Mit den großen Philosophen erst beginnt das Gebiet der eigentlichen Größe … Sie bringen die Lösung des großen Lebensrätsels, jeder auf seine Weise, der Menschheit näher; ihr Gegenstand ist das Weltganze von all seinen Seiten, den Menschen nota bene mit inbegriffen … An die Philosophen möchten diejenigen anzuschließen sein, welchen das Leben in so hohem Grade objektiv geworden ist, dass sie darüber zu stehen scheinen und dies in vielfältigen Aufzeichnungen an den Tag legen: ein Montaigne, ein Labruyère. Sie bilden den Übergang zu den Dichtern.
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen
Was ist das Leben, objektiv betrachtet? Eine verfluchte, endlose Subjektivität und Idiosynkrasie, mit der kein verobjektivierender Geist jemals fertig werden kann! Der Philosoph versucht einen großen objektiven, theoretischen Rahmen zu etablieren, eine Arena zu entwerfen, innerhalb derer sich das Leben abspielt; mit dem möglichen Gewinn, einen Sinnzusammenhang und eine Verständigungsmöglichkeit über das Leben herzustellen, und der möglichen Gefahr, das Leben zu kastrieren, abzutöten, es zu einer Abstraktion zu machen, nur damit sie sich in die größere Abstraktion einfügt. Der Dichter ist kein echter Alliierter der Abstraktion, sondern bildet das Leben unmittelbarer ab. Der Poet verschafft seiner Subjektivität einen wortreichen Ausdruck. Der Dramatiker erstellt Situationen, in denen sich allgemeine Lebenssituationen verdichten und dramatisieren und wirft Figuren dort hinein, um zu sehen, wie sie sich darin benehmen. Der Romancier schafft Charaktere und Typen, die menschliche Eigenschaften illustrieren und, wenn es gut gelingt, höchst symbolkräftig darstellen. Der Großschriftsteller etabliert Charaktere, in denen sich überhaupt die Menschheit individualisiert: im Faust, im Don Quichote, im K., im Idioten. Und schafft so Menschheitsparabeln. Die Meditation und Durchreflexion der Unendlichkeit der subjektiven Manifestationen des Lebens ist hingegen Metier des Essayisten. Seine Sache ist das Durchdenken, das Sichvergegenwärtigen, das Abwägen von Subjektivitäten, das sich Annähern daran; weniger jedoch das Räsonieren darüber oder das Theoretisieren. Mir liegt zum Beispiel weniger daran, Ansichten zu haben, die gelehrt und geistesmächtig sind, als daran, dass sie einem unbeschwerten Leben dienlich seien: Ich finde sie schlüssig und vernünftig genug, wenn sie nützlich und befriedigend sind. (Über die Eitelkeit) Damit gerät er einerseits in die Nähe des Philosophen, bleibt ihm gegenüber aber auch in einem Abstand. Der Essayist will die Qualitäten spezifischer Subjektivtitäten feststellen, sie jedoch als Subjektivitäten erhalten. Das verlangt danach, die Qualitäten aller möglichen Subjektivitäten festzustellen, die schließlich auch gegeneinander abgewogen werden müssen. Damit ist die Aufgabe des Essayisten, der sich den subjektiven Manifestationen widmet, eigentlich endlos und unabschließbar. Er schreibt somit an einem endlosen Text. Der Philosoph arbeitet in der letzten Konsequenz an einem System und will das Unendliche verendlichen; er hofft auf einen endlichen, abgeschlossenen, endlich definitiven Text. Der Essayist, der die Qualitäten der subjektiven Manifestationen bestimmen und gegeneinander abwägen, deren Wert und Gewicht feststellen will, arbeitet hingegen an einem unendlichen Text. Sowohl der Philosoph, der das Weltganze in den Blick nimmt, aber vielleicht noch mehr der Essayist, dem die Lebenswelt gar nicht als Ganzes erscheinen kann, sondern als ein endloses Feld, das sich stets jenseits des aktuellen Horizontes erstreckt, müssen daher vielseitig und universal sein. Die wahrhaft schönen Seelen freilich sind die universalen, die allseits offenen und aufnahmebereiten: wenn nicht gelehrt, so doch gelehrig. (Über den Dünkel) Die Gelehrtheit ist das Abgeschlossene, daher möglicherweise das Lebensabtötende, oder dasjenige, das (vor allem im Verbund mit der Eitelkeit und dem Dünkel) glaubt, bereits mit dem Wesentlichen fertig zu sein. Das Gelehrige ist hingegen eben das Offene und Unabschließbare: es trachtet danach, sich ewig zu kultivieren und erlangt daher das Instrument der Kultur. Die Leute haben schon recht, wenn sie sagen, nur ein vielseitiger Mann sei ein Mann von Kultur. (Über die Eitelkeit) Und mit dem Instrument der Kultur wiederum kann man die Natur zähmen und daher auch den Wildwuchs der natürlichen subjektiven Manifestationen in der Welt, den Wildwuchs des Lebens. Mit Subjektivitäten fertig zu werden, ist eine Art Kunst, verlangt Instinkt, Intuition. Kultur wiederum kultiviert in einem Kunstfertigkeit (oder -verstand), Instinkt und Intuition. Wissenschaft, Rationalität, Gelehrtheit will eindeutige Aussagen über was machen. Kunst hingegen ist eine schöne eindeutige Illustration von den Mehrdeutigkeiten einer Sache, die unter Beobachtung steht. Und eine solche mehrdeutige Sache ist das Leben, eine solche mehrdeutige Sache ist der Mensch: der Gegenstand der Untersuchungen bei Michel de Montaigne. Wahrlich, der Mensch ist ein seltsam wahnhaftes, widersprüchliches, hin und her schwankendes Wesen! Es fällt schwer, ein gleichbleibendes und einheitliches Urteil darauf zu gründen. (Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel) Insofern es schwerfällt, ein einheitliches und gleichbleibendes Urteil über den Menschen zu gründen, kann ein solches Urteil immer nur ein versuchsweises und vorläufiges sein, ein Experiment, ein Essay. Dies hier sind lediglich Versuche, meine natürlichen Fähigkeiten zu erproben, nicht aber die erworbenen … Wer auf gelehrtes Wissen aus ist, möge da angeln, wo es sich findet – es gibt nichts, was ich weniger wollte. (Über Bücher) Durch die Unendlichkeit kann man sich nur versuchsweise tasten, den unendlichen Text des Essayisten kann man immer nur versuchsweise und vorläufig schreiben. Denn das unendliche Feld der subjektiven Manifestationen kann man unmöglich ausmessen und kolonialisieren. Aber um sich eine Vorstellung davon zu machen, ist es eine gute Idee, den Blick in die eigene Subjektivität zu richten. Und äußere Subjektivitäten kann man sowieso nur dann irgendwie adäquat erfassen oder sich empathisch zu ihnen verhalten, wenn auch die eigene Subjektivität dazu irgendwie ähnlich ist, oder sie weit und kenntnisreich genug ist – Kultur hat – um mit anderen Subjektivitäten sinnvoll in Kontakt treten zu können. Montaigne hat sein Unternehmen sowieso primär als eines der Selbsterforschung, der Durchleuchtung der eigenen Subjektivität verstanden. Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich … Ich hingegen kreise in mir selbst. (Über den Dünkel) Indem sich Montaigne dermaßen unabhängig macht vom Blick des Anderen, er also für den Anderen nicht etwas scheinen will, was er möglicherweise nicht ist, ist Montaigne in seinen Aussagen glaubhaft und ehrlich. Wie er treuherzig versichert. Selbst sein Gesicht sei so ehrlich gewesen, dass es ihn bewahrt davor haben soll, von den wilden Kriminellen seiner Zeit überfallen und getötet worden zu sein, so wie fast alle anderen damals. Obwohl die Züge meines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln, bleiben sie doch stets wahrheitsgetreu. (Über das Bereuen) Gut so. Das bewahrte ihn sogar davor, unter den Hammer der großen Philosophen zu kommen.
Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: „Kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein und ein Flügel gewachsen“. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimlich zu machen. Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, außer der Ehrlichkeit, gemein: eine wirklich erheiternde Heiterkeit.
Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher
Friedrich Nietzsche war bekanntlich ein großer Liebhaber freier Geister, zu denen Michel de Montaigne natürlich unbedingt gerechnet werden muss. Überhaupt lohnt es sich wohl, wenn es sich schon gerade als Gelegenheit ergibt, Nietzsche mit Montaigne zu vergleichen, um zu sehen, worin sich freie Geister gleichen, sich jedoch aber auch voneinander unterscheiden mögen. Nietzsche war einerseits „größer“ und überlegener als Montaigne, andererseits konnte er mit Montaigne in anderen Bereichen aber offensichtlich nicht mithalten. Als echter Philosoph im Burckhardtschen Sinne offeriert er eine objektive Sicht auf das Weltganze und versucht eine Antwort auf das Lebensrätsel zu geben. Nietzsche war es auch, der die Montaigne ähnliche subjektive Betrachtung, die Betonung der Vielfalt subjektiver Blickwinkel und den Perspektivismus (auch innerhalb des Subjekts selbst) und die dichterische Form der Mitteilung gleichsam zum philosophischen System erhob. Er arbeitete auf einem höheren Niveau der Analyse und der Integration als Montaigne. Er ist auch viel mitreissender, pathetischer, direkter und ein scheinbar intimerer Lebensratgeber als der dem anderen gegenüber reichlich gleichgültig und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt wirkende Montaigne. Dessen Ruhe und Gelassenheit, und auch dessen Genussfähigkeit hatte Nietzsche aber nicht – auch wenn er sie angestrengt suchte. Nietzsche bewunderte Epikur. Montaigne war sowohl Stoiker als auch Epikuräer. Er strebte – als maßvoller, gleichsam unschuldiger Hedonist – Lust und Genuss an, bemühte sich jedoch auch um Abhärtung gegenüber den Wechselfällen des Lebens, die einem mit Lust und Genuss manchmal überreichlich versorgen, und sie ein anderes Mal wieder gänzlich einem nehmen. Er scheint beinahe die Charaktermaske des Phlegmatikers aufzusetzen. Ich bin dem Zugriff solch leidenschaftlicher Gemütsbewegungen wenig ausgesetzt. Meine Empfänglichkeit ist von Natur aus gering: Ich habe ein dickes Fell, und lasse es mit Bedacht von Tag zu Tag dicker werden. (Über die Traurigkeit) Nietzsche hingegen strebte jauchzende Lust an und wollte sich mit ihr – denn alle Lust will Ewigkeit – gleichsam vermählen. Zwar sah Nietzsche tiefer als Montaigne (und nur Sterne, Sterne…), und das ist, zumindest in einer intellektuellen und abstrakten Weise, tatsächlich höchst lustvoll und ekstasegleich. Andererseits war Nietzsche in seiner Genussfähigkeit offenbar eingeschränkt. Vor den meisten Bezirken des Lebens schottete er sich ab, legte sich gleichsam eine Festungsmentalität und ein „Pathos der Distanz“ zu. Er glaubte, alles mögliche würde ihn „schwächen“: die unteren Schichten der Gesellschaft, der Sozialismus, das Christentum, der späte Wagner, insgesamt die sogenannte „décadence“. Montaigne war, bei all seiner Introvertiertheit, hingegen reichlich volksverbunden, und hatte mit dem elitären Bewusstsein von Nietzsche (das offenbar ein unglücklliches, oder zumindest unausgeglichenes Bewusstsein ist), wenig gemein. Er wusste: Sowohl die Könige wie die Philosophen scheißen, und die Damen auch. (Über die Erfahrung) Montaigne lebte in einer furchtbar anstrengenden Zeit, in der Frankreich in endlose Religionskriege verwickelt war, aus denen kein Ende absehbar war. In seine Lebenszeit fielen die Bartholomäusnacht und auch eine Pestepidemie. Sein gesamtes Zeitalter und seine Lebenswelt waren höchst unheilvoll. Und die Essais können auch als Versuche gesehen werden, wie man in einer Welt, die einen auseinanderzureißen droht, sein Innerstes bewahrt und integer hält. Nietzsche hingegen lebte – mit Ausnahme des Deutsch-Französischen Krieges, an dem er als Soldat teilnahm und in dem er verwundet wurde – in einer friedlichen, geradezu idyllischen Zeit – auch wenn er unter schwereren Krankheiten litt als Montaigne (der die Krankheit und den Schmerz zumindest später im Leben durch seine Nierensteine kennenlernte). Insgesamt war Nietzsches Sicht auf die Existenz aber eine (geradezu lustvoll) negative. Er lebte in einer Art sadomasochistischem Universum, in der negative Wechselfälle geradezu als Angriffe gesehen werden, für die man sich rächen will und wo man zurückschlagen will. Aus dem entsprang auf eine Weise sein mitreissender Vitalismus und sein Amor Fati: Positivitäten, zu denen sich Montaigne nie aufschwingen konnte. Andererseits bleibt Nietzsche Gestus stets von Rückschlägen bedoht und pendelt insgesamt zwischen Polen der Übertreibung. Montaigne hingegen ist sicher kein Mensch der Übertreibung. Er weiß: Das Leben ist eine schwankende, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung. Man ist keineswegs Freund oder Herr seiner selbst, sondern sein Sklave. (Über dreierlei Umgang) Auf der anderen Seite ist ihm klar, dass Fluchtmöglichkeiten vor einer einengenden Sklavenexistenz in der Vielfalt und in der Offenheit der Persönlichkeit und des Geistes liegen: Man sollte sich nicht zu fest an seine Anlagen und Neigungen fesseln. Unser wichtigstes Vermögen besteht darin, und unterschiedlichen Tätigkeiten widmen zu können. Wenn man immer in demselben Trott verhaftet bleibt und nie mehr von ihm loskommt, heißt das zwar dasein, aber nicht leben. (Über dreierlei Umgang) Nietzsches Versuche zu leben waren immer angestrengt. Das macht ihn so plastisch und ansprechend, da er tatsächliche Lebenskämpfe und Kämpfe für die persönliche Emanzipation so treffend illustriert. Aber er scheint ewig in ihnen verfangen zu bleiben und ständig zwischen Übertreibungen herumzupendeln. Sein Übermenschenkult, sein (auch ein wenig lächerlicher) Versuch „Immoralist“ zu sein, seine Gewaltverliebtheit. Vor allem sein sich ständiges Abarbeiten am „Ressentiment“, da es in ihm selber so reichlich vorhanden war. Montaigne hingegen kannte offenbar gar kein Ressentiment. Er musste sich von nichts kraftvoll und mit großer Theatralik emanzipieren, da er nirgends feststeckte. Er theoretisierte nicht über den Übermenschen, vielmehr entsprach er eben einem Übermenschen und lebte sein Leben als Übermensch. Nietzsche hatte ein höchst gesunde und eine ziemlich (psychologisch) kranke Seite. Die größte Sache der Welt ist dass man sich selbst zu gehören weiß. (Über die Einsamkeit) Nietzsche war jedoch gleichsam durch seine kranke Seite darin verhindert, vollständig sich selbst zu gehören. So flüchtete er sich in ein übertriebenes Machtpathos und in ein übertriebenes Freiheitspathos. Montaigne aber wusste: Die wahre Freiheit besteht darin, dass man alles über sich vermag. Am mächtigsten ist, wer Macht über sich selbst hat. (Über die Physiognomie) Wenn ich mich recht erinnere, bewunderte Nietzsche Montaigne auch wegen seiner Sprache (andere tun das zumindest, auch ich wollte einmal mein Französisch auffrischen, um Montaigne im Original lesen zu können). Von dessen „Artisten“-Sprache unterscheidet sie sich aber. Artistische Manöver vollzieht Montaigne nicht. Er betrachtet seinen Stil gar als schmucklos und trocken, und extravagant, so wie es damals in der adeligen Welt vielleicht üblich war, ist er sicher nicht. Montaignes Stil aber ist direkt, konkret und vor allem ist auch in seinem Stil Montaigne völlig identisch mit sich selbst und ruht in sich selbst. Montaignes Stil ist ein gänzlich beruhigter Stil. Nietzsche wollte als Hammer auf alle Welt niedersausen und ordentlich wumms hat er immer wieder als ein solcher gemacht. So stellt man sich den Übermenschen vor. Montaigne hingegen ist alles andere als ein Hammer; er wirkt überhaupt nicht wie irgendetwas Kompaktes und Materielles. Er saust zwar nicht wie der Hammer nieder. Aber versuche man mal, Montaigne zu treffen! Er scheint gleichsam viel zu diffus dafür, und ist vielleicht weniger ein Genie des Angriffs als der Verteidigung.
Montaigne zählt zu den Autoren, die nur sehr schwer angreifbar sind. Es ist, als würde man versuchen, einen Nebel durch Handgranaten zu zerstreuen. Denn Montaigne ist Nebel, Gas, Flüssigkeit, ein heimtückisches Element. Er argumentiert nicht, er schmeichelt sich ein, bezaubert und überredet, und wenn er argumentiert, muss man aufpassen, dass er nicht einen ganz anderen Plan damit verfolgt.
