Cogito und Satori (Descartes vs der Zen-Buddhismus)

Vor langer Zeit sagte Descartes: „Ich denke, also bin ich“. Das ist der Beginn der Philosophie. Aber was, wenn du nicht denkst? Das ist der Beginn der Zen-Übung.

Seung Sahn

… Im Osten haben die Menschen sehr, sehr fragmentarische Egos, und sie halten es für leicht, sich hinzugeben … Ein Fingerschnippen, und sie sind bereit, sich hinzugeben – aber ihre Hingabe geht nie sehr tief … Genau das Gegenteil ist im Westen der Fall. Die Leute, die aus dem Westen kommen, haben sehr starke und entwickelte Egos … Der bloße Gedanke an Hingabe wirkt abstoßend, erniedrigend auf sie. Aber das Paradox ist, dass wenn sich ein westlicher Mensch, Mann oder Frau, hingibt, die Hingabe wirklich tief geht …

Bhagwan

Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form, schreibt Karl Marx 1843 an Arnold Ruge, tief verstrickt in die Auseinandersetzung mit Hegel. Wenn wir aber davon ausgehen, dass auch die Vernunft sich im Lauf der Zeit verändern oder gar verbessern mag, so müsste auch die heutige Vernunft revidierbar sein. Wenn wir mit Hegel und Marx annehmen, dass sich die Vernunft dialektisch entwickelt, bedeutet das, dass sie sich fortwährend ausdifferenziert, also im Wesentlichen umfangreicher wird und gleichzeitig filigraner. Wenn wir mit Marx und Hegel annehmen, dass verschiedene historische Formationen und Epochen, oder aber Kulturräume, die von Geographie, Flora, Fauna, Klima, Nachbarschaftsverhältnissen, Produktionsverhältnissen und Wirtschaftsformen usw. – also einer materialistischen Basis – geprägt werden und die Menschen unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen ermöglichen, unterschiedliche Vernunfttypen ausprägen, so finden wir grundsätzlich verschiedene Pfade, die die Entwicklung der Vernunft in der Welt überhaupt nehmen kann. All diese verschiedenen Vernunfttypen können sich gegenseitig befruchten und sich aneinander erweitern, breitere Horizonte eröffnen. Und das ist es, was alle wollen. Dauernd werde ich angesprochen: Yorick, dein Geist ist allmächtig, und deine Vernunft herrscht über die vier Himmelsrichtungen. Wie ist, nach all den Jahren der Dürre, eine solche philosophische Haltung möglich, die beherrscht? Du sprichst vom „totalen Denken“ und vom „absoluten Geist in der absoluten Form“. Du behauptest, dein Geist bringe „östliches“ und „westliches“ Denken zusammen. Sag uns, wie mag das sein? Als der Buddha gebeten wurde, seine Lehre darzutun, hat er gemeint: Ich würde lieber die Wahrheit nicht erklären, sondern direkt ins Nirwana eingehen. Da der Buddha aber auch Bodhisattva ist, sprich einer, der Erleuchtung erlangt hat und ins Nirwana eingegangen ist, der aber trotzdem noch auf der Erde wandelt, um auch andere Menschen näher an die Erleuchtung zu führen und ihnen den Weg dorthin zu erläutern, hat er sich eben doch umfangreich dazu geäußert. So will auch ich versuchen zu erklären: Was ist das Denken, das über alle vier Himmelsrichtungen herrscht und in den Kosmos hinausreicht; und warum scheint es gleichsam das „westliche“ als auch das „östliche“ Denken zu einer höheren Einheit zusammenzuführen?

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Während als Begründer des Zen-Buddhismus eine mythische Figur namens Bodhidharma gilt, von der nicht vollständig klar ist, ob sie der Legende nach im 6. Jahrhundert n. Chr. überhaupt existiert hat, gilt als Begründer der modernen westlichen Philosophie Descartes, der in der frühen Neuzeit tatsächlich gelebt hat. Von ihm stammt der Ausspruch Cogito, ergo sumIch denke, also bin ich – von dem z.B. Lichtenberg meint, es sei der größte Gedanke, den je ein Mensch gehabt habe. Descartes war Mathematiker und Wissenschaftler, also ein um Exaktheit und Wahrheit ringender Mensch. Ich hatte eben stets eine außerordentlich große Begierde, das Wahre vom Falschen unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen, und in meinem Leben sicher zu gehen, berichtet er über sich in seiner essenziellen Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Vom Status her eine Art Kavalier, also ein gesellschaftlich weitgehend ungebundener Mann, war er auch Soldat und weitgereist: ein europäischer Kosmopolit. Da zu seiner Zeit noch keine vergleichbare Einheitskultur herrschte wie heute, konnte er erleben, wie teilweise bloß von Stadt zu Stadt sich Ansichten, Sitten, Gebräuche usw. radikal voneinander unterschieden und sich schroff voneinander abzugrenzen vermochten. Und überall schienen sie nicht weniger begründet und zumindest in sich konsistent als anderswo. Auch in seiner umfassenden Ausbildung in den Wissenschaften – die ebenfalls damals viel chaotischer waren als heute – glaubte er zu erleben, wie er sich darin nicht der Wahrheit und Klarheit annähere, sondern sich mehr und mehr von ihr entferne, je tiefer er darin eindringe. Ich bin von Kindheit an für die Wissenschaften erzogen worden, und da man mich glauben machte, dass durch sie eine klare und sichere Erkenntnis alles dessen, was dem Leben frommt, zu erreichen sei, so hatte ich eine außerordentlich große Begierde, sie mir anzueignen. Doch wie ich den ganzen Studiengang durchlaufen hatte, an dessen Ende man gewöhnlich in die Reihe der Gelehrten aufgenommen wird, änderte ich vollständig meine Ansicht. Denn ich befand mich in einem Gedränge so vieler Zweifel und Irrtümer, dass ich von meiner Lernbegierde keinen anderen Nutzen gehabt zu haben schien, als dass ich mehr und mehr meine Unwissenheit einsah (…) Aber ich hatte schon auf der Schule erfahren, dass man sich nichts zu Sonderbares und Unglaubliches ersinnen könnte, das nicht irgendein Philosoph behauptet hätte; dann hatte ich auf meinen Reisen wiederholt eingesehen, dass die Leute, die eine der unsrigen ganz entgegengesetzten Gesinnungsweise haben, darum nicht alle Barbaren oder Wilde sind; sondern dass viele ebenso sehr oder mehr noch als wir die Vernunft gebrauchen; ich hatte beachtet, wie ein und derselbe Mensch mit demselben Geist, von Kindheit an unter Franzosen oder Deutschen erzogen, ein ganz anderer wird, als er sein würde, wenn er stets unter Chinesen oder Kannibalen gelebt hätte… (ebenda) So stellte sich für ihn die Frage: Wie kann man ermitteln, welche dieser Ansichten denn nun tatsächlich wahr seien? Kann man dafür eine Methode angeben, ein Verfahren? Denn dass zumindest irgendwas wahr sein müsse, setzte Descartes voraus; er war kein Nihilist, sondern ein gleichzeitig vom Christentum als auch von den Wissenschaften und der Mathematik geprägter Mensch. Und ich werde euch hierin nicht allzu eitel erscheinen, wenn ihr bedenkt, dass es von jeder Sache nur eine Wahrheit gibt und dass, wer diese Wahrheit auch findet, von der Sache so viel weiß als man überhaupt wissen kann, wie zum Beispiel ein Kind, welches Arithmetik gelernt hat, wenn es regelrecht eine Addition macht, sicher sein kann, in betreff der gesuchten Summe alles gefunden zu haben, was der menschliche Geist nur finden kann; denn die Methode, welche uns die wahre Ordnung befolgen und alles, was in Frage kommt, genau aufzählen lässt, begreift zuletzt alles in sich, was den Regeln der Arithmetik Sicherheit gibt. (ebenda) Wenn diverse Instanzen die Wahrheit verkünden, diese Wahrheiten sich aber noch dazu voneinander unterscheiden oder sich widersprechen, sollte man zunächst einmal bezweifeln, ob ihre Postulate tatsächlich wahr sind oder wahr sein können. Das festzustellen ist über empirische Überprüfung möglich (oder, in weiterer Folge, auch über das wissenschaftliche Experiment), oder über logisches Schlussfolgern. Eventuell stehen beide Methoden nicht zur Verfügung, oder sie konfligieren miteinander: was dann? Descartes`große Innovation war es, das Zweifeln so weit zu treiben, bis dass man auf irgendeine Gewissheit mit absolut sicherer Grundlage stoßen musste. In seinen Gedankenexperimenten ist Descartes dabei sehr radikal. Er räumt zum Beispiel ein, dass alle Empirie eine Täuschung sein könnte (und wir ja auch in einem solipsistischen Traum oder, zeitgenössisch ausgedrückt, in einer Matrix oder einer Simulation leben könnten, oder aber in einer Welt, die von einem uns täuschenden und betrügenden Gott gelenkt wird), oder dass auch die Gesetze der Logik von Gott willkürlich geschaffen und geändert werden könnten; vor allem aber, dass man mit logischen Kniffen alles Mögliche beweisen könne, wenn man nur findig genug sei, und dass logische Wahrheiten abstrakte Wahrheiten seien, die deswegen noch nicht empirische Wahrheiten sein müssen; denn … obwohl die Logik wirklich sehr viele wahre und gute Vorschriften enthält, so sind doch so viele andere schädliche und überflüssige damit vermischt, dass es fast ebenso schwierig ist, jene davon abzusondern, wie eine Diana oder Minerva aus einem noch ganz formlosen Marmorblock hervorgehen zu lassen. (ebenda) Dermaßen grübelnd und nachdenkend, scheinbar hoffnungslos, kommt Descartes darauf, dass: zumindest nicht bezweifelt werden könne, dass er (nach)denke. Auch kein satanischer Täuschergott könne ihn darin täuschen. Alsbald aber machte ich die Beobachtung, dass, während ich so denken wollte, alles sei falsch, doch notwendigerweise ich, der das dachte, irgendetwas sein müsse, und da ich bemerke, dass diese Wahrheit „ich denke, also bin ich“ … so fest und sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, anschauen. (ebenda) Das ist dann sein Heureka! vom Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich. Weil er sich als denkend erlebe, müsse er auch existieren: und so viel ist gewiss. Descartes`revolutionäre Geste in der Philosophie war, dass er nicht bei bequemen Gewissheiten stehen geblieben ist, oder aber Gewissheiten postuliert hat, die inhaltlich nicht klar waren (Platon zum Beispiel nahm die „Ideen“ als Transzendentalien an, gab aber selber zu, nicht zu wissen, was diese Ideen denn eigentlich seien), sondern dass sein Ringen – nicht um Moral, Schönheit, „Wahrheit“ oder Geschlossenheit, sondern – um Gewissheit so intensiv war, dass er zu einer unumstößlichen Gewissheit tatsächlich vorgestoßen ist, und damit ein Ideal angegeben hat, wie man, mit den Mitteln der Vernunft, zu sicheren Grundlagen kommen kann, auf deren Basis man dann weitere Annahmen treffen kann, beziehungsweise, dass so etwas, mit den Mitteln der Vernunft, tatsächlich möglich sei. Zwar hat das Cogito, ergo sum im Lauf der Zeit einiges an Kritik und an „Dekonstruktion“ einstecken müssen, die aber insgesamt überspitzt erscheint und weniger plausibel als das, was sie kritisiert. Einigermaßen statuarisch steht das Cogito nach wie vor da und triumphiert, zumindest relativ zu seinen Rivalen. Als positive Methoden, wie man zu gesicherten bzw. absicherbaren Erkenntnissen kommen könne, gibt Descartes weiter die Deduktion und die Intuition an. Unter „Deduktion“ kann analytisches Denken und Beweisführung gesehen werden: das Zerlegen von Problemen in handhabbare Teilprobleme, die lösen und sich Klarheit und Gewissheit darüber verschaffen, soweit es möglich ist, und dann die nächste Schlussfolgerung wagen; falls auf diesem Weg keine Klarheit möglich sei, müsse das Problem unbeantwortet stehengelassen werden (Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen – auch davon abgesehen war Descartes mit seinem Gestus vom intensiven, ikonoklastischen Skeptizismus Wittgenstein an und für sich recht verwandt). Deduktion stellt fest, dass aus etwas Gegebenen etwas anderes notwendigerweise folgt. Descartes gab als Vorbild für die deduktive Methode die Beweisführung in der Geometrie an, die er nicht nur auf Fragen der Philosophie, sondern auf alle Wissenschaften übertragen wollte. Dann die Intuition: Unter Intuition verstehe ich nicht das schwankende Zeugnis der sinnlichen Wahrnehmung oder das trügerische Urteil der verkehrt verbindenden Einbildungskraft, sondern ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das, was wir erkennen, gar kein Zweifel zurückbleibt, oder, was dasselbe ist: eines reinen und aufmerksamen Geistes unbezweifelbares Begreifen, welches allein dem Lichte der Vernunft entspringt, und das, weil einfacher, deshalb zuverlässiger ist als selbst die Deduktion, die doch auch, wie oben angemerkt, vom Menschen nicht verkehrt gemacht werden kann. So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, dass er existiert, dass er denkt, dass ein Dreieck von nur drei Linien, dass die Kugel von einer einzigen Oberfläche begrenzt ist und Ähnliches, weit mehr als die meisten gewahr werden, weil sie es verschmähen, ihr Denken so leichten Sachen zuzuwenden. (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft 3.5) Von der revolutionären Erkenntnis Ich denke, also bin ich aus, scheint sich Descartes aber, so mühevoll endlich dorthin gelangt, dann aber bei dem, was er daraus folgert, auf Abwege zu begeben, und sein eigenes Ideal nach absoluter Gewissheit bzw. deduktiver Folgerichtigkeit zu hintergehen. Descartes postuliert bzw. deduziert dann, dass es einen Gott gehen müsse, dass dieser Gott vollkommen, daher allgütig, daher kein „Täuschergott“ sein könne (nichts folgt, genau genommen, aus dem Vorhergehenden); er postuliert/deduziert, dass Körper und Geist unterschiedliche „Substanzen“ seien und begründet daher einen Dualismus zwischen ihnen (auch wenn er sich in seiner letzten Schrift über Die Leidenschaften der Seele davon dann wieder zu entfernen scheint), Tiere sind für ihn vernunftlos und daher „Automaten“. Ein witziger Franzose hat zu all dem gemeint: Descartes hat zuerst alles bezweifelt, um dann alles zu glauben. Tatsächlich sind Descartes´vielfältige Behauptungen keine bloßen Glaubensartikel, sondern theorieimmanent (er muss zum Beispiel einen gütigen Gott, der uns wahre Erkenntnisse ermöglicht annehmen, denn sonst ist es tatsächlich nicht gewiss, dass wir nicht auch in einer Täuschung leben; um die Einheit des Cogito zu wahren, muss Denken für ihn zu einer (unteilbaren) Substanz werden u. dergl.). Allerdings sind sie zudem ersichtlich auch Glaubensartikel, und viel mehr noch ein Hinweis, dass auch die „Deduktion“ keine sichere Methode ist, sondern man alles Mögliche deduzieren kann, wenn man will, was das Deduzieren dann zum Spekulieren werden lässt (ohne es sich einzugestehen). So betrachtet, erscheinen auch viele logische Beweise – wie eben zum Beispiel die diversen (in der Regel auf Logik beruhenden) Gottesbeweise (die eben auch Descartes führen will) – als mit den Mitteln der Logik dann wieder angreifbar: so dass sie zu logischen Argumenten herabsinken, die einem subjektiv annehmbar erscheinen mögen, oder auch nicht, aber eben keine – tatsächliche Gewissheit verschaffende – Beweise mehr zu sein für sich in Anspruch nehmen können. Sowohl Descartes als auch Spinoza gehen davon aus – oder erhoffen sich als Ideal – dass sich die more geometrico, die Methode der Geometrie, auf die Philosophie (und die Wissenschaften im Allgemeinen) übertragen lässt. In der Geometrie und Mathematik werden quantitative Größen zueinander ins Verhältnis gesetzt, die für sich eindeutig bestimmbar und voneinander abgrenzbar sind. Daher lassen sich dann auch eindeutige Ergebnisse erzielen oder Beweise erstellen. Denken, Gott, Vernunft, Vollkommenheit, Seele usw., mit denen schon Descartes als Philosoph operiert, sind aber Qualitäten, und daher nicht eindeutig bestimmbar, und daher ist auch nichts eindeutig aus ihnen ableitbar. Nichtsdestotrotz lässt sich verallgemeinern, dass Descartes den Imperativ aufstellt nach größtmöglicher Skepsis, Analyse und Exaktheit nicht allein in Philosophie und Wissenschaft, sondern in der Weltbewältigung an sich. Es ist also ein Ideal der Rationalität. Damit grenzt sich Descartes ab von der Mythologie und vom (religiösen) Glauben, von denen die Philosophie bis dahin durchtränkt, bisweilen ununterscheidbar dazu war. Descartes stellt nicht mehr die Frage Was ist das Sein?, die die Philosophie vor ihm dominierte, und streng genommen auch nicht die Frage Was ist wahr? Descartes nimmt das Sein zunächst als gegeben an, und er nimmt es als erkennbar und entschlüsselbar an. Die letzte „Wahrheit“ über das Sein könne unerreichbar sein; wichtig ist aber, dass wir uns gesicherte Erkenntnis über das Sein verschaffen können (auch wenn diese partiell bleibt). Sein Fluchtpunkt ist also nicht Wahrheit, sondern Gewissheit. Die Wahrheit möge „da draußen“ in der Welt liegen, die Gewissheit liegt aber im Subjekt. Und das ist eben die große Verschiebung, die Descartes vollzieht – und mit der er die moderne westliche Philosophie einleitet. Das Zentrum des Philosophierens ist nicht mehr das Sein, sondern das Subjekt, dass sich Gewissheit über das Sein – und über sich selbst – verschaffen will. Das Tor dazu, dass Philosophie nicht nur Ontologie, sondern auch Epistemologie zu sein hat, wird damit aufgestoßen. Descartes ist Rationalist, er nimmt an, dass die Formen, mit den wir die Welt vernünftig erkennen können, in der Vernunft selbst liegen (im Gegensatz zu den philosophischen Empiristen, die meinen, alles beruhe zunächst auf sinnlicher Erkenntnis, aus der sich dann irgendwie so was wie Vernunft entwickle). Trotz seines scheinbar nagenden Skeptizismus ist Descartes optimistisch und vernunft- und fortschrittsgläubig, darin den Geist des Aufklärungszeitalters vorwegnehmend. Wie auch die Aufklärer glaubt Descartes, dass das Fortschreiten der Vernunft auch das Fortschreiten der Moral befördert. Was bei Descartes implizit angelegt ist, wird dann von Kant in seiner „Kopernikanischen Wende“ explizit vollzogen: die Inthronisation des (vernunftbegabten) Subjekts als Zentrum, von dem das Philosophieren ausgeht (und das über die spezifischen Formen seiner Vernunft die Philosophie prägt), inklusive aller aufklärerischen und anti-religiösen Konnotationen (deren letztere allerdings auch Kant in seiner Philosophie von der praktischen Vernunft erheblich und über Gebühr abmildert – auch Kant setzt Gott wieder ein, wo er ihn eigentlich zuvor bereits theoretisch ausgetrieben hatte). Alle Fortsetzung, die da folgt, scheint darin bis heute darin schon enthalten. Die Geschichte der Moderne erscheint als die Geschichte eines zur Vernunft begabten Subjekts in einer zur Vernunft bestimmten Wirklichkeit. Es ist die Geschichte einer Entfaltung, einer progressiven Dynamik, mit allen zahllosen Verästelungen, Verkettungen – und auch gewaltigen Irrungen – in die wir bis heute eingelassen sind. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit diesem Denken erlangte der Westen im Laufe der Moderne die Hegemonie über die Welt.

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Als Beginn der Neuzeit gilt die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492. Kolumbus wollte einen neuen Seeweg nach Indien finden, um die islamische Welt, die bis dahin weitgehend den Welthandel beherrscht hatte, darin auszustechen. Es dauerte, bis er schließlich bei der spanischen Krone einen Geldgeber für dieses waghalsige Unterfangen fand – bei vielen anderen europäischen Fürsten hatte er zuvor kein Glück gehabt. Darin zeigt sich bereits eine Qualität, die auch für das „westliche Denken“ konstitutiv ist bzw. werden sollte. Inmitten der europäischen Kleinstaaterei und ihrer Rivalitäten standen ihm mehr Freiheiten zur Verfügung. Wenn einem Denker, Erfinder, Unternehmer u. dergl. an einem Ort in Europa kein Glück beschieden war oder er auf kein Verständnis stieß, konnte er es an einem anderen versuchen. In der islamischen Welt oder in China hingegen herrschten die Fürsten absolut. Auch gab es in Europa eine Trennung zwischen Kirche und Staat, und damit auch der Lebenssphären. Wissenschaft, Philosophie, Wirtschaft, Politik waren abgesonderte, „weltliche“ Lebensbereiche, in die die Religion nur teilweise hineinreichte. In der islamischen Welt oder in China gab es etwas Vergleichbares nicht, und der Islam sowie das Gottkaisertum Chinas sehen sich als Denkrahmen, die alles umfassen und in sich integrieren. Für eine tatsächliche Unabhängigkeit der Lebensbereiche bleibt daher kein Platz. Auch in der islamischen Welt gab es ein goldenes Zeitalter der Wissenschaften, und viele Erfindungen Europas wurden bekanntlich schon vorher in China gemacht. Auch hatte China zeitweilig eine riesige Flotte, die ihm eine weltumspannende maritime Expansion ermöglicht hätte. Allerdings stand China immer vor dem Problem, sein riesiges Reich im Inneren zusammenzuhalten und setzte daher immer wieder auf einen autoritären Konservatismus, der das Denken wieder lahmlegte und eine Entwicklung der Produktivkräfte verhinderte. Die kulturelle Hochblüte in der arabischen Welt fand durch die Stürme zunächst der Mongolen und dann durch Tamerlan ein Ende, aber auch dadurch, dass sich die Wissenschaften nicht als eigenständige Sphäre etablieren konnten. Es fanden sich keine Zwerge, die sich auf die Schultern von Riesen wie Avicenna oder Averroes setzen, und ihr Denken weiterentwickelten. In Europa hingegen kam es in den Jahrhunderten des Übergangs zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit zur fruchtbaren Epoche der Renaissance, in der die Antike wiederentdeckt wurde: hauptsächlich in der Kunst, aber auch darin, dass in der griechischen Antike die Fundamente für die Philosophie, die Wissenschaften, die Medizin oder die Mathematik gelegt wurden – sowie außerdem für eine welthistorisch beispiellose Freiheit und Ungebundenheit im Denken, die die antiken Denker auszeichnete. Bereits im 11. und 12. Jahrhundert wurden in Europa Grundlage für eine Etablierung der Wissenschaften als eigenständiger Lebenssphäre gelegt – und für ihre Institutionalisierung in den Universitäten, als deren erste Ende des 11. Jahrhunderts die Universität von Bologna gegründet wurde (es folgten die Universitäten von Paris und von Oxford, und dann – als Konkurrenzunternehmen zu Bologna – von Padua). Als überdimensionale, symbolhafte Gestalt der damaligen Zeit gilt das Universalgenie Peter Abaelard. Das Zeitalter der Scholastik setzte ein. Das Erkenntnisideal der Scholastik bestand darin, eine Sache von möglichst allen Seiten, „dialektisch“ zu betrachten; auch im tatsächlichen Sinn von Rede und Gegenrede (die damalige Praxis sah auch vor, dass der Gegen-Redner zunächst einmal die Argumente seines Kontrahenten zusammenfassen und wiederholen musste, um zu demonstrieren, dass er sie überhaupt verstanden hatte und so im weiteren Verlauf nicht am Gegenstand vorbeigeredet wurde). Allerdings ist ein solcher „dialektischer“ Erkenntnisprozess fortwährend offen. Wenn sich im Aussortieren das beste (und/oder gelehrteste) Argument durchsetzt, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass ein noch besseres Argument daherkommt. Die „innerste Wahrheit“ einer Sache hat man dadurch nicht erfasst, und man hat auch keine schlussendliche Gewissheit über den Gegenstand. Descartes will nun aber eine eindeutige Methode angeben, wie man sich Gewissheit über einen Gegenstand verschaffen könnte. Gelehrtem Wissen gegenüber, das nicht anhand einer solche Methode ermittelt wurde, ist er skeptisch. Und so bringt Descartes auch in seinem ganzen Habitus, und der Art sich auszudrücken, frischen Wind in den Wissenschafts- und Philosophiebetrieb seiner Zeit. Seine Abhandlungen sind kurz, und ohne viel gelehrten Ballast. Er drückt sich in der galanten Art des Gentleman-Amateurs aus. Mit diesen knappen Schriften jedoch löst er die ganze Scholastik ab und stellt das Denken auf eine neue Grundlage. Sein Ziel ist, überhaupt eine Methode zu finden, von der alle Wissenschaft auszugehen habe, um auf sicherer Grundlage zu ruhen – ähnlich, wie es auch Francis Bacon versuchte, der jedoch nicht dieselbe geistige Intensität der skeptischen Grundhaltung wie Descartes vorbringt. Das ist natürlich nicht gelungen, denn die Wissenschaften haben sich im weiteren Verlauf ausdifferenziert. (Was heute so vermessen erscheint, war es zu Descartes`Zeiten noch nicht: Damals erschien er tatsächlich, zumindest theoretisch, noch möglich, dass ein Mensch allein eine Grundlage und ein einheitliches Prinzip für alle Wissenschaften ermitteln könnte.) Die Entwicklung der Wissenschaften verlief jedoch notwendigerweise nah an der Cartesischen Methode und ihrem Erkenntnisideal. Galilei und Newton etablierten die Sichtweise, dass die Natur Gesetzen gehorche, die sich mathematisch beschreiben lassen (gleichzeitig stieß Newton das mechanistische Weltbild von Descartes u.a. vom Thron, indem er nachwies, das Dinge nicht mechanisch aufeinander wirkten, sondern über rätselhafte „Kräfte“, wie eben die Schwerkraft – das aber berührt nicht den Kern von Descartes`Innovation). Die neuzeitliche Wissenschaft und Physik beruht auf der Metaphysik, dass die Welt erkennbar sei, dass ein Verfahren zur Ermittlung gesicherter Erkenntnis angebbar sei, und dass die Wahrheit über eine Sache eine eindeutige sei. Damit wird das vernunftbegabte Subjekt, dass sich solcherart seiner Vernunft bedient, zu einem bedeutenden Akteur in der Welt, während ein Gott in dem Hintergrund tritt. Mehr und mehr wird das Subjekt zum Zentrum der Welt und – dann eben endgültig bei Kant – zum Zentrum der Philosophie. Indem das Subjekt Dinge und Zusammenhänge eindeutig erkennen kann, kann es Dinge und Zusammenhänge schließlich auch konstruieren und manipulieren, beherrschend in die Welt eingreifen. Während das Barockzeitalter ein heroisches Zeitalter der Wissenschaften war, hat sich, im Zusammenhang auch damit, über Jahrhunderte hinweg der Kapitalismus entwickelt, und im Zusammenhang mit ihm der Industriekapitalismus. Die gleichsam statische feudale Welt wurde durch eine tatsächlich dynamische Neuzeit abgelöst. Mithilfe der Maschine, ihrer industriellen Herstellung und ihrem Zweck, sie als umfassendes Produktionsmittel einzusetzen, wird das menschliche Subjekt zu einem gottähnlichen Manipulator. Was der Mensch nachbauen, konstruieren kann, das versteht er (wenn auch nicht notwendigerweise bis in dessen „innerste Wahrheit“ hinein), über das hat er sich Gewissheit verschafft. Diese Maschinenbauer-, Konstrukteurs- und Ingenieursintelligenz der Neuzeit geht recht deutlich auf Descartes zurück. Damit ist die Brücke zwischen der unmittelbaren Moderne, und einem einsamen Denker am Anbeginn der Neuzeit, zu Descartes eindeutig geschlagen.

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Kein Triumph aber ohne Niederlagen. Auf Karl Marx geht die Sichtweise zurück, dass der Kapitalismus, bzw. Produktionsverhältnisse im Allgemeinen, keine Mächte sind, die das (vernünftige) Subjekt beherrscht; eher ist es umgekehrt: Und die Produktionsverhältnisse sind es, die nicht nur die menschlichen Verhältnisse, sondern auch die Entwicklung der Vernunft selbst determinieren. Schon bei Hegel ist die Entwicklung der Vernunft bzw. des vernünftigen Subjekts dialektisch in einen welthistorischen Verlauf eingebunden; an die Stelle des Subjekts tritt bei Hegel genau genommen der „Geist“ (in seinen Erscheinungsformen subjektiver, objektiver und absoluter Geist). Die Aufklärung hätte – wie bereits Descartes – in etwa angenommen, Vernunft sei etwas Eindeutiges – gemäß Descartes ein „natürliches Licht“ im Menschen – das es freizulegen und zu emanzipieren gelte, so gesehen wird die Vernunft nun aber selbst zu etwas Mehrdeutigerem und Differenzierterem (wenngleich solche Verständnisse, zumindest aus heutiger Sicht, immer noch innerhalb der Aufklärung liegen, und ihren Rahmen eher erweitern als sprengen). Im 20. Jahrhundert kommt eine nachdenklichere Haltung über die Technik hinzu. Sie scheint zu einer Macht geworden zu sein, die der Mensch nicht mehr kontrollieren kann; sogar in dem Sinn, dass sie dem Menschen eine Vernunft aufoktroyiert, die nicht notwendigerweise die „seine“ ist. Die Maschinenbauer-Vernunft von Descartes scheint sich gegen Descartes bzw. gegen das vernünftige Subjekt selbst zu richten, oder aber ihm gegenüber als eine verdunkelnde Macht entgegenzutreten, von der sich der Mensch mithilfe dieser Vernunft eigentlich befreien wollte. Die Weltkriege und vor allem die Nazi-Herrschaft und der Holocaust werden zu schrecklichen Illustrationen, wie Archaisches, längst überwunden Geglaubtes, gemeinsam mit neuzeitlicher Technik und Rationalität nicht nur wiederkehren kann, sondern vielmehr in seiner Destruktivität noch potenziert werden kann, oder aber: vielleicht gerade dadurch begünstigt werden kann. Mit der Atombombe verliert die Wissenschaft symbolträchtig „ihre Unschuld“. Die Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernkraft werden deutlich, ebenso wie die Übernutzung der Umwelt und die „Grenzen des Wachstums“. So scheint die einstmals so hoffnungsfrohe Cartesische Vernunft, von der all das scheinbar seinen Ausgang nahm, nicht nur an ihre Grenzen zu stoßen, sondern auch an dunkle Wiedergänger und unheimliche Doppelgänger. Horkheimer spricht von ihr als einer „instrumentellen Vernunft“, die zu einem Herrschaftsinstrument geworden sei; die „Dialektik der Aufklärung“ versucht, die emanzipatorischen Potenziale der Aufklärung mit ihren unterdrückenden oder gar destruktiven ins Verhältnis zu setzen, bleibt aber – zumindest im Gestus der „Kritischen Theorie“ – gleichsam in einer depressiven dialektischen Endlosschleife hängen (aus der heraus nur mehr eine „Negative Dialektik“ helfen würde, die aber prekär und unspezifisch und gleichsam nur punktuell wirksam scheint). Heidegger sieht in all dem ein verhängnisvolles „Seinsgeschick“ (setzt mit seiner Kritik an der „Seinsvergessenheit“ der westlichen Philosophie aber bereits bei Platon an). Umgekehrt machen sich im Kalten Krieg, und vor allem der McCarthy-Zeit, die Geisteswissenschaften und die Philosophie (linker) politischer und subversiver Konnotationen verdächtig. Entnervt von all dem politischen und bildungsmäßigen Ballast, den die Philosophie wiederum auf sich geladen zu haben schien, machte sich vor allem in der angloamerikanischen Welt eine Neuorientierung in der Philosophie breit, die durchaus an den Cartesianischen Gestus anklingt: die Wende zur analytischen Philosophie. Diese Denktradition geht wiederum auf Kontinentaleuropa zurück, konkret vornehmlich auf den „Wiener Kreis“ der Zwischenkriegszeit. Dessen Vertreter wollte die Philosophie abermals von allem „scholastischen“ Ballast reinigen, und in der Philosophie nur Begriffe und Methoden zulassen, die denen der strengen Wissenschaften und der Logik entsprachen. Auch kam es zu einem „linguistic turn“ in der Philosophie. Untersuchungsgegenstand der Philosophie wurden nicht mehr „die Vernunft“ oder „die Erkenntnis“, sondern das Medium, in dem sich Vernunft und Erkenntnis und deren Mitteilung äußern: die Sprache. Wittgenstein, als das symbolkräftige Genie dieser Bewegung(en), hat mit seinem Tractatus die Grenzen dieses neuen Terrains abgesteckt, wie auch über sie hinausgedacht. Er erkannte die Gefahr eines Substanzverlustes einer Philosophie, die die großen Fragen nach Gott, Gut und Böse, Sinn des Lebens u. dergl. der Mystik zurechnete, um sich stattdessen als „reine Wissenschaft“ und Logik zu betreiben. Da analytische Philosophie aber auch Sinn macht, wird sie bis heute betrieben. Sie feiert Erfolge in der Klärung vieler philosophischer Fragen, die jedoch die Aura nicht vermeiden können, zu bloßen „technischen“ Problemen herabzusinken. Der „linguistic turn“ seinerseits führte schließlich dazu, die Sprache so zu verabsolutieren, wie seine Proponenten es ursprünglich bei philosophischen Kategorien wie „Erkenntnis“ kritisiert hatten. Wittgenstein entwickelte in der Einsamkeit eine Spätphilosophie, die Sprache nicht mehr als eine Art ideale Struktur sah, sondern als eine Art Wildwuchs, der sich aus der sozialen Praxis ergibt und der Notwendigkeit der (spontanen) zwischenmenschlichen Verständigung. Er schaffte ein neues Verständnis von Kategorien, um deren eindeutige Bestimmung man stets erfolgslos gerungen hatte (in dem Glauben, es ginge nicht anders) als Begriffsfelder, deren Aspekte über bloße „Familienähnlichkeiten“ (lose) zusammengehalten werden; und er transformierte die Sichtweise auf einen (einheitlichen und einheitlich sinnstiftenden) Diskurs der Vernunft hin in „Sprachspiele“. Unabhängig davon begann auch der Strukturalismus soziale Praxen als über „Strukturen“  geregelt zu begreifen: deren innerste Logik also nicht eine „Vernunft“ sei, sondern eine (über differentielle Elemente bestimmte) „Struktur“, aus der die Vernunft eher als ein kontingentes Epiphänomen emporsteige, als dass es umgekehrt der Fall sei. Auch wenn der Poststrukturalismus keine so rigide Sichtweise mehr pflegte, feierte der dann die Vielfalt von Vernunfttypen, die sich aus vielfältigen historischen Praxen heraus ergäben. Anstelle von Subjekt, Vernunft oder Geist werden nunmehr überhaupt „Strukturen“, „Dispositive“ oder Diskursformationen zu den dynamischen und/oder bestimmenden Elementen in Geschichte und Philosophie. Eine „Dialektik der Aufklärung“ ist gar nicht mehr möglich, wenn die Geschichte und die Geschichte der Vernunft mehr oder weniger als eine Abfolge von Kontingenzen betrachtet wird; vielmehr wird dadurch (bei dem bekanntesten Vertreter dieser Denke, Michel Foucault) das Tor zum Nihilismus aufgestoßen. Diese Art von Denken wurde schließlich als „postmodern“ bezeichnet. Obwohl die Proponenten der Postmoderne vorwiegend Franzosen waren (es gab aber auch ausländische Ableger, wie den US-Amerikaner Richard Rorty), hatten sie für ihren Landsmann Descartes nicht so viel übrig. Der vielleicht integralste Denker der „Postmoderne“, Gilles Deleuze, war auch kein Rationalist, sondern hatte immer eine Vorliebe für empiristische Philosophen. Die Postmoderne ist ein – ei! – farbenprächtiges und charismatisches Phänomen. Allerdings erscheint sie auch als instabil und schwach, als nichts, was auf eigenen Beinen stehen könnte, ein wenig parasitär. Wie subversiv ihre Absichten aber auch immer gewesen sein mögen: Heute begreift man sie vielleicht eher als eine notwendige Ausdifferenzierung der aufklärerischen Vernunft, inklusive ihrer fortlaufenden Selbstbefragung. Der neueste Schrei scheint, nach dem Abdanken der Postmoderne, eine „Metamoderne“ zu sein. Aber am Anfang der philosophischen Moderne steht ja eben der Meta-Philosoph Descartes! Ist er das Alpha und das Omega des modernen Zeitalters? Kann das moderne Zeitalter überhaupt noch ein Ende haben, oder hat es die letzten Dinge eben angestoßen, über die eigentlich nichts mehr hinausgehen kann? Wie auch immer; Cartesius mag sich ob all dem schon eine Flasche Wein aufmachen und sich zuprosten: Mit einem Worte: wenn es in der Welt ein Werk gibt, das von keinem anderen so gut vollendet werden kann als von dem, der es begonnen hat, so ist es das Werk, an welchem ich arbeite. (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs)

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Der Buddhismus wurde im 5. oder 6. Jahrhundert v.u.Z. in Indien entwickelt, als sein Begründer gilt der Prinz Siddharta Gautama. Bei seinen Ausfahrten aus seinem Palast sah er, wie in der realen Welt weitgehend Elend, Armut, Krankheit, Tod, Verwirrung herrscht. Und auch der eigene Reichtum und die eigene Stellung macht einem vor alldem nicht gefeit. Der Aristokrat wollte herausfinden, was eigentlich die Wurzel allen weltlichen Leidens sei, verließ seinen Palast und unterwarf sich jahrelang strenger Askese. Schließlich erlangte er Erleuchtung; genau gesagt, sein Wissen erwachte, dass hinter allem Leiden Wollen und Begehren stecke, das letztendlich unerfüllt bleiben muss. Wer aber nicht begehre, könne nicht leiden, da er in seinen Erwartungen ja nicht enttäuscht werden kann. Eine wohl praktische menschenunmögliche Aufgabe, das Begehren vollständig abzutöten. Wer diesen Zustand aber erreicht, geht ins Nirwana ein, eine Art Nichts (in dem es eben kein Begehren mehr gibt). Es handelt sich dann, in diesem Idealfall, um einen vollkommen transformierten Menschen, der dann das Ideal des Buddhismus ist. Ansonsten ist der Buddhismus, wie jede Religion oder Weisheitslehre, dazu da, eine Anschauung und Begrifflichkeiten zu bieten, Ideale aufzustellen, an denen sich Menschen orientieren können und zu denen sie sich mehr oder weniger mimetisch verhalten können, um sich und anderen das Leben zu erleichtern. Buddha bedeutet „der Erwachte“, und den Rest seines Lebens brachte „der höchste und heiligste Buddha“ Gautama damit zu, seine Lehre zu systematisieren und die Strukturen zu ihrer Weitergabe zu schaffen. Das umfasste die Stiftung von Mönchs- und, für die damalige Zeit ungewöhnlich, Nonnenklöstern. Der Buddhismus wurde zu einer Religion, auch wenn er die vielleicht ungewöhnlichste Religion ist. Er kennt keine Gottheiten. Nietzsche bezeichnete den Buddhismus als keine Religion, sondern als eine „Seelen-Diätetik“. Grundlegend ist der Buddhismus eine Weisheitslehre, und eine Weisheitslehre ist tolerant gegenüber den Menschen und verpflichtet sie zu nichts. Es obliegt der Weisheit jedes Einzelnen, ob er sie annimmt oder nicht. Allerdings geht der Buddhismus in seiner Lebensbewältigungs-Weisheit viel tiefer als bloße Weisheitslehren, denn er ist umfassend spirituell und zielt auf eine radikale spirituelle Transformation ab, eine vollkommene, nicht nur partielle und beliebige Lebensveränderung. Zudem ist der Buddhismus als Religion und Religionsgemeinschaft organisiert, mit Strukturen, Institutionen, diversen Regeln und Ritualen. Religion bedeutet: gehorsame Befolgung von Regeln, und in diesem ganz ursprünglichen Sinn ist der Buddhismus Religion. Gleichzeitig ist er auch ein philosophisches System, ein logisches System, und auch eine Metaphysik, und in all diesen Aspekten unabschließbar interpretierbar. Seine Wahrheit ist, gegenüber den theistischen Religionen, keine von einer transzendenten Instanz offenbarte Wahrheit, sondern eine Wahrheit, auf die der Mensch – der „erwachte“ Mensch –, wenngleich nach einer transzendenten Anstrengung, selber kommt. Im Zusammenhang mit all dem begannen schon bald nach dem Tod des historischen Buddha die üblichen Meinungsverschiedenheiten, wie seine Lehre richtig zu interpretieren sei. Um sich zu verbreiten, musste sie auch auf Lokalkolorite und Machtverhältnisse (wie z.B. dem Patriarchat) Rücksicht nehmen und Konzessionen an diese machen. Der Buddhismus spaltete sich in mehrere Richtungen (bzw. „Fahrzeuge“) auf. Sein hohes theoretisches Appeal produzierte theoretische Streitereien bis hin zu Haarspaltereien unter seinen Anhängern. All diese Divergenzen provozierten dann wieder Reformbewegungen. Aus einem solchen Reformgeist ging im 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr., also beinahe ein Jahrtausend nach dem Erscheinen des historischen Buddha, dann der Zen-Buddhismus hervor. Als dessen Begründer gilt ein legendärer indischer Mönch namens Bodhidharma, der nach China übersetzte (daher die charakteristische Frage Was ist der Sinn, dass Bodhidharma aus dem Westen gekommen ist? als chiffrenhafte Frage nach dem Sinn und der Essenz des Zen-Buddhismus). Bodhidharma wollte zu einer reinen Ursprünglichkeit des Buddhismus zurückfinden. Er lehnte den ganzen Pomp, mit dem der Buddhismus betrieben wurde, ab, und versuchte auch Herrschergestalten von der Falschheit dessen zu überzeugen. Als ihm das nicht gelang, verbrachte er der Legende nach neun Jahre meditierend vor einer Wand, bis dass er seinerseits zu einer neuen Art von Erleuchtung durchgedrungen war. Seine Art von Buddhismus war allerdings eine viel vergeistigtere Art von Buddhismus, sein Ziel ist es, durch eine rein geistige Durchdringung das wahre Wesen der Welt zu erkennen, und die diesseitige Welt damit zu überwinden. Freilich hat auch die dafür als notwendig erachtete Meditation den Charakter einer Askese und auch der Lebensweg des wahren Zen-Suchenden ist streng und hart – ohne deswegen letztendlich Erfolg zu versprechen. Deswegen heißt es eben „Zen“-Buddhismus, denn Zen bedeutet (auf Japanisch) „Meditation“ oder „meditative Versenkung“. In China nahm dieser sich so entwickelnde Zweig auch Einflüsse des Taoismus auf, und die „Leere“ als zentrale Kategorie des Zen hat viel mit dem „Tao“ gemein. Um das Jahr 1000 gelangte diese Strömung auch nach Japan. In Japan hat der Zen-Buddhismus die Kultur am deutlichsten geprägt. Viele japanische Kunstformen wie das Haiku-Gedicht, das Tee-Zeremoniell, das No-Theater, die japanische Tuschezeichnung und Kalligraphie, die Gartenkunst, die Kunst der Bogenschießens und allgemein die japanische Tradition des hohen Niveaus und der Genauigkeit und Beachtung des Details in der japanischen Kunstfertigkeit haben ihre Wurzeln im Zen-Buddhismus. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Zen-Buddhismus, vorwiegend über seine japanische Tradition, auch im Westen (zunächst unter Gebildeten) bekannt, und im Zuge der „spirituellen Öffnung“ im Windschatten der Hippiezeit auch vergleichsweise populär. Seine Weisheiten haben auch Eingang gefunden in die Management-Literatur und allgemein ist die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Zen-Buddhismus auf dem einen und anderen Niveau in der westlichen Welt kaum mehr überschaubar. Im Allgemeinen wird der Zen-Buddhismus vom westlichen Durchschnittsmenschen wohl als etwas sympathisch Rätselhaftes angesehen und als verbunden mit einer Friedlichkeit und Gelassenheit, von der der westliche Mensch vielleicht selber gerne mehr hätte. Gleichzeitig scheint er sich damit auch mit einer Paradoxie konfrontiert zu fühlen, auf die er sich eher nicht einlassen will und gegenüber der er sich machtlos fühlt.

