their innate talent and desire to enter worldly systems of circulation, the genuine artist´s primary concern would not even be to create art, but to be left in his intellectual-sensual trance and his dream-like and otherworldly immersion into the world (as it gets mirrored via his mind). Such an ability, a capacity of otherworldly immersion into the world, is, more or less, innate and does not occur often. By contrast, people of this world aren´t prone to establish connections between things per se via contemplation; when they observe something, they´re eager to subordinate it to their subjective will, or, if they´re intellectuals, to subordinate it to their existing concepts. They strive for subordinating observations to their concepts like a tired man strives for a chair, and when they aren´t able to subordinate an observation to their existing concepts, they lose interest in the observation. This explains, says Houellebecq, why good art criticism is a rare as good art: because, says Schopenhauer, almost all people want something, and because of this they already want too much; the one that will truly win the victory in the end will be the (apparently) unmotivated loser that is primarily motivated in cultivating his strange and unproductive ways of thinking. Mediate about that (and never underestimate Michel Houellebecq and his capacity for genuine and unexpected insights).
Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse ist die letzte Erzählung von Franz Kafka, geschrieben im Vollbesitz der geistigen Kräfte und bei hinfälligem Körper und wird somit zu Recht undoder Unrecht als eine Art Lebensbilanz Kafkas angesehen. Es geht darin, einmal mehr, um das Verhältnis des Künstlers zum menschlichen Kollektiv. Ob Josefine, die Sängerin an sich große Künstlerin oder Dilettantin ist, bleibt ungeklärt; sie selbst empfindet ihren Beitrag als wichtig und bedeutend für das Glück ihres Volkes. Das Volk der Mäuse genießt ihre Kunst, obwohl es „unmusikalisch“ ist und in erster Linie „praktisch veranlagt“ (daher auch die „praktische“ Veranlagung am meisten schätzt) – im Gegensatz zu der eben künstlerisch veranlagten Josefine oder dem (mangels Alternativen) zum Hungerkünstler disponierten Hungerkünstler aus demselben Erzählband. Inwieweit die jeweiligen Lebenssphären von Josefine und denen des Volkes der Mäuse sich überschneiden; ob sie das erheblich tun oder praktisch überhaupt nicht; ob man im Kollektiv zusammenlebt oder einzeln aneinander vorbei; inwieweit das Kollektiv mächtig ist und unsterblich gegenüber dem Einzelnen oder der herausragende Einzelne mächtig und unsterblich ist gegenüber dem Kollektiv – sind Fragen der Perspektive oder, intellektuell betrachtet, verfluchte Rätsel, die niemand lösen kann, und die Größe und transzendente Intelligenz von Franz Kafka besteht eben darin, dass, mit höchster geistiger Klarheit betrachtet, die menschlichen Verhältnisse eben letztendlich permanent unklar erscheinen und vage und ohne rechte Kontur, was dann bisweilen, oder dauernd, Energien freisetzen mag, die man zu Recht undoder Unrecht als irrational bezeichnen kann. Die dahinscheidende Josefine wird aber auf jeden Fall mehr und mehr abbauen und letztendlich „fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder.“ Eine Welle, die von unendlichen Meer ans Land gespült wird und dann wieder, zurückgenommen, sich indifferent in diesem verliert. Das ist der Ausgang zu den Sphären. Und das sei die Geschichte der Josefine, wie auch des Volkes der Mäuse.
In meinen sensationellen, erhellenden Betrachtungen zu Franz Kafka habe ich darüber ruminiert, ob Franz Kafka an einer selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung gelitten haben könnte. Ein endgültiges Urteil aber vermieden, da es Gründe gibt, die dafür sprechen, ebenso wie auch ein paar, die scheinbar dagegen sprechen; insgesamt aber, da das gar nicht angeht, jemanden ohne eingehende Untersuchungen und längere Beobachtungen ein solches Etikett anzuhängen. Bei aller Fragilität war Kafka auch wieder sehr robust, bei aller Unsicherheit und Gehemmtheit war er im Umgang mit anderen auch wieder kraftvoll und authentisch etc. Seine Gehemmtheit gegenüber Frauen (mit der Ausnahme der authentischen und transparenten Dora Diamant) hat Milena Jesenska im Nachhinein als „richtig“ betrachtet, da die Liebe ja auch tatsächlich riskant ist. Wenn man ein radikaler intellektueller und seelischer Außenseiter ist wie Kafka, oder, allgemeiner gefasst, wenn man ein Einzelner ist gegenüber dem Kollektiv, ist (zumindest eine gewisse) Angsterfülltheit und Paranoia gegenüber dem Sozialen berechtigt und nicht notwendigerweise ein Zeichen von Krankheit, sondern eine realistische Vergegenwärtigung seiner, und der allgemeinen, Situation. Wenn man ein Mensch ist, kann man das Dasein unheimlich finden etc. Ob Kafka, seinem Wesen nach, krank war oder extrem gesund, abnormal oder hypernormal, erscheint als ein weiteres verfluchtes Rätsel, das niemand lösen kann.