T.S. Eliot
Leuchtende, farbige Schwaden, durch die das Licht fällt, die auf- und absteigen, vielleicht ein wenig dampfende Geräusche machen: das ist, in einem Raum, den er ganz ausfüllt, Montaigne. Und aufgrund dieses Mangels an Kompaktheit allein kann er auch Montaigne sein. Denn schwankend und auf- und absteigend, Dampf ablassend ist überhaupt einmal alle Ontologie. Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. (Über das Bereuen) Auch das Denken und die Erfahrung kann, wie gesagt, diese Schwankungen, Subjektivitäten und Koinzidenzen nicht vollständig in sich integrieren, da sie niemals vollständig gegeben sind, sondern in immer neuer Form zutage treten: als Überraschungen. Das Denken hat zahlreiche Formen, daher wissen wir nicht, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung hat aber deren nicht weniger. Der Schluss, den wir aus Ähnlichkeiten der Geschehenisse zu ziehen versuchen, ist wenig sicher, denn in Wirklichkeit sind sie immer unähnlich. Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassende Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt. (Über die Erfahrung) Was man aber machen kann, ist diesen Schwankungen und Vielfältigkeiten die Rute ins Fenster zu stellen, indem man eben selbst das Schwankende und Vielfältige imitiert, so gasförmig und wenig kompakt wird, dass einen die Überraschungen kaum treffen, vielmehr antizipert man sie dadurch oder verhält sich mimetisch zu ihnen. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit versteht sich Montaigne also so gut darauf, eine gasförmige Wirklichkeit einzufangen, und ist, als Essaist, genauso wie sie, immer in einem vorläufigen Versuchsstadium, nichts jemals abgeschlossen Fertiggewordenes. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit entpricht Montaigne der schwankenden Wirklichkeit. Und nicht zuletzt: er liebt die vielfältige und schwankende Wirklichkeit auch so wie sie ist. Ja, ich bekenne es: Selbst im Traum oder als Wunschbild sehe ich nichts, was ich festhalten wollte. Allein Abwechslung und Genuss der Vielfalt finde ich (falls überhaupt etwas) lohnend. (Über die Eitelkeit) Die objektive Wirklichkeit ist nicht eitel, und Montaigne ist nicht eitel. Die Eitelkeit will die Wirklichkeit kompakt machen und domestizieren, den eigenen Wünschen anpassen. Doch Montaigne ist so angenehm, weil er nicht eitel ist. Als Nebel, als Gas, welche sich beliebig im Raum verteilen, hat er gleichsam kein egoisches Zentrum. Und so strahlt er auch keine kompakten Manifestationen eines egoischen Zentrums aus. Machtstreben im unmittelbaren oder abgeleiteten Sinne kennt er keines: Unter allen Narrheiten der Welt ist die herkömmlichste und verbreitetste das Streben nach Ansehen und Ruhm… (Über das Widerstreben, seinen Ruhm mit anderen zu teilen) Auch gegen die mit dem Machtstreben einhergehenden Kränkungen, wenn es sich nicht verwirklichen kann, ist er immun: Die Eifersucht und der Neid, ihr Zwillingsbruder, scheinen mir in der Tat von der ganzen Sippschaft der Laster am hirnverbranntesten zu sein. (Über einige Verse des Vergil) (LaRochefoucauld, der sich von Montaigne einiges abgeschaut hat, meint: Das beste Kennzeichen angeborener Vorzüge ist angeborene Neidlosigkeit.) Montaigne wendet sich gerne gegen Konventionen. Was hat der Geschlechtsakt, dieser so natürlich, nützliche, ja notwendige Vorgang den Menschen eigentlich angetan, dass sie nicht ohne Scham davon zu reden wagen und ihn aus den ernsthaften und sittsamen Gesprächen verbannen? Wir haben keine Hemmungen, die Worte töten, rauben, und verraten offen auszusprechen – und da sollten wir uns dieses eine bloß zwischen den Zähnen zu murmeln getrauen? (Über einige Verse des Vergil) Montaigne spricht zwar – eitel, wie man meinen könnte – unentwegt von sich, aber er subvertiert sich immer wieder, Erwartungshaltungen an ihn unterläuft er. Einzusehen, dass man eine Dummheit geäußert hat, besagt noch gar nichts – man muss einsehen, dass man von Grund auf dumm ist: eine wesentlich umfassendere und wichtigere Einsicht. (Über die Erfahrung) Das subvertiert er dann noch mal, indem man nicht weiß, wie ernst er es mit seinen Behauptungen eigentlich meint. Geradezu penetrant beklagt er immer wieder sein angeblich furchtbar schlechtes Gedächtnis. Was ganz offensichtlich nicht stimmen kann, sind seine Essais doch so vollgespickt mit antiken Anekdoten und Fallbeispielen, Zitaten und Gedichten, dass sie Niederschriften eines gleichsam enzyklopädischen Wissens und Gedächtnises darstellen. Trotzdem er zugibt, ein großer Bücherfreund zu sein und sich am liebsten in seiner Bibliothek aufzuhalten, spricht er von der Gelehrsamkeit immer