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Zen versucht zur „reinen“, „letzten“, „ursprünglichen“ Wirklichkeit vorzudringen. Wie kann man das tun? Indem man die Wahrnehmung schärft und sie subtiler macht und sie hinterfrägt. Indem man die Wahrnehmung und das Selbst-Welt-Verhältnis meditiert. Im Geiste der Lehre Buddhas betrachtet sind Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, zunächst leidvoll miteinander verbunden. Das Subjekt hat ein Verlangen nach dem Objekt, das Objekt provoziert ein Verlangen im Subjekt und erscheint – auch innerhalb der Grenzen der herkömmlichen Wahrnehmung – dem Subjekt nicht rein, als „das, was es ist“ (sondern eben unter der Wahrnehmung des Subjekts). So gesehen üben sowohl das Subjekt und das Objekt der Wahrnehmung eine diskriminierende Wirkung aufeinander aus. Gleichzeitig wird in der Meditation erkannt, dass das Objekt ja nur erscheint, weil das Subjekt es anschaut, und dass weiters das Objekt in einer diskriminieren Weise erscheint, weil es der diskriminierenden Wahrnehmung des Subjekts unterworfen ist. Auch das Subjekt diskriminiert sich über seine Wahrnehmung selbst. Wenn es sich sagt: Ich denke, also bin ich, setzt es sich gleichzeitig als ein Objekt, das denkt, bzw. als ein Subjekt-als-Objekt. Genau genommen könnte man aber auch aus dem Descartesschen Gogito, ergo sum, also aus der Wahrnehmung, dass Denken stattfindet, eigentlich nur folgern: Es gibt Gedanken (und nicht: Es existiert ein Ich, dass diese Gedanken hat). In der meditativen Versenkung des Zen versucht das Ich seine Wahrnehmung so subtil zu machen, dass es sich als Ich, das wahrnimmt (und denkt) ausschaltet. Es nimmt sich dann selbst als reinen Geist wahr. In diesem Geist erscheinen dann alle Dinge. Alle Reiche der Existenz und alle Seinszustände sind nichts anderes als Manifestationen deines eigenen Geistes – haben der Mond, der sich im Wasser spiegelt, oder die Bilder, die der Spiegel reflektiert, einen Ursprung und ein Ende? (Shitou) Nicht nur werden alle Phänomene zu Erscheinungen im eigenen Geist, auch und vor allem wird diese Geist-Welt-Struktur überhaupt ontologisiert: der „Urgrund“ der Welt wird zu einem ursprünglichen Geist, in dem dann die Phänomene sich manifestieren. Der Meister sagt zu mir: Alle Buddhas und alle Lebewesen sind nichts als der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist weder grün noch gelb, hat weder Form noch Erscheinung. Er gehört nicht zu der Kategorie von Dingen, die existieren oder nicht existieren. Auch kann man nicht in Ausdrücken wie alt und neu von ihm denken. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, denn er überschreitet alle Grenzen, Maße, Namen, Zeichen und Vergleiche. Du siehst ihn stets vor dir, doch sobald du über ihn nachdenkst, verfällst du dem Irrtum. Er gleicht der unbegrenzten Leere, die weder zu ergründen noch zu bemessen ist.  Der Eine Geist allein ist Buddha, und es gibt keinen Unterschied zwischen Buddha und den Lebewesen, nur dass diese an Formen festhalten und im Außen die Buddhaschaft suchen, setzen kraftvoll die legendären Aussprüche und Ansprachen des Zen-Meister Huang-po ein. Hinausgehend über das empirische Wahrnehmen (im Sinne der Weltvergewisserung im Geiste Descartes`), das Subjekt und Objekt trennt und gegeneinander feststellt, strebt der Zen-Buddhismus ein allgemeines, über-individuelles Wahrnehmen, Sehen an, eine Art transzendentale Subjektivität, die gleichzeitig die transzendentale Struktur der Welt ist. In der Perspektive von Zen erscheint die Welt dann als ein Netz von Beziehungen, in der Subjekt und Objekt und die Objekte untereinander aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig konstituieren: der Begriff für diese Weltsicht lautet pratityassmutpada. Ausgehend davon, dass Subjekt und Objekt sich spiegeln und in der Wahrnehmung aufeinander verweisen, begreift der Zen-Buddhismus alle Dinge als voneinander abhängig und als gegenseitig sich konstituierend. Sie erscheinen überhaupt nur als Kombination vergänglicher Faktoren. Zugrundeliegende Gesetze gibt es nicht, eine „Wirklichkeit an sich“ existiert nicht. Die Erscheinungen existieren einzig und allein in Abhängigkeit von anderen, ihrerseits abhängigen Erscheinungen. Anstelle der substantia tritt die relatio. Das bedeutet auch, dass an die Stelle einer Substanz (als einer grundlegenden Kategorie der abendländischen Philosophie), mit der man etwas Unveränderliches und Selbstständiges, positiv Seiendes assoziiert, die einer Abwesenheit einer solchen Substanz tritt: die einer „Leere“. Im Taoismus ist diese universelle „Leere“ eine Art schöpferische Leere, eine Art ontisches Potenzial, aus dem positives Sein hervorgeht. Das wäre im Zen dann der Eine Geist (der eben Buddha ist). Es gibt allerdings keine Regeln, warum und wieso etwas erscheint, eher ist es ein kontingentes Werden und Vergehen von Phänomenen, die sich zufällig wechselwirkend konstituieren und wieder vernichten. Ein Logos liegt dieser Welt nicht zugrunde. Insofern die Dinge auch allein im Geist erscheinen, könnte man meinen, es fehlt ihnen auch daher an eigentlicher Solidität. Zum einen können uns die Dinge, so betrachtet, nichts anhaben. Zum anderen könnte man sich fragen, was sie uns dann überhaupt angehen. Man würde nicht nur negative Bezugsmöglichkeiten verlieren, sondern auch positive. Zen aber versucht gleichsam, aus dem Negativen Positives, und aus dem Positiven Negatives zu machen. So dass sich dann gleichsam ergibt als Grundhaltung eine engagierte Indifferenz. Alle Dinge sind von Grund auf leer, es gibt nichts, woran man festhalten könnte. Sie sind wie dahinziehende Wolken, die nicht anders können, als sich irgendwann zu zerstreuen. Wenn du die grundlegende Leere der fundamentalen Existenz erkennst, dann ist es, als würde Feuer ausbrechen. Sprich darüber nicht mit Unwissenden – sie könnten deinen Körper in Stücke schlagen. (Baozhi) Zen bedeutet gleichsam eine Begeistertheit über diese Leere, die gleichzeitig in aller Gelassenheit sich vollzieht. Auch das Ich existiert aus der Satori-Perspektive nicht mehr, und auch kein eigentliches Selbst mehr: es gibt nur mehr ein überindividuelles SEHEN. Der Erleuchtete ist NIEMAND, der eben aus einer Leere heraus spricht, oder besser: schweigt. Im Inneren nichts, was zu erlangen wäre / Draußen nichts, wonach zu streben wäre.  (Zen Sand 8.41) Haben wir uns von unserer leeren Persönlichkeit und allen Dingen befreit, sind wir unabhängig und ohne Verhaftungen und verfolgen nur das eine Ziel, uns von allen Befleckungen zu reinigen und die Menschen zu erbauen, ohne dass sie es merken, dann bildet dies unsere eigene Praxis und kann gleichzeitig auch anderen helfen. Und es kann den Pfad der Erleuchtung schmücken. (Bodhidharma) Das ist alles keine Kleinigkeit. Kannst du das aushalten? Man kann es beinahe nicht aushalten: Das Verhalten der transzendenten Menschen ähnelt einem lodernden Feuer, einem wütenden Brand – du wirst dich ihm nicht nähern können. Es ist nicht erzwungen, es ist einfach von selbst so. (Lian An) „Von selbst“ und durch sich selbst ist etwas, wenn sich aus seiner eigenen Wirkfähigkeit konstituiert und sich in seiner eigenen Wirkfähigkeit erhält. Erleuchtete Wesen sind frei von allen Fesseln, und ihr Geist ist unendlich wirkfähig. (Baozhi) Der transzendentale Geist (und die transzendentale Subjektivität) wird überhaupt gleich mit seiner Wirkfähigkeit, wird zum reinen, unkontaminierten Potenzial. Der unermessliche Ozean lässt die Fische frei herumspringen, der grenzenlose Himmel lässt die Vögel frei fliegen. (Dasui) Diese Unermesslichkeit des Ozeans ist der Geist des Erleuchteten, der damit gleicht dem Geist und der Struktur der Welt. Erst in der Unermesslichkeit der Leere nämlich kann die Fülle des gesamten Seins in Erscheinung treten. Wenn du die universelle Leerheit erkannt hast, kannst du spontan alle Dinge durchdringen: Sie umfasst die ganze Welt und alles darüber hinaus und enthält in sich alle Seinszustände. (Fenyang) Begehren, welches auszulöschen der Buddhismus ja von Grund auf anstrebt, scheint dann kaum mehr noch nötig zu sein. Wenn man die Welt mehr als nur beherrscht, sondern mit ihr gleichsam zur Deckung gekommen ist, was sollte dann noch zu wünschen sein? Wenn du eines Tages erkennen wirst, dass der ursprüngliche Geist leer ist, dann wird die Fülle der Wirklichkeit, wie sie ist, nichts zu wünschen übriglassen. (Baozhi) Grundsätzlich versteht Zen die eigentliche Wirklichkeit als einen Urgrund der „uranfänglichen Geistes“ und als ein Gewebe von Dingen, die sich über diesem Urgrund entspannen. Diese Dinge sind einerseits voneinander abgegrenzt, andererseits gehen sie gleichsam ineinander über und haben keine klaren Grenzen. Die Dinge spiegeln sich ineinander, fließen ineinander, verweisen aufeinander und sind füreinander da. Die Wirklichkeit ist gleichsam ewig im Fluss, erscheint jedoch gleichzeitig auf der Stufe der höchsten Erleuchtung als „unendliches Juwelengeflecht, die einander erleuchten und widerspiegeln.“ Derartige Bilder und Empfindungen („unendliches Juwelengeflecht“) sind dabei in der mystischen Tradition allgemein und kommen kulturübergreifend vor. Wenn man mit gütigem, mildem Gesicht auf die Welt blickt, kann man auf das mit der Welt als unendlichem Juwelengeflecht schon kommen. Davon unterscheiden sich freilich Erlebnisse echter Mystiker(innen). Diese berichten von einem Zustand, so als wie wenn sie tatsächlich in eine jenseitige Welt, oder in das paradiesische Leben nach dem Tod geblickt hätten. Da dies einer diesseitigen Welt mit ihren Beschränkungen nicht entspricht, waren diese Erlebnisse auch einmalig und von kurzer Dauer. Solchermaßen erleuchtet, wandeln diese Mystiker(innen) dann als Heilige in dieser Welt, um ihre Anschauungen zu verkünden, hoffend, dass sie schließlich wieder eins werden mit der höheren Welt, die sie geschaut haben. Dem entspricht im Buddhismus die Figur des Bodhisattva. Der Bodhisattva hat die Erleuchtung erlebt, und lebt nunmehr eigentlich im Nirwana. Er wandelt auf der Erde, um anderen zu helfen, die Erleuchtung zu erlangen. Diese Erleuchtetheit jedoch ist ein dauerhafter Zustand. Diese Erleuchtetheit ist Satori.

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Plötzlich verlieren die Hände ihren Halt, der Boden unter ihren Füßen schwankt, und sie sind verloren: Das ist die Krönung ihres lebenslangen Studiums. Zum ersten Mal in ihrem Leben nehmen sie unabhängig und frei wahr, wie eine einsame Lampe zum ersten Mal in ihrem Leben sind sie wahrhaft im Besitz all ihrer Kräfte. Sie sind wir die Berge, wie könnte Angst vor Leben und Tod sie jetzt noch erschüttern? (Ying`an) Das beschreibt den Durchbruch zum Satori, der Erleuchtung im Zen. Uns interessiert, wie man die Welt aus der Perspektive des Satori sieht; das ist das große Geheimnis, hinter das alle kommen wollen. Das „unendliche Juwelengeflecht“ auf jeden Fall ist nur eine Erscheinungsform, die die totale Wirklichkeit dann annehmen mag. Und im Allgemeinen wird von den Zen-Meisterinnen nicht auf dieses Bild zurückgegriffen, wenn sie das Satori zu erläutern versuchen. Satori bedeutet weniger eine konkrete, bildhafte Vorstellung, die man von der Wirklichkeit haben kann, als eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu betrachten, Satori ist epistemologisch. Sagen wir, Satori bedeutet eine Flexibilität des Geistes, eine mentale Flexibilität, die der so genannte alltägliche Geist nicht hat (da er von „Anhaftungen“ geprägt und beschwert ist, während der Satori-Geist diese hinter sich gelassen hat). Der Satori-Geist imitiert den Einen Geist, der die Welt durchdringt, und der Buddha ist. Immer wieder wird auf Metaphern des offenen oder leeren Raumes zurückgegriffen, um diesen Geist zu beschreiben: In letzter Konsequenz ist jedes Anhaften an Objekten leer und nichtig, suche nichts anderes als den klaren, offenen Raum des Geistes. Es gibt nicht ein einziges Ding, das erlangt werden könnte, in Heiterkeit und Spontaneität trittst du vor das Allerletzte. (Baozhi) Ebenso: Gib alles Anhaften an Körper und Geist auf, bis du einen Zustand großer Ruhe erlangst – so. als würdest du über einem zehn Meilen hohen Kliff alles loslassen – du bist wie der offene Raum. (Huaitang) Oder: Wenn du deinen Geist erkennst und bis an den Ursprung vordringst, ist es, als würde Raum mit Raum verschmelzen. (Dadu) Schließlich: Willst du wissen, was mein Körper ist? Mein Körper ist die ganze Erde. Willst du wissen, was mein Geist ist? Mein Geist ist der Raum selbst. Willst du wissen, was ich sehe? Ich sehe, dass es nichts zu sehen gibt. Willst du wissen, was ich höre? Ich höre das Ungehörte. (Sixin) Es ist sicherlich gut, wenn der Geist dem Raum selbst gleicht. Der Raum selbst ist offen und er ist reine Dimensionalität, in dem Dinge sinnvoll passieren können. Ansonsten legt der Raum nichts fest. Der Raum ist auch schmerzfrei und ist zu grundlegend, als dass er durch irgendwas kontaminiert werden könnte. Der Körper fühlender Wesen ist dem kosmischen Raum gleich, wo könnte da Leiden seinen Platz haben? (Baozhi) Was tut nun aber der Raum? Er ermöglicht den Phänomenen Erscheinung und Versammlung und Vereinigung, genauso wie er die Phänomene voneinander trennt bzw. getrennt voneinander in Erscheinung treten lässt.  Es ist eine grundlegende Tatsache, es ist die Grundstruktur der phänomenalen Welt, dass die Dinge einerseits aufeinander verweisen oder gar vereinigt sind, andererseits, und wesentlich, aber auch voneinander getrennt. In dieser Getrenntheit verwirklichen sie, jedes für sich, ihre Autonomie und ihre Würde, und es ist eine wahrhaftige Herrlichkeit, dass jedes Ding auch das Recht hat, von den anderen Dingen in Ruhe gelassen zu werden und ganz dort zu verweilen, wo es ihm beliebt. Blau ist nicht gelb, lang ist nicht kurz. Alle Dinge befinden sich jedes für sich an ihrem eigenen Platz. Mich betrifft das alles nicht. (Shobogenso Sambyakusoku 14) Wer aber ist stark genug, das auszuhalten, und allen Dingen ihre Würde zu lassen, anstatt sofort zu versuchen, in sie hineinzupfuschen? Eben nur der Erwachte, eben nur der Buddha. Der Buddhaverstand begreift auch, wie die Dinge – und zwar ganz buchstäblich – eins und dasselbe sind, da vom Standpunkt der absoluten Wirklichkeit gesehen aus kontingent sind. Wolken und Mond sind ein und dasselbe / Berge und Täler sind jeweils verschieden / Tausendfältiges Glück! Tausendfältiges Glück! / Dass sie eins sind und dass sie zwei sind! (Wu-men-guan) Das könnte zu einer Tat Tvam Asi – Ethik („Das bist du“-Ethik) einladen, von wegen, dass man in allen leidenden Kreaturen letztendlich selber steckt, man daher mit ihnen Mitleid haben muss. Tut es einerseits, tut es aber nicht ganz, oder verhindert, sich in so was zu verlieren: denn die Dinge sind ja auch voneinander getrennt (und: „Das hier bist nicht du, und auch nicht ich“). Aus der Perspektive des Satori wird das Leid (und daher die Notwendigkeit des Mitleids) aber sowieso überwunden, indem eben alle Phänomenalität – auch die eigene – als „leer“ betrachtet wird. Auch der Geist imitiert diese Leere, imitiert dieses Nichts. Das Nichts ist wohl die letzte und ursprünglichste aller Kategorien. Während das Seiende durch etwas bedingt und abgeleitet scheint, scheint das Nichts und die Leere durch nichts bedingt. Zwar kann man, wie eben in der Tradition des westlichen Denkens, von einer „Substanz“ ausgehen, die ebenfalls unhinterfragbar in dieser Welt positiv vorhanden ist. Aber eine solche positive Substanz wäre etwas gleichsam Herrschendes, ein herrschendes Prinzip. Das Nichts und die Leere hingegen erscheinen nicht herrschend. Die Leere ist es vielmehr, in der die Dinge Raum und Möglichkeit finden, sich frei zu entfalten. Die Haltung des Zen, und der Geist des Satori, erfreuen sich grundsätzlich an dieser Stille der Leere. Die Natur der Dinge ist grundlegende, immerwährende Stille; offen und klar, ohne Grenzen und Begrenzungen. (Baozhi) Sie erfreuen sich daran, wenn aus dieser Leere des Urgrundes die Dinge in Erscheinung treten: ursprünglich und offen. Satori ermöglicht vor allem das schöpferische Gewahrwerden der Dinge in diesem Augenblick und Zustand. Es ist ein delikater Augenblick und ein delikater Zustand. Die Zen-Wahrnehmung nimmt Dinge dauernd in diesem delikaten Augenblick und Zustand wahr. Damit ermöglicht sie eine Art Über-Phänomenologie, innerhalb derer die Dinge nicht durch den rationalen Verstand einseitig beleuchtet und diskriminiert in Erscheinung treten, sondern vom Standpunkt eines Meta-Verstandes aus aus allen möglichen Blickwinkeln heraus gleichzeitig gesehen werden. Zeit spielt tatsächlich wenig Rolle mehr in dieser transzendentalen Perspektive, da auch das zeitliche Fortschreiten und Sichentwickeln der Dinge in der Augenblickswahrnehmung des Satori kondensiert ist. Vergisst du Bewegung und Stille und verweilst du in gelassener Heiterkeit, dann verschmilzt du spontan mit der Wirklichkeit, wie sie ist. (Baozhi) Somit ist man also in einer transzendentalen Ewigkeit angelangt, genauer in einem Reich, in dem auch die Zeit flexibel und fluid ist, und in der es, wenn nötig, jeder Zeitpunkt des Tages gleichzeitig ist. In der Dämmerung verkündet der Hahn den Tagesanbruch / Um Mitternacht verbreitet die Sonne ihren hellen Schein. (Zen Sand 10.150) Wie erlangt man gleichzeitig eine solche Intimität wie auch einen solchen Abstand zu den Phänomenen? Indem man sie bejaht, oder indem man sie verneint? Oder indem man ihnen gegenüber indifferent ist? Nun ja, natürlich indem man sie bejaht und verneint gleichzeitig. Dies ist die grundsätzliche Haltung des Zen. Wo Verleugnung und Bejahung der Sinne unaufhaltsam sich durchdringen / Sogar Buddhas und Patriarchen flehen da um ihr Leben. (Wu-men-guan) Bejahung und Verneinung, die sich durchdringen, ermöglichen drittens Abstand und Indifferenz. Das Satori ist kein Zustand der Verzücktheit und Entrücktheit. Vielmehr ist es einer der Beruhigtheit. Satori wird oftmals beschrieben als eine erhöhte Anschauung der Wirklichkeit, so wie wenn man die Wirklichkeit aus einem leicht erhöhten Winkel gegenüber der Alltagswahrnehmung wahrnehmen würde. Was aber hat man davon? Man hat davon, dass man erkennt, dass „Samsara und Nirwana nicht verschieden sind.“ Der rechte Weg und der Irrweg sind eins. Wenn wir über vollkommenes Wissen verfügen, erkennen wir, dass sich das Gewöhnliche und das Weise auf demselben Weg befinden. Verblendung und Erleuchtung sind ursprünglich nicht verschieden; Nirwana und Samsara sind eine einzige Soheit. (Baozhi) Das Satori ist gleichzeitig transzendent und immanent. Es verweist nicht darauf, dass die Erleuchtung und die Erlösung von Leid in einer jenseitigen, transzendenten Welt liegen, sondern in der diesseitigen Welt, die aber aus einer transzendenten, genau gesagt transzendentalen Perspektive aus betrachtet wird. Die Möglichkeit dieser transzendentalen Perspektive des Satori liegt aber in der Welt des Samsara selbst. Sobald es so etwas wie „Nirwana“ gibt, gibt es auch „Geburt und Tod“. (Baizhang) Leiden ist nichts anderes als Erleuchtung. Ohne Denken gibt es keine Objekte. Samsara ist nicht verschieden von Nirwana. Begierde und Zorn sind wie Flammen, wie Schatten. (Baozhi) Die phänomenale Unruhe in der diesseitigen Welt der Erscheinung und die absolute Ruhe in der transzendentalen Welt des Geistes sind nur zwei Aspekte derselben Wirklichkeit, und  Verblendung und Erleuchtung existieren im Grunde nicht, die Buddhas haben diese Begriffe nur als heilsame Hilfsmittel eingeführt, nachdem sie die Erleuchtung verwirklicht hatten. (Pu´an) Damit ist Satori und ist die Zen-Übung tatsächlich „nichts weiter“ als eine extrem meditative Versenkung in den totalen Charakter der Wirklichkeit – und dessen Imitation. Deswegen lautet ein Running Gag unter den Zen-Meistern auch: Durch die Erleuchtung habe ich wahrlich nichts dazugewonnen. Sowie, dass das Satori sehr einfach zu verwirklichen ist. Und äußerst schwierig. In der Sprache von Heidegger wird im Satori sowohl die Getrenntheit als auch die Einheit von diesseitiger und jenseitiger Welt, von Samsara und Nirwana, verwunden, unter sich gelassen. Boddhisattvas, die sich im Anfangsstadium befinden, erkennen zuerst, dass alles leer ist. Danach erkennen sie, dass alles nicht leer ist … Die Praxis der Bodhisattvas verwirklicht sich in der Leere. Wenn Anfänger Leere sehen, dann ist es ein Sehen der Leere; es ist nicht wirkliche Leere. Die den Weg gehen und wirkliche Leere verwirklichen, sehen weder Leere noch Nichtleere, sie haben keine Ansichten. (Daoxin) Oder, wie man es in der Sprache des Westens ausdrücken könnte: Zuletzt wird der Geist wie ein Ozean bei ruhigem Wasser: Windstöße diskursiver Gedanken fahren gelegentlich über seine Oberfläche, doch in der Tiefe gerät er nie aus der Ruhe. So kann man einen Bewusstseinszustand erreichen, den man „klares Bewusstsein“ nennt. In ihm ist der Geist vollkommen luzide, ohne ständig in diskursive Gedanken verwickelt zu werden. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.65)

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Es gibt … zwei Luftströmungen in der Welt: den Ostwind und den Westwind. Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Entweder der Ostwind übertrifft den Westwind, oder der Westwind übertrifft den Ostwind.“ Ich glaube, die Besonderheit der gegenwärtigen Lage besteht darin, dass der Ostwind über den Westwind die Oberhand gewonnen hat… vermutete Mao Zedong im Jahr 1957. Nun ja, die letzten Jahrhunderte zumindest hat der Westwind deutlich den Ostwind übertroffen. Das westliche Denken war erfolgreicher als das östliche. Warum sich also mit dem Zen-Buddhismus abgeben? Was er im Hinblick auf die menschliche Lebensbewältigung sagt und in Bezug auf Wahrheiten, die den Menschen subjektiv betreffen, ist sicher sehr sophisticated und wahrscheinlich nicht mehr überschreitbar. Da ist er wohl bei recht endgültigen Wahrheiten angelangt. Allerdings ontologisiert er diese Weisheiten, hält sie für die Welt selbst, und so wird seine Philosophie zweifelhaft. Vielleicht gibt es eine tiefere Wahrheit in der Physik, wonach alle Dinge, inklusive der Naturgesetze, emergente Phänomene sind, die aus einem rätselhaften Urgrund ursprünglich aufsteigen. Das wäre dann aber nur ein zufälliger Triumph für den Zen-Buddhismus, der zunächst einmal kein Weltbild offeriert, das mit den Wissenschaften in Verbindung steht, oder zum Betreiben der Wissenschaften (von sich aus, ohne äußeren Anstoß) einladen würde. Im Wesentlichen kennt der (Zen) Buddhismus (und das östliche Denken im Allgemeinen) eine chaotische Ontologie, in der er dann eine transzendente Harmonie hineininterpretieren will; er hat keine Vorstellung von einem Logos, der die Welt regiert, und den man anzapfen kann. In Japan begreift der Shintoismus die Ereignisse in der Welt als das jeweilige Ergebnis eines Ringens zwischen Göttern oder Geistern, also als etwas, im Wesentlichen, Zufälliges. Auch in diesem Weltbild gibt es keine eigentliche Stabilität, sondern nur „ewigen Wandel“, dem man sich fatalistisch unterwirft. Der Zen-Buddhismus versucht, auf eine tieferliegende Wahrheit draufzukommen, indem er seine Wahrnehmung subtiler macht, anstatt dass er dem Alltagsverstand, so wie Descartes, einfach vertraut. Er versucht, sich in eine „Verwandtschaft“ mit den Dingen zu setzen, anstatt dass er versucht, sie produktiv und zu seinem Zweck industriell zu manipulieren. Er ist eine kontemplative, passive Weltsicht. Er begreift die Dinge als wechselseitig voneinander abhängig, nicht aber über kausale Verhältnisse, oder eben Gesetzmäßigkeiten. Es herrscht im Osten eine Kreislauf-Zeitauffassung, oder aber, wie im (Zen) Buddhismus, gar keine wirkliche Zeitauffassung. Das Erbe der griechischen Antike, und mit ihm Logik, Dialektik, Beweisverfahren, kritische Methode, drang nicht in den Osten vor und blieb unbekannt. Chinesische Intellektuelle stellten zwar ähnliche Verfahren zur Wahrheitsermittlung an, wie die Intellektuellen im Westen, indem sie Für und Wider einer Sache betrachteten und gegeneinander abwogen, Vergleiche und Analogien anstellten und Vorgänger zitierten. Aber das Konzept der Beweisführung kannten sie nicht. Auch der Zen-Buddhismus beruht auf intuitiven Weisheiten, und nicht auf Beweisen. So wurden im Osten zwar Leistungen des Wissens erbracht, die aber voneinander isoliert blieben, und keine Wissenschaft an sich begründeten, inklusive wissenschaftlicher Methoden. Auch Erfindungen wurden, vor allem in China, gemacht, doch sie wurden nicht als Produktivkräfte nutzbar gemacht, und es entstand aus ihnen heraus kein abstraktes Verständnis für Technologie oder Industrie an sich. Übermäßig war vor allem in China und in Japan das Leben durch Riten und Zeremonien geregelt. Diese, gemeinsam mit einem ausgeprägten Ahnenkult, führten zu einer Überbewertung des Alten und des Althergebrachten. Sowohl China als auch Japan haben immer unter großem Druck gestanden, sich eine einheitliche Kultur zu schaffen und überzustülpen, um als politische Gebilde bestehen zu können. Den Konfuzianismus interessierten Familie, soziale Ordnung und (traditionelle) Erziehung als Bausteine eines wohlgeordneten Staats- und Gemeinwesens, nicht aber Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik. All das begünstigt einen oppressiven Konservatismus. Und die Vorstellungen von Harmonie und Einheit unterbinden den lebhaften Streit, und daher auch die produktive Auseinandersetzung zwischen Gelehrten, die für Europa typisch wurde, im Osten aber fremd blieb. Es heißt, Konservative seien glücklicher als progressive Menschen. Das halten sich die Buddhisten ja auch zugute. Erstaunlicherweise ist selbst heute, trotz all dem Habitus der Bescheidenheit und der Ich-losigkeit, bei Verfechtern der Weisheit aus dem Osten einiges an Hochmut und Selbstzufriedenheit im Spiel, wenn sie die Überlegenheit ihrer Weisheit darin sehen, dass sie „glücklicher“ und „weiser“ mache und eine integrale Weltsicht anbiete – während sich der „westliche Mensch“ unglücklich dauernd abhetze. Aus diesem Grund sind die meisten vom Verstand beherrschten Menschen neurotisch, Opfer von logischer Verwirrung und seelischer Spannung. (Suzuki: Leben aus Zen, Bern, Barth Verlag 1987, S.74) Ziel (des Buddhismus) war nie, die äußere Welt durch physikalische Einwirkung zu verändern, sondern durch die Schaffung besserer Menschen, indem man ihnen ermöglicht, ein inneres Wissen zu entfalten. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.135) Dabei wird auch immer wieder so getan, als ob die „Physik“ des Buddhismus richtig oder zur „westlichen“ gleichwertig wäre, also so als ob die Welt tatsächlich ein Geflecht von Wechselwirkungen usw. wäre (anstatt etwas kausal und durch Naturgesetze verbundenes). Robert Pirsig kommen auch moralische Zweifel an einer Weltsicht, die behauptet, dass alle harte Wirklichkeit „illusorisch“ sei. Als er einen östlichen Philosophieprofessor fragte, ob auch die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki illusorisch gewesen seien, und dieser „ja“ sagte, begann er, Weisheit woanders zu suchen, wie er in Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten berichtet. Wenn Bodhidharma lehrt: Alles Existierende ist leer, es gibt nichts, worauf wir hoffen könnten. Segnungen und Flüche folgen einander auf dem Fuße. Das Leben in der Welt ist wie ein Haus, das in Flammen steht, jede körperliche Existenz bringt Schmerz mit sich – wer könnte da in Frieden leben? So kann man eben den Schluss daraus ziehen, dass auch das, was uns zu schmerzen scheint, keine eigentliche Realität und Beständigkeit hat. Wenn wir diesen Punkt verstehen, dann lösen wir uns von allem Sein, dann hören wir auf zu denken und suchen nichts mehr. Die Schrift sagt: „Suchen ist Schmerz, Nichtsuchen ist Heil“. Nicht zu suchen ist die Praxis des Weges, also spricht man von der Praxis des Nichtsuchens, so Bodhidharma weiter. Und so könnte man universell zufrieden sein. Überall reichen die Lebensverhältnisse aus, um mit seinem Los zufrieden zu sein / Keinen Groll hegen, wenn die eigenen Fertigkeiten nicht wie die anderer Leute sind. (Hong-shi) Was aber, wenn das in der Praxis dann weniger zu einer lebensweisen Abgeklärtheit führt, sondern eher in eine stupide intellektuelle, emotionale und moralische Indolenz, an der sich ja auch (nicht nur) Bhagwan stößt? Speziell der Zen-Buddhismus bildet sich was darauf ein, nicht diskursiv zu sein, und nicht in Begriffen zu operieren, vielmehr ihnen grundsätzlich zu misstrauen. Das ursprüngliche, reine, strahlende Weltall ist weder viereckig noch rund, weder groß noch klein. Es ist ohne Unterscheidungen wie lang und kurz, ist jenseits von Bindung und Bewegung, von Unwissenheit und Erleuchtung. Du musst ganz klar sehen, dass es da wirklich nichts gibt – keine Menschen, keine Buddhas. Die großen kosmischen Systeme, zahllos wie Sand, sie alle sind nur wie Luftblasen. Alle Weisheit und alle Heiligkeit sind nur wie ein Blitzstrahl. Sie alle haben nicht die Wirklichkeit des Geistes… (Huang-po) Zwar wurde der Zen-Buddhismus ins Leben gerufen aus einer Frustration heraus über die theoretisierenden Haarspaltereien unter den buddhistischen Gelehrten. Doch übersieht er dabei, dass Begriffe, Kategorien, Theorien usw. essenzielle Instrumente sind, um die Wirklichkeit zu bewältigen. Die Auflösung der Subjektivität ist nicht nur philosophisch problematisch (wieso sollte die Welt eine universelle Struktur des subjektlosen, überindividuellen „Sehens“ sein, wo Sehen doch so deutlich auf einen subjektiven, in Raum und Zeit verorteten Standpunkt hinweist, von dem aus gesehen wird; wenn sich Dinge wechselseitig konstituieren, muss ja doch irgendwo ein Ursprung dafür verortbar sein; kann man tatsächlich davon ausgehen, dass mit dem Beginn meiner Wahrnehmung bei der Geburt und ihrem Ende beim Tod die Welt beginnt und endet, so wie das der Zen-Buddhismus in etwa tut, oder aber zumindest den Subjektivismus der menschlichen Erfahrung in die Vorstellung, wie die Welt an sich funktioniert überträgt, usw.). Sie ist auch problematisch, weil sie den Menschen an und für sich herabsetzt, ihn als bloßes Element innerhalb der Natur sieht, und nicht als herausragendes. Das alles ist freilich dem geschuldet, dass der Zen-Buddhismus in einem weit vorwissenschaftlichen, vielfach von einer animistischen Religiosität geprägten Zeitalter und in dementsprechenden Kulturräumen entwickelt wurde. Aber so hat eben auch der Zen-Buddhismus, trotz seiner zahlreichen hervorragenden Eigenschaften, einen problematischen Ballast. Wie alle Systeme neigt er dazu, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzusinken. Der Zen-Buddhismus ist ein sehr intelligenter Trick, um sich einen metaphysischen Lebensvollzug zu ermöglichen. Aber es kann sein, dass der Zen-Buddhismus, berauscht von seiner Intelligenz, auf seine eigenen Tricks reinfällt. Aber wie schwierig es ist, zur wahren Erleuchtung zu gelangen, wusste ja niemand besser als die Zen-Meister selbst. Oh, und sei gewissenhaft. Sei gewissenhaft! Von Tausenden oder Zehntausenden, die den Versuch machen, dieses Tor zu durchschreiten, gelingt es vielleicht vieren oder fünfen. Achtest du nicht auf meine Warnungen, dann wird mit Sicherheit ein Unglück folgen. (Huang-po)

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Das Reine Land ist nur Geist; es gibt kein Land außerhalb des Geistes. In diesem Land, das nur Geist ist, gibt es keinen Osten im Osten und keinen Westen im Westen – alle Himmelsrichtungen sind darin eingeschlossen. (Weizi) Was nun ist das Denken, das alle vier Himmelsrichtungen beherrscht? Na, es ist das westliche Denken. Allerdings ist seine Herrschaft leger und lose, viele Dinge entgehen dem westlichen Denken in der Welt, was wir aber wollen ist eine entschlossene und totale Herrschaft, den Griff einer eisernen Hand. Sowohl das westliche Denken als auch das östliche Denken sind voll mit guten Eigenschaften. Daher wollen wir das westliche Denken mit dem östlichen Denken überkreuzen; mit dem westlichen Denken gehen wir in die Breite, mit dem östlichen Denken gehen wir in die Tiefe. Mit dem östlichen Denken begreifen wir den Raum, mit dem westlichen Denken meistern wir die Zeit und den Fortschritt in der Zeit. Das westliche Denken, könnte man meinen, ist flach. Es verlangt scheinbar nach keiner Kultivierung des „inneren“ Menschen, es bringt nicht notwendigerweise „Weisheit“ mit sich und „Seelenruhe“. Es ist effizient, da es ein eindeutiges Denken ist. Befreites Denken aber ist vieldeutig, und kann mit einer Vielzahl von beweglichen Objekten operieren. Natürlich sind diese Behauptungen („unkultiviert“, „weisheitslos“ etc.) ein wenig ungerechtfertigt gegenüber dem westlichen Denken. Wir machen das hier auch hauptsächlich, damit wir einfacher Unterscheidungen treffen können (abermals: die Buddhas haben diese Begriffe nur als heilsame Hilfsmittel eingeführt, nachdem sie die Erleuchtung verwirklicht hatten.)