Gesundheit und Krankheit, Wahnsinn und Luzidität, verzerrte Wahrnehmung und Schärfe der Einsicht können natürlich auch gemeinsam bestehen, oder sich gegenseitig bedingen oder aufeinander verweisen; und eine Persönlichkeitsstörung bedeutet, dass man weder tatsächlich verrückt ist, aber auch gar nicht normal, sondern man ist (hinsichtlich gewisser Emotionen und seiner Möglichkeiten, sie zu regulieren) partiell verrückt bzw. eingeschränkt. Nehmen wir Kafkas seltsamstes Vermächtnis her: Seine Aufforderung an seinen Freund Brod sein Werk und seinen Nachlass nach seinem Tod zu vernichten, um „in gesteigerter Erlösung vergessen zu sein wie alle seine Brüder“. Der immensen Bedeutung und des immensen Wertes seines Werkes war sich Kafka durchaus bewusst, und von Brod wie von allen anderen, auf deren Urteil grundsätzlich Verlass war, wurde er in seinem Genie permanent bestätigt und bekniet. „Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar“, vertraut er seinem Tagebuch 1913 an. Ja, warum also will er sie denn dann begraben, nachdem er sie aus sich so triumphierend befreit hat? Also hat man auch versucht, das Testament von Kafka als eine Art Trick anzusehen, mit dem Kafka sich und seinem Werk vielleicht eine Art bizarre Absolution verschaffen wollte (insofern Brod Kafka zeit seines Lebens sehr deutlich gemacht hat, dass er einem solchen letzten Willen, Kafkas Nachlass zu vernichten keineswegs Folge leisten werde sondern im Gegenteil alles daran setzen werde, es zu veröffentlichen). Allerdings ein sehr umständlicher Trick, der Freund Brod zudem notwendigerweise ins Unrecht setzt, egal was er tut, und auch ein Trick, der nach hinten losgehen hätte können, wenn Brod den Nachlass eben tatsächlich vernichtet hätte. Außerdem hat Kafka einiges von seinem Werk vor seinem Tod tatsächlich verbrannt, von dem Brod gemeint hat, es wären alles andere als Kleinigkeiten gewesen; der Verdacht ist insgesamt der, dass Kafka seinen letzten Willen auch genauso gemeint hat, wie er ihn formuliert hat. Ein wahnsinniger letzter Wille also! Wenn man keine rationale Erklärung für ein menschliches Verhalten findet, kann man letztendlich eben auch davon ausgehen, dass es irrational oder wahnsinnig ist. Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeiten sind von einem emotionalen Wahn besessen, sich minderwertig zu fühlen und dem Kollektiv nicht angehören zu dürfen, bei gleichzeitiger möglicher intellektueller Einsicht, dass das tatsächlich gar nicht der Fall sein muss. Ein narzisstischer Kerl wie Trump „weiß“ auch, dass er kein Superheld mit übernatürlichen Fähigkeiten ist (wenn er das tatsächlich glauben würde, wäre er ja tatsächlich verrückt und ein Fall für die Klapse), aber er schwelgt permanent in Phantasien, wo er etwas dergleichen ist. Alles andere als eine permanente, hypertrophe Selbstaufwertung ist für den pathologischen Narzissten emotional unerträglich. Und alles andere als eine permanente, hypertrophe Selbstabwertung ist für den Selbstunsicher-vermeidenden emotional unerträglich, auch wenn er gleichzeitig bei durchaus klarem Verstand ist und sich der Irrationalität seiner Emotionen auch durchaus bewusst sein mag. So betrachtet scheint Kafka recht definitiv an einer selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung gelitten zu haben.
Aufgrund seine Genies war Kafka in der Lage, seine Krankheit in eine große Gesundheit zu transformieren; seine Situation der ängstlichen Verlassenheit in die Darstellung einer menschlichen Grundsituation von höchster Allgemeingültigkeit zu reflektieren, aus seiner Konfusion über das diffuse Dasein zu einer Vision zu gelangen, die man in einer solchen Exaktheit in der Literatur des 20. Jahrhunderts sonst nur bei Beckett hat etc. Und schon beschleicht mich die Ahnung, dass sein letztes literarisches Wort, das vom Eingehen von Josefine in die gesteigerte Erlöstheit des Vergessens nach ihrem Tod, etwas in Wirklichkeit sehr Angenehmes und Natürliches hat. Was als übergeschnappter Kontrapunkt gegenüber dem offensichtlich sehr ausgeprägten Geltungsbedürfnis so einiger Leute erscheinen mag, die sich auf den Friedhöfen sündteure und protzige Grabanlagen hinbauen lassen, obwohl sie keinesfalls prominent waren, und auch eine komische Verneinung gegenüber dem natürlichen und unschuldigen Wunsch des Menschen, im Leben eine Rolle gespielt zu haben, kann man das auch als die unmittelbare Einsicht in die Natur des ewigen Friedens ansehen. Nach seinem Tod, in gesteigerter Erlösung, nicht „unsterblich“ werden, sondern in die Vergessenheit eingehen! Was für ein (wunderbar) Ding. Man hat seine Schulden abbezahlt und ist eins mit dem Gesetz des Universums, dem der Zunahme der Entropie. Der Ozean spült neue Kräuselungen, für einen Moment, ans Land, die wieder indifferent in ihn zurückgenommen werden, man geht heim in den Ozean; bis auch schließlich der Ozean verdampft, aufgrund des Todes der Sonne. Vollständig unterschreiben kann ich diese Vision nicht, denn es befördert das Glück der Menschheit nicht, wenn man nichts getan hat, wofür man nach seinem Dahinscheiden in Erinnerung bleibt, aber schon verliert sich auch das Festhalten an dieser Vision wieder ein wenig, etwas anderes tritt vor meinen Geist, eine Kuh! nein, ein Schwein!; einstweilen geht das Leben eben noch weiter, zumindest meines.