wieder gering. Ich habe zu meiner Zeit Hunderte von Handwerkern, Hunderte von Bauern gesehen, die weiser und glücklicher waren als Universitätsrektoren und denen ich lieber gleichen würde. Die Gelehrsamkeit gehört meiner Meinung nach unter den Bedürfnissen des Lebens in dieselbe Reihe wie Ruhm, Adel und Würden oder allenfalls wie Schönheit, Reichtum und dergleichen Dinge, die für unser Dasein zwar durchaus nützlich sind, aber nur entfernt und mehr in der Einbildung denn ihrer Natur nach. (Apologie für Raymond Sebond) Aahh… die Einfalt der Sitten und das einfache Volk, das klüger und unverbildeter, mehr bei sich ist als der Professor! Aber als eine Idealvorstellung und ein Korrektiv gegenüber bildungsbürgerlichen (und sonstigen) Eitelkeiten kann man solche Figuren natürlich immer wieder gut einwerfen. Auf Sokrates hält Montaigne große Stücke, ist er ihm ja ähnlich. Sokrates, der weiseste Mann, den es je gab, pflegte auf die Frage, was er wisse, zu antworten: Er wisse, dass er nichts wisse. (Apologie für Raymond Sebond) Natürlich wird Montaigne aber klar gewesen sein, dass Sokrates deswegen (triumphierend) sagen konnte, er wüsste nichts, weil er ja alles wusste und alles durchdacht hatte, und daher Einsicht hatte in die Relativität allen Wissens (er wird auch die Apologie des Sokrates gekannt haben, in der dieser bekennt, dass er gehofft hatte, beim unverbildeten Volk die Flausen und Eitelkeiten der Gelehrten nicht zu finden, er darin aber enttäuscht wurde: dieselben Flausen und Eitelkeiten wie bei den Gelehrten fänden sich auch beim einfachen Volk, wenngleich in ein wenig anderer Form). Wie es sich für ein Gas gehört, ist Montaigne aber eben weichherzig und sanft, und daher auch allem Einfachen und Beschützenswerten gewogen. Ich selbst bin aufgrund meiner kindlichen Natur so weichherzig (ich scheue micht nicht, es zuzugeben), dass ich meinem Hund das Herumtollen kaum verweigern kann, das er mir meist im unpassendsten Augenblick anbietet oder anzubetteln versucht. (Über die Grausamkeit) Er ist gasförmig und amorph in seinem Verhalten wie ein Kind. Neugierig wie ein Kind ist er auch. Neugierig ist freilich alle Welt, oder glaubt es zu sein, vor allem die gebildete Welt. Doch wie weit reichen deren Neugier und deren geistige Offenheit tatsächlich? In der Schule des gesellschaftlichen Verkehrs habe ich oft folgende Untugend bemerkt: Statt zu versuchen, andere kennenzulernen, sind wir bloß darauf aus, dass sie uns kennenlernen, und wir bemühen uns weit stärker, die eigene Ware anzubringen, als neue zu erwerben. Schweigen und Bescheidenheit sind dem menschlichen Umgang aber viel förderlicher. (Über die Knabenerziehung) Letztendlich geht die Neugierde aller Welt mit ihrem zumeist dann doch egoischen Charakter einher, der sie behindert darin, tatsächlich neugierig und offen zu sein. Umgekehrt sehen wir aber, dass Menschen nichts so empfindlich reagieren lässt wie das Gefühl, der Gegner sei ihnen überlegen und sehe verächtlich auf sie herab – dabei würde sich der Schwächere doch vernünftige Einwände, die ihn wieder auf den rechten Weg bringen und ihm weiterhelfen, besser dankbar zu eigen machen. Ich jedenfalls suche eher die Gesellschaft von Leuten, die mir den Kopf zurechtsetzen, als von solchen, die vor mir kuschen. (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Wenn das tatsächlich alles stimmt, was er über sich sagt, muss Montaigne vielleicht zwar das unterlaufen haben, was man sich unmittelbar unter einer „starken“ Persönlichkeit vorstellt. Er hat das aber wohl übetroffen, indem er eine unbesiegbare Persönlichkeit war, an der alle Härte ins Leere trifft. Hat Montaigne das höchste Ziel und die höchste so genannte Selbstverwirklichung erreicht? Wer aber kennt das Höchste? Bei Friedrich Hölderlin (der von Nietzsche ebenfalls sehr geschätzt wurde) könnte man annehmen, dass er weiß, was das Höchste ist. Hölderlin formuliert den idealen und letztgültigen Innenraum, den ein Mensch haben kann, in etwa als
Dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher Empfindung möglich, in einer Empfindung, die darum schön ist, weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes Bewusstsein, bloße Reflexion (…) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie… ist, sondern weil sie alles dies zugleich ist und allein sein kann … in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwirkung der genannten Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig, d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig, d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend (usw. ist, sondern all dies zugleich ist und allein sein kann, Anm.)