Das westliche Denken ist nicht unbedingt ein fühlendes Denken (es herrscht tatsächlich eine scheinbare Trennung von Körper und Geist wie bei Descartes). Damit gehen ihm gewisse Dimensionen und Zugänge vielleicht, wahrscheinlich ab. Das Denken des Zen ist im Vergleich dazu eher ein Weltgefühl. Descartes` Ausspruch “Cogito, ergo sum” hieße nach Bankei: “Sento (oder percipio), ergo sum”, und wenn dieses “sum” in seinem tiefsten Sinn erfasst wird, haben wir das Ungeborene. (Suzuki: Leben aus Zen, Bern, Barth Verlag 1987, S.145) Was allerdings ist Denken genau, und was Fühlen? Wo hört das eine auf, und beginnt das andere? Man weiß, das ist nicht klar, und wahrscheinlich gibt es auch kein universelles Modell, beides voneinander in jeder Person abzugrenzen. Mein eigenes Bedürfnis, in die Welt einzudringen und die „Tiefenstruktur der Wirklichkeit“ anzuschauen, geht auch mit einem Gefühl einher, die Wahrnehmung penetrierend zu machen und mich in was hineinzustürzen – es sind körperliche Sensationen, die da in mir (mit)arbeiten. Es zieht mit etwas in meinem Körper in die „Tiefenstruktur der Wirklichkeit“ hinein. Dass die Welt ganz einfach über gefühlloses analytisches Begriffszergliedern durchdringbar wäre, auf das komme ich zunächst einmal nicht.

Analog vielleicht dazu gilt das Wissen des Ostens als synthetisch und holistisch, das des Westens als analytisch; der Westen beachtet die Details, während der Osten das Ganze beachtet. Das könnte man auf einen Unterschied im Weltgefühl zurückführen. Im Osten sind die Gesellschaften kollektivistisch, im Westen sind sie individualistisch. Es ist sicher gut, wenn man sowohl analytisch als auch synthetisch denken kann. Wenn man sowohl das Ganze vor Augen hat, allerdings auch die Details dazu ausarbeiten kann, so dass das Ganze dann auch funktioniert. Es ist die grundsätzliche menschliche Verfasstheit, sowohl ein Individual- als auch ein Kollektivwesen zu sein. Und es ist die grundsätzliche Aufgabe im Leben, beide Aspekte sinnvoll zusammenzubringen: das ist die Moral von der Lebensgeschichte. Der Mensch sollte sowohl entlang seiner Achse als Individualwesen erfüllt aufgehen, als auch entlang der, wo er Kollektivwesen ist. „Gut zu sich selbst und zu anderen sein“, gilt allgemein als der Sinn der Existenz. So gesehen, gilt es also, im „Osten“ aufzugehen, als auch im „Westen“.

Allerdings ist der Zen-Buddhismus keine Gefühlsduselei oder Romantik. Er beruht eher auf intuitiven Einsichten, auf einem intuitiven Stürzen ins Dasein hinein. Stets betont der Zen-Buddhismus, er misstraue dem begrifflichen und rationalen Denken. Er fasst das als Hindernisse, um zur letzten Wirklichkeit vorzudringen – die für ihn ja nicht durch einen Logos bestimmt ist und eine Vernunft oder Gesetzmäßigkeiten, die vernünftig erfassbar sind. Vernunft und Begriffe sind daher für ihn Instrumente, die in der Welt von Menschen erzeugt werden, daher keine letztgültigen Wirklichkeiten. Die Methode des Koan ist im Zen-Buddhismus dazu da, um die Vertrautheiten des rationalen und begrifflichen Denkens aufzulösen. Das Koan ist ein Sinnspruch oder eine Anekdote, die mit rationalem Denken nicht aufzulösen ist. Neben der Meditation ist das Koan die zentrale Methode, um zum Satori zu gelangen, zur Erkenntnis der letzten Schicht der Wirklichkeit. Wenn man aber an den Enden der Welt anlangt, wird man nun tatsächlich (auch im westlichen Denken) auf Zustände und Zusammenhänge treffen, die nur mehr über Paradoxien oder als Aporien beschreibbar sind. Man trifft da auf eine Leere, die gleichzeitig eine Fülle ist; ein Leben, das gleichzeitig Tod ist; ein Nichts, das gleichzeitig Potenzial ist; ein Sein, das gleichzeitig ein Werden ist usw. Kurz: die Enden der Welt und die Grenzmarkierungen des Denkens lassen sich auf keine eindeutigen Begriffe bringen. Das westliche Denken hat das immer versucht und hat damit Begriffsfetischismen in die Welt gesetzt und sich im Abarbeiten dieser Begriffe (wie Substanz. Seele, Anfang und Ende, Gott usw.) möglicherweise (jahrhundertelang) auf (natürlich auch produktive) Abwege begeben. Begriffe sind eindeutig, aber Phänomene sind oft nicht eindeutig. Das Koan ermöglicht nun eine Art dynamisches Verständnis von der Welt, in dem auch die Gegenstände des Denkens ineinander übergehen. Weil Paradoxien und Aporien in der Welt sind, baut Satori das Paradox gleich in sich selber ein. Genau gesagt: es beherrscht das Paradox und die Aporie, indem es sie von einer Metaebene aus betrachtet. Dem bedeutenden Menschen ist, wie man sagt, nichts Menschliches fremd. Der Zen-Meister überbietet das dann noch einmal, indem er selber zusätzlich noch paradox wird, und daher unendlich dynamisch. So ist er gleichzeitig in ständiger Rotation als auch in ständiger Ruhe. Sein Verhalten ähnelt einem lodernden Feuer, einem wütenden Brand u. dergl.

Damit ist der Zen-Mensch komplex, er führt aber diese Komplexität in eine große Einfachheit über. Umgekehrt erfreut er sich an der Komplexität, die er auch im Einfachsten erblickt. Komplexität stiftet unter gewöhnlichen Menschen Verwirrung. Der Zen-Mensch stiftet (so wie auch der westliche Philosoph!) Verwirrung, um eine neue Einfachheit zu ermöglichen. Der alte Zhao-zhou! Der alte Zhao-zhou! / Unruhe in den Zen-Klöstern zu stiften – noch im hohen Alter hört er nicht damit auf! (Hong-zhi) Komplexitätsmanagement ist eine große Sache im Westen. Mit dem westlichen Denken kann man zunächst komplizierte Probleme lösen. Kompliziert, das heißt: etwas ist schwierig, aber (theoretisch) lösbar. Komplexität hingegen ist ein (quasi) dynamisches Zusammenspiel von Faktoren, die sich ständig gegeneinander verschieben und neu aufeinander ausrichten. Eine Komplexität ist nicht „lösbar“. Man kann versuchen, sie zu bemeistern, ihre Bemeisterung ist eine Art Management und eine Kunst. Das Problematischste beim Management von Komplexität sind immer wieder Verhärtungen des Denkens bzw. der persönlichen Haltung; die Vorstellung, ein komplexes System habe so oder so zu funktionieren, oder sich so oder so zu verhalten, wenn man auf eine bestimmte Weise in es eingreift. Starre Vorstellungen oder ein starres Ego sind aber nichts, was das östliche Denken begünstigt. Während die Intelligenz des Westens technisch und abstrakt ist, ist die des Ostens eine situative Intelligenz. Die richtige Haltung, um den Weg zu praktizieren, besteht im vollkommenen, spontanen Sichfügen. (Minghen) Die westliche Intelligenz betont heute selber immer wieder, dass sie der „Komplexität“ der heutigen Gesellschaft und Welt nicht mehr gewachsen sei, und sie nicht mehr total verstehe. Ich bin dafür, dass man einfach selber so komplex wird, dass die eigene Komplexität die der ganzen Welt übersteigt. Wie kann man das tun? Wohl indem man östliches Denken und westliches Denken überkreuzt. Nur wer vollkommen frei ist von Begriffen, kann einen Körper von unendlicher Ausdehnung haben. (Huang-po) Was aber ist die Komplexität gegen die Unendlichkeit? Nun ja, die Komplexität ist unabschließbar: also ist die Unendlichkeit der einzig adäquate geistige Raum, um Komplexität zu prozessieren.

Nicht-begrifflich ist das Zen-Denken auch, weil es durchaus irgendwie bildhaft ist und auf einer Art Anschauung (und nicht: Analyse) der Welt beruht (auch wenn es „keine Anschauungen mehr haben“ als letztes Ziel kennt). Damit ist man dann gleichsam beim Ästhetischen. „Satori“, ein Anschauen einer tieferen Wirklichkeit, wenn nicht sogar der „ultimativen“ Wirklichkeit, scheint sich auch in gelungener Kunst aufzutun: welche Anschauungen liefert, wofür die Philosophie Begriffe liefert. Die Dramen von Beckett, die Gemälde von Velazquez, Vermeer oder Mondrian, die Filme von Tarkowski oder Antonioni: Machen sie nicht den Eindruck, als blicke man mithilfe ihrer aus einer Art Satori-Perspektive auf die Welt? Sie scheinen das Ergebnis einer gewaltigen, gleichsam meditativ-intellektuellen Versenkungsleistung, jemand hat sich durch die Welt durchgetunnelt und schleudert Zeichen empor, die er am Urgrund gesehen. Und er kennt die Verbundenheit und den Sinn aller Zeichen. Ein durchdringendes, integrales Weltgefühl, eine totale Weltanschauung kommt darin zum Ausdruck.

Umgekehrt sind die Texte der Zen-Meister, die Erleuchtung erfahren haben, große Kunst und Literatur, eine wahrhaft poetische Literatur und Prosa. Zwar behauptet der Zen-Buddhismus stets, „nicht begrifflich“ und nicht diskursiv zu sein. Aber in Wahrheit ist er in seinen Lehren sehr beredt. Es ist allerdings tatsächlich eine Prosa und auch eine Lyrik, die fundamental von der uns bekannten verschieden ist. Keine überflüssigen Reden gibt es, die Bezeichnungen sind fest, gleichzeitig scheinen sie aber auch ewig dynamisch. Sie sind somit tatsächlich poetisch (das bedeutet: aus dem Nichts und ursprünglich hervorgebracht). Die Sprache des Zen-Buddhismus hat eine große, nicht mehr hintergehbare Gewalt über sich. Es ist aber keine angestrengte Gewalt, sondern gleicht eher einer Konsequenz, die in sich selbst liegt. Oder eben einer Satori-Sprache.

Überhaupt die Wahrnehmung des genuinen Poeten, des Genies: Das Genie sitzt vor der Wand, wo sich die Erscheinungen abspielen, kausal als auch akausal, verbindlich und unverbindlich, und erfreut sich an diesem halb zweckhaften, halb zwecklosen Spiel. Es hat dann Einsichten, die scheinbar „aus der Tiefe“ stammen. Mit bloßer „Kreativität“ oder „Originalität“ ist das nicht zu beschreiben, denn über dergleichen verfügen andere auch. Das Genie ist darüber hinaus profund und penetrierend. Auch das Genie scheint über Satori zu verfügen. Das Genie verfügt über eine außergewöhnliche Flexibilität und Fluidität des Geistes: so wie es eben das Satori bewirkt. Das Genie scheint in eine Art zusätzliche Dimension zu blicken: und daher in eine Über-Phänomalität. Die Phänomene werden in dieser Phänomenologie auch nicht diskriminiert wahrgenommen, sondern in ihrer Reinheit, Ganzheit, Ursprünglichkeit und Verwobenheit miteinander. Wie Schopenhauer sagt, verfügt das Genie über eine reine, objektive Anschauung der Dinge, die dabei nicht dem Willen unterworfen ist: so wie eben im Satori auch nicht. Auch das Genie ist der Gegenbegriff zu einem verdinglichenden, seinen Gegenstand vereinnahmenden Denken. (Freilich hängt am Genie auch noch ein Mensch dran, der vom Temperament dann dazu ganz verschieden sein mag, aber das betrifft nicht den Geist und die Grunddisposition des Genies.)

Das westliche Denken kann keine Sinnfragen lösen, sondern setzt, in seiner eigentlichen Konsequenz, das Subjekt auf den Thron der Welt. Das Subjekt braucht, so gesehen, keine rätselhaften Sinnfragen mehr beantworten, denn es selbst ist ja der höchste Sinn weit und breit. Aller anderer Sinn in der Welt ist bestenfalls gegenüber zu seinem eigenen ein minderwertiger, eigentlich ein Infra-Sinn. Trotzdem ist auch ein solches Subjekt in Zusammenhänge eingebettet, deren Sinn sich ihm kaum erschließt, die rätselhaft sind, die älter sind und überdauernder als das Subjekt. Die Basis für eine Metaphysik ist nach wie vor gegeben: also hinsichtlich der Frage, welchen „Sinn“ das Subjekt in Relation zum Objektiven hat, und gegenüber sich selbst bzw. umgekehrt. Und so scheint der westliche Mensch idealtypisch auf einer ständigen Sinnsuche, auch mit dem Mittel seiner westlichen Wissenschaft. Die Wissenschaft ist im Wesentlichen analytisch und hat daher die Neigung, sich in der unerschöpflichen Komplexität der Erscheinungen zu verlieren… während Zen Prinzipien formulieren will, die allem Wissen zugrunde liegen. (Revel/Ricard: Der Mönch und der Philosoph, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999, S.246) (wenngleich Descartes das ja auch wollte). Das Zen-Wissen hingegen ist ein vollständiges metaphysisches Wissen.

Das westliche Denken setzt, entlang seiner Denkbahn, das Subjekt in das Zentrum der Welt. Doch das östliche Denken und das Satori ergreift die transzendentale Subjektivität, in der Ursprünglichkeit seiner Wahrnehmung. Die transzendentale Subjektivität in der westlichen Philosophie bedeutet die Bedingung der Möglichkeit, das wahrnehmende Subjektivität sein kann; es ist eine Reflexion, ein Bewusstsein über das Bewusstsein.  

Mit dem westlichen Denken ermächtigt sich das Subjekt selbst, setzt Kräfte in die Welt und multipliziert und potenziert diese. Darauf kann es sich schon was einbilden (und sich mächtig fühlen). Aber über das Satori kommt man mit der ganzen Grundstruktur der Wirklichkeit zur Deckung: das ist dann jenseits von Machtgefühl, sogar von Freiheitsgefühl (man hat dann sowohl in Bezug auf ein Machtgefühl oder ein Freiheitsgefühl keine Ansichten mehr).

Mit dem westlichen Denken kann man kausale Ketten bilden und ein wenig, dafür effektiv in die Zukunft sehen. Allerdings reichen die kausalen Ketten nur über zwei, drei Ecken, dann ist ihre Kraft erschöpft bzw. diffundiert. Mit dem Satori hingegen sieht man nicht über zwei, drei Ecken, sondern man sieht den ganzen Schaltplan. Man kann zwar, über das Satori allein, keine Kausalketten bilden, aber es überrascht einen nichts mehr, was in der Zukunft oder um die nächste Ecke passiert. Über das Satori sieht man den Phasenraum, eine abstrakte Dimension, in der alle möglichen Zustände eines dynamischen Systems abgebildet sind. Mit dem westlichen Denken berechnet man. Aber mit der Flexibilität und Anhaftungslosigkeit des östlichen Denkens berechnet man den Zustand der Welt mit jedem Augenblick neu.

Die Zen-Wahrnehmung betrachtet die Wirklichkeit als ein „Feld“, in dem die Dinge miteinander verbunden sind. Gleichzeitig erfreut es sich über das ursprüngliche Aufsteigen der Phänomene aus dem Urgrund der Leere (diesem Moment, diese Augenblicksverfassheit festzuhalten und zum Ausdruck zu bringen ist das große Ziel vor allem in der japanischen Kunst: der Tuschezeichnung, dem Haiku-Gedicht, dem No-Theater). Die Grundstruktur der Welt ist: ein Motiv erscheint vor einem Hintergrund. Inwieweit verweist das Motiv und der Hintergrund aufeinander, inwieweit sind sie vielleicht auch recht verschieden? Artikuliert das Motiv den Hintergrund, oder umgekehrt? Vielleicht ist es so, dass das „westliche“, analytische Denken das Motiv in den Blick nimmt, während das „östliche“, synthetische Denken eher den Hintergrund betrachtet. Damit sind sowohl das östliche als auch das westliche Denken „diskriminierende“ Sichtweisen, denn sie diskriminieren entweder Motiv oder Hintergrund. Mit dem Satori könnte man lernen, sehr flexibel ständig zwischen Motiv und Hintergrund zu switchen und so eine große geistige (und persönliche) Flexibilität und Fluidität zu verwirklichen. Mit dem westlichen Denken könnte man begreifen, dass der Hintergrund keine „Leere“ oder ein kontingentes Geflecht von Phänomenen ist, sondern Sinn hat, ein rationaler Verweisungszusammenhang ist, der Ausdruck eines Logos. Ein solches Denken sollte dann fähig sein, die Unendlichkeit zu sehen. Diese Unendlichkeit wird dann keine zen-buddhistische Leere sein, sondern, im Geist der Wissenschaften und des Fortschreitens in der Zeit, eine Art fraktale Geometrie. Man blickt so gleichermaßen an Anfang und Ende der Zeit, fasziniert sich aber doch an den innerzeitlichen Prozessen und berechnet sie. Ist eine größere Vervollkommnung möglich? Kannst du das übertreffen, kann überhaupt der Buddha das übertreffen?

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Gewaltige Wogen folgen aufeinander, gischtspeiende Brecher überfluten den Himmel. Wer ist im Besitz der strahlenden Perle, die die Ozeane zu beruhigen vermag? (Yijing) Wie sich mittlerweile auftut, haben die Menschen im Osten und die Menschen im Westen verschiedenen Hirnstrukturen. Diese Hirnstrukturen haben sich durch jahrhundertelange Enkulturation jeweils ausgebildet. Die Zen-Übung arbeitet schließlich auch auf eine Änderung der Hirnstruktur hin. Was gleichzeitig leicht sein mag, aber, und vor allem eben auch schwierig. Die Hirnströme bei Meditierenden laufen anders; die von Menschen, die in der Meditation sehr geübt sind, sogar ganz anders als die von herkömmlichen Menschen. Wollen wir nicht alle das Superhirn erreichen, die Superintelligenz? Wenn aber westliches und östliches Denken zusammenkommen, so entsteht sicherlich das totale Denken. An die Stelle des logischen oder des dialektischen Denkens, des rechnenden Denkens oder des kritischen Denkens oder des rhizomatischen oder des besinnlichen Denkens – anstelle des „westlichen“ und des „östlichen“ Denkens – will ich also das TOTALE DENKEN setzen, das all das zusammendenkt. Es ist überhaupt Denken, Sinnlichkeit und Fühlen gleichermaßen. Die Wirklichkeit ist eine Totalität, also muss auch das Denken total werden, um der Wirklichkeit angemessen begegnen zu können.

Das Bewusstsein dieses Denkens, die Wahrnehmung dieses Denkens, wird das Einheits-Bewusstsein sein, eine totale, dichte, halluzinatorisch-luzide Sicht auf die Wirklichkeit, eine demokratische, nicht-diskriminierende Sicht auf die Wirklichkeit, das auch das Paradox und die Aporie verwunden hat. Es ist Denken und Meta-Denken zugleich, und es ist eine Luzidität, die gleichzeitig in diese Welt blickt, als auch in alle möglichen anderen. Die Metaphysik und die Sphäre des Idealen reichen in diese physische und physikalische Welt sowieso herein. Warum also nicht so total denken, dass es real und ideal ist, physikalisch und metaphysikalisch? Das eine ist der Wirklichkeitssinn, das andere der Möglichkeitssinn. In einer platten Sprache ist das eine Intelligenz, das andere die Kreativität. Im totalen Denken treffen sie sich in einer einheitlichen Sphäre.

Die Intelligenz nimmt Dinge ernst. Die Kreativität erlaubt ein Spiel, das ein wenig unernst ist. Das Geheimnis des totalen Denkens ist, dass es alle Dinge ernst nimmt. Und gleichzeitig kein Ding vollständig ernst nimmt. Es ermöglicht Statik und Dynamik gleichermaßen. Statik und Dynamik, statische und dynamische Zusammenhänge, sind die Grundstruktur, die Koordinatenachsen der Welt. Damit hat das totale Denken auch in der Hinsicht die Welt im Kopf.

Oh ja, ganze Universen entstehen vor dem geistigen Auge des totalen Denkens, und — aber das totale Denken weiß sich auch zu beschränken. Es ist nicht allein großer – und legitimer – Bombast, sondern gleichzeitig auch was sehr Kleines und Feines; ein Geheimnis. Während alle Welt lärmt und schreit – und vor allem: rasselt! – hockt das totale Denken bescheiden in einer Ecke; wie alles Denken vollzieht es sich zunächst heimlich und schweigend. Anstatt enervierend zu rasseln arbeitet das totale Denken sich selbst lieber genau und detailliert aus und präsentiert eine fein säuberliche Arbeit. Alle Dinge auf der Welt sind groß und klein zugleich, also ist auch das totale Denken groß und klein zugleich: damit imitiert es die Verhältnisse in der Welt.

In diesen Rätseln spreche ich es nun aus: die Botschaft vom totalen Denken, das alle vier Himmelsrichtungen beherrscht. Ich habe hier aber auch eine genaue Betriebsanleitung dafür endlich detailliert dargetan. Die ganze Sache ist so klar wie der Tag.

Lichtscheues Gesindel, das lieber auf seinen kriminellen, krummen Pfaden wandert, mag die Helle des Tages, und des totalen Denkens und des Einheits-Bewusstseins, wahrscheinlich meiden. Entkommen tut es ihm aber nicht.

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Westen und Osten sind dabei übrigens nicht alle vier Himmelsrichtungen. Es erscheint mir notwendig, auch das „nördliche“ und das „südliche“ Denken zu reflektieren. Während aber das westliche Denken Philosophie und Physik ist und das östliche eine Metaphysik, scheint es mir entlang der anderen beiden Himmelsrichtungen ein mythologisches (oder religiöses) Denken zu sein. Mythologisches Denken ist, in der einen oder anderen Form, überall in der Welt vorhanden, auch in den so genannten aufgeklärten Vernunftgesellschaften. Mythologisches Denken ist allerdings weder philosophisch noch physikalisch noch metaphysikalisch und scheint als nicht in solche Sprachen übersetzbar. Es erscheint als Pathologie des Subjekts, das sich viel zu wichtig nimmt, und keine eigentlichen, verbindlichen, rationalen Objektivitätsansprüche neben sich gelten lassen will. Aber wir müssen es trotzdem beachten und ernst nehmen, vor allem in einer Zeit, wo auch die aufgeklärten Vernunftgesellschaften (angeblich) anfälliger werden für Irrationalismen und Mythologien. Ich freue mich, dass ich diese nunmehr jahrelange Arbeit am „westlichen“ Denken und „östlichen“ Denken und wie sich beides vereinigen lässt, mit diesem Stück jetzt scheinbar endlich fertig systematisiert habe. Die nächsten paar Jahre werde ich mich also unter anderem dem mythologischen Denken widmen, und vor allem, wie bestimmte Kulturräume bestimmte Vernunfttypen hervorbringen.

Gedanken zu Pascal

Atheismus ist das Zeichen eines starken Geistes – aber nur bis zu einem gewissen Grade.

Gedanke 69

Es ist wahr, dass es Qual bereitet, wenn man in die Frömmigkeit eingeht. Aber die Qual kommt nicht aus der Frömmigkeit, die in uns zu entstehen beginnt, sondern aus der Gottlosigkeit, die noch in uns ist.

Gedanke 764

1 Schau, ein gähnender, weiter Schlund tut sich auf: das ist der Abgrund der Existenz. Sturmumweht, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen kämpft sich der Wanderer mühevoll den Weg durch die ewige späte Dämmerung, während es rings um ihn saust und braust. Im späten November hofft er, in das bescheidene Zentrum von all dem vorzustoßen, eine kleine Hütte, in der das Licht brennt und in der es ein wenig warm ist. Doch der Weg ist weit und von ringsumher scheinen Gespenster zu pfeifen. Jetzt wieder eine Böe – die Wanderin duckt sich und zieht die Mütze tiefer ins Gesicht. Gegen die Brandung ruft sie verzweifelt, doch entschlossen: „Wunden erlitt ich im Kampf für die Freiheit unseres Landes, dies Auge verlor ich im Kampfe für euch; gebet mir einen Führer, der mich zu meinen Kindern führe, denn zerhaunes Kniegelenk trägt den schwachen Leib nicht mehr.“ Und tatsächlich — aber was stammle ich da daher? Bin ich denn der einzige, der die Existenz kennt, das heißt, eine schwache, laienhafte Vorstellung davon hat? Lassen wir doch denjenigen beredt sein, welcher in den Abgrund der Existenz viel tiefer geblickt, und der sich viel eloquenter auszudrücken weiß!

2 Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich in einem Winkel dieser unermesslichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und jener, die mir folgt. Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann. (Gedanke 1) Der aber, der das so sagt, ist Blaise Pascal.

3 Die Existenz ist einerseits absolut, andererseits relativ, entwickelt sich über die Kontingenz, kommt aus der Nicht-Existenz und verschwindet in der Nicht-Existenz. Sie ist instabil, bedroht und relativ. Wir stellen uns aber vor: eine Mauer des Absoluten, an der die relative Existenz sinnvoll anschlägt und eine sinnvolle Begrenzung findet. Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das verschlungen ist in die Ewigkeit, die ihm vorausging und die ihm folgt, den geringen Raum, den ich ausfülle, und selbst den, den ich sehe, der in der grenzenlosen Unendlichkeit der Räume versinkt, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, dann erschrecke ich und wundere mich, dass ich mich hier sehe und nicht dort, warum jetzt und nicht irgendwann. Wer hat mich dahin gestellt? Durch wessen Befehl und Führung sind dieser Ort und diese Zeit für mich bestimmt worden? Memoria hospitits unius diei praetereunitis. (Gedanke 14) Dieses Absolute mag da sein: Gott. Dieses Absolute mag da sein: die Religion.

4 Das ist unser wahrer Zustand. In ihm sind wir unfähig, sicher zu wissen und absolut nichts zu wissen. Wir treiben über einen weiten Mitten-Raum dahin, stets unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen getrieben. Wo immer wir an eine Grenze zu geraten und festen Fuß zu fassen vermeinen, gerät sie in Bewegung und entgleitet uns; wenn wir ihr folgen, entzieht sie sich unserem Griff, entschwindet uns, in ewiger Flucht vor uns. Nichts bleibt vor uns stehen. Das ist der Zustand, der uns natürlich ist und trotzdem zu unseren Neigungen im größten Widerspruch steht; wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf. (Gedanke 315)

5 Religion bedeutet: „Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt in der Befolgung der Regeln und Zeichen“. Nehmen wir an, das was außer uns liegt, was älter ist als wir, was die Metaphysik unserer Existenz anlangt, sind Regeln und Wahrheiten; ist eine (von uns unabhängige) Ordnung. Dann verleiht das unserer Existenz eine grundlegende Solidität. Das tut die Religion und tut der religiöse Existenzialismus, deren Prototyp Pascal ist.

6 Beim nicht-religiösen Existenzialismus hingegen ist der Mensch mit dem Nichts konfrontiert und der Abwesenheit von höherer Wahrheit; das andere zur Existenz ist also nicht Gott oder die Wahrheit, oder das Ideal, sondern das Nichts, oder das Chaos, die Instabilität, die Unzuverlässigkeit. Das eröffnet gewisse Perspektiven und Flexibilitäten, die der religiöse Existenzialismus so nicht (zumindest nicht unmittelbar) hat.

7 Aber auch wenn Gott tot sei, ist es doch der nicht-religiöse Existenzialismus, dem vergleichsweise das Überzeitliche und die Gravität zu fehlen scheinen (Sartre als Erscheinung des Zeitgeistes der 1950er Jahre zB). Er scheint eine dünne Suppe und löst sich schnell auf, ist schnell gegessen. Seine avantgardistischen Weisheiten von damals sind heute längst Trivialitäten. So verliert er seine Konsistenz. Betrachte im Gegensatz dazu, wie fest der Mensch bei Kierkegaard angespannt ist, beinahe bis zum Zerreißen! Diese Spannung hält bis heute an, und wird auch nie nachlassen. Denn bei Kierkegaard und seinem religiösen Existenzialismus ist die relative menschliche Existenz nicht an das nihilistische Nichts gebunden, sondern an das absolute Alles, an die Instanz Gott. So zittern diese Stahlseile in der Ewigkeit. Die Erregung über diese Spannung zwingt mich, die Feder niederzulegen. Ich vermerke nur noch schnell: Der Prototyp des religiösen Existenzialismus aber ist Pascal.

8 Neulich stoße ich auf einen linken, subversiven Theorieversuch. Linke, subversive Theorieversuche, fällt mir auf, leugnen immer wieder gerne, dass es tatsächliche Wahrheit und Verbindlichkeit gäbe. In einem naseweisen Gestus entlarven die linken, subversiven Frevler alles, was solide und von offenbar höchster Materialität ist, als „Konstruktion“, die im Rahmen von „Praktiken“ etabliert werde, und hinter denen, in der eigentlichen Instanz, ein bloßer Willensakt, eine bloße Willkür der „Macht“ und „Herrschaft“ stecke. Aber das sei eine Täuschung und in Wirklichkeit lösten sich diese Materialitäten gleichsam in Luft auf. Und die linke, subversive Theorie kämpft gegen die etablierte „Macht“ an, um sie zu stürzen, und dann, wie sie meint, einen unendlichen Raum der spielerischen Möglichkeiten zu eröffnen, wie Dinge und Verhältnisse sein können bzw. wie sie ausgestaltet werden können. Ihre Haltung, nirgendwo Wahrheit zu vermuten, steht damit im Zusammenhang, dass sie das, was etabliert ist und was „herrscht“, delegitimieren will, ihm den Boden – sogar den metaphysischen Boden – unter den Füßen wegziehen will. Wenn die linken, subversiven Theoretikerinnen, die Lenins, dann aber selbst an der Macht sind – und das ist es ja, was sie gemeinhin wollen – , was sagen sie dann plötzlich? Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist! Dann heißt es plötzlich nicht mehr: Eine andere Welt ist möglich! ach was, viele andere Welten sind möglich! Oder: Das „System“ – in dem Fall das kommunistische System – kann ganz einfach durch ein anderes System ersetzt werden! Nein, so spielerisch geht es dann auf einmal nicht mehr zu. Dann beginnt ein neues Zeitalter doktrinärer Wahrheiten.

9 Will also sagen: Ohne die Vorstellung von Wahrheiten und von Verbindlichkeiten, von Idealen usw. kommen wir doch schwer aus. Ich selber bin ja extrem subversiv und rufe zur Revolution auf. Ich mag die Radikalität und ich schaue gerne diversen Arschlöchern zu, wie sie alles durcheinanderwerfen und die Stühle fliegen lassen. Aber ich habe auch eine ausgeprägte Ehrfurcht in mir und ein natürliches religiöses Sentiment. Ich verstehe die Ideale und ich verstehe das Heilige. Und so erblicke ich im Universum eine große Ordnung, der ich mich ehrfürchtig unterwerfe, oder eigentlich nur: die ich ehrfürchtig anschaue, und der ich positiv gestimmt und vertrauensvoll entgegentrete. Chaos und Revolution mag ich nur auslösen, um einen unbefriedigenden Zustand in eine neue Harmonie hin zu überführen. Ganz offensichtlich ist auch das Weltall eine Ordnung (und daher eine dahintersteckende Wahrheit). Ganz offensichtlich ist auch das Weltall ein Raum mit Freiheitsgraden und ein Ort des Chaos. Es ist ein Chaosmos. Ich bin grundsätzlich mit dieser Welt zufrieden, so wie sie ist. Und so mag ich sowohl die Ordnung, die ich spiritualisiere, und die Freiheit, die mir natürlich erscheint. Andere, wie zum Beispiel Pascal, waren mit der Welt, wie sie ist, nicht zufrieden, und so lehnen sie entweder das eine oder das andere ab. Ich glaube nicht, dass das richtig ist.

10 Die kürzlich verstorbene russische Komponistin Sofia Gubaidulina meinte: Ich bin überzeugt, dass die Kunst Hauptwurzeln hat, ob heidnisch oder ob es irgendwelche anderen Konfessionen betrifft, und zwar auf einer Dimension, die uns verbindet. Mit Vollkommenheit, absoluter Wahrheit, die unerreichbar ist, aber immer existiert. Wahrheit ist etwas nicht bloß logisch oder rational Erfassbares, sondern auch etwas Spirituelles. Wenn man sich eingehend mit Dingen, die Hand und Fuß haben sollen, beschäftigt, so wie die Gubaidulina, gelangt man in einen spirituellen Raum, in einen intuitiven Raum, wo das Verhältnis zur Wahrheit spiritualisiert wird. Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott, meinte Werner Heisenberg, der Entdecker der Unschärferelation.

11 Es gibt einen langen, seltsamen Kampf, wenn die Gewalt die Wahrheit zu unterdrücken sucht. Doch alle Anstrengungen der Gewalt können die Wahrheit nicht schwächen und dienen nur dazu, ihren Glanz zu erhöhen. Alles Licht der Wahrheit vermag der Gewalt keinen Einhalt zu tun, es reizt sie nur noch mehr in ihrem Zorn. Wenn Macht gegen Macht kämpft, dann vernichtet die stärkere die schwächere; wenn Rede gegen Rede steht, dann wird die wahrheitsgetreue und überzeugende die zuschande machen, die nur Eitelkeit und Lüge ist. Gewalt und Wahrheit aber vermögen nichts gegeneinander. Jedoch ist daraus nicht zu folgern, sie seien einander ebenbürtig. Es besteht vielmehr zwischen ihnen die große Verschiedenheit, dass die Gewalt nur begrenzte Dauer hat, da Gottes Ordnung ihre Wirkungen zum Ruhme der angegriffenen Wahrheit lenkt, während die Wahrheit ewig währt und schließlich den Sieg über ihre Feinde davonträgt, weil sie wie Gott selber ewig und allmächtig ist. (Zwölfter Brief an die Provinz)

12 Man meint, und verzweifelt gemeinhin: Wahrheit und Moral seien in „der Welt“ machtlos und richten dort beide nichts aus. Tatsächlich ist die Sphäre der Wahrheit und der Moral eine andere als die ganz unmittelbare Welt der Taten: sie bildet eine Welt des Ideals! Allerdings ist diese Sphäre der Ideale von der realen Welt gar nicht abgehoben, sondern wirkt, genauer betrachtet, überall in diese Welt hinein. Menschen fällen dauernd moralische Urteile und versuchen sich moralisch in dieser Welt zu orientieren. Die sozialen Medien der Neuzeit werden gemeinhin oft als „Ort der Selbstdarstellung“ begriffen. Was aber tatsächlich den breitesten Raum auf Facebook einnimmt, sind jedoch ständige, endlose Diskussionen der Teilnehmenden darüber, was richtig ist und was falsch. Ein endloser, lebhafter Austausch wo permanent beurteilt wird, wie etwas zu sein habe und wie man etwas machen solle, und wie nicht: das ist der eigentliche Hauptgesprächsstoff in der Menschenwelt. So gesehen ist diese nüchtern-rationale, gleichsam nihilistische Welt von der Sphäre der Ideale hochgradig durchzogen, durchtränkt, überschwemmt. Mach etwas, was aus der Art fällt, und die Sintflut kommt über dich.