Friedrich Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes
Man scheint da schon wieder eine große Wolke zu haben. Schwebende Instanzen, die sich gegenseitig adjustieren, ohne eigentliches Zentrum, sondern mit dem Zentrum überall. Wer kann diesen Nebel zerteilen? Der Philosoph mit dem Hammer nicht, und die räuberischen egoischen Mächte der Welt auch nicht. Ja, dieses Gebilde scheint überhaupt dem Gott zu gleichen, dessen Mittelpunkt überall, und dessen Begrenzung nirgends ist. Wenn eine solche Wolke denkt, wie wird das wohl passieren? Sie ist wohl in ihr eigenes Spiel verloren, traumähnlich. Es wird ein fluides Denken sein, ein ständiger Prozess. Es wird ein schwebendes Denken sein. Denn eine Wolke ist in der Schwebe. Und so liebt es auch Montaigne, sein Denken vorzugsweise in der Schwebe zu halten. Falls er mit irgendeinem Philosophen (mit der Ausnahme des Meta-Philosophen Sokrates) sympathisiert, so bekennt sich Montaigne als ein Jünger des antiken Philosophen Pyrrhon von Elis (falls er diesen Ausdruck allerdings verwenden würde, da der ja schließlich eine starke Abhängigkeit signalisiert). Pyrrhon war ein radikaler Skeptiker. Während Sokrates` Maxime lautete: Ich weiß, dass ich nichts weiß, geht Pyrrhon noch weiter, indem man, laut ihm, gar nichts jemals wissen könne. Die Wirklichkeit sei gleichsam selber ohne Wahrheitsgehalt, das Nichtwissen gleichsam in die Ontologie eingeschrieben. Die philosophische Haltung der Pyrrhonisten ist daher der grundsätzliche Zweifel an allem, und die weitgehende Urteilsenthaltung, die Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen, Urteilen und selbst den harten Fakten gegenüber. Dass alle Welt ihr Glück im Meinungsstreit und im Davontragen des Sieges im Meinungsstreit sucht, ist für die Pyrrhonisten daher eben unphilosophisch. Das wiederum erscheint auch Montaigne einleuchtend: Ist es nicht von Vorteil, sich der Zwänge enthoben zu sehen, welche die anderen fesseln? Ist es nicht besser, sein Urteil in der Schwebe zu lassen, als sich in all die von der menschlichen Phantasie hervorgebrachten Irrtümer zu verstricken? Ist es nicht besser, unentschieden zu bleiben, als sich in all diese streitsüchtigen, ja aufrührerischen Auseinandersetzungen zu stürzen? (Apologie für Raymond Sebond) Ja, indem sich die Pyrrhonisten auf nichts einlassen, kein Schiff besteigen, können sich auch nirgendswo scheitern oder untergehen. Sie entwinden sich den Verpflichtungen, die zwar möglicherweise belohnen, in jedem Fall aber auch einfordern. Damit sind die Pyrrhonisten letztendlich die einzig Glücklichen. Sie verstehen aus allem das Beste zu machen. (Apologie für Raymond Sebond) Und (d)eshalb lautet der Standpunkt der Pyrrhonisten: Keinen festen Standpunkt beziehen, zweifeln und nachforschen, nichts als sicher betrachten und für nichts einstehen … Jene geistige Einstellung der Pyrrhonisten nun, geradlinig und unbeirrbar, mit der sie alle Dinge zur Kenntnis nehmen, ohne ein Urteil darüber abzugeben oder sie gar für wahr zu halten, ebnet den Weg zur Ataraxie, einer friedsamen und gleichmütigen Lebensweise … (Apologie für Raymond Sebond) Und mit dieser Ataraxie, dieser inneren Stabilisierung der Wallungen und der Kondensationen gewappnet, tritt Montaigne einer unzuverlässigen, geradezu kriminellen Welt entgegnen, die genauso gut Stoff für tiefe Verzweiflung bieten könnte. Er reflektiert darüber Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel – oder aber, dass man mit gleichen Methoden oftmals – wider besseres Hoffen – unterschiedliche Resultate erzielt. Unbeständig ist diese Welt, und sie scheint es zu lieben, unsere Pläne zunichtezumachen. Auch Tugend und große Taten sind davor nicht gefeiht, denn (o)b tugendhafte Taten also bekannt und genannt werden, ist reine Glückssache. (Über den Ruhm) Der Gewinn des einen ist des anderen Schaden, Göttliche Fügungen sollte man nüchtern betrachten und Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen. Über die Unsicherheit unserer Urteile ist sich der Essaist ebenso bewusst wie Über die Eitelkeit der Worte, sowie Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns und darüber, Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert. Gewohnheit, individuelle Erfahrung, Schicksal usw. bestimmen in einem hohen Maße, wer wir sind, mithin also Mächte, die nicht unter unserer Disposition stehen. So gesehen haben wir gar kein allzu stabiles Ich, auch dieses ist den Umständen unterworfen. Freilich: ein völlig regelloser Kosmos ist der unsere auch nicht. Ob wir etwas als Wohltat oder Übel empfinden, hängt weitgehend von unserer Einstellung ab, das sowieso