13 Allerdings ist es nicht so, dass sich die Mächte der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Ausgleichs usw. in dieser Welt dann tatsächlich so einfach durchsetzen. Vielfach tun sie das nicht. Die meisten Gesellschaften versuchen, anders als die unsere, nicht, ihre Vergangenheit eingehend zu bewältigen, sondern sind auf die Sauereien ihrer Vorfahren auch noch stolz! Kämpfe für Wahrheit, Gerechtigkeit usw. sind meistens mit ständigen Rückschlägen verbunden. Um sich Mut zu machen, kann man die Wahrheit als etwas Transzendentes sehen, letztendlich überhaupt als etwas Eschatologisches (dem Theologen Karl Barth zufolge ist Wahrheit grundsätzlich etwas, was im Eschatologischen aufgeht; ich muss mich mit diesem Gedanken näher vertraut machen). Grundsätzlich weisen Wahrheit und das Ideal u. dergl., neben aller Diesseitigkeit, auch auf etwas Transzendentes und Eschatologisches hin, haben solche Qualitäten und Dimensionen, zu denen sie wiederum den Zugang eröffnen. Ansonsten bleiben Wahrheit und Gerechtigkeit einfach Ergebnisse aus dem Kampf zweier oder mehrerer Instanzen, bei der sich die stärkste durchsetzt. Des einen Freude ist des andere Leid usw. Wahrheit und Gerechtigkeit beziehen sich aber darauf, wie etwas, allgemein betrachtet am besten zu sein hätte, und verlangt nach Entschädigung derer, die bei der Suche danach (oder aufgrund niederer Motive) unter die Räder geraten. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden die Wahrheit als Glaubensbesitz der Menschen bewahrt, während der falsche Frieden den Irrtum als Besitz menschlicher Leichtgläubigkeit erhält. Sie wissen, dass der wirkliche Frieden von der Wahrheit untrennbar ist, dass er in den Augen Gottes niemals durch jene Streitigkeiten wird, die ihn in den Augen der Menschen immer dann zu unterbrechen scheinen, wenn Gottes Gebot befiehlt, seine Wahrheit gegen ungerechte Angriffe zu verteidigen, und dass das, was für die Menschen Frieden wäre, für Gott ein Krieg ist. (Zweite Schrift der Pfarrer von Paris)

14 In ihrer absoluten, totalitären Verfassung tritt uns die Wahrheit in ihrer transzendenten, eschatologischen Form als Religion gegenüber. In der christlichen Religion ist Gott die absolute Achse und Instanz, die alle Wahrheit beinhaltet. Und der man selbst, in all seiner Relativität, gegenübertritt. Wenn es eine Wahrheit gibt, und so empfinden die meisten von uns, dann wird man auch selber sich an diese Wahrheit anschmiegen wollen. Man wird auch selber „wahr“ sein wollen. (In der Hospiz bedauern angeblich viele Menschen, dass sie ihr Leben nicht nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse, ihnen entsprechend gelebt hätten, sondern sich zu sehr an anderen und anderem orientiert hätten. Das scheint ein verbreitetes Bedauern unter den Menschen.) Die christliche Religion ist der ultimative Appell an das Individuum, „wahr“ zu werden und in Wahrheit aufzugehen.

15 Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, dass ich beim Verlassen dieser Welt für immer entweder in ein Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche von diesen beiden Bedingungen für ewig mein Los sein muss. Das ist mein Zustand: voll der Schwachheit und Ungewissheit. (Gedanke 1) Der erzürnte Gott will aber besänftigt sein. Er lässt sich offenbar nur so besänftigen, wenn man seine strenge Wahrheit anerkennt.

16 Zur Wahrheit ist der Mensch dem Vermuten von Pascal nach aber gar nicht geboren: Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Er will nicht, dass man ihm die Wahrheit sage, er vermeidet es, sie den anderen zu sagen, und alle diese Neigungen, die von der Vernunft und von der Gerechtigkeit so weit entfernt sind, haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen. (Gedanke 770)

17 In einer Weise imitiert Pascal durchwegs das, von dem er sich, in seinem postulierten Elend doch „unendlich“ weit entfernt fühlt: einen erzürnten Gott. Denn Pascal sucht das Seelenheil, und ist erbost, wie wenig Bedeutung dem Seelenheil in der Menschenwelt zugemessen werde: Die Unsterblichkeit der Seele ist von so gewaltiger Bedeutung für uns, berührt und so tief, dass man jedes Gefühl verloren haben muss, wenn es einem gleichgültig sein kann, zu wissen, was es damit auf sich hat. (Gedanke 1)

18 (Was aber ist eigentlich das Seelenheil? Trotzdem Pascal die Frage nach dem Seelenheil dauernd umkreist, ist er nicht sonderlich beredt darüber, worin das Seelenheil eigentlich besteht. Zumindest besteht das Seelenheil in einer Unzerstörbarkeit der Seele, die „erlöst“ ist. Damit wird das Seelenheil aber eigentlich eine negativ bestimmte Qualität: ewige Abwesenheit vom und Befreiung vom Elend. Der größte Wunsch wird winzig klein gegen den, gesund zu sein, singt das Kind. Und ein Seelenheil von solcher Qualität ist also der Wunsch eines Kranken nach Gesundheit. Da die Frage nach dem Seelenheil, wie Pascal selbst sagt, eine so wichtige ist, stellt sie sich in der Form: was kann Seelenheil noch alles sein?)

19 Der Sinn der Religion ist, wie Pascal ja selber sagt, dass der Mensch von seiner falschen, egoischen Wurzel sich emanzipiert, und sich für die Wahrheit, die in Gott und in seinem Gesetz liegt, öffnet. Kierkegaard hat postuliert, das Ziel des Lebens sei „durchsichtig zu werden in Gott“. Was hat er damit gemeint? Tja, das hat er nicht näher erläutert. Nimm aber den Menschen her, so wie er im Allgemeinen ist. Also blockiert, intransparent und neurotisch. Sich selbst im Weg stehend. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre richtet sich gegen solche Blockaden und Lebenslügen. Allerdings bleibt sein existenzialistischer Mensch, der sein Leben selbst entwirft, irgendwie schwach und blass, und schon als Jüngling habe ich nicht verstanden, was an ihm so heroisch sein soll, wie Sartre das immer (freilich noch zu einer anderen Zeit) beschwört. Der existenzialistische Mensch gemäß Sartre kennt, wie oben gesagt, ansonsten nur das Nichts. Der existenzialistische Mensch gemäß Kierkegaard kennt als andere Instanz aber das absolut Absolute. Das verleiht ihm eine solche Spannkraft. „Durchsichtig werden in Gott“ bedeutet so, transparent zu werden gegenüber der absoluten Instanz, der man dann furchtlos entgegentritt (auch wenn Pascal ziemliche Angst vor dem absoluten Gott hat, und Kierkegaard in Furcht und Zittern lebt, sein Lebensvollzug könnte, gegenüber der absoluten Instanz dann vielleicht doch nicht ganz der richtige sein). Es macht also schon Sinn, und es hat viel mehr Gravität als der nicht-religiös existenzialistische Lebensentwurf, „durchsichtig in Gott“ zu werden; also so durchsichtig, dass man vor der Gesamtheit des Absoluten bestehen kann.

20 Nicht allein kennen wir Gott nur durch Jesus Christus, sondern wir erkennen auch uns selbst nur durch Jesus Christus. Wir erkennen das Leben, den Tod nur durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus wissen wir nicht, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch was wir selbst sind. So erkennen wir nichts ohne die Schrift, deren Gegenstand nur Jesus Christus ist, sondern wir sehen nur Dunkelheit und Verwirrung, in der Natur Gottes und in unserer eigenen Natur. (Gedanke 570) Es macht schon einen gewissen Sinn, Jesus Christus zur Heuristik zu wählen. Aufgrund der ubiquitären Natur Gottes ist das auch gar nicht so schwierig. Seine unendliche Liebe, Barmherzigkeit und Gnade nimmt ja leicht alles auf und schnell kann man sich damit arrangieren.

21 Ist die Aufnahme von Religion und von Jesus Christus also etwas Leichtes oder etwas Schweres? Darüber sind sich die Religiösen uneinig. Pascal war erbost über die Möglichkeit, es als etwas Leichtes zu betrachten, und seine frühen religiösen Schriften, die Briefe an die Provinz, verdammen den Laxismus bestimmter Teile der Kirche. Damit ist gemeint: Um die Menschen besser zu erreichen, wie sie eben sind, kann es sich für religiöse Instanzen empfehlen, volkstümlich und ein wenig nachlässig, nicht allzu streng in der Auslegung ihrer Gesetze und der praktischen Beurteilung menschlicher Handlungen zu sein. Ein solches Vorgehen empfehlen damals die menschenkennenden Jesuiten; sehr zum Missfallen der rigorosen Jansenisten, denen Pascal angehört. Die Idee dahinter mag praktikabel sein, und hat eine rationale Basis. Allerdings hat sich die Bastion des Glaubens und der höheren Wahrheit, die Kirche, aber auch immer wieder als erfindungsreich erwiesen, wenn es darum geht, selbst Kapitalverbrechen und Mord und Totschlag zu legitimieren und sich damit zu arrangieren. Pascal aber zieht grundsätzlich gegen jeden Laxismus zu Felde.

22 Wenn man Jesus Christus in sich aufnimmt, schneidet es einem wohl von diversen Lebensmöglichkeiten ab. Aber es eröffnet einem neue. Ich glaube, es kann schon ziemlich gut wirken, wenn man sich mit Jesus Christus als in der Wahrheit wähnt, und das Leben und den Tod und Gott durch Jesus Christus erkennt. Andere nehmen Drogen, um der Wirklichkeit zu entfliehen, oder sie zu übersteigern. Aber wenn man in Jesus Christus ist, muss einem das eine Luzidität eröffnen, die wahrscheinlich besser ist als Drogen usw. (Untersuchungen und die unmittelbare Evidenz zeigen natürlich das Gegenteil: Religiöse Menschen sind meistens nicht luzide, religiöse Menschen sind, sobald eine Sache Dinge ihres Glaubens berührt, meistens nicht aufrichtig, sondern passen die Interpretation ihrer Wahrnehmungen einfach an ihr Glaubenssystem an. (Kein Wunder freilich, wenn sie sich dann dauernd als „Sünder“ usw. vorkommen und ein schlechtes Gewissen haben.) Andererseits mag das den Status der Religion als logischer, rationaler Wahrheit betreffen, den sie hintanstellen. Aber religiöse Menschen betrachten ihre Religion eben primär als eine moralische Wahrheit, die ist ihnen die wichtigere Wahrheit, und die verteidigen sie dann gegen Angriffe, die von der logischen Wahrheit kommen. Umgekehrt können sich die Verteidiger von rationalen und logischen Wahrheiten auch gegen die Ansprüche moralischer Wahrheiten stemmen und sich darüber hinwegsetzen. Uns interessieren hier Möglichkeiten, wie man in der totalen Wahrheit leben kann.)

23 Wie kann man aber Gott gegenüber in der Wahrheit oder durchsichtig sein? In Entweder – Oder lässt sich Kierkegaard aus über Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben. Zwar meint Kierkegaard das ein wenig anders, aber ich finde einfach die Vorstellung gut, wonach es eine Instanz gäbe, die uns intellektuell und moralisch so weit überlegen ist, dass wir gegen sie immer nur im Unrecht sein können! Nichtsdestotrotz sei es unser Auftrag, trotzdem immer so Recht zu haben zu versuchen, wie uns das bei bestem Wissen und Gewissen möglich ist. Dann ist man gerettet und man ist durchsichtig in dieser Instanz. Wie will man „durchsichtiger in Gott“ sein, als darin, dass man gegen ihn immer Unrecht hat, das erkennt und das vor allen Dingen auch noch bejaht? Es wird so auch Gott dadurch durchsichtig für sich selbst. Es wird ihm klar: er hat ein Mangelwesen geschaffen. Als Gott kann er das auch nicht anders, sonst hätte er ja einen zweiten Gott geschaffen. Das zeigt ihm dann, in seiner Absolutheit, eine notwendige Relativität seiner selbst auf, und das ist unendlich lustig. Das hält die Sache ewig in Bewegung. Man kann mit dem Absoluten nicht auf Augenhöhe sein. Aber man kann eine Metaebene gegenüber dem Absoluten errichten, und sich so auf eine paradoxe Augenhöhe dazu begeben, sich ihm mimetisch annähern, ihm gleichsam auf der Nase rumtanzen. Wenn wir uns freuen darüber, dass wir gegenüber einer absoluten Instanz immer unrecht haben, errichten wir eine solches Plateau. Und das Absolute und das Relative sahen so beide, dass es gut war, und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Unsere absolute Verfassung ist: dass wir gegen Gott immer im Unrecht sind. Bejahen wir das also, und der ewige Bund mit dem Absoluten ist besiegelt.

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24 Wir wünschen die Wahrheit und finden in uns nur Ungewissheit. Wir suchen das Glück und finden nur Unglück und Tod. (Gedanke 193) Dabei gelang es Blaise Pascal doch, das von ihm als so allgegenwärtig beschworene Chaos der Welt handhabbarer zu machen, indem er (gemeinsam mit Fermat) die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte. Seine Berechnungsmethode vom Pascalschen Dreieck war von einer solchen intuitiven Genialität, dass selbst Fermat die Spucke weggeblieben ist. Bereits als Zwölfjähriger leitete Blaise die Sätze des Euklid – welche zu den größten Leistungen des deduktiven Denkens zählen – eigenständig her; im Alter vom 16 Jahren erschütterte er die französische Gelehrtenrepublik mit einer Abhandlung über Kegelschnitte. Mit 19 Jahren konstruierte er eine Rechenmaschine. Später befasste er sich Hydrostatik, mit dem Nachweis des Vakuums, mit der Berechnung von Zykloiden und lieferte mit seiner Arbeit über den Sinus des Viertelkreises entscheidende Hinweise für Gottfried Wilhelm Leibniz bei der Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Er befasste sich, unabhängig davon, auch mit Fragen der Didaktik und Pädagogik.

25 Dieses eines der fähigsten Hirne aller Zeiten steckte aber in einem hinfälligen Körper. Bereits als Kind litt Pascal an Episoden schwerer Krankheit, was sich sein Leben über fortsetzte. Die letzten Lebensjahre verbrachte er zunehmend in Siechtum. Er starb im Alter von nur 39 Jahren an einer Art Verfaulung der inneren Organe. Lebenslänglich hatte er an Kopfschmerzen gelitten. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass auch sein Hirn läsioniert war.

26 Ursprünglich war die Familie Pascal nicht übertrieben religiös gewesen. Die Bekanntschaft mit dem Jansenismus, einer christlichen Reformbewegung, die Rigorismus, Weltabkehr und Askese predigte, machte jedoch Vater wie Kinder zu religiösen Eiferern. Pascals hochtalentierte Schwester Jacqueline wurde gar eine ungemein glaubensstarke Ordensfrau und Nonne, im Kloster von Port-Royal, dem Zentrum der Jansenisten. Pascal interpretierte seinerseits seine körperlichen Leiden als göttliche Zeichen und hatte schließlich ein religiöses Erweckungserlebnis, nach dem für ihn nichts mehr so war wie vorher. Im Rahmen dieses außernatürlichen Erlebnisses empfand er eine abstrakte Begegnung mit dem göttlichen Licht und eine große Euphorie. Die Worte, die er dabei niederschrieb, trug er immer eingenäht in seine Kleidung mit sich, wo sie nach seinem Tod schließlich gefunden wurden. Wie für solche Erlebnisse charakteristisch, beschreiben sie einen Zustand ungeteilten großen Glücks und einer Art Einigkeit mit Gott, so als wäre man aller weltlicher Zustände und ihrer ständigen Fluktuationen enthoben und würde bereits in das ungeteilte jenseitige Paradies blicken. Das muss ein sehr außergewöhnliches Erlebnis sein. Ich würde das auch gerne kennen oder Näheres darüber wissen.

27 Die glaubensstarken und eifernden Jansenisten wurden allerdings sowohl der weltlichen Autorität als auch der etablierten Kirche bald ein Dorn im Auge. Zunehmend waren sie der politischen Verfolgung ausgesetzt, in der bald mit harten Bandagen gekämpft wurde. Das betraf auch Pascals Schwester und die Menschen von Port-Royal. Erbost darüber verfasste Pascal anonym seine Briefe an die Provinz, in denen der Jansenismus gegenüber dem Jesuitentum und gegenüber dem Laxismus verteidigt wurde. Die Briefe, die aufgrund ihrer hohen literarischen Qualität mit Leistungen aus der Antike verglichen wurden, erregten großes Aufsehen, wurden aber bald verboten und erschienen schließlich illegal, wodurch sich Pascal aber freilich noch weniger in seinen Überzeugungen beirren ließ.

28 Eine weitere wundersame Geschichte: Pascals kleine Nichte Marguerite litt an einem hartnäckigen Augenleiden. Nachdem alle medizinischen Versuche fehlschlugen, verschwand das Leiden plötzlich nach der Berührung mit einer religiösen Reliquie in Port-Royal – ein Wunder, das Pascal in seinem Glauben ein weiteres Mal bestärkte. Und darin, eine apologetische Schrift auf das Christentum in Angriff zu nehmen, die uns, aufgrund seines vorzeitigen Todes, eben als die Gedanken erhalten geblieben ist. Seine zunehmend extrem asketische Lebensweise und seine Selbstkasteiungen, seine mutwillige Selbstauferlegung von Schmerzen und Unbequemlichkeiten haben seinen Tod wohl noch zusätzlich beschleunigt. Der diesseitigen Welt abhanden gekommen ist Pascal aber schon viel früher. Das Erwachsenenleben des mathematisch-wissenschaftlichen Wunderkindes bestand in fortschreitender religiöser Entrücktheit, die allerdings ebenso geniale Formen warf, wie eben die Gedanken.

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29 Existenz bedeutet: spielen, singen, tanzen. Existenz bedeutet auch: behindert sein beim Spielen, Singen, Tanzen. Man ist in der Existenz mit Widerständen konfrontiert, oder aber die Existenz ist ihr eigener Widerstand und Widerspruch. Existenz bedeutet, wenn man darüber nachdenkt, oder sie versucht ins Philosophische zu heben: Sorge um die Existenz. Die Existenzphilosophen haben eine sehr nachdenkliche, verhaltene Sicht auf die Existenz. Nackte Existenz ist unbehaust, gefährdet, mit der Nicht-Existenz, von der sie doppelt begrenzt wird, scheinbar qualitativ identisch. Singen, spielen, tanzen wollten wir, doch hier kommen die Existenzphilosophen und schweres Wetter zieht auf. Und da kommt schon der schwerste von den Existenzphilosophen, der, der die ganze Existenzphilosophie gleichsam erfunden hat; Pascal. Scheiße, wir konnten unsere Sache nicht rechtzeitig packen und unser Picknick rechtzeitig verstauen; jetzt steht er da, eine zerklüftete, furchtbare Gestalt mit dem Wanderstab, und belehrt uns, und wir können seiner Belehrung nicht mehr entkommen: Man braucht keine besonders erhobene Seele zu haben, um zu begreifen, dass es hier keine wahrhafte und ausdauernde Befriedigung gibt, dass alle unsere Freuden nur Eitelkeit sind, dass unsere Leiden ohne Ende sind, und dass uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jahren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht oder unglücklich zu sein. Es gibt nichts Wirklicheres als das, und nichts Schrecklicheres. (Gedanke 1) Krach!, jetzt hat es gedonnert. Wir schaffen es, uns davonzumachen, er kommt uns langsam nach und wir hören ihn gleichsam aufzählen: Der Zustand des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Unruhe. (Gedanke 194) Vielleicht vernehmen wir die Worte nicht nur und nehmen sie uns sogar zu Herzen, einstweilen verlieren sie sich hinter uns, so wie der Existenzphilosoph, seine Worte vermählen sich schließlich mit dem Wind und werden ununterscheidbar mit dessen Pfeifen. Wir haben uns wirkungsvoll in unsere Trivialität zurückgeflüchtet.

30 Pascals Vorstellung von der Existenz ist aber nicht allein depressiv. Was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. Das Ende der Dinge und ihr Anfang sind in einem undurchdringlichen Geheimnis unüberwindlich für ihn verborgen. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen ist, wie die Unendlichkeit, von der er verschlungen ist. (Gedanke 313) So gesehen begreift Pascal den Menschen aber als aufgespannt zwischen dem Unendlichen und Absoluten und dem Nichts; er oszilliert, wie er es selber zur Philosophie erhebt, zwischen den beiden Polen: Größe – Elend.

31 Wenn man die ganze Natur des Menschen verstanden hat, und dann bewirken will, dass unsere Religion wahr sei, muss man zeigen können, dass sie unsere Natur erkannt hat. Sie muss unserer Größe und unsere Niedrigkeit erkannt haben und den Grund für diese wie für jene. Wer hat sie erkannt außer dem Christentum? (Gedanke 235)

32 Die wahre Religion müsste die Größe und das Elend lehren, müsste den Menschen dazu bringen, sich selbst zu achten und zu verachten, zu hassen und zu lieben. (Gedanke 234)

33 Die Größe des Menschen ist groß darin, dass er sein Elend erkennt. Ein Baum erkennt sein Elend nicht. (Gedanke 123) Der Mensch ist klarerweise groß, indem er erkennen und denken kann; womit er letztendlich auch Gott, sein eigenes Elend, und die Möglichkeiten der Befreiung aus dem eigenen Elend zu erkennen vermag. Über dem Menschen stehen die Engel, die Gott zwar besser zu erkennen vermögen, dafür aber die Freiheiten des Menschen nicht haben. Ansonsten ist der Mensch, indem er erkennen und denken kann, sogar dem ganzen riesigen, aber gedankenlosen Weltall überlegen: Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. … Aber wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt, und kennt die Überlegenheit, die das Weltall über ihn hat; das Weltall weiß nichts davon. (Gedanke 128)

34 Das Weltall und der Mensch. Dass so wunderbare Wesen wie wir Menschen von Gott abstammen müssten, und eine spezielle Beziehung zu Gott hätten, rührt als Vorstellung auch daher, dass wir sonst keine vergleichbare Spezies im Weltall kennen. Das kann dem religiösen Empfinden schon Auftrieb geben und selbst dem rationalen Menschen einen religiösen Schauer über den Rücken jagen. Wenn wir keine andere dementsprechende Spezies kennen, mit der wir uns vergleichen können, müssen wir uns ja mit Gott vergleichen, beziehungsweise uns zu einem Gott ins Verhältnis setzen.

35 Das Fermi-Paradoxon: Wenn es im Weltall zahlreiche außerirdische Zivilisationen gibt (wie man aufgrund der schrecklichen Größe des Weltalls ja annehmen würde), warum sind wir dann noch nicht auf sie gestoßen? Heute nimmt man an, dass einfaches Leben im Weltall vielleicht nicht so selten ist; es könnte sogar auf dem Mars vorkommen. Komplexes, eukaryotisches Leben beruhe dann aber offenbar auf einem viel größeren Glücksfall, der, relativ gesehen zumindest, nicht oft stattfinde. Intelligentes Leben sei dann noch viel seltener. Und Leben, das zu Kultur- und Technikleistungen imstande ist, also eben außerirdische Zivilisationen, das Seltenste überhaupt. Lawrence hat berechnet, die nächstgelegene außerirdische Zivilisation würde, bei der statistischen Verteilung, die sich daraus ergibt, zumindest 50 Millionen Lichtjahre von uns entfernt leben. Zum Vergleich: die berühmte Andromeda Galaxie ist 2 Millionen Lichtjahre weit weg. Die nächstgelegene außerirdische Zivilisation wäre im Vergleich dazu also zum Beispiel auf der anderen Seite des Virgo Galaxienhaufens beheimatet. Damit erklärt sich das Fermi-Paradoxon damit, dass Zivilisationen im Universum viel zu weit auseinander wären, um gegenseitig Signale voneinander zu erkennen, geschweige denn miteinander kommunizieren zu können. (Andere, wie Lovelock oder Lane, sind noch pessimistischer und betrachten hinreichend intelligentes Leben als dermaßen unwahrscheinlich, dass wir wahrscheinlich das einzige Beispiel dafür im ganzen Universum seien.)

36 Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich. (Gedanke 314)

37 Die Geheimnisse des Universums und der Physik sind noch nicht entschlüsselt, und die Technologie ist noch primitiv. Dennoch sieht es so aus, dass interstellare Reisen und das Kolonialisieren von anderen außerirdischen Welten schwierig bis unmöglich sein dürften. Es ist uns nicht bekannt, wie man die Lichtgeschwindigkeit überschreiten könnte. Und auch unterhalb der Lichtgeschwindigkeit wären hinreichende Raumfahrzeuge riesig und teuer und würden für ihre Reisen Unmengen an Energie benötigen, was insgesamt an Kosten die Wirtschaftsleistung unserer gesamten derzeitigen Weltwirtschaft um ein Vielfaches überschreiten würde. Um gar mit Überlichtgeschwindigkeit reisen zu können (so dass es sich auch tatsächlich lohnt), wäre negative Energie nötig. Ein Feld von negativer Energie würde sich allerdings kausal abtrennen von der übrigen Raumzeit und wäre kein guter Aufenthalt; das Innere von Schwarzen Löchern entspricht einem Feld von negativer Energie, und dort will man nicht hin. Um ein exotisches Feld aufrechtzuerhalten (auch, wenn die Möglichkeit überhaupt nur theoretisch dazu besteht), das den Raum krümmt, oder einen WARP-Antrieb ermöglicht, wäre wohl eine extreme Energiemenge notwendig. Eine Reise durch den Raum könnte die Energie eines ganzen Sterns verschlingen. Ähnlich wie die Menschheit auf der Erde hätte eine intergalaktische Raumfahrer-Zivilisation in ihrem Hunger nach Energie und nach Ressourcen wohl eine Spur der Verwüstung durch das Weltall gezogen. Wären allerdings Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit möglich, hätte eine solche Zivilisation innerhalb von nur einigen Tausend Jahren, oder eventuell einer Viertelmillion Jahre, das ganze Universum besucht. Das angenommen, stellt sich wieder die Frage: Wo sind sie also?

38 Es gibt also offenbar (noch) keine intergalaktischen Raumfahrer-Zivilisationen (auch wenn der Kosmos, so gesehen, noch jung ist, und es sie in der Zukunft geben könnte. So gesehen sind Zivilisationen im Universum nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit getrennt). Das macht uns Menschen schon zu einem sehr herausragenden Qualitätsphänomen im Universum. Mit der riesigen quantitativen Ausdehnung des Weltalls können wir nicht mithalten, und die macht uns irrelevant. Aber qualitativ sind wir vielleicht das bedeutendste Vorkommnis im Universum. Ein Wunder sind wir deswegen nicht, denn wenn unter Abermilliarden von Abermilliarden von Abermilliarden von möglichen Fällen der tatsächliche Fall ein oder ein paar Mal auftritt, ist das eher eine prosaische zufällige Fluktuation, mit der sich das ganze Mysterium erklärt. Aber zu etwas unglaublich Großem im Universum macht uns das schon; da hat Pascal schon recht. Zu etwas Gottähnlichem. Aber auch zu etwas von Gott reichlich Verschiedenem. Und Elendem.

39 Der Mensch ist ganz offensichtlich dazu geschaffen, um zu denken. Darin liegt seine ganze Würde begründet und dies macht all sein Verdienst aus, und seine ganze Pflicht besteht darin, in rechter Weise zu denken. Die Ordnung des Gedankens erfordert es nun, bei sich selbst, bei seinem Schöpfer und bei seinem Ziel zu beginnen. Doch woran denkt die Welt? Niemals daran! Vielmehr ans Tanzen, ans Lautenspiel, an Gesang, an Versedrechseln, an Reiterspiele, usw., und daran, sich zu prügeln, sich zum König zu machen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was es bedeutet, König zu sein und Mensch zu sein. (Gedanke 130)

40 Wo viel Licht, da auch viel Schatten. Während die Größe des Menschen darin besteht, denken und erkennen zu können, liegt für Pascal dessen Elend darin, dass er es meistens nicht tut. Da die Menschen den Tod, das Elend und die Unwissenheit nicht besiegen konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, darauf verfallen, gar nicht daran zu denken. (Gedanke 176)

41 All diesem Elend zum Trotz will (der Mensch) glücklich sein und nichts als glücklich, und ist außerstande, es nicht zu wollen; aber wie wird er das anfangen? Um es richtig zu machen, müsste er sich unsterblich machen, da er es aber nicht kann, ist er darauf verfallen, sich des Gedankens daran zu enthalten. (Gedanke 175) Daher strebt der Mensch also Zerstreuung an, der Pascal viele seiner Gedanken widmet.

42 Auffällig umfangreich stellt Pascal Betrachtungen an über die Hohlheit und die Nichtigkeit der menschlichen Alltagsexistenz. Die Menschen beschäftigen sich damit, einem Ball oder einem Hasen nachzulaufen. Das ist sogar das Vergnügen der Könige. (Gedanke 185) Und überhaupt: Eitelkeit: Spiel, Jagd, Besuche, Theater, falsche Fortdauer des Namens (Gedanke 139) Das ist deswegen so, weil der Mensch im Allgemeinen innerlich leer sei. Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. (Gedanke 192)

43 Auch das Streben nach Wahrheit sei in erster Linie ein Spiel: Man liebt es, bei Disputen den Streit der Meinungen zu beobachten, aber ganz und gar nicht, die gefundene Wahrheit zu betrachten… (Gedanke 184). Und wenn nicht gespielt wird, wenn da keine Möglichkeiten zur Zerstreuung sind, macht sich Langeweile breit im menschlichen Herzen. So läuft das gesamte Leben ab: Man strebt nach Ruhe, indem man einige Hindernisse bekämpft. Und wenn man diese dann überwunden hat, dann wird die Ruhe aufgrund der Langeweile, die aus ihr erwächst, unerträglich. (Gedanke 181)

44 Überhaupt: die Eitelkeit, die Pascal hinter allem sieht. Wenn die Welt ein Nichts ist, aber aufgeblasen, ist sie naheliegenderweise eitel, denn Eitelkeit ist ja aufgeblasenes Nichts. Die Eitelkeit ist so tief im Herzen des Menschen verankert, dass … (Gedanke 147) Pascal immer wieder darauf zurückkommt, die diesseitige Welt sei, in der Hauptsache, „eitel“. Einem Menschen, der sich für das Jenseitige entscheidet, mag das vielleicht so scheinen. Eventuell weil mit Eitelkeit konnotiert ist: Vergeblichkeit, Substanzlosigkeit, Vergänglichkeit. Er vergewissert sich (moralisch), dass die jenseitige Welt die substanzielle ist, die diesseitige aber nicht (schließlich ist die unmittelbare Evidenz ja dazu gegenteilig). Er spricht sich so Mut zu. Trotzdem ist es ein wenig eigenartig, wo (ein so neugieriger und scheinbar gut in sich fundierter Mensch wie) Pascal überall Eitelkeit ausmacht (Neugierde ist nur Eitelkeit. Meistens will man nur etwas erfahren, um davon zu sprechen. (Gedanke 142)).

45 Ich aber will mir das so nicht vorstellen, also, dass die Welt Eitelkeit sei (inwieweit mich das wohl entlarvt?, denn: Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selbst sehr eitel. (Gedanke 192)) Ich glaube zwar, dass der Narzissmus eine wichtige Rolle spielt in dieser Menschenwelt (und auch in der Tierwelt), aber keine so ausschließliche. Man tut Sachen aus einer Leidenschaft heraus oder aus einem Interesse, oder aus bloßem Überlebenszwang. Das Resultat mag man dann narzisstisch besetzen, überhaupt wird man zunächst einmal harmlos stolz und voll der Freude sein, weil man da was zusammengebracht hat. Dann mag die Eitelkeit dazukommen. Aber die Grundlage für das Resultat ist dann eben doch eine andere als die Eitelkeit (nämlich ein tatsächliches Interesse an der Sache), und mit dem jeweiligen Resultat unmittelbarer verwandte.

46 Eventuell war Pascal also sehr eitel! Man könnte meinen, sein angestrengtes Asketentum sei sehr eitel (eine eitle Flucht vor der eigenen Eitelkeit, mit der man unzufrieden ist). Könnte so ein weiser, über den Dingen schwebender Mensch wie Pascal in Wahrheit sehr eitel sein? Man mag es sich ja kaum vorstellen können. Pascal aber zumindest bekennt: Ich sehe in meinen Abgrund des Stolzes, der Neugierde, der Begehrlichkeit. Es gibt keine Beziehung zwischen mir und Gott, noch zwischen mir und Jesus Christus, dem Gerechten. (Gedanke 612)

47 Aber Pascal, alter Motherfucker! Du bist doch ein ganz famoses Haus! Zeig den schönen Frauen in den leichten Kleidern doch, was für ein großer, sensibler Mensch du bist, voll der seelischen Qualitäten und zu großen Höhenflügen imstande und bereit! Das sagt man auch dem Emil, und dem Erwin, und dem Erich doch spontan immer wieder, wenn sie in verdrießliche Stimmung kommen und in ihr Bier weinen. Um sie aufzumuntern, und damit sie sich ihrer Kräfte und Qualitäten besinnen, die man bei ihnen dann doch immer als grundsätzlich vorhanden annimmt. Also würde man doch das erst recht einem wie Pascal zurufen. Aber in Wahrheit: Fremde Herzen kennt man nicht, fremde Herzen bleiben fremd, groß immer wieder die Enttäuschung, wenn zwei, die geglaubt haben, einen Herzens zu sein und voller Ideale desselben Weges zu ziehen, schließlich draufkommen: die Motive des anderen sind ja eigentlich doch ganz verschiedene, obwohl man sie immer als mit seinen eigenen gleich oder zumindest ähnlich vermutet hatte. In Wirklichkeit kennt sein Herz jeder selbst am besten. Und so wie sein Herz ist, wird er das Herz auch bei anderen vermuten. Was vermutet Pascal? Wie ist das Herz des Menschen hohl und voll von Gestank. (Gedanke 180)

48 Auf jeden Fall ist Pascals inneres Bild von der Existenz reichlich bipolar; manisch-depressiv. Dem Göttlichen will er sich absolut verschreiben. Die Euphorie dafür kennt er (oder tut er das wirklich? Handelt er nicht eher aus einem inneren Zwang heraus, den er dann leidenschaftlich besetzt?). Das Weltliche verwirft er; und selbst unter die ungeheure Vielfalt des Weltlichen, dem Glanz und dem Elend und dem ganzen Dazwischen, das das Weltliche aufweist, zieht er einen einzigen Strich und markiert dazu: Elend.

49 Widerspruch, Selbstverachtung, sterben für nichts, Hass auf unser Dasein. (Gedanke 141) … murmelt Pascal bei sich.

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50 Immer wieder wird versucht, die religiösen Asketen und ihre Leistungen zu verweltlichen, indem man vermutet, sie würden allein ihre Not zu einer Tugend machen. Auch Aldous Huxley sieht in Pascal einen kranken Menschen, unfähig Leidenschaften zu empfinden, und so versuche er sie eben auch theoretisch zu annullieren (und seine Leidenschaftslosigkeit zu legitimieren), im Rahmen seiner düsteren asketischen Religiosität.

51 Pascal selbst war schon zu Lebzeiten mit solchen Ansichten über derartige Masken der Frömmigkeit vertraut. Im Neunten Brief an die Provinz zitiert er aus einem Werk des Pater Le Moyne, einen der Kasuisten, die er darin bekämpft: „Ich leugne nicht, dass es Fromme gibt, die aufgrund ihrer Veranlagung bleich und melancholisch sind, die Stille und Zurückgezogenheit lieben, die nur Trägheit in den Adern haben und aschgrau im Gesicht sind … Ein solcher Tor hat keine Augen für die Schönheiten der Kunst und der Natur. Er würde glauben, eine unbequeme Last auf sich zu laden, wenn er sich irgendein Vergnügen gönnte. An den Festtagen zieht er sich unter die Toten zurück. Er gefällt sich mehr in einem Baumstamm oder in einer Höhle als in einem Palast oder auf einem Thron. Gegen Schmach und Beleidigungen ist er so unempfindlich, als hätte er die Augen und Ohren einer Statue. Ehre und Ruhm sind Götzen, die er nicht kennt und denen er keinen Weihrauch opfert. Ein schönes Weib ist für ihn ein Schreckgespenst. Und die stolzen, königlichen Gesichter der Frauen, die lieblichen Tyrannen, die überall Sklaven finden, freiwillig und ohne Ketten, üben auf seine Augen keine stärkere Wirkung aus als die Sonne auf die einer Nachteule.“ (dies zitiert Pascal aus dem Werk Les Peintures morales, ou les Passions sont representées par Tableaux, par Charactéres, et par Questiones nouvelles et curieuses des besagten Paters aus dem Jahre 1640) Pascal mieselsüchtig an seinen imaginären Adressaten im Brief: Ich kann Ihnen versichern, … wenn Sie mir nicht gesagt hätten, dass diese Schilderung von dem Pater Le Moyne stammt, so würde ich geglaubt haben, irgendein Gottloser wollte mit ihr die Heiligen ins Lächerliche ziehen. Denn wenn dieser Tor nicht das Bild eines Menschen ist, der sich von allem losgelöst hat, dem zu entsagen uns das Evangelium verpflichtet, dann bekenne ich, dass ich nichts davon verstehe. Pascal ist wohl nicht entgangen, dass er selbst mit dem religiösen Asketen, der aus seiner Not eine Tugend machen will, zumindest äußerlich identisch ist. In das Innere eines Menschen kann man freilich nicht hineinsehen. Man sieht nur seine Zeichen, die Zeichen, die er aussendet. Und Pascal sendet Zeichen aus, die ihn für unbeschwertere Geister verdächtig wirken lassen.

52 (Anschließen will ich mich denen nicht unbedingt – ich glaube ja immer nur an das Beste und an das Aufrichtige im Menschen – aber das, was sie sagen, erwähnen…)

53 Huxley meint, während Nietzsche seine Krankheiten habe überwinden wollen, und sich in einen leidenschaftlichen Vitalismus hineingesteigert habe, der tatsächlich eine großen Lehre für die Menschheit und für verdrossene Individuen ist, habe Pascal sich leidenschaftlich gegen die Leidenschaften gerichtet und sein Siechtum zu einer religiösen Tugend, verbunden mit ultimativem Erlösungsglauben gemacht. Nietzsche hat später im Antichrist, etwas einseitig, das Christentum als ein Phänomen der décadence begriffen, der Lebensabtötung. Aber Nietzsche hatte ja immer wieder Pascal im Blick.

54 Pascal äußert sich an etlichen Stellen in den Gedanken auch negativ über Montaigne. Natürlich muss der mit seiner sehr diesseitsorientieren Essayistik ein Affront und ein Gegenmodell zum Pascalschen Entwurf über die Existenz sein. Also versucht Pascal sich davon abzugrenzen, um seine Positionen abzustecken. Aber vielleicht waren Pascal auch die lebensprallen Schilderungen und die lebenspralle Einstellung bei Montaigne zuwider, und er reagiert mit Ressentiment darauf.

55 Goethe äußerte sich im Hinblick auf Pascal: Wir müssen einmal sagen: Voltaire, Hume, La Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule, haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet, als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.

56 Und Voltaire: … wenn ich London oder Paris betrachte, sehe ich keinen Grund, in die Verzweiflung zu geraten, von der Pascal spricht; ich sehe eine Stadt, die in nichts an eine verlassene Insel erinnert, sondern bevölkert, reich und gesittet ist, wo die Menschen glücklich sind, soweit die Natur das mit sich bringt. Wer ist der kluge Mann, der bereit sein wird, sich zu hängen, weil er Gott nicht gegenüberzutreten weiß und das Geheimnis der Dreieinigkeit nicht zu lösen vermag? … Warum uns Angst machen vor unserem Wesen? Unsere Existenz ist nicht so unglücklich, wie man es uns glauben machen will. Die Welt als einen Kerker anzusehen und alle Menschen als Verbrecher, die man henken wird, ist die Idee eines Fanatikers.

57 Aber man kann in Voltaire auch einen zynischen Börsenspekulanten sehen, der zu oberflächlich war, um die Metaphysik von Leibniz zu begreifen. Und in Goethe einen ständig in die Irre gegangenen Unbehausten, der Eckermann im hohen Alter nichts anderes zu gestehen vermochte, als dass er in seinem Leben vielleicht ein paar glückliche Wochen allein verbracht habe. Das Glück ist weder außer uns, noch in uns; es ist in Gott, und sowohl außer und als auch in uns. (Gedanke 205)

58 (Heine hat vermutet, dass der verdrossene Goethe, der kaum je einen Augenblick auffordern wollte: Verweile doch, du bist so schön, ihn deshalb so frostig aufgenommen habe, weil er, Heine, im Gegensatz zu Goethe im Wesentlichen heiter und unbeschwert sei, und Goethe das registriert und eifersüchtig darauf reagiert habe.)

59 Auch wenn er sich von den Vorbildern seiner Jugend Schopenhauer und Wagner später emanzipiert hat, bewahrte der Antichrist Friedrich Nietzsche eine lebenslängliche Bewunderung für Pascal. Warum eigentlich? Wahrscheinlich, weil er in Pascal einen aphoristischen Metaphysiker und Erkunder der Existenz sah, der der Existenz unverwandt ins Auge blickte und darin ähnlich Depressives sah wie Zarathustra. Diese „Ehrlichkeit“ hat Nietzsche imponiert, er betrachtete Pascal als eine „starke Natur“, eine Art Herren- und Übermensch, die er so attraktiv fand – nur sei das Christentum stark genug gewesen, „selbst eine solche Natur wie Pascal“ zugrunde zu richten. Weswegen Nietzsche dem Christentum den Krieg erklärte. Auch Nietzsche fühlte sich dauernd von der Existenz „geschwächt“ und in seinen „Instinkten“ in die Irre geleitet von: den unteren Schichten der Gesellschaft, der Demokratie, dem Sozialismus, dem Bildungswesen, der deutschen Küche, Alkohol, Frauen, dem Parsifal und eben dem Christentum. Nietzsche war auch, wie Pascal, ein physiologisch kranker Mensch. Als Gegenmodell dazu hat er sich aber in seinen Vitalismus und seinen Kult vom Übermenschen reingesteigert, als Methoden, über die nackte Existenz zu triumphieren. Nietzsche wollte ewig wiederkehren, Pascal wollte sterben.

60 War Pascal in seinem Glaubenseifer also in etwa verrückt? Oder war er einfach nur sensibler, ist dadurch in Bereiche vorgedrungen, die weltlichen Naturen wie Goethe oder Voltaire verschlossen bleiben, von jemanden wie Nietzsche allerdings erahnt werden?

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61 Religion ist (in dieser Hinsicht) gut, denn sie bedeutet eine größere Sensibilität im Empfinden der Existenz und eine größere moralische Ernsthaftigkeit. Mit gefällt eine Sensibilität – eine metaphysische Sensibilität – für das Umgebende, und mir gefällt eine moralische Ernsthaftigkeit. Daher gefallen mir auch, in gewisser Weise, religiöse Menschen. Niemand ist so glücklich, so tugendhaft, so liebenswert wie ein wahrer Christ. (Gedanke 94) Zumindest gefallen mir religiöse Menschen, unter gewissen Vorbehalten, aus der Ferne bzw. in wohldosiertem Abstand wenigstens; eben deswegen. Religion ist ein Mittel, ein Aufruf, für den Menschen, sich über das bloße Mittelmaß zu erheben: und das ist gut, das ist konstruktiv (auch wenn sie praktisch dann wieder neue Grundlagen und Selbstverständnisse für saturierte Mittelmäßigkeit schafft und zulässt -> daher dann auch Pascals Kampf gegen die Laxheit). Dann noch eben die scheinbare Fröhlichkeit und Lebensfreude, die Entspanntheit der religiösen Menschen (auch wenn sie womöglich hauptsächlich aus einer Unfähigkeit stammen mag, sich tatsächlich Sorgen/Gedanken zu machen). Usw.

62 Ich habe also durchaus ein Sensorium für die Erhabenheit der Religion, und das Positive, das sie in einem bewirken kann. Dabei frage ich mich aber natürlich schon, wie religiöse Menschen all diese Sachen, die sie glauben, tatsächlich ernst nehmen können. Doch: Das Herz hat seine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. (Gedanke 89)

63 Es ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht der Verstand. Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand. (Gedanke 90) Pascal weiß also selber, dass der Glaube eine letztendlich rational nicht verhandelbare Angelegenheit des Gefühls ist. Dennoch nannte ihn Nietzsche anerkennend „den einzig logischen Christen“. Das ist kein Widerspruch, man kann ja auch logisch sein im Umgang mit seinen Gefühlen.

64 Etwas, das logisch ist, bei der Gelegenheit angemerkt, ist aber freilich noch nicht schon allein deswegen wirklich. Das Logische ist nicht so weitreichend, wie man glauben mag. Idealerweise bedeutet Logik, dass man aus Annahmen einen eindeutigen und richtigen Schluss ziehen kann. Ein logischer Schluss ist dabei außerdem nicht notwendigerweise ein logischer Beweis; sondern zunächst einmal nur Basis für ein logisches Argument. So genannte Gottesbeweise (in die hinein Pascal sich aber nicht versteigt), basieren meistens auf Logik. Allerdings lassen sich gegen alle Gottesbeweise auch logische Gegenargumente einbringen; es gibt keinen Gottesbeweis, der dagegen gefeit ist. Das reduziert die Gottesbeweise dann zu logischen Argumenten, die nahelegen könnten, dass (so etwas wie) Gott existiert. Während die logischen Gegenargumente eine solche Annahme hauptsächlich entkräften. Ob man dann eher zum theistischen Argument neigt oder zum atheistischen, ist dann wieder eine Sache des Glaubens. Wir erkennen die Wahrheit nicht mit der Vernunft allein, sondern auch mit dem Herzen… (Gedanke 334) Bewiesen ist dadurch aber eben nichts.

65 Außerdem bedeutet Logik: Man zieht einen logisch richtigen Schluss aus bestimmten Annahmen. Das heißt aber nicht, dass die Annahmen richtig sind, oder umfassend gelten. Pascal hat lauter eigenwillige Annahmen über die Existenz (aus denen heraus er allerdings nichts beweisen will: so dumm ist er nicht). Allerdings stellt er auch die Annahme zur Disposition, Gott könnte gar nicht existieren. Das ist dann der Gegenstand der berühmten Pascalschen Wette. Der zufolge könne man durch die Annahme, dass Gott existiert, nur gewinnen, während man, bei Richtigkeit der Annahme, dass Gott nicht existiert, zwar nicht verliert, aber auch kein ewiges Seelenheil gewinnt. Gottes Existenz anzunehmen, sei also relativ zu anderen Optionen das Lohnendste.

66 Hmm.

67 Indem Religion eine Sache des Herzens und des Gefühls ist, haben religiöse Stimmungen aber ihren Sitz im Gehirn. Zwillingsstudien legen nahe, dass unsere Affinität für Religion zu 50 Prozent genetisch bedingt ist. Frühe Prägungen durch das Umfeld verankern unsere Disposition zur Religiosität in unseren Hirnkreisläufen wie die Muttersprache. Die genetischen Anlagen spielen eine wichtige Rolle darin, ob wir uns später im Leben leicht von der Religion lösen können oder an ihr festhalten. Vor über 20 Jahren postulierte der amerikanische Genetiker Dean Hamer die Existenz eines „Gottes-Gens“, bei dem Variationen darüber entscheiden, wie anfällig für Spiritualität und Religion man sei. Es handle sich um den vesikulären Monoamintransporter (VMAT2), der den Zufluss der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin, Histamin und Noradrenalin erleichtere; Neurotransmittern also, die entscheidend auf unseren Gefühlshaushalt wirken, und deren Anwesenheit oder Abwesenheit Euphorie oder Depression begünstigt. Bis heute ist die VMAT2-These, beziehungsweise dass für etwas so Komplexes wie religiöse Sentiments ein einziges Gen verantwortlich gemacht werden könne, aber umstritten.

68 Gehirnscans und bildgebende Verfahren ermöglichen ihrerseits ständig neue Einsichten, wie bestimmte Gefühle und Dispositionen mit bestimmten Regionen im Hirn in Verbindung stehen. Genauso Langzeitstudien mit Menschen, die Gehirnschädigungen erlitten haben. Tumore oder Verletzungen im Gehirn mögen Menschen gravierend verändern, auch im Hinblick auf ihre Religiosität, die nach einem solchen Erlebnis signifikant zunehmen oder abnehmen mag. Vor wenigen Jahren haben Forschungen ergeben, dass insbesondere das Periaquäduktale Grau mit religiösen Stimmungen in Verbindung steht. Selbst im Periaquäduktalen Grau gebe es sowohl hemmende als auch fördernde Areale: Verletzungen bestimmter Areale führten zu einer Abnahme an religiöser Empfindsamkeit, während sie diese bei anderen Teilarealen verstärke. Die Areale im Periaquäduktalen Grau, die für Hyperreligiosität verantwortlich sind, stünden auch in Verbindung mit Halluzinationen und einer gestörten Körperwahrnehmung. Das Periaquäduktale Grau ist dabei eine evolutionär sehr alte Hirnregion und sitzt im Stammhirn. Das legt nahe, dass Religiosität und Spiritualität bei uns in fundamentalen neurologischen Prozessen involviert sind, und „tief in unsere neurologische Matrix eingeschrieben“. Gott ist also, so gesehen, nicht tot.

69 Untersuchungen mit gläubigen Mormonen zeigen auf, dass in religiösen Zuständen der Nucleus accumbens aktiviert wird, ein Belohnungszentrum in Hirn, das Glücksgefühle auslöst. Auch das Zentrum für die Aufmerksamkeit und der mediale präfrontale Cortex werden bei spirituellen Empfindungen aktiv. Dieses Hirnareal ist unter anderem für Bewertungen, die Einschätzung von Situationen und moralische Überlegungen zuständig. Bei Menschen, die meditieren, feuern Neuronen anders als herkömmlich, und lange Übung im Meditieren kann die Hirnstruktur verändern. Die Meditationspraxis verstärkt Verknüpfungen von Hirnarealen, die für Wahrnehmung und Selbstkontrolle zuständig sind und hemmt das Angstzentrum. Das „ganzheitliche Erleben“, das mit Spiritualität in Verbindung steht, mag seine Grundlage in der besseren Vernetzung von Hirnregionen haben. Interessant also, was weitere Forschungen erbringen werden. Inwieweit sich Religion – und alles Mögliche andere auch – auf ein bloßes „Gehirnphänomen“ reduzieren lasse, ist natürlich eine andere Frage. Die derweil auch unterschiedliche Antworten zulässt. Wir sind unser Gehirn lautet ein Buchtitel des Hirnforschers Dirk Swaab. Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert hingegen heißt ein Buch des Philosophen Markus Gabriel. (Descartes`Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn des Neurologen Antonio Damasio plädiert hingegen dafür, Denken und Fühlen als nicht voneinander getrennt, sondern als eine Einheit zu begreifen, beziehungsweise als eine Wechselwirkung. Das allerdings eben wusste auch schon Pascal.)

70 Die Wissenschaft, so darf man erwarten, wird aber schon das Nötige richten und besorgen.

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71 Eben gerade genieße ich eine sehr spezielle Lektüre: den Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz mit den Jesuiten in China zwischen 1689 und 1714. Der große Universalgelehrte, der wohl noch ein wenig gescheiter war als sogar Pascal, hatte auch ein leidenschaftliches Interesse an China, und er korrespondiert mit den Patres in China über Pflanzen, Mineralien, Metalle und Erden in China, darüber, wie man in China Häute und Papier bearbeitet, wie die Chinesen astronomische Berechnungen anstellen, wie sie Blattgold auf Seide auftragen, wie sie im Schiffsbau zusammengefaltete Segel herstellen und welche Vorrichtungen sie da gegen Windstöße kennen. Im I Ging glaubt Leibniz einen Universalschlüssel für menschliches Wissen zu erkennen, ähnlich zu seiner eigenen Hoffnung, man könne aus der Mathematik eine Art Universalsprache extrahieren; nur dass dieses Wissen bereits vor unvordenklichen Zeiten aus der Traufe gehoben wurde (von einer Art mythischen Gestalt namens Fuxi, einer Art östlicher Hermes Trismegistos). Und die Patres antworten sehr genau und detailliert, es ist eine Konversation auf höchstem Niveau, die noch heute über hunderte von Seiten hinweg von Anfang bis Ende lesenswert ist. Ebenso enthusiastisch wie über die Entdeckungen in China steigert sich Leibniz mit seinen Gesprächspartnern in die Hoffnung und Zuversicht hinein, das Christentum nach China bringen zu können, den Kaiser von China zum Christentum bekehren zu können und im Gefolge ganz China zu christianisieren. Man kann sich das heute wahrlich nur mehr schwer vorstellen, beziehungsweise sich da hineinversetzen: was für eine bedeutende, allumfassende und unhinterfragte Rolle und welchen Zauber die Religion selbst über die erlauchtesten Geister früherer Zeiten ausgeübt hat, die kaum irgendetwas als dringlicher erachteten, als diese ihre Religion der ganzen Welt überzustülpen. Andererseits, wie soll es angesichts eines dermaßen integralen Systems, wie es die christliche Religion damals war, die alles Denken und alle Lebensbereiche vereinheitlicht hat, auch anders sein? Es war eine Grundheuristik, es war die Matrix der Welt; und aus der Matrix kann man bekanntlich kaum ausbrechen. Aufgrund der Fortschritte in der Wissenschaft und in der Philosophie ist diese Einheit der Sphären zerbrochen, und die Wissenschaftler und Philosophen sind heute im Allgemeinen nicht mehr so, und von solchen Hoffnungen und Zuversichten getrieben, wie es Leibniz und Pascal damals waren. Aber es ist durchaus naheliegend, dass sie damals so waren; auch wenn man sich in so was nicht mehr ganz hineinversetzen kann. Heute betrachtet sich nach wie vor der Islam als ein derartig integrales, alle Lebensbereiche vereinheitlichendes System, und heute hat man Angst, dass der Islam sich über das ganze Abendland überstülpen will. Heute wollen die Chinesen die ganze Welt sinisieren. (Wie beruhigend also zu sehen, wie solche Hoffnungen schon damals eine völlige Fehleinschätzung waren.)

72 Was für tapfere, gleichsam heroische Menschen der Wissenschaft und der Pflege des interkulturellen Austauschs das waren, die uns im Briefwechsel von Leibniz mit den Jesuiten in China entgegentreten! Hättest du das gewagt, im Jahr 1692 einen morschen Kahn nach China zu besteigen, und umständlich die sieben Weltmeere befahren, um dort dann dem furchtbaren chinesischen Kaiser gegenüberzutreten (vorher müsstest du zudem noch Chinesisch lernen)? Großes, wohltuendes Vertrauen flößen solche Zeugnisse einem ein, in die Menschheit, in die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft! Was die Menschheit alles imstande ist, auf sich zu nehmen, um sich besser kennenzulernen und Wissen zu vertiefen! (Pascal hingegen hat für sich … entdeckt, dass das ganze Unglück der Menschen aus einer einzigen Ursache kommt: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können. (Gedanke 178)) Pascal wurde von seinem wissenschaftsbegeisterten Vater früh in die Wissenschaften eingeführt, tat sich selber als Knabe darin hervor, gelangte in den höchst elitären wissenschaftlichen Zirkel rund um Père Mersenne, korrespondierte mit Fermat (der Briefwechsel ist, zum großen Unglück für die Mathematik, leider verschollen) usw. Wie aber äußert sich Pascal über dieses hochedle und von solch einem Drang zur Konstruktivität angetriebenen Wesen, den Menschen? Alle Menschen hassen einander von Natur. Man hat, soweit man dazu imstande war, die Begehrlichkeit ausgenützt, um sie dem öffentlichen Wohle dienstbar zu machen: aber damit täuscht man nur ein falsches Bild der Liebe vor, denn im Grunde ist das nur Hass. (Gedanke 245)

73 Gegen die schreiben, welche die Wissenschaften zu sehr vertiefen. Descartes. (Gedanke 64)

74 Descartes und Pascal waren Zeitgenossen. Der ältere Descartes war als Mathematiker, Wissenschaftler und Philosoph eine fix etablierte, unhintergehbare Größe in der intellektuellen Szene seiner Zeit. Auf den Jungstar Pascal blickte er mit (zumindest verstohlener) Neugier, aber scheinbar auch mit einem gewissen Argwohn und vielleicht mit Eifersucht. Descartes hat Pascal nur zweimal kurz hintereinander aufgesucht, da lag Pascal krank im Bett. Er wollte dabei vor allem die Frage nach dem Vakuum diskutieren, über die er und Pascal gegensätzlicher Meinung waren. Pascal hat sich zu dem Zeitpunkt dafür aber nicht mehr so sehr interessiert. Er empfand das Gespräch mit Descartes nachträglich als limitiert.

75 Descartes gilt als der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Seine Intervention ist die Postulierung des klar analytischen, deduktiven Denkens als alleiniger Methode, um zu wahrheitsfähigen Aussagen zu kommen. Seine andere Intervention ist die Skepsis. Sich der zweifelhaften Natur von fast allem, was ihn umgibt und dennoch allgemein als „wahr“ angenommen wird, will Descartes skeptisch alles in Zweifel ziehen, ob es denn tatsächlich wahr sein könne, und es einer umfassenden, radikalen Überprüfung unterziehen. Damit stößt Descartes an und für sich vor in eine Philosophie ohne religiös-metaphysischen Überbau und ohne Gott (auch wenn er diesen, über scheinbar klare logische Argumente, sofort wieder einführt, wie alles Mögliche andere auch. Ein Landsmann hat über Descartes witzig geurteilt: Er hat zuerst alles bezweifelt, um schließlich alles zu glauben. Der Kern von Descartes Intervention liegt aber eben tiefer und ist allgemein brauchbarer). Auf jeden Fall ist mit Descartes die Frage der Philosophie nicht mehr: Was ist die Struktur des Seins? Sondern: Was kann ich wissen, worüber kann ich mir tatsächliche Klarheit verschaffen? Das Zentrum der Philosophie wird also das autonome Subjekt. Unumstößliche Gewissheiten strebte die Philosophie zwar immer schon an, neu war aber die denkerische Radikalität, die man diesbezüglich bei Descartes hatte. Heute scheint der Gestus von Descartes schon lange nicht mehr radikal, sondern vielmehr banal. Auch wenn wahrscheinlich trotzdem kaum ein Mensch so wie Descartes nach wie vor denkt. Aber in seiner ursprünglichen Originalität war er vielleicht ähnlich radikal wie das Philosophieren von Wittgenstein.

76 Wittgenstein wird als lausiger Volksschullehrer beschrieben, für einen solchen Job naheliegenderweise kaum geeignet. Aber er hat seine Schulkinder nicht nur geschlagen, sondern konnte ihnen auch ungewöhnlich nahe sein und hat sich über das gewöhnliche Maß hinaus um sie gekümmert. Als bei einer Wanderung durch den Wald ein Junge ängstlich wurde, gesellte sich Wittgenstein zu ihm und sagte: Hast du Angst? Dann musst du nur ganz fest an Gott denken.

77 Wittgenstein ist so charismatisch, weil er ein durch und durch existenzieller, von der Frage nach dem Sinn der Existenz scheinbar gebeutelter Denker scheint. Er war auch moralisch kompromisslos, und hatte, trotz seiner weltlichen Natur, ein religiös erhobenes moralisches Empfinden. Immer wieder hat sich Wittgenstein in seinem Leben mit seinen „Sünden“ beschäftigt, und wollte sie abtun. Als er sich Jahrzehnte danach an ein Mädchen erinnerte, das er als Lehrer besonders hart geschlagen hatte (weswegen er dann auch seinen Posten verloren hatte), fuhr er beim nächsten Mal, als er in Wien war, im tiefsten Winter über den Wechsel nach Niederösterreich (damals eine Reise von vier Stunden), um sich bei der mittlerweile Erwachsenen in aller Form zu entschuldigen und bei ihr Abbitte zu leisten. Mit einem teilnahmslosen Ja, ja… winkte die ihn ab. Daraufhin fuhr Wittgenstein im tiefsten Winter wieder vier Stunden zurück über den Wechsel nach Wien. Als er seinen Posten als Volksschullehrer angetreten hatte, schrieb Wittgenstein an Russell über seine neue Erfahrung: Auch wenn Menschen überall schlecht seien, komme es ihm so vor, als wie sie bei ihm in Niederösterreich am schlimmsten wären. Russell hielt dagegen, die Niederösterreicher und ihre Kinder seien wohl auch nicht schlimmer als die Menschen anderswo. Unterhaltung zwischen erlauchtesten Geistern.

78 Wittgenstein verfügt über ein einzigartiges Charisma, denn er war eine Art Heiliger, eine religiöse Figur in einem modernen Zeitalter. Das Verlangen danach, die Wahrheit herauszufinden, und festzustellen, was richtig ist und was falsch, war bei ihm so stark ausgeprägt, und so rücksichtslos seiner eigenen Person und seinen eigenen weltlichen Interessen gegenüber, dass es eben religiös wurde. Wenn einem Wahrheit so stark beschäftigt, wird die Wahrheit etwas Heiliges. Je mehr man sich der Wahrheit annähert – und desto luzider man sie erkennt – desto mystischer wird sie (weil sie sich ja immer wieder entzieht) und man lebt in einem Raum des mystischen Ahnens. Das ganze Leben ist eine geistige Suche und wird somit also spiritualisiert. Religion bedeutet eben sorgfältige Beachtung, Unterwerfung unter ein höheres Prinzip. Und dieses höhere Prinzip, die absolute Instanz ist für den Wahrheitssucher eben die Wahrheit. Rene Girard geht davon aus, dass tiefsinnige Schriftsteller Erfahrungen machen, die er in eine Klasse mit den religiösen Erfahrungen stellen will. Klar, wenn man sich so intensiv mit der Menschheit beschäftigt, sich introspektiv und empathisch, sympathetisch in sie vertieft, und nach einer Lösung sucht für die Probleme der Menschheit und das Menschheitsproblem, gerät man in diesen selben religiösen Raum. Einstein formuliert eine „kosmische Religiosität“: eine Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Universums, als der übergeordneten, absoluten Instanz.

79 Bei Wittgenstein waren die intellektuelle Existenz und die ethische Existenz unmittelbar verbunden, und in diesem Amalgam haben sie sich diese Pole gegenseitig intensiviert. Sein Problem war, wie man aus logischen Sätzen ethische Sätze gewinnen könne; und er erachtete das als unmöglich. Es handle sich um verschiedene Sphären. Das religiöse Empfinden verbindet aber urtümlich Seinsaussagen mit Sollensaussagen, empfindet das Dasein als etwas Normatives, die grundsätzliche, logisch ablesbare Ordnung der Welt als eine profund ethische. Wittgenstein sagt im Tractatus: der Sinn lasse sich nicht aussagen, der Sinn zeige sich. Der hochethische Wittgenstein hat keine moralphilosophischen Aussagen gemacht. Aber er hat die Moral aufgezeigt, indem er kraftvoll ethisch gelebt hat. Er hat seine moralphilosophischen Aussagen gemacht, aufgezeigt, durch seinen praktischen Lebensvollzug.

80 Das rätselhafte Charisma, eigentlich müsste man sagen, die hypnotische Wirkung, die Wittgenstein auf andere Intellektuelle ausübt, beruht (neben dem Rätselhaften an sich, das man bei jedem Charisma hat) auf der extremen Entschlossenheit und Prägnanz, dem scheinbaren Gestus übermenschlicher Kraft und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, mit der sich Wittgenstein auf eine oder in eine Sache stürzt, um deren Wahrheit zu bestimmen oder deren Qualität festzustellen. Sowie gleichzeitig, dass er sich von einer Sache zu lösen weiß, wenn die Wahrheit woanders zu liegen scheint. Er orientiert sich tatsächlich an rein abstrakten Qualitäten, wie dem Wahren, Guten, Schönen, und nicht an Gegenständen, in denen er diese Qualitäten letztendlich reinprojizieren würde. Mit dieser ungeheuren Flexibilität imitiert Wittgenstein scheinbar die Fluidität des Geistes Gottes. Er ergreift die Dinge ernsthaft, und ist ernsthaft genug, sie wieder loszulassen und sie nicht zu verabsolutieren und zu verdinglichen. Er kann sich in eine Richtung bewegen und in eine beliebige andere auch, und schlägt vor allen Dingen dauernd unvorhersehbare Haken; allerdings nicht aus einer Laune heraus, sondern je nachdem, wie sich die Gedanken in aller Stringenz entwickeln. Denken heißt, einer Hexenlinie folgen. (Deleuze/Guattari) Wittgenstein errichtet eine Metaebene über die Philosophie und über das Denken: und das ist das rätselhafte Charisma Wittgensteins. Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr heraufgestiegen ist.), lautet der vorletzte Satz 6.54 aus dem Tractatus, unmittelbar vor dem unergründlichen Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wittgenstein ist kein systemerstellender) Philosoph, sondern ein (alle Systeme reflektierender) Meta-Philosoph. Damit hat Wittgenstein dann wahrscheinlich den transzendentalen Intellekt, über den nichts mehr hinausgehen kann. Und das ist dann eben das rätselhafte Charisma von Wittgenstein.

81 Sich über die Philosophie lustig machen, das heißt in Wahrheit philosophieren. (Gedanke 702)

82 (Soll man versuchen, Gedanken 702 auch auf die Religion anzuwenden? Das ergibt dann eine Meta-Religiosität. Dem Absoluten kann man sich nicht gleichberechtigt nähern. Auf der Metaebene kann man aber mit ihm tanzen und sich mimetisch zu ihm verhalten. Das ist die Hoffnung. Das Erbauliche in dem Gedanken, dass man gegen Gott immer unrecht hat. Und das muss einen praktisch nicht verzweifeln lassen. Denn es ist ja nur eine gedankliche Wahrheit.)

83 Wahrscheinlich ist das die Art und Weise, wie man leben soll; der Lebensvollzug auf der höchsten Stufe. Das scheint kaum einem einzuleuchten, und Wittgensteins Leben gilt, aufgrund seiner ständigen Hin- und Hergebeuteltheit, als exemplarisch unglücklich. Wittgensteins letzte Worte auf dem Totenbett aber waren: Sagen Sie allen, ich hatte ein wundervolles Leben.

84 Descartes begründet einen Optimismus. In seiner Welt wird es Licht, es wird eine Methode angegeben, wie die Welt eindeutig begreifbar und beherrschbar werden kann, und dieses Licht liegt im Menschen selbst. In seiner Schrift über Die Leidenschaften der Seele betrachtet Descartes auch Gefühle in einer gleichsam mechanischen Art und Gefühlsregungen als deduktive Ableitungen (etwas, das man, ebenso irritierend, später dann auch bei Spinoza wiederfinden sollte, der ebenfalls glaubte, in der deduktiven Methode nach dem Vorbild der Geometrie alles bestimmen zu können). Das unterscheidet sich dann doch sehr von der zerklüfteten, sturmumwitterten Landschaft, die man bei Pascal hat, der Atmosphäre, wo aus dem Halbdunkel Teile eines Antlitzes mit einem halbverrückten Grinsen einem entgegenragen. Bei Pascal hat man ein Klima der Instabilität und der Irrationalität, wenn über die Leidenschaften und über das Sein des Menschen gesprochen wird. Das für immer unbeherrschbar bleibt, außer man flüchtet sich absolut zu Gott. Skeptizismus diesbezüglich ist die Sache von Pascal nicht, nur eben der unbedingte Glaube (inmitten eines irdischen Umfeldes, das aber nicht zu einem wohldosierten Skeptizismus einlädt, sondern pathologisch unzuverlässig ist). Was auch immer Descartes für die Philosophie geleistet hat, die lebensechtere Darstellung des Lebens und des Literarischen und Poetischen im Leben, ist viel eher die Sache und das Verdienst Pascals. Pascal war ein Schriftsteller des Lebens. Während Descartes also der Begründer der modernen Philosophie ist, so ist Pascal gleichsam der Begründer der Existenzphilosophie.

85 Ich habe lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften verbracht, und die geringe Möglichkeit der Mitteilung, die man darin haben kann, hat sie mir verleidet. Als ich mit dem Studium des Menschen begann, habe ich gesehen, dass diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht gemäß sind, und dass ich mich durch mein Eindringen in sie über meinen Zustand mehr getäuscht habe als die anderen, indem sie nichts davon wussten. Ich habe es den anderen verziehen, dass sie wenig davon wussten. Aber ich habe geglaubt, wenigstens beim Studium des Menschen sehr viele Gefährten zu finden, und geglaubt, dass dies das wahre, dem Menschen gemäße Studium sei. Ich habe mich getäuscht: Es gibt derer, die den Menschen erforschen, noch weniger, als derer, welche die Geometrie studieren. (Gedanke 209)

86 Ein gutes Mittel, gegen das Gefühl, einsam und ungeborgen zu sein, ist sicherlich die Religion.

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87 Unsere ganze Würde besteht im Denken. Daraus muss unser Stolz kommen, nicht aus Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: das ist das Prinzip der Moral. (Gedanke 128)

88 Was der Kern von Religion sei – falls eine solch fetischistische Vorstellung einem so weitläufigen Phänomen überhaupt angemessen sein kann – mag jeder unterschiedlich beantworten. Andrea betrachtet sie als eine Nebelgranate im Klassenkampf. Fjell aus Norwegen möchte hingegen, Odins Raben folgend, um die Welt segeln und Thors Hammer auf England niedersausen lassen, um es besser ausrauben zu können. Gottfried Wilhelm delektiert sich an Zahlenmystik. Bei Muhammad wirkt die Religion als ein süßer und willkommener Verstärker auf seine angeborene Paranoia, während das Dorf von Razia, einer Rohingya in Burma, gerade niedergebrannt wird, weil sich ihre kulturellen Codes zu stark von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, oder dem, was die Militärjunta als solche in dem Vielvölkerreich etablieren will. Gott bewahre einem daher vor allzu vereinheitlichenden Vorstellungen über die Religion(en). Im Maße man mehr Geist hat, findet man mehr Originalität unter den Menschen. Die gewöhnlichen Leute finden keinen Unterschied unter den Menschen. (Gedanke 707)

89 Sehen wir also, betrachten wir das wir das aber so, ohne es als allzu verbindlich zu postulieren: der Kern der Religion ist das Gute und die Suche nach dem Guten. Wissenschaft und Politik sind Erklärung und Handhabung der Welt, so wie sie ist; Religion beschreibt die Welt so, wie sie sein sollte. Während der Mensch, wie es religiöse Menschen immer wieder betonen, sündig und egoistisch geboren sei, könne er durch seine Hinwendung zum Nebenmenschen, und zur Gesamtheit der Nebenmenschen, sich zum Guten hinwenden. Wir werden … geboren, wir werden also ungerecht geboren, denn alles strebt zu sich selbst. Das ist gegen alle Ordnung: man muss zum Allgemeinen streben, und der Hang zu sich selbst ist der Anfang aller Unordnung … Wenn die Mitglieder der natürlichen und politischen Gemeinschaften das Wohl der Gesamtheit erstreben, so müssen die Gemeinschaften selbst eine andere, allgemeinere Gesamtheit anstreben, deren Mitglieder sie sind. Man muss also das Allgemeine erstreben. Wir werden also ungerecht und entartet geboren. (Gedanke 87)

90 Der gute Mensch ist also der, der sich nicht fragt: Wie kann diese Sache für mich nützlich sein?, sondern: Wie kann diese Sache allgemein von Nutzen sein? Glück hat dann derjenige, bei dem das Zweitere als natürlicher Reflex so angelegt ist. Sein Ich ist dann so strukturiert, dass er natürlich auf das Allgemeine bezogen empfindet und reflektiert. Es muss das dann nur noch kultivieren, aber eigentlich nichts mehr überwinden. Er muss sein Ich nicht hassen, so wie es Pascal dauernd vorschlägt: Das Ich ist hassenswert… (Gedanke 587) Sie wollen nur Gott dienen, sie wollen nur sich selbst hassen. (Gedanke 45) Um es nicht falsch zu verstehen: Pascal und seine Familie haben so viele altruistische Unternehmungen geleitet und sich für den Nächsten aufgeopfert, dass ich mich am liebsten schamvoll in einer kleinen Ecke verkriechen möchte, angesichts meiner diesbezüglich kleinen Verdienste. Aber/also warum kommt dann bei ihm, und bei diversen Heiligen, immer wieder die Proklamation des Selbsthasses und die Aufforderung dazu? Leiden sie, dysfunktional, an Angstzuständen oder an einem grausamen Über-Ich? Dramatisieren sie ihren Glaubenskampf? Oder sind sie eben tatsächlich so sündig und ichbezogen, dass diese Selbstablehnung nicht von ungefähr kommt? Die Jansenisten berufen sich auf den eigentlichen Kirchenvater Augustinus. Kenne ich nur oberflächlich, aber so wie es scheint, hatte Augustinus enorm viel Böses in sich, für das er sich geschämt hat („mein sündhafter Charakter“ usw.) und daher rigorose Praxen gegen das Böse aufstellen wollte, die aber naturgemäß, in einem so einen Fall, ebenfalls vom Bösen durchzogen sind. Da Leute in ihren Schwächen und in ihren Neurosen nicht allein sein wollen, wollen sie ihre Schwächen und Neurosen in der ganzen Welt sehen und eine neurotische Weltsicht etablieren und für alle verpflichtend machen. Augustinus wurde zum Kirchenvater. Da das ein Phänomen von enormer Tragweite ist, werde ich also auch Augustinus näher studieren müssen.

91 Die eineinhalbjährige Giovanna Milagros nimmt gerne alles Mögliche an sich, und wirft es dann außerdem immer wieder in einem hohen Bogen von sich weg, sobald sie es hat. Ihr Geschrei, wenn sie etwas nicht sofort bekommt oder sie sonstwas irritiert, erschüttert Haus und Hof. Süßes Obst hat sie gern. Immer wenn ich eine Pera oder eine Ciruela esse, kommt sie her, und will ein Stück, sobald sie dieses verzehrt noch eines, bis wir beide die Frucht ganz aufgegessen haben. Aber sie gibt auch immer wieder gerne Sachen her. Kleine Kinder sind so, dass sie ihre Sachen bereits früh mit anderen teilen wollen. Dem kann man jetzt mit einer dieser Psychologien des Verdachts begegnen: das würden die Kinder nur machen, um sich einen späteren Vorteil zu sichern; oder anzugeben; oder sich dem anderen, durch eine herablassende Geste der Gabe, überlegen und monarchisch fühlen zu können. Aber nehmen wir an, dergleichen steckt nicht dahinter, sondern solches Verhalten ist rein und ursprünglich. Dann können wir also davon ausgehen, dass Menschen bereits von Anfang an nicht bloß egoistisch sind, sondern auch eine prosoziale Natur haben. So gesehen ist die vollkommene Verzweiflung über die menschliche Natur, so wie man sie bei Pascal hat, unangemessen.

92 Überhaupt: warum verzweifelt einer? Weil er keinen Ausweg mehr hat. Prüfen wir diesen Punkt und sagen wir: Gott ist, oder er ist nicht. Aber welcher Seite werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann hier nichts entscheiden: es ist ein unendliches Chaos, das uns trennt. Wir spielen am äußersten Ende dieses unendlichen Chaos ein Spiel … (Gedanke 83)

93 Chaos, Chaos! Parteiische Menschen sehen außerhalb ihrer Partei nur das Chaos, und können kaum anders. Das gilt insbesondere für Parteien mit eschatologischem Anspruch. Zwar mögen Kommunisten mit ihrer Partei sehr unzufrieden sein. Aber was sollen sie tun? Außerhalb ihrer Partei und ihrer Weltanschauung können sie gemeinhin nur Chaos erblicken, vor dem sie sich erschreckt abwenden. Wenn man die Dinge im Außen näher studiert, wird man draufkommen, dass sie meistens so chaotisch nicht sind, sondern sogar vielleicht logischer und intuitiver als die eigenen Glaubensartikel. So bezwingt man das Chaos, schiebt es etwas weiter zurück. Es ist das Problem dichotomischer Weltanschauungen, dass sie nur sich und das Chaos sehen können. Betrachten wir die Wirklichkeit hingegen so, wie sie ist: also als teilweise göttlich-geordnet und sinnvoll; als teilweise chaotisch und des Sinnes entbehrend. Seitdem ich diese Physik und Metaphysik vom Chaosmos pflege, bin ich gesund, und kann zwischen meinem Auge und dem Auge Gottes kaum mehr unterscheiden, denn ich sehe somit das was alle sehen wollen, was aber kaum einem zu sehen gelingt: das Große Ganze, das ganze Große Spiel. Hallelujah.

94 Mit der Erschließung des Chaosmos ist die Existenz einerseits völlig enträtselt und sind ihre Zumutungen daher vollständig überwunden. Andererseits ist die Geometrie vom chaosmotischen Weltbild fraktal: man stößt auf immer wieder neue Manifestationen von Ordnung und Chaos, so dass man ständig auf Trab gehalten wird. Langeweile im Pascalschen Sinn kommt keine mehr auf. Man ist in Stasis, man ist in Bewegung. Man ist das ruhende Auge im Tornado. Deswegen verkünde ich gerne die Religion vom Chaosmos.

95 Das Böse ist leicht und es gibt unendlich viel Formen des Bösen; das Gute ist beinahe einförmig. (Gedanke 684) Das Böse ist simpler als das Gute. Denn das Böse ist direkt und will eindeutig was. Destruktivität kann ein einfaches Ziel benennen, Konstruktivität geht immer über jedes eindeutige Ziel hinaus, will ständig neue Häuser bauen. Das Böse mag kompliziert sein, voller Winkelgänge, es liebt den Hinterhalt und das Arbeiten im Verborgenen, wie aber genauso den frontalen Angriff, das Böse ist labyrinthartig. Das Gute hingegen ist komplex, und das heißt: in seinen möglichen Erscheinungsformen niemals völlig vorhersehbar und erklärbar. (Allerdings ist es mit sich selbst identisch und daher, bei aller Komplexität, einförmig.) Das Gute wächst über sich hinaus. Der Teufel ist als Widersacher gedacht. Raffiniert ist er, und er kann eine Vielfalt von Erscheinungen annehmen. Aber das Göttliche sind unendliche Räume, in denen er letztendlich herumirrt, und aus denen er nie herauskommt. Solange es Sein gibt und nicht Nichts, triumphiert das Gute, denn wo das Nichts einförmig ist, kann das Sein unendlich viele Formen annehmen. Und wenn schließlich das Nichts triumphiert, mag man es auch als gut ansehen; als vielleicht sogar noch besser. Es war Pascal, der Angst vor dem Tod als Nichts hatte. Schopenhauer hingegen fand das Eingehen in das Nichts als die beste Sache von der Welt. Vielleicht hat man von diesem Sein und seiner verwirrenden Vielfalt irgendwann einmal genug.