grundsätzlich einmal, und Fortuna folgt oft dem, was recht und billig ist. Montaigne weiß zu berichten Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte und gibt höchst lehrreiche Hinweise, die sich nicht allein aus hinreichender Beobachtung der empirischen Realität, sondern auch naheliegenderweise ergeben (denen zum Trotz gewisse beliebte Fehler dennoch immer wieder begangen werden) wie Man wird bestraft, wenn man sich darauf versteift, eine Festung sinnlos zu verteidigen. Überhaupt zieht Montaigne aus all dem scheinbaren Chaos der Welt rationale Lehren und sagt die sinnvollsten Dinge Über die Standhaftigkeit, Über die Furcht, Über die Knabenerziehung, Über Tugend und Tapferkeit, Über Grausamkeit, Über belanglose Spitzfindigkeiten und Spielereien, Über die Daumen und Über die Hinkenden. Dennoch bleibt die allgemeine Atmosphäre eine skeptische, eine vorsichtige, eine nachdenkliche – aber dennoch eben eine leichte und keine depressive. Ich bin meiner Veranlagung nach kein Melancholiker, wohl aber ein Grübler. (Philosophieren heißt sterben lernen) Vor allem eine, die sich immer wieder gegen allzu sicher Geglaubtes richtet. Montaigne wendet sich gegen die Humanisten und gegen alle Anstalten, den Menschen allzu wichtig zu nehmen, oder ihn zu sehr zu loben. In der Apologie für Raymond Sebond vergleicht den Menschen nicht nur mit einem Tier, sondern schildert zahlreiche Fälle, wo Tiere höher stehen als der Mensch. Gewisse Auswüchse seines Pyrrhonismus scheinen dabei auch übertrieben. Für seine despektiertliche und misstrauische Haltung der Wissenschaft und der Medizin gegenüber ist Montaigne oft gescholten worden. Allerdings lebte Montaigne in einem de facto vorwissenschaftlichen Zeitalter und in einem, wo die Medizin hauptsächlich (gefährliche) Quacksalberei war, der man sich tatsächlich besser nicht allzusehr anvertraute. Heute würde Montaigne eine solche Haltung wohl kaum mehr pflegen. Trotz allem Skeptizismus und Pyrrhonismus war Montaigne ein Bewunderer allen menschlichen Könnens, und so würde er heute ein Bewunderer der Wissenschaften und der Medizin sein (und auch wenn für die exakten Wissenschaften der Pyrrhonismus nicht die adäquate Methode sein kann, für die „Wissenschaften vom Menschen“, denen Montaigne ja schließlich allein nachging, empfielt sich eine gewisse Dosis davon nach wie vor). Bewundernd äußerte er sich auch Über drei vorteffliche Frauen und Über die drei vortrefflichsten Männer. Trotz seiner Ehrlichkeit und seiner Hochschätzung der Tugend wusste er aber auch, zumindest theoretisch, Über verwerfliche Mittel, die einem guten Zweck dienen. Nichts genießen wir in seiner Reinheit (so ein anderer Essai), und rein und unverfälscht sind auch selten unser Innenleben und unsere Motivationen. Zum Glück: denn Eindimensionalität der Gefühle würde vielleicht gar keine Motivationen begründen; solche erfordern einen Verbund von Gefühlen und Haltungen. Und wieviele edle Taten geschehen aus Ruhmsucht! Wie viele aus Hochmut! Kurz, es gibt keine kraftvolle und überragende Tugend, die ganz ohne untugendhafte Triebkraft auskäme. (Apologie für Raymond Sebond) Später im Leben, und aufgrund der Bekanntheit seiner Essais, wurde Montaigne zum Bürgermeister von Bourdeaux berufen, und bewährte sich dort insgesamt – Hinweis, dass die scheinbar unpraktischen Büchermenschen dann doch vielleicht auch die praktisch Geschickteren bilden. Großen Spaß hatte er an der Sache aber nicht, und so war er froh, als sein Amt wieder zuende war (Über die Nachteile einer hohen Stellung). Gut, dass es also Eitelkeit, Ruhmsucht und Gewinnsucht auch gibt, denn sonst würde in der Welt vielleicht wenig vorwärts gehen. So gesehen hat eben auch ein Montaigne eventuell seine Fehler oder zumindest Versäumnisse.
Die Fehler Montaignes sind groß: geile Worte: Sie taugen nichts … Leichtgläubigkeit … Unwissenheit … Er verleitet zur Gleichgültigkeit dem Heil gegenüber … Da sein Buch nicht mit der Absicht geschrieben wurde, für die Frömmigkeit zu werben, war er nicht dazu verpflichtet: aber man ist stets dazu verpflichtet, nicht davon abzulenken. Man kann seine ein wenig freien und sinnlichen Empfindungen bei gewissen Gelegenheiten des Lebens entschuldigen; aber man kann seine durchaus heidnischen Empfindungen über den Tod nicht entschuldigen; denn man muss auf alle Gottesfurcht verzichten, wenn man nicht wenigstens christlich sterben will; nun denkt er aber in seinem ganzen Buche nur daran, weichlich und bequem zu sterben … Verkehrtheit der Philosophen, welche sich mit der Unsterblichkeit nicht auseinandergesetzt haben. Die Verkehrtheit ihres Dilemmas bei Montaigne.
Blaise Pascal, Gedanken
Blaise Pascal, der exakte Mathematiker, der das Weltenchaos mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchschaubarer machte, und der donnernde Apologet des Christentums in seinen späteren Jahren, war durchaus ein Bewunderer von Montaigne. War er doch schließlich nach dessen sanften Ideen Über die Knabenerziehung erzogen worden. Später gehörte Montaigne zu den wenigen Schrifstellern, die er las und die er ernst nahm (auch widmete er ein ganzes Kapitel von Gedanken dem Pyrrhonismus). Wieviel Ranküne und verstohlener Neid, wieviel ernsthafte Ablehnung, wieviel rein theoretisches Sichabstoßen, um die eigene Position zu präzisieren hinter seinen vorwiegend negativen Gedanken über ihn steckt, weiß man nicht so genau. (Nicht in Montaigne, sondern in mir selber finde ich alles, was ich in ihm sehe, formuliert Pascal den rätselhaften Gedanken 743, ohne jedoch zu präzisieren, was damit genau gemeint ist.) Ein allerchristlichster Christ war Montaigne sicherlich nicht. Das allein schon einmal wird ihn für eben jemand wie Pascal verdächtig machen. Auch wenn sich Pascal Gedanken über die Existenz macht, so lebensprall wie die von Montaigne sind sie nicht. Man ist geneigt, in Pascal einen nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch kranken, wenig genussfähigen Asketen zu sehen, der aus seiner Not eine Tugend zu machen suchte. Das würde natürlich Neid auf eine Erscheinung wie Montaigne provozieren. Oder aber, in den Augen des Asketen, die Montaignesche Diesseitigkeit tatsächlich als was Minderwertiges und Gefährliches dastehen lassen. Deutlich mehr noch als Montaigne betont Pascal immer wieder, dass alles Getriebe der Welt „eitel“ sei, und Eitelkeit die Welt beherrsche und hinter allem stecke. Nun aber ja, war zumindest Montaigne offensichtlich nicht allzu eitel. Eitel war aber vielleicht Pascal: sein religiöses Asketentum und seine radikalen Versuche der Weltabwendung scheinen etwas durchaus Eitles zu haben (eventuell hat er auch deswegen ein so ausgeprägtes Schuldbewusstsein und Sühnebedürfnis…). Und so versuchte eben Pascal Montaigne als den Eitlen dastehen zu lassen. Wie immer auch, ein Reibebaum für die äußerst Frommen, die alles unter dem Gesichtspunkt ihrer Religion betrachten, musste Montaigne leicht sein. Der betrachtete nämlich nicht alles unter diesem Gesichtspunkt. Montaigne war ein ostentativ in der (heidnischen) Antike verhafteter Autor. Fast ausschließlich sind es antike Zitate und Fallbeispiele, Personen und Schicksale aus dem Altertum, mit denen seine Abhandlungen so überreichlich ausstaffiert sind. Christliche Heilige, Kirchenväter oder Herrscher aus seiner Zeit kommen in einer geradezu beleidigenden Weise kaum vor. Lieber äußerte er sich bewundernd Über die römische Größe, vermittelt uns einiges an Wissen Über die Rüstung der Parther, nimmt sich einer Verteidigung Senecas und Plutarchs an, und ergeht sich in Betrachtungen über Cäsars Kriegsführung. Sein Skeptizismus, Pyrrhonismus und seine Indifferenz gegenüber fast allem und jedem müssten sich auch gegen Kirche, Religion und Gott richten, könnte man leicht meinen. Tugendhaft war Montaigne aber zunächst einmal sehr wohl, und man kann sagen, dass sich seine nebelhafte innere Gestalt in der Tugend gleichsam stabilisierte und in ihr aufrecht geblieben ist – ansonsten hätte Montaigne ja auch irgendein Nihilist sein können. Die Tugend ist die Nährmutter der menschlichen Freuden. Indem sie ihnen ihr rechtes Maß gibt, sichert sie ihnen ungetrübten Genuss … Bleibt der Tugend das gewöhnliche Glück versagt, kümmert sie das nicht: Sie kommt ohne es aus … Ihr eigentlicher und vornehmster Dienst aber besteht darin, dass sie all diese Güter maßvoll zu gebrauchen lehrt, sowie standhaft zu bleiben, wenn man sie verliert … (Über die Knabenerziehung) Die Tugend bedeutet Selbstkultur; über diese Selbstkultur (so sie denn gelingt) ist man aber auch zu anderen gut – und damit auch nahe der christlichen Nächstenliebe. Wer überhaupt nicht für andere lebt, der lebt auch kaum für sich. Und umgekehrt: Wer sich selber freund ist, der ist allen freund. (Über den rechten Umgang mit dem Willen) Trotzdem ist Tugend etwas, was schon die Heiden kannten. Pascal betrachtet die heidnische Tugend auch mit einem scheelen Auge (erblickte in ihr oft eigentlich eine Camouflage für charakterliche Niederträchtigkeiten). Trotzdem war Montaigne aber nicht dermaßen antik, dass er sich nicht sehr wohl zur christlichen Religion bekannte. Nur durch unseren christlichen Glauben, nicht die stoische Tugend Senecas, können wir uns das Wunder einer solch göttlichen Wandlung erhoffen. (Apologie für Raymond Sebond) In seinem ungewöhnlich umfangreichen Essai Apologie für Raymond Sebond betonte er die Wichtigkeit der Religion. In seinem Zeitalter der Religionskriege blieb Montaigne durchaus nicht unbeteiligt, sondern bezog Partei für die Katholiken. Wohl, weil er auch wusste, dass der ewige Konflikt nur dadurch gelöst werden könne, indem eine Partei schließlich den Sieg davontrage und so eine Ordnung wiederherstelle, daher es irgendwie angezeigt ist, sich für eine Seite zu entscheiden und konsequent zu bleiben. Allerdings betrachtete Montaigne die Religion vorwiegend unter dem Gesichtspunkt eines Moralsystems bzw. eines Systems der moralischen Orientierung. Wenn auch ein hochmoralischer und engagierter Mensch, war Pascal jedoch vorwiegend an seinem „Seelenheil“ interessiert, und an dem Leben nach dem Tod. Man könnte in seiner diesbezüglich so unbedingten Haltung, die keinen Spaß versteht, auch einen Egoismus, zumindest aber eine starke Ängstlichkeit erblicken. Montaigne schien sich um das Leben nach dem Tod keine so starken Gedanken zu machen, aber der Tod schien ihm tatsächlich Angst zu machen. Immerhin hat die Frage nach dem Tod ihn doch stark beschäftigt. Das haben auch andere als Pascal an Montaigne bemerkt.
Unter allen Kapiteln, die uns der angenehme Schwätzer Montaigne hinterlassen hat, hat mir immer das vom Tode, der vielen vortrefflichen Gedanken ungeachtet, am wenigsten gefallen … Man sieht durch alles hindurch, dass sich der wackere Philosoph sehr vor dem Tode gefürchtet und durch die gewaltsame Ängstlichkeit, womit er den Gedanken wendet und selbst zu Wortspielen dreht, ein sehr übles Beispiel gegeben hat. Wer sich vor dem Tode wirklich nicht fürchtet, wird schwerlich davon mit so vielen kleinlichen Trostgründen gegen ihn zu reden wissen, als hier Montaigne beibringt.