96 Wer gut ist, wird erlöst und kommt zu Gott in den Himmel; wer böse ist, wird verdammt und fährt zum Teufel und zur Hölle. Was aber ist der Himmel, und was die Hölle? Über den Himmel hat sich Pascal kaum ausgelassen. Er spricht hauptsächlich von „ewiger Seligkeit“ und dem Seelenheil. Die Hölle sind für ihn gleichsam die irdischen Verhältnisse selbst. Damit ist seine Vorstellung vom Himmel gleichsam negativ bestimmt, und beinahe als eine unterschiedslose Euphorie, weil Gott da ist, und die Lebenswelt nicht mehr da ist. Im Paradies auf jeden Fall sind die Seelen in ewiger Kommunion mit Christus, der wiederum für die All-Kommunion sorgt. Der positive Inhalt des Lebens ist es, gute Beziehungen herzustellen; zu dem, was uns umgibt und zu uns selbst. Im Paradies leben unsere Seelen dann nur mehr in guten Beziehungen, in der All-Kommunion. Es gibt keine schlechten Beziehungen mehr. Das also ist das Paradies.

97 Man fragt sich: Kann das für so viele Menschen überhaupt etwas sein, streitsüchtig und zänkisch, wie sie sind; für die „gute Beziehungen herstellen“ in der Praxis bedeutet: ihre Neurosen zu pflegen und zu bestärken, und sich dadurch von der All-Kommunion eben gerade abwenden? Was sollen solche Seelen im Himmel also überhaupt anfangen? Laut dem Geisterseher Emmanuel Swedenborg steht die Einrichtung der Hölle nicht im Gegensatz zur angenommenen großen Barmherzigkeit Gottes, sondern ist vielmehr ein Beispiel seiner Gnade. Himmel und Hölle seien so Welten, in denen man emotional lebt, wie man es schon auf Erden getan hat; etwas anderes würde man auch gar nicht verstehen. Die große Liebe und Barmherzigkeit Gottes würde die für die Hölle Bestimmten schnell geradezu erdrücken. In der Hölle hingegen können sie sich streiten, neurotisch sein usw., und für jede Pathologie hat die Vorsehung wohlweislich einen eigenen Höllenkreis eingerichtet. Das Paradies ist aber All-Kommunion auf der Basis guter Beziehungen.

98 Was ist der große Sinn, was ist die wirkliche Erfüllung im Leben? Man könnte annehmen, jemand wie David Bowie müsste das wissen. Ruhm, Talent, Genie, Kunst, Musik, eine großartige Stimme, Geld, Modebewusstsein, ästhetischer Sinn, Schönheit, eine markante Physiognomie, Charisma, Sex-Appeal, Bisexualität, Bekanntschaften, Drogen, Party, Exzesse, Bildung, Familie, Ruhe, all das ist diesem seltenen Menschen zugeflogen. Und er hat sich nie lächerlich gemacht, sondern immer eine gute Haltung bewahrt, auch wenn er schwächere Alben herausgebracht hat, oder Kunst, die nicht so gut war. Er hat in dieser Welt alles – und noch dazu überreichlich – erreicht, was man wohl erreichen kann. Wie aber würde er sein Leben leben, wenn er es nochmals könnte? Er würde es spiritueller leben, so darauf seine Antwort, als eine Art Mönch, dabei ein Mönch, der trotzdem viel Gitarre spielt. Die Reichen, die sich in dieser Welt alles leisten können, bekommen später im Leben dann immer wieder Sehnsucht nach den Künstlern, umgeben sich gerne mit denen, weil ihnen das mysteriöse Künstlerische, als eigentlicher Modus der menschlichen „Selbstverwirklichung“, noch fehlt im Leben, und sie es gerne hätten. Die Künstler, die alles erreicht haben, wollen schließlich Mönch werden… die Spiritualität, die geistvoll-empathische gute Beziehung zu allem und zu uns selbst, ist der Malstrom, der uns alle, bewusst oder unbewusst, verschlingt und in dem das Chaos und das Rätsel der Existenz schließlich an ihr Ende stoßen.

100 Mit Einem Wort, ein Heiliger sein, und damit ist Alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge, welche, im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so schön, dass sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig, als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswert, als nur das Laster. Die Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig. – Das ist der letzte Aphorismus, mit der Nummer 300, aus dem Handorakel und Kunst der Weltklugheit, der Strich, den es unter das Leben zieht und die Summe, die es darunter setzt, von Baltasar Gracián, einem Zeitgenossen Pascals. Gracián war ein spanischer Jesuit und hatte nicht das tiefe Empfinden Pascals. Aber Weltklugheit, die hatte er. Ich werde wieder einmal Gracián lesen müssen.

*

101 Pascals Mutter Antoinette starb kurz nach der Geburt des dritten Kindes, Jacqueline. Blaise war damals drei Jahre alt. Antoinette Begon stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die in den Amtsadel strebte, dem Pascals Vater in zweiter Generation angehörte. Wenn Schopenhauer recht hat, dass man die Intelligenz von der Mutter erbt, das Temperament vom Vater, was muss Antoinette Begon dann wohl für eine Frau gewesen sein?

102 Pascals vorzüglicher Vater, Étienne, war Steuerrichter und ein hochgebildeter Mensch, der mit den größten französischen Gelehrten auf vertrautem Fuße stand. Angesichts der Talente, die sich bei allen drei Kindern schon früh bemerkbar machten, gab er seine Stellung auf und widmete sich ganz der Erziehung seiner Kinder. Sanft und verständnisvoll – nach den Empfehlungen Michel de Montaignes – wurden Gilberte, Blaise und Jacqueline mit den Wissenschaften vertraut gemacht, in denen sich Blaise auf dem Gebiet der Mathematik schon als Knabe eigenständig hervortat. Auch auf Ètienne selbst geht eine mathematische Innovation zurück, die Pascalsche Schnecke. Aufgrund eines Verdachts einer Verschwörung fiel Ètienne dann beim Regime in Ungnade. Diesbezüglich rehabilitierten ihn die Talente seiner Tochter Jacqueline, die als Wunderkind die Königin höchstselbst nachhaltig zu bezaubern wusste und somit den Bann, der über ihre Familie verhängt war, zu lösen vermochte. Ètienne wurde daraufhin zu einem hohen Steuerbeamten ernannt. Bei den umständlichen Berechnungen ging ihm Blaise zur Hand, der deswegen eine Rechenmaschine erfand und konstruieren ließ, um die Arbeit zu erleichtern. Man kann also sagen, dass sich Étiennes Investitionen in seine Kinder ausgezahlt haben. Als er sich im fortgeschrittenen Alter das Bein brach, wurde er von jansenistischen Brüdern gepflegt. Er schloss sich dem Jansenismus an, und seine Kinder folgten ihm darin. Incipit tragoedia. Einige Jahre darauf starb Étienne im Alter von 63 Jahren.

103 Die Frau seines Lebens war für Blaise Pascal seine höchstbegabte Schwester Jacqueline. Von Kindesbeinen an waren die beiden eng verbunden. Jacquelines Begabung war zunächst eine poetische. Mit ihren spontanen Dichtungen setzte sie die Königin höchstselbst so sehr in Erstaunen und Entzücken, dass sie eine Begnadigung ihres Vaters erwirkte, der beim Regime in Ungnade gefallen war. Die Königin Anna von Österreich wollte das Wunderkind ständig um sich haben. (Ich habe in einer Pascal-Biographie einige Stellen aus ihren Gedichten gelesen. Sie haben sich mir aber nicht erschlossen. Aber das ist bei Gedichten bei mir selten der Fall. Ob es tatsächlich große Poesie war und nicht nur (außergewöhnliche) Talentproben, weiß ich nicht. Wenn es aber große Poesie gewesen wäre, wäre sie ja wohl diesbezüglich bekannt. Ich muss das bei einer Gelegenheit noch einmal genauer studieren, wenn ich kann.) Als junge Erwachsene bekannte sich Jacqueline zum Jansenismus und hängte die Dichtung allerdings an den Nagel (also, bevor sie als Dichterin noch tatsächlich reifen konnte). Sie schwor, sehr zum Verdruss ihres Bruders, nach dem Tod des Vaters in das Konvent von Port-Royal einzutreten, und tat das dann auch. Blaise, der es ohne sie schwer aushielt, siedelte sich daraufhin in ihrer Nähe an. Als Ordensfrau verfasste sie Werke über die Kindeserziehung und auch biographische und autobiographische Texte. Zunehmend gerieten die Jansenisten und ihre spirituelle Hochburg Port-Royal unter politischen Druck, dem die glaubensfesten Jansenisten lange standhalten konnten. Trotzdem erwies sich der Druck seitens der Regierung als übermächtig und schließlich mussten die Nonnen von Port-Royal, und auch Jacqueline, eine aufoktroyierte Erklärung unterzeichnen, in der sie sich von ihren Ansichten distanzierten. Um ihren religiösen Lebensinhalt betrogen starb Jacqueline wenig später am Tag ihres 36. Geburtstages. Der Verlust seiner geliebten Schwester hat Pascal noch schwächer und lebensmüder gemacht, als er es schon war. Im Jahr darauf bereits sollte er ihr folgen.

104 Gilberte war das unbegabteste und einfältigste unter den Pascal-Geschwistern. Das bedeutet aber, dass sie dennoch deutlich intelligenter war als das, was einem im täglichen Leben unter einem „intelligenten Menschen“ allgemein begegnet. Sie sprach mehrere Sprachen und war sehr gebildet. Ihr Leben verlief, nach äußeren Umständen gemessen, auch glücklicher als die ihrer beiden Geschwister. Sie heiratete und brachte sechs Kinder zur Welt. Auch sie war religiös, aber nicht in einer so morbiden Weise wie die beiden genialen Geschwister. Ihr verdanken wir die ersten Biographien von Blaise und Jacqueline, und sie brachte Pascals Gedanken heraus. Sie starb im Alter von 67 Jahren, nachdem sie ihr späteres Leben in selbstgewählter Einsamkeit zugebracht hat.

105 Marguerite Périer war Pascals Nichte, die als Kind durch die Berührung mit einer religiösen Reliquie von einem hartnäckigen Augenleiden geheilt wurde, und die durch dieses Wunder den Anstoß für die Verfassung der Gedanken gegeben hatte. Immer wieder, wenn ich im Museum Bilder betrachte aus längst vergangenen Zeiten, mit Menschen, die alle schon lange gestorben sind, werde ich nachdenklich und frage mich vor allem bei den Kindern, wie ihr späteres Leben, das dennoch schon lang vorbei ist, den langen ruhigen Fluss vollständig entlang gezogen ist und sich endlich ins Meer verlaufen und aufgelöst hat, wohl verlaufen ist. Erwachsene faszinieren mich weniger, weil die bereits was geworden sind. Kinder aber sind noch Potenzial, sie werden erst was. Und damit sind sie mir näher. Vor zum Beispiel das Gemälde Blick aus einem Torbogen auf Prag von Karl Postl, ermalt um das Jahr 1800, frage ich mich, was wohl aus dem kleinen Jungen geworden ist, der im Bild links die Mauer hochzuklettern versucht? Oder aus dem kaum sichtbaren Mädchen am Arm ihrer Mutter in der Bildmitte, in der sich der Blick auf Prag öffnet? Vielleicht ist der eine in den Himmel, die andere zur Hölle gefahren. Warum aber, und was haben sie in ihrem Leben angestellt, zu was sind sie möglicherweise vom Schicksal gezwungen worden, was erfolgte aus freiem Entschluss? Über so etwas sinniere ich bei der Betrachtung von alten Bildern gerne nach. Marguerite aber wurde ebenfalls Nonne und bekam im Laufe ihres Lebens immer wieder Probleme im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jansenisten. Sie widmete sich Werken der Nächstenliebe und verfasste Erinnerungen an ihren Onkel Blaise und an ihre Mutter Gilberte. Ihre eigenen Memoiren sind bis heute verschollen. Wenn sie auftauchen, werde ich sie irgendwann einmal lesen. Sie starb im biblischen Alter von 87 Jahren. Die Geschichte von ihrem Augenleiden und dessen wundersamer Heilung berührt und mystifiziert mich. Ich will diese Gedanken zu Pascal daher der zehnjährigen Marguerite Périer widmen.

106 Eine der großen infrastrukturellen Errungenschaften, auch wenn man sie heute beinahe übersieht, ist, neben der Kanalisation, der Müllabfuhr und der Chlorung von Trinkwasser das öffentliche Verkehrssystem. Was hat man davon, wenn man in einer Stadt lebt, aber Kilometer weit weg vom Zentrum? Früher ist man aus seinem Viertel kaum rausgekommen. Was für beengte, kleinkarierte Lebensverhältnisse also. Und auch wenn man heute die elfjährige Amantlé und ihre Schwester, die zwölfjährige Aissatou aus dem Dorf in Sambia fragt, was der weiteste Punkt ist, wo sie im Leben hingekommen, dann werden sie zur Antwort geben: bis zur Straßenkreuzung. Oder: bis zum Brunnen vor dem Tor. Die (nicht nur heutige sondern) historische Unterentwicklung von Afrika liegt vor allem darin begründet, dass der Kontinent schlecht erschließbar und verkehrsmäßig verbunden ist. Das gilt für den Landweg als auch für den Flussweg, denn afrikanische Flüsse sind, aufgrund ihrer ständigen Stromschnellen und Wasserfälle, über weitere Strecken schlecht passierbar. So kann ein Kontinent aber nicht gut zusammenwachsen und Handel und Austausch betreiben. Und so bleibt ein Kontinent auch ethnisch, kulturell und sprachlich stark fraktioniert (so wie es selbst Frankreich bis ins 20. Jahrhundert hinein geblieben ist; der Konservatismus von de Gaulle – so wie der von Adenauer in Deutschland – hatte seine tiefere Wurzel in der Sorge darin, die Nation mental zusammenzuhalten). Das erhöht dann das Potenzial für Rivalitäten zwischen Gruppen, für Bürgerkriege, Sezessionskriege usw., wie man sie in Afrika so überreichlich hat. Das öffentliche Verkehrssystem ermöglicht also insgesamt eine erhebliche Erweiterung des Erfahrungshorizonts und damit der Lebensqualität, wenn nicht der Allgemeinbildung. Es müsste eben auch zur Pazifizierung der Gesellschaft beitragen. In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Pascal, trotz seines Siechtums und seiner religiösen Weltabkehr, dem Aufbau von etwas, was damals noch völlig neu war: eben dem eines öffentlichen Verkehrssystems, in dem Fall von Kutschen, die zu festgelegten Uhrzeiten zwischen festgelegten Stationen in der Stadt kursieren sollten. Die Adeligen und die oberen Schichten waren dagegen, da das einfache Volk damit in etwa auf dieselbe Stufe gehoben wurde wie sie selbst. Heute sind die oberen Schichten nicht mehr so, ihr dementsprechendes Verhalten hat sich nur in andere Bereiche verlagert. Aber die gehen mich nichts an. Pascal hat aber so ein weiteres Mal – und ein letztes Mal im Leben – dazu angestoßen, einen neuen Bereich überhaupt aufzumachen, eben den des öffentlichen Verkehrswesens. Pascal sah darin ein echt christliches Unternehmen: den weniger Begüterten die Zirkulation und einige Annehmlichkeiten des Lebens zu ermöglichen. Ich selber habe kein Auto und keinen Führerschein, sondern verlasse mich ebenfalls auf den öffentlichen Verkehr. Hier in Wien haben wir, erwiesenermaßen, eines der besten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt. Und die Wiener Linien haben sogar einen guten Humor in ihrer Eigenwerbung und Selbstdarstellung. Ein sympathisches Unternehmen, ein tüchtiges Unternehmen. Der Urvater davon war also Blaise Pascal, auch wenn er die praktische Lebenswelt so sehr verworfen hat und nichts mit ihr zu tun haben wollte. Vor allem deswegen bin ich ihm sicher sehr dankbar.

19. März – 28. März 2025  

Essai über Montaigne

Mit den großen Philosophen erst beginnt das Gebiet der eigentlichen Größe … Sie bringen die Lösung des großen Lebensrätsels, jeder auf seine Weise, der Menschheit näher; ihr Gegenstand ist das Weltganze von all seinen Seiten, den Menschen nota bene mit inbegriffen … An die Philosophen möchten diejenigen anzuschließen sein, welchen das Leben in so hohem Grade objektiv geworden ist, dass sie darüber zu stehen scheinen und dies in vielfältigen Aufzeichnungen an den Tag legen: ein Montaigne, ein Labruyère. Sie bilden den Übergang zu den Dichtern.

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen

Was ist das Leben, objektiv betrachtet? Eine verfluchte, endlose Subjektivität und Idiosynkrasie, mit der kein verobjektivierender Geist jemals fertig werden kann! Der Philosoph versucht einen großen objektiven, theoretischen Rahmen zu etablieren, eine Arena zu entwerfen, innerhalb derer sich das Leben abspielt; mit dem möglichen Gewinn, einen Sinnzusammenhang und eine Verständigungsmöglichkeit über das Leben herzustellen, und der möglichen Gefahr, das Leben zu kastrieren, abzutöten, es zu einer Abstraktion zu machen, nur damit sie sich in die größere Abstraktion einfügt. Der Dichter ist kein echter Alliierter der Abstraktion, sondern bildet das Leben unmittelbarer ab. Der Poet verschafft seiner Subjektivität einen wortreichen Ausdruck. Der Dramatiker erstellt Situationen, in denen sich allgemeine Lebenssituationen verdichten und dramatisieren und wirft Figuren dort hinein, um zu sehen, wie sie sich darin benehmen. Der Romancier schafft Charaktere und Typen, die menschliche Eigenschaften illustrieren und, wenn es gut gelingt, höchst symbolkräftig darstellen. Der Großschriftsteller etabliert Charaktere, in denen sich überhaupt die Menschheit individualisiert: im Faust, im Don Quichote, im K., im Idioten. Und schafft so Menschheitsparabeln. Die Meditation und Durchreflexion der Unendlichkeit der subjektiven Manifestationen des Lebens ist hingegen Metier des Essayisten. Seine Sache ist das Durchdenken, das Sichvergegenwärtigen, das Abwägen von Subjektivitäten, das sich Annähern daran; weniger jedoch das Räsonieren darüber oder das Theoretisieren. Mir liegt zum Beispiel weniger daran, Ansichten zu haben, die gelehrt und geistesmächtig sind, als daran, dass sie einem unbeschwerten Leben dienlich seien: Ich finde sie schlüssig und vernünftig genug, wenn sie nützlich und befriedigend sind. (Über die Eitelkeit) Damit gerät er einerseits in die Nähe des Philosophen, bleibt ihm gegenüber aber auch in einem Abstand. Der Essayist will die Qualitäten spezifischer Subjektivtitäten feststellen, sie jedoch als Subjektivitäten erhalten. Das verlangt danach, die Qualitäten aller möglichen Subjektivitäten festzustellen, die schließlich auch gegeneinander abgewogen werden müssen. Damit ist die Aufgabe des Essayisten, der sich den subjektiven Manifestationen widmet, eigentlich endlos und unabschließbar. Er schreibt somit an einem endlosen Text. Der Philosoph arbeitet in der letzten Konsequenz an einem System und will das Unendliche verendlichen; er hofft auf einen endlichen, abgeschlossenen, endlich definitiven Text. Der Essayist, der die Qualitäten der subjektiven Manifestationen bestimmen und gegeneinander abwägen, deren Wert und Gewicht feststellen will, arbeitet hingegen an einem unendlichen Text. Sowohl der Philosoph, der das Weltganze in den Blick nimmt, aber vielleicht noch mehr der Essayist, dem die Lebenswelt gar nicht als Ganzes erscheinen kann, sondern als ein endloses Feld, das sich stets jenseits des aktuellen Horizontes erstreckt, müssen daher vielseitig und universal sein. Die wahrhaft schönen Seelen freilich sind die universalen, die allseits offenen und aufnahmebereiten: wenn nicht gelehrt, so doch gelehrig. (Über den Dünkel) Die Gelehrtheit ist das Abgeschlossene, daher möglicherweise das Lebensabtötende, oder dasjenige, das (vor allem im Verbund mit der Eitelkeit und dem Dünkel) glaubt, bereits mit dem Wesentlichen fertig zu sein. Das Gelehrige ist hingegen eben das Offene und Unabschließbare: es trachtet danach, sich ewig zu kultivieren und erlangt daher das Instrument der Kultur. Die Leute haben schon recht, wenn sie sagen, nur ein vielseitiger Mann sei ein Mann von Kultur. (Über die Eitelkeit) Und mit dem Instrument der Kultur wiederum kann man die Natur zähmen und daher auch den Wildwuchs der natürlichen subjektiven Manifestationen in der Welt, den Wildwuchs des Lebens. Mit Subjektivitäten fertig zu werden, ist eine Art Kunst, verlangt Instinkt, Intuition. Kultur wiederum kultiviert in einem Kunstfertigkeit (oder -verstand), Instinkt und Intuition. Wissenschaft, Rationalität, Gelehrtheit will eindeutige Aussagen über was machen. Kunst hingegen ist eine schöne eindeutige Illustration von den Mehrdeutigkeiten einer Sache, die unter Beobachtung steht. Und eine solche mehrdeutige Sache ist das Leben, eine solche mehrdeutige Sache ist der Mensch: der Gegenstand der Untersuchungen bei Michel de Montaigne. Wahrlich, der Mensch ist ein seltsam wahnhaftes, widersprüchliches, hin und her schwankendes Wesen! Es fällt schwer, ein gleichbleibendes und einheitliches Urteil darauf zu gründen. (Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel) Insofern es schwerfällt, ein einheitliches und gleichbleibendes Urteil über den Menschen zu gründen, kann ein solches Urteil immer nur ein versuchsweises und vorläufiges sein, ein Experiment, ein Essay. Dies hier sind lediglich Versuche, meine natürlichen Fähigkeiten zu erproben, nicht aber die erworbenen … Wer auf gelehrtes Wissen aus ist, möge da angeln, wo es sich findet – es gibt nichts, was ich weniger wollte. (Über Bücher) Durch die Unendlichkeit kann man sich nur versuchsweise tasten, den unendlichen Text des Essayisten kann man immer nur versuchsweise und vorläufig schreiben. Denn das unendliche Feld der subjektiven Manifestationen kann man unmöglich ausmessen und kolonialisieren. Aber um sich eine Vorstellung davon zu machen, ist es eine gute Idee, den Blick in die eigene Subjektivität zu richten. Und äußere Subjektivitäten kann man sowieso nur dann irgendwie adäquat erfassen oder sich empathisch zu ihnen verhalten, wenn auch die eigene Subjektivität dazu irgendwie ähnlich ist, oder sie weit und kenntnisreich genug ist – Kultur hat – um mit anderen Subjektivitäten sinnvoll in Kontakt treten zu können. Montaigne hat sein Unternehmen sowieso primär als eines der Selbsterforschung, der Durchleuchtung der eigenen Subjektivität verstanden. Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich … Ich hingegen kreise in mir selbst. (Über den Dünkel) Indem sich Montaigne dermaßen unabhängig macht vom Blick des Anderen, er also für den Anderen nicht etwas scheinen will, was er möglicherweise nicht ist, ist Montaigne in seinen Aussagen glaubhaft und ehrlich. Wie er treuherzig versichert. Selbst sein Gesicht sei so ehrlich gewesen, dass es ihn bewahrt davor haben soll, von den wilden Kriminellen seiner Zeit überfallen und getötet worden zu sein, so wie fast alle anderen damals. Obwohl die Züge meines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln, bleiben sie doch stets wahrheitsgetreu. (Über das Bereuen) Gut so. Das bewahrte ihn sogar davor, unter den Hammer der großen Philosophen zu kommen.

Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: „Kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein und ein Flügel gewachsen“. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimlich zu machen. Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, außer der Ehrlichkeit, gemein: eine wirklich erheiternde Heiterkeit.

Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher

Friedrich Nietzsche war bekanntlich ein großer Liebhaber freier Geister, zu denen Michel de Montaigne natürlich unbedingt gerechnet werden muss. Überhaupt lohnt es sich wohl, wenn es sich schon gerade als Gelegenheit ergibt, Nietzsche mit Montaigne zu vergleichen, um zu sehen, worin sich freie Geister gleichen, sich jedoch aber auch voneinander unterscheiden mögen. Nietzsche war einerseits „größer“ und überlegener als Montaigne, andererseits konnte er mit Montaigne in anderen Bereichen aber offensichtlich nicht mithalten. Als echter Philosoph im Burckhardtschen Sinne offeriert er eine objektive Sicht auf das Weltganze und versucht eine Antwort auf das Lebensrätsel zu geben. Nietzsche war es auch, der die Montaigne ähnliche subjektive Betrachtung, die Betonung der Vielfalt subjektiver Blickwinkel und den Perspektivismus (auch innerhalb des Subjekts selbst) und die dichterische Form der Mitteilung gleichsam zum philosophischen System erhob. Er arbeitete auf einem höheren Niveau der Analyse und der Integration als Montaigne. Er ist auch viel mitreissender, pathetischer, direkter und ein scheinbar intimerer Lebensratgeber als der dem anderen gegenüber reichlich gleichgültig und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt wirkende Montaigne. Dessen Ruhe und Gelassenheit, und auch dessen Genussfähigkeit hatte Nietzsche aber nicht – auch wenn er sie angestrengt suchte. Nietzsche bewunderte Epikur. Montaigne war sowohl Stoiker als auch Epikuräer. Er strebte – als maßvoller, gleichsam unschuldiger Hedonist – Lust und Genuss an, bemühte sich jedoch auch um Abhärtung gegenüber den Wechselfällen des Lebens, die einem mit Lust und Genuss manchmal überreichlich versorgen, und sie ein anderes Mal wieder gänzlich einem nehmen. Er scheint beinahe die Charaktermaske des Phlegmatikers aufzusetzen. Ich bin dem Zugriff solch leidenschaftlicher Gemütsbewegungen wenig ausgesetzt. Meine Empfänglichkeit ist von Natur aus gering: Ich habe ein dickes Fell, und lasse es mit Bedacht von Tag zu Tag dicker werden. (Über die Traurigkeit) Nietzsche hingegen strebte jauchzende Lust an und wollte sich mit ihr – denn alle Lust will Ewigkeit – gleichsam vermählen. Zwar sah Nietzsche tiefer als Montaigne (und nur Sterne, Sterne…), und das ist, zumindest in einer intellektuellen und abstrakten Weise, tatsächlich höchst lustvoll und ekstasegleich. Andererseits war Nietzsche in seiner Genussfähigkeit offenbar eingeschränkt. Vor den meisten Bezirken des Lebens schottete er sich ab, legte sich gleichsam eine Festungsmentalität und ein „Pathos der Distanz“ zu. Er glaubte, alles mögliche würde ihn „schwächen“: die unteren Schichten der Gesellschaft, der Sozialismus, das Christentum, der späte Wagner, insgesamt die sogenannte „décadence“. Montaigne war, bei all seiner Introvertiertheit, hingegen reichlich volksverbunden, und hatte mit dem elitären Bewusstsein von Nietzsche (das offenbar ein unglücklliches, oder zumindest unausgeglichenes Bewusstsein ist), wenig gemein. Er wusste: Sowohl die Könige wie die Philosophen scheißen, und die Damen auch. (Über die Erfahrung) Montaigne lebte in einer furchtbar anstrengenden Zeit, in der Frankreich in endlose Religionskriege verwickelt war, aus denen kein Ende absehbar war. In seine Lebenszeit fielen die Bartholomäusnacht und auch eine Pestepidemie. Sein gesamtes Zeitalter und seine Lebenswelt waren höchst unheilvoll. Und die Essais können auch als Versuche gesehen werden, wie man in einer Welt, die einen auseinanderzureißen droht, sein Innerstes bewahrt und integer hält. Nietzsche hingegen lebte – mit Ausnahme des Deutsch-Französischen Krieges, an dem er als Soldat teilnahm und in dem er verwundet wurde – in einer friedlichen, geradezu idyllischen Zeit – auch wenn er unter schwereren Krankheiten litt als Montaigne (der die Krankheit und den Schmerz zumindest später im Leben durch seine Nierensteine kennenlernte). Insgesamt war Nietzsches Sicht auf die Existenz aber eine (geradezu lustvoll) negative. Er lebte in einer Art sadomasochistischem Universum, in der negative Wechselfälle geradezu als Angriffe gesehen werden, für die man sich rächen will und wo man zurückschlagen will. Aus dem entsprang auf eine Weise sein mitreissender Vitalismus und sein Amor Fati: Positivitäten, zu denen sich Montaigne nie aufschwingen konnte. Andererseits bleibt Nietzsche Gestus stets von Rückschlägen bedoht und pendelt insgesamt zwischen Polen der Übertreibung. Montaigne hingegen ist sicher kein Mensch der Übertreibung. Er weiß: Das Leben ist eine schwankende, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung. Man ist keineswegs Freund oder Herr seiner selbst, sondern sein Sklave. (Über dreierlei Umgang) Auf der anderen Seite ist ihm klar, dass Fluchtmöglichkeiten vor einer einengenden Sklavenexistenz in der Vielfalt und in der Offenheit der Persönlichkeit und des Geistes liegen: Man sollte sich nicht zu fest an seine Anlagen und Neigungen fesseln. Unser wichtigstes Vermögen besteht darin, und unterschiedlichen Tätigkeiten widmen zu können. Wenn man immer in demselben Trott verhaftet bleibt und nie mehr von ihm loskommt, heißt das zwar dasein, aber nicht leben. (Über dreierlei Umgang) Nietzsches Versuche zu leben waren immer angestrengt. Das macht ihn so plastisch und ansprechend, da er tatsächliche Lebenskämpfe und Kämpfe für die persönliche Emanzipation so treffend illustriert. Aber er scheint ewig in ihnen verfangen zu bleiben und ständig zwischen Übertreibungen herumzupendeln. Sein Übermenschenkult, sein (auch ein wenig lächerlicher) Versuch „Immoralist“ zu sein, seine Gewaltverliebtheit. Vor allem sein sich ständiges Abarbeiten am „Ressentiment“, da es in ihm selber so reichlich vorhanden war. Montaigne hingegen kannte offenbar gar kein Ressentiment. Er musste sich von nichts kraftvoll und mit großer Theatralik emanzipieren, da er nirgends feststeckte. Er theoretisierte nicht über den Übermenschen, vielmehr entsprach er eben einem Übermenschen und lebte sein Leben als Übermensch. Nietzsche hatte ein höchst gesunde und eine ziemlich (psychologisch) kranke Seite. Die größte Sache der Welt ist dass man sich selbst zu gehören weiß. (Über die Einsamkeit) Nietzsche war jedoch gleichsam durch seine kranke Seite darin verhindert, vollständig sich selbst zu gehören. So flüchtete er sich in ein übertriebenes Machtpathos und in ein übertriebenes Freiheitspathos. Montaigne aber wusste: Die wahre Freiheit besteht darin, dass man alles über sich vermag. Am mächtigsten ist, wer Macht über sich selbst hat. (Über die Physiognomie) Wenn ich mich recht erinnere, bewunderte Nietzsche Montaigne auch wegen seiner Sprache (andere tun das zumindest, auch ich wollte einmal mein Französisch auffrischen, um Montaigne im Original lesen zu können). Von dessen „Artisten“-Sprache unterscheidet sie sich aber. Artistische Manöver vollzieht Montaigne nicht. Er betrachtet seinen Stil gar als schmucklos und trocken, und extravagant, so wie es damals in der adeligen Welt vielleicht üblich war, ist er sicher nicht. Montaignes Stil aber ist direkt, konkret und vor allem ist auch in seinem Stil Montaigne völlig identisch mit sich selbst und ruht in sich selbst. Montaignes Stil ist ein gänzlich beruhigter Stil. Nietzsche wollte als Hammer auf alle Welt niedersausen und ordentlich wumms hat er immer wieder als ein solcher gemacht. So stellt man sich den Übermenschen vor. Montaigne hingegen ist alles andere als ein Hammer; er wirkt überhaupt nicht wie irgendetwas Kompaktes und Materielles. Er saust zwar nicht wie der Hammer nieder. Aber versuche man mal, Montaigne zu treffen! Er scheint gleichsam viel zu diffus dafür, und ist vielleicht weniger ein Genie des Angriffs als der Verteidigung.

Montaigne zählt zu den Autoren, die nur sehr schwer angreifbar sind. Es ist, als würde man versuchen, einen Nebel durch Handgranaten zu zerstreuen. Denn Montaigne ist Nebel, Gas, Flüssigkeit, ein heimtückisches Element. Er argumentiert nicht, er schmeichelt sich ein, bezaubert und überredet, und wenn er argumentiert, muss man aufpassen, dass er nicht einen ganz anderen Plan damit verfolgt.

T.S. Eliot

Leuchtende, farbige Schwaden, durch die das Licht fällt, die auf- und absteigen, vielleicht ein wenig dampfende Geräusche machen: das ist, in einem Raum, den er ganz ausfüllt, Montaigne. Und aufgrund dieses Mangels an Kompaktheit allein kann er auch Montaigne sein. Denn schwankend und auf- und absteigend, Dampf ablassend ist überhaupt einmal alle Ontologie. Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. (Über das Bereuen) Auch das Denken und die Erfahrung kann, wie gesagt, diese Schwankungen, Subjektivitäten und Koinzidenzen nicht vollständig in sich integrieren, da sie niemals vollständig gegeben sind, sondern in immer neuer Form zutage treten: als Überraschungen. Das Denken hat zahlreiche Formen, daher wissen wir nicht, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung hat aber deren nicht weniger. Der Schluss, den wir aus Ähnlichkeiten der Geschehenisse zu ziehen versuchen, ist wenig sicher, denn in Wirklichkeit sind sie immer unähnlich. Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassende Eigenschaft als die Verschiedenheit und Vielfalt. (Über die Erfahrung) Was man aber machen kann, ist diesen Schwankungen und Vielfältigkeiten die Rute ins Fenster zu stellen, indem man eben selbst das Schwankende und Vielfältige imitiert, so gasförmig und wenig kompakt wird, dass einen die Überraschungen kaum treffen, vielmehr antizipert man sie dadurch oder verhält sich mimetisch zu ihnen. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit versteht sich Montaigne also so gut darauf, eine gasförmige Wirklichkeit einzufangen, und ist, als Essaist, genauso wie sie, immer in einem vorläufigen Versuchsstadium, nichts jemals abgeschlossen Fertiggewordenes. Mit seiner gasförmigen Persönlichkeit entpricht Montaigne der schwankenden Wirklichkeit. Und nicht zuletzt: er liebt die vielfältige und schwankende Wirklichkeit auch so wie sie ist. Ja, ich bekenne es: Selbst im Traum oder als Wunschbild sehe ich nichts, was ich festhalten wollte. Allein Abwechslung und Genuss der Vielfalt finde ich (falls überhaupt etwas) lohnend. (Über die Eitelkeit) Die objektive Wirklichkeit ist nicht eitel, und Montaigne ist nicht eitel. Die Eitelkeit will die Wirklichkeit kompakt machen und domestizieren, den eigenen Wünschen anpassen. Doch Montaigne ist so angenehm, weil er nicht eitel ist. Als Nebel, als Gas, welche sich beliebig im Raum verteilen, hat er gleichsam kein egoisches Zentrum. Und so strahlt er auch keine kompakten Manifestationen eines egoischen Zentrums aus. Machtstreben im unmittelbaren oder abgeleiteten Sinne kennt er keines: Unter allen Narrheiten der Welt ist die herkömmlichste und verbreitetste das Streben nach Ansehen und Ruhm… (Über das Widerstreben, seinen Ruhm mit anderen zu teilen) Auch gegen die mit dem Machtstreben einhergehenden Kränkungen, wenn es sich nicht verwirklichen kann, ist er immun: Die Eifersucht und der Neid, ihr Zwillingsbruder, scheinen mir in der Tat von der ganzen Sippschaft der Laster am hirnverbranntesten zu sein. (Über einige Verse des Vergil) (LaRochefoucauld, der sich von Montaigne einiges abgeschaut hat, meint: Das beste Kennzeichen angeborener Vorzüge ist angeborene Neidlosigkeit.) Montaigne wendet sich gerne gegen Konventionen. Was hat der Geschlechtsakt, dieser so natürlich, nützliche, ja notwendige Vorgang den Menschen eigentlich angetan, dass sie nicht ohne Scham davon zu reden wagen und ihn aus den ernsthaften und sittsamen Gesprächen verbannen? Wir haben keine Hemmungen, die Worte töten, rauben, und verraten offen auszusprechen – und da sollten wir uns dieses eine bloß zwischen den Zähnen zu murmeln getrauen? (Über einige Verse des Vergil) Montaigne spricht zwar – eitel, wie man meinen könnte – unentwegt von sich, aber er subvertiert sich immer wieder, Erwartungshaltungen an ihn unterläuft er. Einzusehen, dass man eine Dummheit geäußert hat, besagt noch gar nichts – man muss einsehen, dass man von Grund auf dumm ist: eine wesentlich umfassendere und wichtigere Einsicht. (Über die Erfahrung) Das subvertiert er dann noch mal, indem man nicht weiß, wie ernst er es mit seinen Behauptungen eigentlich meint. Geradezu penetrant beklagt er immer wieder sein angeblich furchtbar schlechtes Gedächtnis. Was ganz offensichtlich nicht stimmen kann, sind seine Essais doch so vollgespickt mit antiken Anekdoten und Fallbeispielen, Zitaten und Gedichten, dass sie Niederschriften eines gleichsam enzyklopädischen Wissens und Gedächtnises darstellen. Trotzdem er zugibt, ein großer Bücherfreund zu sein und sich am liebsten in seiner Bibliothek aufzuhalten, spricht er von der Gelehrsamkeit immer wieder gering. Ich habe zu meiner Zeit Hunderte von Handwerkern, Hunderte von Bauern gesehen, die weiser und glücklicher waren als Universitätsrektoren und denen ich lieber gleichen würde. Die Gelehrsamkeit gehört meiner Meinung nach unter den Bedürfnissen des Lebens in dieselbe Reihe wie Ruhm, Adel und Würden oder allenfalls wie Schönheit, Reichtum und dergleichen Dinge, die für unser Dasein zwar durchaus nützlich sind, aber nur entfernt und mehr in der Einbildung denn ihrer Natur nach. (Apologie für Raymond Sebond) Aahh… die Einfalt der Sitten und das einfache Volk, das klüger und unverbildeter, mehr bei sich ist als der Professor! Aber als eine Idealvorstellung und ein Korrektiv gegenüber bildungsbürgerlichen (und sonstigen) Eitelkeiten kann man solche Figuren natürlich immer wieder gut einwerfen. Auf Sokrates hält Montaigne große Stücke, ist er ihm ja ähnlich. Sokrates, der weiseste Mann, den es je gab, pflegte auf die Frage, was er wisse, zu antworten: Er wisse, dass er nichts wisse. (Apologie für Raymond Sebond) Natürlich wird Montaigne aber klar gewesen sein, dass Sokrates deswegen (triumphierend) sagen konnte, er wüsste nichts, weil er ja alles wusste und alles durchdacht hatte, und daher Einsicht hatte in die Relativität allen Wissens (er wird auch die Apologie des Sokrates gekannt haben, in der dieser bekennt, dass er gehofft hatte, beim unverbildeten Volk die Flausen und Eitelkeiten der Gelehrten nicht zu finden, er darin aber enttäuscht wurde: dieselben Flausen und Eitelkeiten wie bei den Gelehrten fänden sich auch beim einfachen Volk, wenngleich in ein wenig anderer Form). Wie es sich für ein Gas gehört, ist Montaigne aber eben weichherzig und sanft, und daher auch allem Einfachen und Beschützenswerten gewogen. Ich selbst bin aufgrund meiner kindlichen Natur so weichherzig (ich scheue micht nicht, es zuzugeben), dass ich meinem Hund das Herumtollen kaum verweigern kann, das er mir meist im unpassendsten Augenblick anbietet oder anzubetteln versucht. (Über die Grausamkeit) Er ist gasförmig und amorph in seinem Verhalten wie ein Kind. Neugierig wie ein Kind ist er auch. Neugierig ist freilich alle Welt, oder glaubt es zu sein, vor allem die gebildete Welt. Doch wie weit reichen deren Neugier und deren geistige Offenheit tatsächlich? In der Schule des gesellschaftlichen Verkehrs habe ich oft folgende Untugend bemerkt: Statt zu versuchen, andere kennenzulernen, sind wir bloß darauf aus, dass sie uns kennenlernen, und wir bemühen uns weit stärker, die eigene Ware anzubringen, als neue zu erwerben. Schweigen und Bescheidenheit sind dem menschlichen Umgang aber viel förderlicher. (Über die Knabenerziehung) Letztendlich geht die Neugierde aller Welt mit ihrem zumeist dann doch egoischen Charakter einher, der sie behindert darin, tatsächlich neugierig und offen zu sein. Umgekehrt sehen wir aber, dass Menschen nichts so empfindlich reagieren lässt wie das Gefühl, der Gegner sei ihnen überlegen und sehe verächtlich auf sie herab – dabei würde sich der Schwächere doch vernünftige Einwände, die ihn wieder auf den rechten Weg bringen und ihm weiterhelfen, besser dankbar zu eigen machen. Ich jedenfalls suche eher die Gesellschaft von Leuten, die mir den Kopf zurechtsetzen, als von solchen, die vor mir kuschen. (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Wenn das tatsächlich alles stimmt, was er über sich sagt, muss Montaigne vielleicht zwar das unterlaufen haben, was man sich unmittelbar unter einer „starken“ Persönlichkeit vorstellt. Er hat das aber wohl übetroffen, indem er eine unbesiegbare Persönlichkeit war, an der alle Härte ins Leere trifft. Hat Montaigne das höchste Ziel und die höchste so genannte Selbstverwirklichung erreicht? Wer aber kennt das Höchste? Bei Friedrich Hölderlin (der von Nietzsche ebenfalls sehr geschätzt wurde) könnte man annehmen, dass er weiß, was das Höchste ist. Hölderlin formuliert den idealen und letztgültigen Innenraum, den ein Mensch haben kann, in etwa als

Dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher Empfindung möglich, in einer Empfindung, die darum schön ist, weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes Bewusstsein, bloße Reflexion (…) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie… ist, sondern weil sie alles dies zugleich ist und allein sein kann … in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwirkung der genannten Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig, d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig, d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend (usw. ist, sondern all dies zugleich ist und allein sein kann, Anm.)