Georg Christoph Lichtenberg
Philosophieren heißt sterben lernen. Für seine Ängste kann man nichts, und die einen müssen eben mehr lernen, um zum Ziel zu gelangen, die anderen weniger. Montaigne hat sich oft über den Tod, den Selbstmord und das Sterben ausgelassen. Hatte er davor panische Angst? Wir wissen es nicht. Einige Philosophen machen den Tod und die Sache der eigenen Endlichkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Philosophie (oder des Philosophierens), bei anderen kommt er kaum oder gar nicht vor. Bei Nietzsche (auch wenn der von seinem geistigen Tod überrascht wurde) hat man kaum Beschäftigung mit dem Tod, bei Lichtenberg auch nicht viel. Über den Tod machen sich diejenigen, die mitten im Leben stehen, selten Gedanken. Sie halten sich gemeinhin für unsterblich. Montaigne wäre in jungen Jahren bei einem Reitunfall tatsächlich fast gestorben. Vielleicht hat ihm das ein Gefühl für seine eigene Endlichkeit gegeben. Nehmen wir, zum Spiel der Gedanken, an, Montaigne hätte also Angst vor dem Tod gehabt. Hatte er Angst vor dem Tod, weil er innerlich wusste, dass er weniger gläubiger war, als er es vielleicht gewollt hätte, deswegen also vor Bestrafung im Jenseits? War ihm das Leben zu interessant, als dass er eine lästige Unterbrechung wie den Tod gerne geduldet hätte? Oder hatte er hatte er eben einfach Angst vor dem Tod, ohne größeres Beiwerk und ohne breiteren Hintergrund dazu? Nach dem Tod wird man zu einer Abstraktion. Nietzsche machte sich diesbezüglich keine Sorgen, sondern sah voraus, dass er in „diversen Verkettungen“ immer wieder kommen würde. Eine Abstraktion ist was Starres. Und eine Abstraktionsleistung verlangt Kraft. Unmittelbar kräftig und ein Kraftmensch war Montaigne nicht. Er war nur nebelhaft genug, um Schlägen der Hämmer der Gegener auszuweichen. Aber der Tod lichtet auch einen Nebel. Erinnern wir uns an das, was Hölderlin beschrieben ist, an jene Form einer scheinbaren Wolke, in der alles miteinander verbunden ist. In diesem Hölderlinschen Kondensat ist ein Zustand nicht bloß dieses oder jenes oder das dazwischen, sondern – wie er immer wieder betont – alles zugleich. Es ist also in Wahrheit eine ziemlich robuste Verstrebung, die keine Schwachpunkte aufweist. Montaigne scheint aber in Wirklichkeit nicht ganz so. Er legt sich zwar wie ein Nebel über alle Positionen, vermeidet aber die Identifikation mit einer jedweden. Seine Haltung ist insgesamt eine vermeidende, ausweichende, wenn man so will. Das ist zwar übermenschlich und man errichtet damit eine Ebene über dem gewöhnlichen (oder auch außergewöhnlichen) menschlichen Leben und der menschlichen Existenz. Man ist, wenn man wirklich so ist, wie Montaigne sich beschreibt, wahrscheinlich ein Angehöriger einer anderen Spezies als der menschlichen. In seiner Weisheit eventuell ein homo sapiens sapiens sapiens. Aber auch die mögen individuell verschieden sein. Ich selber weiß, dass meine Leistung so penetrierend ist, dass ich mich als abstraktes Zeichen in die Textur des Universums eingebrannt habe. Probleme der Unzerstörbarkeit oder der Selbstverwirklichung drängen sich mir nicht auf, da ich selber wirklich bin, und ich mit meinem Gedankengut im Reich der Ideale, also des Unzerstörbaren angekommen bin. Ich empfinde mich daher als jenseits von Leben und Tod (auch wenn ich jetzt natürlich noch leicht reden habe). Das Beherrschen der Subjektivitäten, das in der Nähe des Dichterischen wohnt, habe ich bewerkstelligt und kann das nach wie vor; aber sicher eingebrannt in die Schaltkreise habe ich mich durch die abstrahierende Betrachtung dieser, so dass sie also nicht mehr vom Winde verweht werden können, sondern als Zeichen am Himmel stehen bleiben. Vielleicht hat Montaigne sich in einer solchen Kompaktheit eben nicht empfunden. Ich kann jedenfalls den Wert des meinen nicht klarer beurteilen als die eines anderen, und ich weise den Essais bald einen hohen, bald einen niedrigen Rang zu, ständig wechselnd und ständig im Zweifel… (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Auch wenn das natürlich was ganz Normales ist; ich kenne das ja selber (von früher allerdings). Aber vielleicht war Montaigne letztendlich eben zu sehr Dichter, und zu wenig Philosoph. Gestorben ist Michel de Montaigne offenbar ohne große Panik. In Marie Le Jars de Gournay hatte er in seinen letzten Jahren eine Seelenverwandte gefunden, die nach seinem Tod seine Schriften neu editierte und als Gesamtausgabe herausbrachte. Diese bemerkenswerte Frau übersetzte auch Tacitus, Ovid und Vergil ins Französische, verfasste literatur- und sprachtheoretische Schriften, Gedichte und auch einen Roman, Le Proumenoir de Moniseur de Montaigne. Außerdem war sie Frauenrechtlerin und postulierte in einem Traktat im Jahr 1622 die Gleichheit von Männern und Frauen. Obwohl als geistreiche Schönheit verehrt, hat sie nie geheiratet (… ich muss jedoch sagen, dass ich immer wieder erlebt habe, wie Männer bei Frauen die Schwäche des Geistes um ihrer körperlichen Schönheit willen hinzunehmen bereit waren; aber nie habe ich erlebt, dass die Frauen ihrerseits bereit gewesen wären, dem auch nur unwesentlich gealterten Körper eines Mannes um der Schönheit seines Geistes willen zur Hand zu gehen, mochte dieser noch so reich entfaltet und weise sein. (Über einige Verse des Vergil)). Gestern, am 8. März 2025, war der internationale Frauentag. Ich hätte meinen Essai über Montaigne aber auch so der Madame de Gournay gewidmet.