Friedrich Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes

Man scheint da schon wieder eine große Wolke zu haben. Schwebende Instanzen, die sich gegenseitig adjustieren, ohne eigentliches Zentrum, sondern mit dem Zentrum überall. Wer kann diesen Nebel zerteilen? Der Philosoph mit dem Hammer nicht, und die räuberischen egoischen Mächte der Welt auch nicht. Ja, dieses Gebilde scheint überhaupt dem Gott zu gleichen, dessen Mittelpunkt überall, und dessen Begrenzung nirgends ist. Wenn eine solche Wolke denkt, wie wird das wohl passieren? Sie ist wohl in ihr eigenes Spiel verloren, traumähnlich. Es wird ein fluides Denken sein, ein ständiger Prozess. Es wird ein schwebendes Denken sein. Denn eine Wolke ist in der Schwebe. Und so liebt es auch Montaigne, sein Denken vorzugsweise in der Schwebe zu halten. Falls er mit irgendeinem Philosophen (mit der Ausnahme des Meta-Philosophen Sokrates) sympathisiert, so bekennt sich Montaigne als ein Jünger des antiken Philosophen Pyrrhon von Elis (falls er diesen Ausdruck allerdings verwenden würde, da der ja schließlich eine starke Abhängigkeit signalisiert). Pyrrhon war ein radikaler Skeptiker. Während Sokrates` Maxime lautete: Ich weiß, dass ich nichts weiß, geht Pyrrhon noch weiter, indem man, laut ihm, gar nichts jemals wissen könne. Die Wirklichkeit sei gleichsam selber ohne Wahrheitsgehalt, das Nichtwissen gleichsam in die Ontologie eingeschrieben. Die philosophische Haltung der Pyrrhonisten ist daher der grundsätzliche Zweifel an allem, und die weitgehende Urteilsenthaltung, die Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen, Urteilen und selbst den harten Fakten gegenüber. Dass alle Welt ihr Glück im Meinungsstreit und im Davontragen des Sieges im Meinungsstreit sucht, ist für die Pyrrhonisten daher eben unphilosophisch. Das wiederum erscheint auch Montaigne einleuchtend: Ist es nicht von Vorteil, sich der Zwänge enthoben zu sehen, welche die anderen fesseln? Ist es nicht besser, sein Urteil in der Schwebe zu lassen, als sich in all die von der menschlichen Phantasie hervorgebrachten Irrtümer zu verstricken? Ist es nicht besser, unentschieden zu bleiben, als sich in all diese streitsüchtigen, ja aufrührerischen Auseinandersetzungen zu stürzen? (Apologie für Raymond Sebond) Ja, indem sich die Pyrrhonisten auf nichts einlassen, kein Schiff besteigen, können sich auch nirgendswo scheitern oder untergehen. Sie entwinden sich den Verpflichtungen, die zwar möglicherweise belohnen, in jedem Fall aber auch einfordern. Damit sind die Pyrrhonisten letztendlich die einzig Glücklichen. Sie verstehen aus allem das Beste zu machen. (Apologie für Raymond Sebond) Und (d)eshalb lautet der Standpunkt der Pyrrhonisten: Keinen festen Standpunkt beziehen, zweifeln und nachforschen, nichts als sicher betrachten und für nichts einstehen … Jene geistige Einstellung der Pyrrhonisten nun, geradlinig und unbeirrbar, mit der sie alle Dinge zur Kenntnis nehmen, ohne ein Urteil darüber abzugeben oder sie gar für wahr zu halten, ebnet den Weg zur Ataraxie, einer friedsamen und gleichmütigen Lebensweise … (Apologie für Raymond Sebond) Und mit dieser Ataraxie, dieser inneren Stabilisierung der Wallungen und der Kondensationen gewappnet, tritt Montaigne einer unzuverlässigen, geradezu kriminellen Welt entgegnen, die genauso gut Stoff für tiefe Verzweiflung bieten könnte. Er reflektiert darüber Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel – oder aber, dass man mit gleichen Methoden oftmals – wider besseres Hoffen – unterschiedliche Resultate erzielt. Unbeständig ist diese Welt, und sie scheint es zu lieben, unsere Pläne zunichtezumachen. Auch Tugend und große Taten sind davor nicht gefeiht, denn (o)b tugendhafte Taten also bekannt und genannt werden, ist reine Glückssache. (Über den Ruhm) Der Gewinn des einen ist des anderen Schaden, Göttliche Fügungen sollte man nüchtern betrachten und Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen. Über die Unsicherheit unserer Urteile ist sich der Essaist ebenso bewusst wie Über die Eitelkeit der Worte, sowie Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns und darüber, Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert. Gewohnheit, individuelle Erfahrung, Schicksal usw. bestimmen in einem hohen Maße, wer wir sind, mithin also Mächte, die nicht unter unserer Disposition stehen. So gesehen haben wir gar kein allzu stabiles Ich, auch dieses ist den Umständen unterworfen. Freilich: ein völlig regelloser Kosmos ist der unsere auch nicht. Ob wir etwas als Wohltat oder Übel empfinden, hängt weitgehend von unserer Einstellung ab, das sowieso grundsätzlich einmal, und Fortuna folgt oft dem, was recht und billig ist. Montaigne weiß zu berichten Über die Gewohnheit und dass man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte und gibt höchst lehrreiche Hinweise, die sich nicht allein aus hinreichender Beobachtung der empirischen Realität, sondern auch naheliegenderweise ergeben (denen zum Trotz gewisse beliebte Fehler dennoch immer wieder begangen werden) wie Man wird bestraft, wenn man sich darauf versteift, eine Festung sinnlos zu verteidigen. Überhaupt zieht Montaigne aus all dem scheinbaren Chaos der Welt rationale Lehren und sagt die sinnvollsten Dinge Über die Standhaftigkeit, Über die Furcht, Über die Knabenerziehung, Über Tugend und Tapferkeit, Über Grausamkeit, Über belanglose Spitzfindigkeiten und Spielereien, Über die Daumen und Über die Hinkenden. Dennoch bleibt die allgemeine Atmosphäre eine skeptische, eine vorsichtige, eine nachdenkliche – aber dennoch eben eine leichte und keine depressive. Ich bin meiner Veranlagung nach kein Melancholiker, wohl aber ein Grübler. (Philosophieren heißt sterben lernen) Vor allem eine, die sich immer wieder gegen allzu sicher Geglaubtes richtet. Montaigne wendet sich gegen die Humanisten und gegen alle Anstalten, den Menschen allzu wichtig zu nehmen, oder ihn zu sehr zu loben. In der Apologie für Raymond Sebond vergleicht den Menschen nicht nur mit einem Tier, sondern schildert zahlreiche Fälle, wo Tiere höher stehen als der Mensch. Gewisse Auswüchse seines Pyrrhonismus scheinen dabei auch übertrieben. Für seine despektiertliche und misstrauische Haltung der Wissenschaft und der Medizin gegenüber ist Montaigne oft gescholten worden. Allerdings lebte Montaigne in einem de facto vorwissenschaftlichen Zeitalter und in einem, wo die Medizin hauptsächlich (gefährliche) Quacksalberei war, der man sich tatsächlich besser nicht allzusehr anvertraute. Heute würde Montaigne eine solche Haltung wohl kaum mehr pflegen. Trotz allem Skeptizismus und Pyrrhonismus war Montaigne ein Bewunderer allen menschlichen Könnens, und so würde er heute ein Bewunderer der Wissenschaften und der Medizin sein (und auch wenn für die exakten Wissenschaften der Pyrrhonismus nicht die adäquate Methode sein kann, für die „Wissenschaften vom Menschen“, denen Montaigne ja schließlich allein nachging, empfielt sich eine gewisse Dosis davon nach wie vor). Bewundernd äußerte er sich auch Über drei vorteffliche Frauen und Über die drei vortrefflichsten Männer. Trotz seiner Ehrlichkeit und seiner Hochschätzung der Tugend wusste er aber auch, zumindest theoretisch, Über verwerfliche Mittel, die einem guten Zweck dienen. Nichts genießen wir in seiner Reinheit (so ein anderer Essai), und rein und unverfälscht sind auch selten unser Innenleben und unsere Motivationen. Zum Glück: denn Eindimensionalität der Gefühle würde vielleicht gar keine Motivationen begründen; solche erfordern einen Verbund von Gefühlen und Haltungen. Und wieviele edle Taten geschehen aus Ruhmsucht! Wie viele aus Hochmut! Kurz, es gibt keine kraftvolle und überragende Tugend, die ganz ohne untugendhafte Triebkraft auskäme. (Apologie für Raymond Sebond) Später im Leben, und aufgrund der Bekanntheit seiner Essais, wurde Montaigne zum Bürgermeister von Bourdeaux berufen, und bewährte sich dort insgesamt – Hinweis, dass die scheinbar unpraktischen Büchermenschen dann doch vielleicht auch die praktisch Geschickteren bilden. Großen Spaß hatte er an der Sache aber nicht, und so war er froh, als sein Amt wieder zuende war (Über die Nachteile einer hohen Stellung). Gut, dass es also Eitelkeit, Ruhmsucht und Gewinnsucht auch gibt, denn sonst würde in der Welt vielleicht wenig vorwärts gehen. So gesehen hat eben auch ein Montaigne eventuell seine Fehler oder zumindest Versäumnisse.

Die Fehler Montaignes sind groß: geile Worte: Sie taugen nichts … Leichtgläubigkeit … Unwissenheit … Er verleitet zur Gleichgültigkeit dem Heil gegenüber … Da sein Buch nicht mit der Absicht geschrieben wurde, für die Frömmigkeit zu werben, war er nicht dazu verpflichtet: aber man ist stets dazu verpflichtet, nicht davon abzulenken. Man kann seine ein wenig freien und sinnlichen Empfindungen bei gewissen Gelegenheiten des Lebens entschuldigen; aber man kann seine durchaus heidnischen Empfindungen über den Tod nicht entschuldigen; denn man muss auf alle Gottesfurcht verzichten, wenn man nicht wenigstens christlich sterben will; nun denkt er aber in seinem ganzen Buche nur daran, weichlich und bequem zu sterben … Verkehrtheit der Philosophen, welche sich mit der Unsterblichkeit nicht auseinandergesetzt haben. Die Verkehrtheit ihres Dilemmas bei Montaigne.

Blaise Pascal, Gedanken

Blaise Pascal, der exakte Mathematiker, der das Weltenchaos mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchschaubarer machte, und der donnernde Apologet des Christentums in seinen späteren Jahren, war durchaus ein Bewunderer von Montaigne. War er doch schließlich nach dessen sanften Ideen Über die Knabenerziehung erzogen worden. Später gehörte Montaigne zu den wenigen Schrifstellern, die er las und die er ernst nahm (auch widmete er ein ganzes Kapitel von Gedanken dem Pyrrhonismus). Wieviel Ranküne und verstohlener Neid, wieviel ernsthafte Ablehnung, wieviel rein theoretisches Sichabstoßen, um die eigene Position zu präzisieren hinter seinen vorwiegend negativen Gedanken über ihn steckt, weiß man nicht so genau. (Nicht in Montaigne, sondern in mir selber finde ich alles, was ich in ihm sehe, formuliert Pascal den rätselhaften Gedanken 743, ohne jedoch zu präzisieren, was damit genau gemeint ist.) Ein allerchristlichster Christ war Montaigne sicherlich nicht. Das allein schon einmal wird ihn für eben jemand wie Pascal verdächtig machen. Auch wenn sich Pascal Gedanken über die Existenz macht, so lebensprall wie die von Montaigne sind sie nicht. Man ist geneigt, in Pascal einen nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch kranken, wenig genussfähigen Asketen zu sehen, der aus seiner Not eine Tugend zu machen suchte. Das würde natürlich Neid auf eine Erscheinung wie Montaigne provozieren. Oder aber, in den Augen des Asketen, die Montaignesche Diesseitigkeit tatsächlich als was Minderwertiges und Gefährliches dastehen lassen. Deutlich mehr noch als Montaigne betont Pascal immer wieder, dass alles Getriebe der Welt „eitel“ sei, und Eitelkeit die Welt beherrsche und hinter allem stecke. Nun aber ja, war zumindest Montaigne offensichtlich nicht allzu eitel. Eitel war aber vielleicht Pascal: sein religiöses Asketentum und seine radikalen Versuche der Weltabwendung scheinen etwas durchaus Eitles zu haben (eventuell hat er auch deswegen ein so ausgeprägtes Schuldbewusstsein und Sühnebedürfnis…). Und so versuchte eben Pascal Montaigne als den Eitlen dastehen zu lassen. Wie immer auch, ein Reibebaum für die äußerst Frommen, die alles unter dem Gesichtspunkt ihrer Religion betrachten, musste Montaigne leicht sein. Der betrachtete nämlich nicht alles unter diesem Gesichtspunkt. Montaigne war ein ostentativ in der (heidnischen) Antike verhafteter Autor. Fast ausschließlich sind es antike Zitate und Fallbeispiele, Personen und Schicksale aus dem Altertum, mit denen seine Abhandlungen so überreichlich ausstaffiert sind. Christliche Heilige, Kirchenväter oder Herrscher aus seiner Zeit kommen in einer geradezu beleidigenden Weise kaum vor. Lieber äußerte er sich bewundernd Über die römische Größe, vermittelt uns einiges an Wissen Über die Rüstung der Parther, nimmt sich einer Verteidigung Senecas und Plutarchs an, und ergeht sich in Betrachtungen über Cäsars Kriegsführung. Sein Skeptizismus, Pyrrhonismus und seine Indifferenz gegenüber fast allem und jedem müssten sich auch gegen Kirche, Religion und Gott richten, könnte man leicht meinen. Tugendhaft war Montaigne aber zunächst einmal sehr wohl, und man kann sagen, dass sich seine nebelhafte innere Gestalt in der Tugend gleichsam stabilisierte und in ihr aufrecht geblieben ist – ansonsten hätte Montaigne ja auch irgendein Nihilist sein können. Die Tugend ist die Nährmutter der menschlichen Freuden. Indem sie ihnen ihr rechtes Maß gibt, sichert sie ihnen ungetrübten Genuss … Bleibt der Tugend das gewöhnliche Glück versagt, kümmert sie das nicht: Sie kommt ohne es aus … Ihr eigentlicher und vornehmster Dienst aber besteht darin, dass sie all diese Güter maßvoll zu gebrauchen lehrt, sowie standhaft zu bleiben, wenn man sie verliert … (Über die Knabenerziehung) Die Tugend bedeutet Selbstkultur; über diese Selbstkultur (so sie denn gelingt) ist man aber auch zu anderen gut – und damit auch nahe der christlichen Nächstenliebe. Wer überhaupt nicht für andere lebt, der lebt auch kaum für sich. Und umgekehrt: Wer sich selber freund ist, der ist allen freund. (Über den rechten Umgang mit dem Willen) Trotzdem ist Tugend etwas, was schon die Heiden kannten. Pascal betrachtet die heidnische Tugend auch mit einem scheelen Auge (erblickte in ihr oft eigentlich eine Camouflage für charakterliche Niederträchtigkeiten). Trotzdem war Montaigne aber nicht dermaßen antik, dass er sich nicht sehr wohl zur christlichen Religion bekannte. Nur durch unseren christlichen Glauben, nicht die stoische Tugend Senecas, können wir uns das Wunder einer solch göttlichen Wandlung erhoffen. (Apologie für Raymond Sebond) In seinem ungewöhnlich umfangreichen Essai Apologie für Raymond Sebond betonte er die Wichtigkeit der Religion. In seinem Zeitalter der Religionskriege blieb Montaigne durchaus nicht unbeteiligt, sondern bezog Partei für die Katholiken. Wohl, weil er auch wusste, dass der ewige Konflikt nur dadurch gelöst werden könne, indem eine Partei schließlich den Sieg davontrage und so eine Ordnung wiederherstelle, daher es irgendwie angezeigt ist, sich für eine Seite zu entscheiden und konsequent zu bleiben. Allerdings betrachtete Montaigne die Religion vorwiegend unter dem Gesichtspunkt eines Moralsystems bzw. eines Systems der moralischen Orientierung. Wenn auch ein hochmoralischer und engagierter Mensch, war Pascal jedoch vorwiegend an seinem „Seelenheil“ interessiert, und an dem Leben nach dem Tod. Man könnte in seiner diesbezüglich so unbedingten Haltung, die keinen Spaß versteht, auch einen Egoismus, zumindest aber eine starke Ängstlichkeit erblicken. Montaigne schien sich um das Leben nach dem Tod keine so starken Gedanken zu machen, aber der Tod schien ihm tatsächlich Angst zu machen. Immerhin hat die Frage nach dem Tod ihn doch stark beschäftigt. Das haben auch andere als Pascal an Montaigne bemerkt.

Unter allen Kapiteln, die uns der angenehme Schwätzer Montaigne hinterlassen hat, hat mir immer das vom Tode, der vielen vortrefflichen Gedanken ungeachtet, am wenigsten gefallen … Man sieht durch alles hindurch, dass sich der wackere Philosoph sehr vor dem Tode gefürchtet und durch die gewaltsame Ängstlichkeit, womit er den Gedanken wendet und selbst zu Wortspielen dreht, ein sehr übles Beispiel gegeben hat. Wer sich vor dem Tode wirklich nicht fürchtet, wird schwerlich davon mit so vielen kleinlichen Trostgründen gegen ihn zu reden wissen, als hier Montaigne beibringt.

Georg Christoph Lichtenberg

Philosophieren heißt sterben lernen. Für seine Ängste kann man nichts, und die einen müssen eben mehr lernen, um zum Ziel zu gelangen, die anderen weniger. Montaigne hat sich oft über den Tod, den Selbstmord und das Sterben ausgelassen. Hatte er davor panische Angst? Wir wissen es nicht. Einige Philosophen machen den Tod und die Sache der eigenen Endlichkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Philosophie (oder des Philosophierens), bei anderen kommt er kaum oder gar nicht vor. Bei Nietzsche (auch wenn der von seinem geistigen Tod überrascht wurde) hat man kaum Beschäftigung mit dem Tod, bei Lichtenberg auch nicht viel. Über den Tod machen sich diejenigen, die mitten im Leben stehen, selten Gedanken. Sie halten sich gemeinhin für unsterblich. Montaigne wäre in jungen Jahren bei einem Reitunfall tatsächlich fast gestorben. Vielleicht hat ihm das ein Gefühl für seine eigene Endlichkeit gegeben. Nehmen wir, zum Spiel der Gedanken, an, Montaigne hätte also Angst vor dem Tod gehabt. Hatte er Angst vor dem Tod, weil er innerlich wusste, dass er weniger gläubiger war, als er es vielleicht gewollt hätte, deswegen also vor Bestrafung im Jenseits? War ihm das Leben zu interessant, als dass er eine lästige Unterbrechung wie den Tod gerne geduldet hätte? Oder hatte er hatte er eben einfach Angst vor dem Tod, ohne größeres Beiwerk und ohne breiteren Hintergrund dazu? Nach dem Tod wird man zu einer Abstraktion. Nietzsche machte sich diesbezüglich keine Sorgen, sondern sah voraus, dass er in „diversen Verkettungen“ immer wieder kommen würde. Eine Abstraktion ist was Starres. Und eine Abstraktionsleistung verlangt Kraft. Unmittelbar kräftig und ein Kraftmensch war Montaigne nicht. Er war nur nebelhaft genug, um Schlägen der Hämmer der Gegener auszuweichen. Aber der Tod lichtet auch einen Nebel. Erinnern wir uns an das, was Hölderlin beschrieben ist, an jene Form einer scheinbaren Wolke, in der alles miteinander verbunden ist. In diesem Hölderlinschen Kondensat ist ein Zustand nicht bloß dieses oder jenes oder das dazwischen, sondern – wie er immer wieder betont – alles zugleich. Es ist also in Wahrheit eine ziemlich robuste Verstrebung, die keine Schwachpunkte aufweist. Montaigne scheint aber in Wirklichkeit nicht ganz so. Er legt sich zwar wie ein Nebel über alle Positionen, vermeidet aber die Identifikation mit einer jedweden. Seine Haltung ist insgesamt eine vermeidende, ausweichende, wenn man so will. Das ist zwar übermenschlich und man errichtet damit eine Ebene über dem gewöhnlichen (oder auch außergewöhnlichen) menschlichen Leben und der menschlichen Existenz. Man ist, wenn man wirklich so ist, wie Montaigne sich beschreibt, wahrscheinlich ein Angehöriger einer anderen Spezies als der menschlichen. In seiner Weisheit eventuell ein homo sapiens sapiens sapiens. Aber auch die mögen individuell verschieden sein. Ich selber weiß, dass meine Leistung so penetrierend ist, dass ich mich als abstraktes Zeichen in die Textur des Universums eingebrannt habe. Probleme der Unzerstörbarkeit oder der Selbstverwirklichung drängen sich mir nicht auf, da ich selber wirklich bin, und ich mit meinem Gedankengut im Reich der Ideale, also des Unzerstörbaren angekommen bin. Ich empfinde mich daher als jenseits von Leben und Tod (auch wenn ich jetzt natürlich noch leicht reden habe). Das Beherrschen der Subjektivitäten, das in der Nähe des Dichterischen wohnt, habe ich bewerkstelligt und kann das nach wie vor; aber sicher eingebrannt in die Schaltkreise habe ich mich durch die abstrahierende Betrachtung dieser, so dass sie also nicht mehr vom Winde verweht werden können, sondern als Zeichen am Himmel stehen bleiben. Vielleicht hat Montaigne sich in einer solchen Kompaktheit eben nicht empfunden. Ich kann jedenfalls den Wert des meinen nicht klarer beurteilen als die eines anderen, und ich weise den Essais bald einen hohen, bald einen niedrigen Rang zu, ständig wechselnd und ständig im Zweifel… (Über die Gesprächs- und Diskussionskunst) Auch wenn das natürlich was ganz Normales ist; ich kenne das ja selber (von früher allerdings). Aber vielleicht war Montaigne letztendlich eben zu sehr Dichter, und zu wenig Philosoph. Gestorben ist Michel de Montaigne offenbar ohne große Panik. In Marie Le Jars de Gournay hatte er in seinen letzten Jahren eine Seelenverwandte gefunden, die nach seinem Tod seine Schriften neu editierte und als Gesamtausgabe herausbrachte. Diese bemerkenswerte Frau übersetzte auch Tacitus, Ovid und Vergil ins Französische, verfasste literatur- und sprachtheoretische Schriften, Gedichte und auch einen Roman, Le Proumenoir de Moniseur de Montaigne. Außerdem war sie Frauenrechtlerin und postulierte in einem Traktat im Jahr 1622 die Gleichheit von Männern und Frauen. Obwohl als geistreiche Schönheit verehrt, hat sie nie geheiratet (… ich muss jedoch sagen, dass ich immer wieder erlebt habe, wie Männer bei Frauen die Schwäche des Geistes um ihrer körperlichen Schönheit willen hinzunehmen bereit waren; aber nie habe ich erlebt, dass die Frauen ihrerseits bereit gewesen wären, dem auch nur unwesentlich gealterten Körper eines Mannes um der Schönheit seines Geistes willen zur Hand zu gehen, mochte dieser noch so reich entfaltet und weise sein. (Über einige Verse des Vergil)). Gestern, am 8. März 2025, war der internationale Frauentag. Ich hätte meinen Essai über Montaigne aber auch so der Madame de Gournay gewidmet.

Jahresrückblick und Erläuterungen zum absoluten Geist in der absoluten Form

Ich habe mir dieses Jahr einverleibt vor allem: die Philosophie Kants und die Geschichte und Essenz der Sowjetunion, als eines Staatsgebildes, das auf Philosophie, oder zumindest etwas dazu Ähnlichem begründet werden sollte. Ich habe auch erledigt die Philosophien von Spinoza und Leibniz, was weniger Arbeit war, da diese Philosophien nicht so umfangreich sind. Ich will aber Leibniz mir noch intensiver anschauen, und habe mir im Roten Antiquariat auch den Doppelband mit seinen politischen Schriften gekauft, vor allem muss ich seine Schriften über China lesen. Ich bewundere die Intelligenz von Leibniz und ich mag ihn auch als Schriftsteller, auch wenn er kein poetischer Schriftsteller ist, sondern ein (sehr guter) rationaler. Ich habe mich in diesem Jahr hinsichtlich der Poeten und Schriftsteller zu Baudelaire und zu Ibsen geäußert, außerdem was gesagt zum Surrealismus und zur Pop Art, und zu den Poetes Maudites, zu denen neben Baudelaire auch die M.I.A. gehört. Außerdem habe ich endlich alles zum Thema Schönheit (und Gil Elvgren) gesagt.

Da mein Geist der Raum selbst ist, muss er alle geistigen Gebilde und alle Phänomene und alle Interpretationsmöglichkeiten der Phänomene umfassen, sie in sich einbauen und sich unterordnen. Das Ergebnis wird sich gut anfühlen. Und es wird sein der absolute Geist in der absoluten Form.

Während zB bei Hegel der absolute Geist sich auffächert in Kunst, Philosophie und Religion, sollen beim absoluten Geist in der absoluten Form solche Segragationen nicht mehr bestehen. Die Rede des absoluten Geistes in der absoluten Form soll Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion/Ethik in einem sein. So wie die Mathematik dazu da ist, quantitative Verhältnisse in der Welt exakt zu bestimmen, soll der absolute Geist in der absoluten Form dazu da sein, die Qualitäten und die qualitativen Verhältnisse in der Welt zu bestimmen; möglichst so exakt wie die Mathematik das tut. Dazu ist eine große Reinheit des Geistes notwendig.

Das Problem des absoluten Geistes (das auch Hegel nicht lösen konnte) ist, dass der absolute Geist mit der Tiefe der Welt konfrontiert ist. „Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.“ Soll heißen: die Welt besteht aus einer für den Geist überabzählbaren Menge von Gegenständen, die sich in Raum und Zeit entfalten, und die niemals alle adäquat erfassbare Gegenstände der Erfahrung sein können, über die sich der absolute Geist konstituiert. Jetzt will zB Hegel das so lösen, indem der absolute Geist so durchreflektiert ist, dass er die Totalität aller möglichen Erfahrung simuliert und so das Dunkel der überabzählbaren Menge der Gegenstände, die die Welt bilden, behelfsmäßig ausleuchtet. Der Zen-Buddhismus versucht was Ähnliches und formuliert die Idee vom Satori. Trotzdem hat Hegel eine Vorstellung vom Ende der Geschichte notwendig, an dem allein letztendlich alles aussortiert werden sein kann. Der Zen-Buddhismus hingegen kennt keine Geschichte: und das Satori kennt nur sich selbst, aber nicht den absoluten Geist in Form von Kunst, Philosophie und Religion; es kennt auch keine Wissenschaft. Der Geist des Ostens ist, bezogen auf unser Verständnis, weder analytisch noch dialektisch; sondern er bemüht sich darum, mit den Aporien umzugehen, die unser Dasein letztendlich begrenzen, und die in unser Dasein hineinwirken, mal näher, mal ferner von der Alltagserfahrung. Das sind jeweils die Stärken als auch die Schwächen vom absoluten Geist in der westlichen wie in der östlichen Fassung.

Daher ist es notwendig, beides (also die „westliche“ und die „östliche“ Vorstellung vom Geist) hin zu überschreiten in die vom absoluten Geist in der absoluten Form. Indem der absolute Geist in der absoluten Form der Raum selbst ist, umfasst er sphärengleich auch die Zeit und konstituiert sich in einer sowieso höheren Dimensionalität, bzw., wenn man so will, als Metaebene gegenüber dem bloßen absoluten Geist. Ganz einfach gesagt, ist der absolute Geist in der absoluten Form halt noch mal ein Level drüber über dem bloßen absoluten Geist, weil er ultradialektisch ist und weil er die Abarbeitung am Koan, über die sich das Satori konstituiert, nicht mehr nötig hat, da sich in seiner Dimensionalität die Aporien, die an den Rändern des Seins lauern, zwar nicht auflösen, aber irrelevant werden, verwunden werden. Weil der absolute Geist in der absoluten Form ultradialektisch ist, prozessiert er theoretisch schneller als die Zeit, überholt damit theoretisch die Zeit und macht sich daher theoretisch auch die Tiefe der Zeit untertan. Der absolute Geist in der absoluten Form blickt auf die Dinge und ihren Verlauf gleichsam aus dem Phasenraum heraus, einem mathematischen Raum, der alle möglichen Zustände eines dynamischen Systems abbildet. Wenn sich der absolute Geist in der absoluten Form konstituiert hat, wird alles, was in der Zukunft passiert oder wo einem die Vergangenheit einholt, ein bloßes Addendum sein zu der Gestalt, die der absolute Geist in der absoluten Form schon vorher angenommen hat. Ein „Ende der Geschichte“ ist nicht mehr notwendig.  Der absolute Geist in der absoluten Form rotiert in der Zeitlichkeit und in der Ewigkeit und umfasst beide. Während bei Hegel die Eulen der Minerva zu ihrem Flug in der Dämmerung ansetzen, ist es auf der Uhr des absoluten Geistes in der absoluten Form alle Zeit des Tages gleichzeitig. Gleichzeitig weiß der absolute Geist in der absoluten Form im Sinn des Koan, dass die Eulen nie weggeflogen sind.

Was mich ständig angetrieben hat, war die Intelligenz und das Vorstellungsvermögen immer weiter und weiter zu radikalisieren, und zu sehen, wo man dann hinkommt, beziehungsweise um hoffentlich, so es diese überhaupt gibt, bei den letzten Dingen anzukommen. Dann sollte ich, eine getriebene Kreatur, endlich Ruhe finden. Der absolute Geist in der absoluten Form ist endlich das Transzendental dazu, und so agiert der absolute Geist in der absoluten Form in absoluter Geschwindigkeit in absoluter Ruhe (da er kein Ziel mehr außerhalb seiner selbst hat). Wie gesagt, der absolute Geist in der absoluten Form wird sich gut anfühlen.

Eine gute Methode, sich bei fast allen unbeliebt zu machen, ist die Entwicklung des absoluten Geistes in der absoluten Form. Insofern der absolute Geist in der absoluten Form auch eine poetische Komponente hat, gleicht er dem Weltgeist, der luzide träumt.

Opernerlebnisse 2024

Während der Aufführung von Macbeth am 21.10. habe ich erfahren, dass der ehemalige Sänger von Iron Maiden, Paul Di´Anno, gestorben ist. Er hat auf den beiden ersten Iron Maiden-Alben – dem selbstbetitelten Debut und „Killers“ – gesungen. Die für manche die besten – wenn nicht die einzigen erträglichen – Alben der Band darstellen. Tatsächlich sind sie von dem, was nachher gekommen ist, verschieden; manche wollen sie sogar als Punkalben verstehen. Damit können Iron Maiden wenig anfangen, aber in ihrer Rauheit und in ihrem Gerumpel haben sie etwas von einer Punk-Sensibilität. Es ist gut, dass das erste Iron Maiden-Album so schlecht – im Sinn von unabgerundet – produziert ist. Es ist, vor allen Dingen, der Titelsong, eigentlich ein verdammt hartes Album, und da sieht man, es ist gut, dass nicht alles von Iron Maiden von Martin Birch fürderhin geglättet wurde, so wie das dann ab „Killers“ der Fall war. „Killers“ hat für mich tatsächlich etwas von einer Zeitkapsel und erinnert mich an das Jahr 1981, was in dem Fall eine sehr frühe Erinnerung wäre. An ein novemberliches, trübes Linz und an die Tragfähigkeit der Nibelungenbrücke; in der Unterführung zur Nibelungenbrücke (auf der Linzer Seite) könnte der Mord aus dem Titelsong stattgefunden haben. Irgendetwas leicht Elegisches, Nostalgisches, in seinem gleichzeitig galoppierenden, aber auch ein bisschen innehaltenden Vorbeirauschen und -rumpeln scheint im „Killers“-Album zum Ausdruck zu kommen. Vor allem im letzten Song, „Drifter“, der ja auch etwas von einem Festhalten und Sichvergegenwärtigen und einem Identitätsstiften im Verstreichen der Zeit, in dem man ziellos, als Drifter, mitverstreicht. Das ganze Soundgewand, für das dann eben Martin Birch verantwortlich war, hat etwas Nostalgisches und Elegisches. „Prodigal Son“ assoziiere ich immer mit einer Szene aus einer Columbofolge, wo ein Albtraum dargestellt wurde, denn auch „Prodigal Son“ hat etwas Verwehtes. „Purgatory“ – zwischen „Prodigal Son“ und „Drifter“ angesiedelt, ist hingegen ein unglaublicher Rumpler. „Twilight Zone“ gibt es nicht auf der europäischen Version von „Killers“, aber der Song hat mir damals so gut gefallen, dass ich mir eine Sonderversion besorgt habe. Auch im Refrain von „Twilight Zone“ hat man dieses Stürzen in den Abgrund der Zeit (und es ist auch ein Song über die Erinnerung bzw. über die Uneinholbarkeit). Paul Di`Anno hatte eine raue Stimme mit eingeschränkterem Umfang als Bruce Dickinson, der ihn nach „Killers“ ersetzte – und der Iron Maiden mit zu einer jener „Opern-Metal“ Bands machte, die sie bis heute sind. Tatsächlich wurden ihre Komposititionen auch teilweise recht komplex. Heute, schon seit vielen Jahren, hat man vor allen Dingen Komplexität, wo früher Rumpeln und Galoppieren herrschte. Das Verstreichen der Zeit gilt eben auch für die Band selbst. Glücklicherweise habe Iron Maiden dieses Jahr am 1. Dezember in Buenos Aires gesehen, auf ihrer „Future Past Tour“. Bei der wurde, neben dem aktuellen Album, vor allem das „Somewhere in Time“-Album von 1986 zelebriert, das eigentlich immer mein Lieblingsalbum war. Zum ersten Mal (zumindest soweit mir bekannt) haben sie dort den komplexen Übersong „Alexander the Great“ gespielt, obwohl der einer der größen Fan-Favorites ist. Wenig später, am 7. Dezember, hat der Schlagzeuger, Ncko McBrain, seinen Abschied vom Touren bekanntgegeben. So habe ich Nicko also noch einmal bei einem seiner letzten Auftritte erlebt. Nicko habe ich früher nicht so gut verstanden. Sein Schlagzeugspiel erschien mir wir ein großes Tingeltangel. Der Schlagzeuger auf den ersten drei Iron Maiden-Alben, also auch auf „Iron Maiden“ und „Killers“, war Clive Burr. Der auf eine einzigartige Weise draufhaute, einen großen Feel hatte, eine Punk-Sensibilität. Lauf Bruce Dickinson sei Clive Burr der beste Schlagzeuger gewesen, den Iron Maiden je gehabt hätte. Nicht wegen der technischen Fähigkeit – bei denen sei Nicko weit überlegen. Sondern wegen seinem Feel und seiner Attutude – die angeboren sei, die man nicht erlernen könne. Später erst habe ich eine Ahnung bekommen von der Komplexität von Nickos Schlagzeugspiel. Unglaublich, dass ich das so lange überhört habe! Aber man höre sich mal das Schlagzeugspiel auf „Where Eagles Dare“, dem Eröffner vom ersten Album, wo er mitgewirkt hat, „Piece of Mind“ an. Das zeugelt zwar nicht so viszeral, aber an allen Ecken und Enden. Paul hatte in seinem Leben nach Iron Maiden insgesamt nicht so viel Glück. Der beste Song nach Iron Maiden von ihm (obwohl ich viel davon gar nicht kenne, zugegebenermaßen), ist „Impaler“ auf dem Album „“Killers: Murder One“ von 1992. Obwohl eher ein Judas Priest-mäßiger Song, hat die Qualität vom alten Iron Maiden Material. Danke für alles, Paul.

30. Dezember 2024

Billy Budd, vertont von Benjamin Britten nach der Vorlage von Herman Melville, ist eine Parabel auf den Kampf zwischen Gut und Böse, mit den zahlreichen Abstufungen der Mittelmäßigkeit und der praktischen Beschränkungen der Existenz dazwischen. Frauen kommen in diesem substanziellen Ringen der Lebensmaechte im Übrigen gar nicht vor lol. Letzte Woche hat in einer amerikanischen Gruppe hier aber einer ausgeplaudert, dass toxische Männlichkeit unter Matrosen der Navy recht verbreitet sei, das habe er selber erlebt. Da habe ich aufgenickt, denn das kann ich mir dann schon vorstellen. Ansonsten habe ich, wenn ich mir das jetzt versuche recht zu vergegenwärtigen, toxische Männlichkeit und echte, verfestigte Frauenfeindlichkeit, so wie sie derzeit als omnipraesent postuliert werden, eigentlich nie wirklich wo erlebt. Beides erscheint mir auch als unnötig und unlogisch. Allerdings weiß ich als Großschriftsteller, so wie Melville, aber auch, dass man bei allen Dingen annehmen darf, dass da der Wurm drin sein kann (sein kann – aber nicht sein muss. Außerdem polstern die zahlreichen Abstufungen der Mittelmäßigkeit die Extreme normalerweise gut ab (daher triumphiert in Billy Budd dann auch keines der beiden tatsächlich)).

30.10.2024

Verdi-Opern ohne echte musikalische Höhepunkte: Otello, Falstaff, Macbeth (im Bild)

21.10.2024

In Entweder – Oder versucht Kierkegaard auf über 100 Seiten nachzuweisen, dass der Don Giovanni das erste Kunstwerk der Welt ist. Naja, wahrscheinlich hat er recht, so wie er ja auch mit seinem religiösen Wahn wahrscheinlich recht hat (und am rechtesten mit dem Erbaulichen, dass in dem Umstand liegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben).

07.10.2024

The Women of Gil Elvgren

Beauty, as it is out there in the world, and our sense for beauty, that is within us, serve to arouse sexual attraction, i.e. to foster the reproduction process. Therefore beauty is linked to the probably only inherent determination of any species, that is to ensure its own reproduction. Therein, beauty is fundamental and primordial enough to receive the praise it usually receives. Of course, beauty is also distinctly transcendent to this. Humans at least may find things of all kinds beautiful. Humans have a sublimated sense for beauty, and there are humans that have a more sublimated, or seemingly innate sense for beauty than other humans. When philosopher Immanuel Kant says, beauty is what provokes “interesseloses Wohlgefallen” in us, i.e. pure pleasure without any longing for attachment to the respective source, we may consider it correct, at least after thinking the argument through. We may consider this a “deep” and truly sublimated notion on the character of beauty. On the other hand, we may see this notion as an expression of Kant´s alleged frigidity and deem It ridiculous to strip off beauty of its primary functionality: to make us feel (sexually) attracted to something. Yet to beauty we might both, or either-or, feel attracted or relate to it with a distanced awe. Mathematicians sense beauty in equations (and consider it as an indication for their truth), physicists muse about the “elegant” universe. We may consider nature beautiful, or art, or specific forms, but that may be because “nature”, i.e. flowers or animals are beautiful to attract mating partners, and due to our sublimated sense for beauty, also we may be aware of their beauty, without feeling sexually attracted to them. Children, with their big eyes, big heads, small noses, etc. look in a way so as that we feel emotionally attracted to them. We also feel attracted to the sublime, though the sublime is not necessarily beautiful. We may be fascinated by what is ugly or fearsome. Beauty is a bit paradoxical, or two-faced, as it is both “objective”, but seems to require also a subjective note. Beauty is objective as it is the most average looking face, a face that combines the most average characteristics, that we consider the most beautiful. That is the objective beauty standard. Yet the beauty that we personally feel most attracted to, the beauty that we love, will be a beauty with undistinguishable subjective characteristics. The beauty that we love will not be a clinical beauty. It will be highly subjective, a pulsating subjectivity, vital, vivid, blossoming, overflowing. It will seem like being born anew every time we look at it, it will be poetic. The highest form of beauty is not merely the beauty we feel attracted to. It is the beauty that we love. What we love will deem us beautiful (even if it objectively isn´t). In the highest sense, beauty is linked to a pulsating subjectivity. Love is the encounter of two subjectivities. And beauty, in the highest sense, is the encounter with a subjectivity that deems us of objective importance.

When I try to think on the last things, the transcendental things, or visualise them before my inner eye, there will be a vibrant fluctuaction of images, and semi-images. That is how the metaphysical abyss looks like, when you gaze into it. Yet likely my final image of what is beauty will freeze and solidify into a woman presented by Gil Elvgren. Gil Elvgren (1914 – 1980) was the genius of pin-up illustration. Pin-ups may be seen as something to please the so-called “male gaze”, by presenting “objectified” images of women, i.e. women turned into sex objects, to gratify an aggressive male sexuality, presumably entangled with a masculine will to power. But the dominant feature of the women of Gil Elvgren is their overflowing subjectivity. With their vibrant friendliness they will kill any aggressor with kindness. They are what a human being should be: they are happy and they are self-contained in their happiness. Their subjectivity is liberated. It´s a light world they inhabitate, and with their light that shines out of them they melt anything that seems complicated or uncomfortable like ice in the sun. The world seems like a garden where the women of Gil Elvgren bloom and blossom. Their vibrant, blooming subjectivities even overpower the underlying voluptuous character of this specific world. Gil Elvgren´s pin-ups are by no means vulgar, the eroticism is tacit, the risque element is usually presented in a humorous way. Gil Elvgren´s women have personality and verve. The verve lies in their body language, their personality lies in their sophisticated facial expressions. Feminists like to muse that many men are too fearful to actually look into the face of a woman. But when he is asked about the most important characteristic a model should have for him, Gil Elvgren mentions the face, respectively a face that is highly expressive. “A gal with highly mobile facial features capable of a wide range of expressions is the real jewel. The face is the personality.”

I have some real reasons to think that beauty is feminine. However attractive they may get, men are too clumsy and unsophisticated to really be beautiful. Men want to conquer territory and occupy space. They want to thrown things around and they make a mess. The technological manipulations and the theoretical and practical artefacts that stem out from this behaviour may be interesting and intellectually pleasing (Schöner ist das Frauenzimmer, interessanter ist der Mann, rhymes Nietzsche), but beautiful they are rather not. Men lack sweetness and grace. Their curves are miserable and dismal. Above all, men do not radiate innocence. It is the innocence that makes the women of Gil Elvgren so attractive. I know women with a sense for beauty. Even they overly post images of women way more than they do of men. Taking all this into account, I finally experience that I react to the women of Gil Elvgren actually with “interesselosem Wohlgefallen”. A state of pure pleasure and bliss that becomes self-contained. What has its roots in provoking sexual attraction equally elevates and transforms into a lofty state of attachment-free delight. Eminent logician Kurt Gödel used to enjoy Walt Disney movies, especially Snow White, because, to him, it presented a world in the way the world should be. Likewise to me, my garden of delight seem to be the pin-ups by Gil Elvgren. A world populated by the women of Gil Elvgren is the way a world should clearly be.

In the Anatomy of Human Destructiveness Erich Fromm distinguishes between the Biophilic and the Necrophilic principle, similar to Eros and Thanatos in the Freudian understanding. The Biophilic is life-affirming, positive, attracted to anything that symbolisises life and its growth process, anything that is blossoming, flourishing, self-sustaining, seemingly innocent. The Necrophilic tries to abstain from all these qualities, or openly opposes them. It is abstract, distanced, overly calculating and the like in its more general features, it is attracted to decay, death, aggression and perversion further down its own spiral. The Biophilic is anti-neurotic, the Necrophilic stems out of emotional blockades, or negative emotions. Most humans share biophilic and necrophilic tendencies. Only few humans are more or less thoroughly or completely necrophilic; in The Anatomy of Human Destructiveness Fromm discusses Hitler as a respective example at great length. Yet there are also a few humans that are thoroughly or completely biophilic, as we may assume. As long as there is Being, the Biophilic will be the stronger principle than the Necrophilic, since as long there is Being, it will triumph over Nothingness. The pin-ups of Gil Elvgren are an emanation of the purely Biophilic, I would say. Gil Elvgren preferred to work with younger models at the beginning of their career. According to him, they may still carry the freshness and spontaneity that older and more experienced models lack. He valued models that were interested and enthusiastic, but said that they were “very hard to find”. The purely Biophilic and pure beauty are, indeed, hard to find, in the human swamp, in the swamp of existence. But, once they surface, they outshine the swamp. They give us the idea that we all are beautiful, biophilic, and authentic. And somewhere deeper down at least, we are. That´s why these emanations are so vital, and that is why the women of Gil Elvgren have a special place in my heart, and mind.

Whether beauty is “ontologically hard”, i.e. “out there” in the world, or just a subjective phantasma, however objective its criteria may be, is probably undecidable. That would render such speculations, in the final consequence, as mere metaphysics. That would all but close the circle, in which beauty appears as something “metaphysical” in the first place. The metaphysical is an eternal knot, or an eternal twisted loop, which relates our enigmatic subjectivity to an enigmatic objectivity, and tries to sort out the meaning of both by reflecting one in the other. The metaphysical seems to give our subjectivity objective importance and gravity, and the objective enigmatically mimicking or reflecting our subjectivity. And so does beauty.

R.I.P. Hermes Phettberg

„Ich kam nie zur Ruhe: Am Tag danach, Fr: 11:12:2015, schob mich Sir eze mit dem 57A in die Galerie „Karenina“ nach Wien 1., Opernring 21/2. Stock/Tür 12, zur Lesung der heute unvorstellbar großen Dichterpersönlichkeit PHILIP HAUTMANN.

Er las aus seinen Texten: Erstens: „Yorick. Ein Mensch in Schwierigkeiten“ (2010), zweitens: „Der uninterpretierbare Traum“ (2015) drittens: „Das Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken“ (2015). Sir Philip Hautmann’s Hirn thront auf seinem Körper, vollbegossen mit Sperma. Unvorstellbar, dass soetwas Göttliches heute noch aufblühen kann! Philip sitzt unter seinem Hirn und schreibt sekundenpenetrant mit, was sich gerade durch sein Hirn schießt.”

Das war ein schöner, sensibler Mensch. Aus seinen lebenslangen Depressionen hat er leider erst herausgefunden, als ihn seine vielen Schlaganfälle mehr oder weniger zum Schwerbehinderten gemacht hatten. Aber da war er dann geradezu von einer Lebensgier getrieben, und wollte überall hin, trotz seiner sehr eingeschränkten Mobilität. Wenn er bei einer Veranstaltung oder sonstwo war, hat er sich nach jedem umgesehen, der reinkam, alles erregte seine Aufmerksamkeit. Also ein sehr achtsamer Mensch, von der Gumpendorferstraße; ganz anders als die üblichen Menschen-Zombies, die über die Mariahilferstraße laufen und die sich nach nichts umsehen, und deren Aufmerksamkeit scheinbar nur durch Brände oder krachende Verkehrsunfälle erregt werden und dahin abgelenkt werden kann: das ist ihr Verhältnis zur Welt. Leider konnte ich mich mit ihm kaum unterhalten, weil er ja nur mehr schlecht sprechen konnte. Aber wir haben uns verstanden und durchschaut. Ich bin ihm auch früher im Leben schon mal begegnet, in den 1990er Jahren, als er am Zenit seines Ruhmes war, denn er war kurioserweise ein Bekannter meines Freundes David, der leider mittlerweile ebenfalls gestorben ist. Ich war damals ein gottähnlich schöner junger Metaller mit langen Haaren und, bei der Gelegenheit, einer eng anliegenden Lederhose. Das hat seine Aufmerksamkeit sichtlich erregt, aber angemacht hat er mich nicht. Es hat mir auch irgendwie leid getan, dass ich ihn so, ungewollt, quasi provoziert habe, aber geben konnte ich ihm nichts, denn insgesamt hätte ich ihm gerne mehr gegeben. Naja, dafür hat er später meine Bücher bekommen. Wie es Hermes in seinen letzten Jahren gegangen ist, weiß ich nicht, da ich ihn da nicht mehr gesehen habe. Leider finde ich auch keine Fotos von ihm und mir mehr wieder, aber es waren auch keine guten Fotos, da er einfach schon sehr krank war. Zum Begräbnis kann ich nicht, da ich weit weg weile. Tut mir leid auch für dich, Eze.

Na gut, doch noch gefunden. Aber es ist kein angenehmes Foto.

Mayröcker/Jandl

Während auch die unsinnigsten und hingeworfensten Gedichte von Ernst Jandl ein unmittelbarer und starker Ausdruck von Geist sind, kommt in der Poesie der Mayröcker immer nur die Geistlosigkeit zum Vorschein. Das zwar in einem coolen Stil, der aber auch schnell satt macht und vor allem zu einer Masche wird; während bei Jandl niemals was zu einer Masche wird. Warum gibt es da draußen solche Probleme, authentischen Geist von simuliertem Geist zu unterscheiden beziehungsweise echte Gedanken von derivativen, und dieser Schlaf des Beurteilungsvermögens gebiert Monster; ich kann mich erinnern, wie einer im Feuilleton mal geschrieben hat, bei der Mayröcker würde sich die Poesie und der Gedankenstrom „wie flüssiges Gold“ ergießen. Diese Literaturkritiker immer wieder mal! Ich glaube, wo bei normalen Menschen das Hirn ist, ist bei denen auch so ein bisschen was wie flüssiges Gold.

Was tun mit dem Genossen Lenin? (Geschichte der Sowjetunion)

Lenin hat uns einen Staat gegeben und wir haben ihn versaut.

J. W. Stalin

Sieh dir den gut an. Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel. Ein sehr russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert. Aufgeben wird er nie.

Rosa Luxemburg zu Clara Zetkin

(Die Pariser Kommune hat gezeigt), dass selbst die Redlichsten, könnten sie die Macht ausüben, den Schurken ähnlich werden, die sie einst bekämpften.

Louise Michel, Teilnehmerin an der Pariser Kommune 1871, die daraufhin Anarchistin wurde

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Russen, die ich seit 25 Jahren unausgesetzt, und nicht nur deutsch, sondern französisch und englisch bekämpft habe, immer meine „Gönner“ waren.

Karl Marx, Brief an Kugelmann, 12. Oktober 1868

Diktaturen sind fatalerweise bei all ihren Unternehmungen zu Übertreibungen gezwungen.

Charles de Gaulle

Heuer vor 100 Jahren, am 21. Januar 1924, starb der Genosse Lenin. Ein großes Rauschen im Blätterwald habe ich diesbezüglich nicht vernommen. Vielleicht liegt das an mir … oder daran, dass erst 2017 das Hundertjahresjubiläum der Oktoberrevolution und 2020 der hundertfünfzigste Geburtstag Lenins gewesen ist; Ereignisse, die dann doch entsprechend gewürdigt worden sind, etliche neue Bücher erschienen sind und einiges in die Debatte geworfen wurde? Dabei war auf jeden Fall Lenin vielleicht die wichtigste politische Gestalt im ganzen 20. Jahrhundert. Ohne Lenin wäre Russland wohl kaum kommunistisch geworden bzw. die Sowjetunion hervorgegangen. Ohne die Sowjetunion hätte es den kommunistischen Ostblock nicht gegeben, und es wäre wohl auch China nicht kommunistisch geworden (und auch nicht andere Länder in Asien). Die Frontstellung zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt – und der „blockfreien“ Welt im großen Dazwischen – bildete wohl die definierende Achse des letzten Jahrhunderts. Einige Historiker wollen sogar auf ein „kurzes 20. Jahrhundert“ blicken, dass sich von 1917 bis 1989/91 erstreckt habe. Der Kommunismus, in Form der Sowjetunion, hat im 20. Jahrhundert den Faschismus besiegt. Aber wäre es ohne den Kommunismus überhaupt zum Faschismus gekommen? Hätte Hitler, wenn er an die Macht gekommen wäre, sich nach Osten gewandt; und wenn, hätte er es in Form eines gnadenlosen Vernichtungsfeldzuges getan, wenn es dort kein „Bollwerk des Bolschewismus“ gegeben hätte? Hätten die imperialistischen Länder ihre Kolonialreiche aufgegeben, wenn die Sowjetunion (und Rotchina) nicht gewesen hätte? Hätten die entwickelten kapitalistischen Länder vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Sozialsysteme ausgebaut und eine „sozialdemokratische“ Politik des Ausgleichs zwischen Arbeit und Kapital verfolgt, wenn nicht der Schatten der Sowjetunion über ihnen gelegen wäre? Wäre die Menschheit ins All vorgedrungen: mit dem Russen Juri Gagarin 1961 als ersten Menschen im All und dem Amerikaner Neil Armstrong als ersten Menschen am Mond 1969? Würde es das Internet geben, das ursprünglich zu Verteidigungszwecken entwickelt worden war? Vielleicht wäre das alles passiert, vielleicht auch nicht, wahrscheinlich aber zumindest in erheblich anderer Form. Was ist am Beispiel der Sowjetunion außerdem mit dem Kommunismus und der Idee des Kommunismus geschehen, stellt sich die Frage? War die Sowjetunion eine Pervertierung der Idee des Kommunismus, oder dessen triumphale Erfüllung, oder Übererfüllung? War der spezifische sowjetische Kommunismus einer, der eine solche Form aufgrund der Geschichte des Landes annehmen musste, oder aufgrund der Besetzung bestimmter Positionen mit bestimmten Personen? Oder wäre es auch anders gegangen, hätte er deutlich andere Formen annehmen können? War der Kommunismus in einem rückständigen Land wie Russland eine Bestätigung für die Marxsche Vision, dass ein Land erst eine Phase des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie durchlaufen müsse, um „reif“ für den Sozialismus zu werden? Oder eine Bestätigung dafür, dass nur „rückständige“ Länder, in denen beides kaum vorhanden ist, zum Sozialismus/Kommunismus überhaupt gravitieren, nicht aber entwickelte Industrieländer? War der Sozialismus in all diesen Ländern hauptsächlich als Sozialismus gedacht, oder als Politik der Entwicklung des jeweiligen Landes, mithin also eine „Entwicklungsdiktatur“? Inwieweit muss die Geschichte (und Mentalität) eines ganzen Landes betrachtet werden, um den Sozialismus, in vielen seiner Aspekte zumindest, als ein Element der Kontinuität oder der Diskontinuität begreifen – in dem Fall also die Geschichte Russlands und die spezifischen Gegebenheiten in Russland? War er, der sich als Endziel der menschlichen Geschichte sieht, etwas das dann doch nur innerhalb von Zeit und Raum auftut, und dann endgültig verschwindet, wenn sich die Zeiten und die Räume ändern? Oder waren die kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts Vorboten, Inseln, eines großen, weltumspannenden Sozialismus, einer Weltrevolution, die nach wie vor in der Zukunft verborgen liegt? All diese Fragen führen (neben Marx und Engels selbst) im 20. Jahrhundert auf einen einzigen Menschen zurück: auf Vladimir Iljitsch Lenin.

Die genauen Ursprünge Russlands und aus welchem Volk die späteren Russen genau hervorgegangen sind, liegen letztendlich im Dunklen. Daher ist der Ursprung Russlands tatsächlich ein wenig „mystisch“. Russland war ab dem 9. Jahrhundert eine lockere Vereinigung ostslawischer Stämme, die vor allem in der heutigen Ukraine beheimatet waren („Kiewer Rus“). Es war bereits damals ein Vielvölkerreich und seine lose Verbundenheit führte zu Reiberein und Konflikten zwischen einzelnen Fürstentümern. Das machte es für die Mongolen leichter, im 12. Jahrhundert Russland zu überrennen. Die mongolischen Herrscher wurden erst gut 250 Jahre später (1472) vom Moskauer Großfürsten Iwan dem Großen entscheidend geschlagen und vertrieben. Die Epoche des „tatarischen Jochs“ gilt vor allem im 13. Jahrhundert als „dunkle Zeit“ Russlands. Russlands Sorge über seine tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit, vor allem gegenüber Westeuropa, die bis heute Züge einer kollektiven Neurose trägt, hat darin ihren Ursprung. Tatsächlich war Russland von Westeuropa und den Entwicklungen dieser Zeit abgeschnitten. Allerdings war das mongolische Imperium nicht nur dumpf und rückständig gewesen. Neben seinem militärischen Genie war das Mongolenreich ein gut funktionierendes Handelsimperium mit effizienter Verwaltung, Steuererhebung und Rechtsprechung (was Russland leider so nie nachmachen konnte). Als überdimensionale Gestalt tritt erstmals nach der Mongolenherrschaft Iwan der Schreckliche (1530-1584) auf. Er begründete das Zarentum und einen radikalen Expansionskurs. Russland hat keine natürlichen Grenzen und ist flaches Land, in das ausländische Heere leicht einfallen können. Eingeklemmt zwischen Europa und Asien wurde es immer wieder zum Spielball fremder Mächte. Russland ist bis heute keine Seemacht, da es keinen (besonders privilegierten) Zugang zum Meer hat. Also versuchte es sich als Landmacht zu konstituieren und seine Grenzen vom Zentrum Moskau weg möglichst weit hinauszuschieben, um es auf diese Weise uneinnehmbar zu machen. Iwan der Schreckliche drang im Osten bis zum Ural vor, nach Süden Richtung Kaspisches Meer und nach Norden zum Polarkreis. In den folgenden Jahrhunderten drangen die Russen über den Ural hinaus in die grenzenlosen Weiten Sibiriens bis schließlich zur Pazifikküste (die Unterwerfung der dort lebenden Völker erfolgte oftmals brutal). Im Inneren stellt sich so bis heute das Problem, wie man ein so riesiges, zu erheblichen Teilen unwirtliches Territorium (und Vielvölkerreich) effizient verwalten könnte. Das Russland des Mittelalters hatte wenig große Städte, kein Bürgertum, keine Universitäten und öffentliche Schulen, es hatte keine Fürstenhöfe (die Kultur und Handel und anderes mehr hätten fördern können), und es hatte keinen Anteil an den maritimen Entdeckungen und den Erfindungen, die damals in anderen Teilen der Welt gemacht wurden. Der Zar hatte Übermacht über die Adeligen, die Bojaren, denen er Lehen und Vermögen nach Gutdünken auch wieder entziehen konnte (ein Muster, das sich heute zwischen dem Präsidenten Putin und den Mitgliedern seiner Regierung bzw. den Oligarchen fortsetzt). Die Innovativität Westeuropas beruhte dabei aber sehr wesentlich auf der beschränkten Reichweite seiner Machtzentren und ihrer Konkurrenz untereinander (bzw. ihrer Freiheit gegeneinander). Innovative Köpfe, die von ihrem Fürsten nicht wohlgelitten waren, konnten sich an einen anderen wenden, der aufgeschlossener war. In Russland (im Osmanischen Reich, in den Kalifaten, in China etc.) gab es diese Möglichkeit nicht. Darüber hinaus war bereits das mittelalterliche Westeuropa „demokratischer“ als Russland, ein Top-Down Feudalsystem, in dem die Leibeigenschaft erst Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Zudem war in Russland die christlich orthodoxe Kirche übermächtig. Während des tatarischen Jochs hatte sie als spirituelles Refugium und Platzhalter für eine russische kulturelle Identität gedient und gedeihte auch darüber hinaus in einem diesbezüglichen relativen kulturellen Vakuum, aus dem heraus ihr wenig Konkurrenz erwuchs. Vor allem nach dem Untergang von Byzanz und dem Fall von Konstantinopel begriff sich Russland als Fortsetzer und Bewahrer der orthodoxen Idee und Religion im Weltmaßstab – und also als „spirituelle“ Macht mit einem spirituellen Weltauftrag. Katharina die Große träumte davon, bis zum ehemaligen Konstantinopel vorzustoßen (nicht allein aus spirituellen Gründen, sondern weil das Russland auch den ersehnten direkten Zugang zum Mittelmeer verschafft hätte). Iwan der Schreckliche war ein intelligenter und vorausschauender Herrscher, der aber auch misstrauisch war und unter starken Stimmungsschwankungen litt. Bereits an ihm zeigte sich, dass ein einzelner Herrscher einem ganzen Reich recht ungefiltert seinen Stempel aufdrücken konnte. Gewalt und Grausamkeit setzte er gleichsam nicht allein gezielt als Herrschaftsmittel ein, sondern wurde auch irrational von ihnen übermannt. Der Legende nach hat er seinen eigenen Sohn im Affekt erschlagen, und sich und Russland somit eines klaren Thronfolgers beraubt. So kam es nach dem Ableben Iwans des Schrecklichen zu drei Jahrzehnten brutaler innerer Wirren und Hungersnöten in Russland – und dem Eindruck, es bedürfe eines starken, gegebenenfalls „schrecklichen“ Herrschers und einer straffen Herrschaft, damit das Land nicht ins Chaos abgleite (Stalin, der sich als eine moderne Version von Iwan dem Schrecklichen sah, sollte Eisenstein – der Iwan in seinem Film charakterlich etwas weicher zeichnen wollte – belehren, dass Iwan „nicht zu schrecklich, sondern zu wenig schrecklich“ gewesen sei: Hätte er tatsächlich rücksichtslos seine „Feinde“ beseitigt, wären Russland die inneren Wirren nach seinem Tod erspart geblieben). Zar Peter der Große (1672 – 1725), ein genialer, aber auch rücksichtslos genialer Herrscher, war der nächste Titan in der Geschichte Russlands. Er gründete das Russische Reich und besiegte die damalige Großmacht Schweden im Großen Nordischen Krieg – Russland wurde damit selbst zur nordischen Großmacht in Europa. Er verfestigte auch die Kontrolle über die Ukraine. Peter war besessen davon, von Europa zu lernen, seine Innovationen zu übernehmen und Russland nach europäischem Vorbild zu modernisieren. Er gründete als neue Hauptstadt Sankt Petersburg und rückte diese damit auch geographisch nahe an Europa heran. Peter förderte die Wissenschaften, die Künste, reformierte die Verwaltung und auch die Mode; und drang mit seinen Reformen tief in das Leben der Menschen ein. Mit seinem vulkanischen Reformergeist und seiner westlichen Orientierung überforderte Peter jedoch auch viele seiner Untertanen, die darin ihre kulturelle Eigenheit (oder ganz einfach nur ihre sich daraus ergebenden Machtpositionen) gefährdet sahen – und der Konflikt zwischen den „Slawophilen“ unter den Russen und den „Westlern“ ist bis heute ein virulenter. Vor allem aber war auch Peter ein Despot. Katharina die Große (1729 – 1796), die nächste überragende Gestalt in der Geschichte Russlands, war eine vorausschauende und bildungshungrige Frau; aber zu einem guten Teil auch eine reaktionäre Herrscherin und eine Imperialistin (sie war damit eine Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus, so wie einige ihrer westeuropäischen Konterparts auch). Unter ihr erfolgte die Eroberung des Krimkhanats und die Teilung Polens. Damit war Russland auch geographisch endgültig in Europa angekommen und nunmehr ein ständiger Mitspieler im Spiel und im Konzert der europäischen Großmächte. Die Geschichte Europas ist deswegen turbulent und bellizistisch, weil keine europäische Macht stark genug war, sich als eindeutiger Hegemon über den Kontinent zu etablieren, aber alle Mächte das versuchten, oder zumindest versuchten, ihre relative Position gegenüber den anderen zu verbessern – eine unendliche Aufgabe. Napoleon wollte für Frankreich die Weltherrschaft erobern, provozierte damit aber ständige Kriege, die selbst jemand wie er schließlich verlieren musste. Sein eigentlicher Kontrahent war England, das – damals wie heute – die Generallinie verfolgte, auf dem Kontinent keine Hegemonialmacht heraufkommen zu lassen, die England in seiner „splendid isolation“ (und seinem Empire) herausfordern könnte. Mit der Ausschaltung Österreichs und Preußens hielt sich Napoleon diesbezüglich den Rücken frei. Russland ließ sich jedoch dauerhaft nicht so leicht neutralisieren. So sah sich Napoleon gezwungen, aufs Ganze zu gehen, indem er Russland vollständig schlagen und Moskau einnehmen wollte. Das Jahr 1812, in dem die Russinnen mit einer Taktik der verbrannten Erde bis hin zur eigenständigen Vernichtung Moskaus die napoleonische Armee aushungerten, zermürbten und praktisch dezimierten und ihre Reste so sieglos wieder abziehen mussten, zählt zu den großen Fixpunkten in der russischen Gedächtniskultur, und ist ein gleichsam mythisch gewordenes Beispiel für einen Heroismus, der ins scheinbar Wahnsinnige gesteigert ist: deswegen aber eben auch triumphiert. Nach dem Niederringen Napoleons kam es zu einem Jahrhundert des „langen Friedens“ in Europa. Doch auch der kannte seine begrenzten, dennoch aber gewalttätigen und erschütternden Konflikte, wie den Deutsch-Französischen Krieg, oder eben den Krimkrieg, in dem Frankreich und England gegen Russland kämpften und ihm eine Niederlage beibrachten. Die Restauration nach dem Ausschalten Napoleons bedeutete auch eine Zementierung einer reaktionären Politik in den europäischen Ländern im Inneren. Die führte über kurz oder lang zu Unzufriedenheit bei den Bevölkerungen, die am durchschlagendsten in den bürgerlichen Revolutionen von 1848 zum Ausdruck kam. Bei Russland war es der verlorene Krimkrieg 1856, der endgültig die erheblichen Schwächen des Reiches offenlegte und bloßstellte. Wie in den westeuropäischen Ländern war es auch in Russland im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins, der Frage nach der eigenen Identität und der Gestaltung der eigenen Zukunft gekommen. Die Aufklärung, die Frage nach der Gestaltbarkeit der eigenen Geschichte und das Verständnis vom Bürger als Citoyen und nicht mehr bloß als feudalistischer Untertan hatte auch Russland erfasst. Denker, in Russland vor allem aber Dichter traten auf, und versuchten, die großen Fragen ihres Zeitalters zu verhandeln und schufen damit einen neuen, allumfassenden Rahmen für das Denken, das Empfinden und das allgemeine Problemverständnis. Russland hat diesbezüglich einen neuralgischen Punkt, in dem wesentliche Entwicklungen der Vergangenheit zusammenlaufen und von dem wesentliche Entwicklungen für die Zukunft ausgehen in der geistigen Gestalt Puschkins. Es waren im 19. Jahrhundert, und darüber hinaus, die großen Literaten, die Russland zu einem einheitlichen Selbstverständnis verhelfen wollten (und damit, wenngleich auf hochinteressante und charismatische Weise, gescheitert sind). 1825 verweigerten Offiziere den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I., aus Protest gegen das Zarenregime. Aus ihnen gingen die Dekabristen hervor. Die Dekabristen waren eine Art revolutionäre Bewegung (oder zumindest eine Vorstufe dazu), die auch geheimbündlerisch und im Untergrund tätig war, deren Ziel die Liberalisierung Russlands, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Abschaffung des Zarentums (bzw. dessen Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie) war. Sie waren vorwiegend „westlich“ orientiert. Der Zar verfolgte die Dekabristen und verschärfte die Repressionen im ganzen Land – mit der Wirkung, dass sich weitere Teile der Bevölkerung vom Regime entfremdeten. Unter den Intellektuellen wurde es Mode, sich für das Bauerntum zu interessieren. Sie erhofften, im „unverfälschten“ russischen Bauerntum fündig zu werden, was das wahre, unverfälschte Russentum und die wahre russische Seele denn tatsächlich ausmache. Russische Sozialisten begannen die Hoffnung zu hegen, dass die bäuerliche Dorfgemeinschaft eine Keimzelle für einen Sozialismus der Zukunft sein könnte. Umso mehr hassten diese fortschrittlichen Geister die Leibeigenschaft, tatsächlich ein Symbol für die russische Rückständigkeit und den russischen Despotismus. Aus ihnen gingen die Narodniki („Volkstümler“) hervor, eine revolutionäre Bewegung mit sozialistischer Stoßrichtung, von denen schließlich viele Terroristen wurden. Aufgrund der Niederlage im Krimkrieg kam es unter Zar Alexander II. tatsächlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Alexander II. setzte auch eine umfangreiche Liberalisierung und Reformen in Gang, die jedoch den mittlerweile intransigenter gewordenen Revolutionären – zu denen nunmehr auch die „Nihilisten“ zählten, die sämtliche Autoritäten ablehnten – nicht weit genug gingen. Auch Alexander II. musste schwierige Balancen in seinem Reich der Ungleichzeitigkeit wahren, und vielfach stießen Reformvorhaben an die Grenzen der Machbarkeit. Der reformorientierte „Oswoboditel“ („Zar-Befreier“) wurde tragischerweise Opfer eines Anschlags einer revolutionären Geheimgesellschaft, Narodnaja Wolja. Das bekräftigte in seinen weniger weltoffenen Nachfolgern das Verständnis, dass liberale Reformen sowieso ein Irrweg wären, der nur noch größeren Schaden hervorrufe. Und so verschärften sie wiederum die Repression – was wiederum Revolutionären und Terroristen aller Art Auftrieb gab. Zwischen 1897 und 1917 sollten 17.000 Staatsvertreter, inklusive Ministern, Terroranschlägen zum Opfer fallen. Dennoch hatten selbst Antikommunisten im Ausland Verständnis dafür, dass das russische Repressionsregime Kommunisten und Terroristen ja offensichtlich in großer Zahl hervorbringen musste. Zugleich bliebt Russland auch ökonomisch rückschrittlich und fiel aus dem Rahmen der Zeit. Doch der Karren schien festgefahren. Für viele Russinnen und Russen, vor allem junge, lag daher ein Klima des revolutionären Denkens und Handelns in der Luft. In einem solchen Klima wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert also auch der derjenige Russe auf, der mit der Revolution dann tatsächlich Ernst machen sollte.

Wir haben die Mao-Zedong-Gedanken genutzt, um den Versuchungen einer weitgehend verpönten Attitüde zu unterliegen, der des Eurochauvinismus. Der Maoismus in seiner Geschichte und in seinen näheren und ferneren Ursachen ermuntert zu einem kritischen Blick auf die zahlreichen Dysfunktionalitäten Chinas, und auch die Dysfunktionalitäten Indiens und die kleinerer asiatischer Länder wie Kambodscha gerieten unter den Scheinwerfer. Ja, insofern der Maoismus auf globale Reichweite abzielte (auch wenn er darin meistens nicht erfolgreich war) gab uns das sogar die Möglichkeit, über Afrika und über Südamerika einige abfällige Bemerkungen fallen zu lassen! Russland ist nun sowohl eine europäische als auch eine asiatische Macht. Auch wenn es sich geographisch viel mehr nach Asien erstreckt, liegen sein Schwerpunkt, seine Ursprünge und die Mehrheit seiner Bevölkerung in Europa. Allerdings am Rand von Europa, und weit von den politischen Zentren Europas entfernt. Man könnte also sagen, dass Russland ein europäisch-asiatisches Hybrid ist, ein Bastard. Man könnte aber auch sagen, dass Russland weder asiatisch noch europäisch sei, sondern ein Gebilde für sich – das in seiner Unterbestimmtheit dann dazu tendiert, bestimmte seiner Bedeutungen und Inhalte immer wieder ins Überdimensionale aufzublähen, um sich so Halt und Selbstverständnis zu verschaffen: dass Russland von Natur aus also zu Übertreibungen neigt, die auf umso wackeligeren Beinen stehen. Russland versteht sich nicht als Land, sondern als Imperium, hat aber weder als Land noch als Imperium echte natürliche Grenzen, und kann daher schrumpfen oder anwachsen. Russland ist ein eigener Kulturraum, an und für sich eine eigene Zivilisation, ist aber auch von vielen anderen (stärkeren und ausformulierteren) Kulturen und Zivilisationen umgeben und in notwendigem Austausch, deren Einflüssen es zwar gerne nachgibt, sich aber auch gleichsam trotzig selbst zu behaupten versucht (Japan ist, so gesehen, auch eine Kultur und eine Zivilisation für sich, aber besser abgeschottet bzw. besser abschottbar). Russische Intellektuelle und Sozialisten des 19. Jahrhunderts hegten, wie erwähnt, eine große Faszination für die Bauern, in denen sie die Antwort auf die Frage nach dem echten, unverfälschten Russentum zu finden hofften. Auch wenn diese Annäherungsversuche in einzelnen Fällen gelangen, scheiterten sie auf der größeren Skala. Die russischen Bauern hatten, so konnten diese Gebildeten feststellen, zwar etliche liebenswerte und bewundernswerte Eigenschaften, aber auch solche, die sich zu jedem Intellektualismus und Liberalismus antithetisch verhielten. „Der russische Bauer blieb undurchdringlich“. Vielleicht ist er in dieser Eigenschaft tatsächlich die Seele Russlands. Russland hat immer wieder bedeutende Leistungen erbracht. Dabei gingen all diese Leistungen aber immer wieder mit irgendetwas Grotesken einher. Russland ist, in praktisch allen Aspekten, gleichzeitig stark und schwach zugleich. Insofern Russland all das ist, und dann auch wieder nicht, ist Russland vielleicht vor allem eines: ein Paradox. Das größte Paradox in der Welt. „A riddle, wrapped in a mystery, inside an enigma“, so charakterisierte Winston Churchill Russland (oder zumindest die Sowjetunion, als sie den Hitler-Stalin-Pakt abschloss). An einem Paradox beißt man sich letztendlich die Zähne aus. Was aber, wenn das Paradox dann doch auf einer relativ eindeutigen Grundlage beruht? Wie der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, hat Russland scheinbar endgültig seine dunkleren Seiten enthüllt, die man vorher vielleicht nicht so wahrgenommen hat. War das der fehlende Mosaikstein, der nun endlich einen tatsächlichen, widerspruchsfreien Blick auf ein ansonsten nicht ganz klares, bewegliches Ganzes bietet? Damals habe ein ich Interview mit einem ukrainischen Intellektuellen gelesen, der Russland als „Schatten“ Europas und der europäischen Aufklärung identifiziert hat. Das hätte ich vorher vielleicht nicht so ernst genommen und eine polemische Absicht dahinter vermutet. Aber vielleicht hat der ukrainische Intellektuelle recht: Dass also Russland weniger ein Hybrid ist, das Westeuropa halt ein wenig hinten nach ist, aber schließlich aufschließen wird und will, sondern ein negativer, unheimlicher Schatten, der die westeuropäischen Innovationen immer nur übernommen hat, indem er sie pervertiert hat – zu dem Zweck seiner eigenen Selbstbehauptung. („Zuerst lernen wir von den Europäern – dann schlagen wir ihnen die Tür vor der Nase zu“ – soll das eigentliche Vorhaben von Peter dem Großen gewesen sein.) Russland hat auf vielen Gebieten große kulturelle Leistungen erbracht. Wobei der größte nationale Schatz wohl die klassische russische Literatur ist. Die Einzigartigkeit der klassischen russischen Literatur, ihre ins Allumfassende ausgreifenden Dimensionen, haben ihre Grundlage darin, dass die Literatur das Trägermedium war, über das die großen Fragen der Zeit national ausgehandelt wurden – in Ermangelung anderer Kommunikationskanäle innerhalb der Gesellschaft. Sie ist die „seelenvollste“ unter allen Literaturen und die, die den größten metaphysischen Abgrund auftut. Aber weder eine Seele noch Metaphysik sind notwendigerweise etwas Rationales, und vor allem, wenn sie in einer ewigen Suche nach sich selbst sind, sollte man erwarten, dass sie das letztendlich eben nicht sind. Genauer betrachtet beschreibt die russische Literatur letztlich bis heute immer wieder groteske, gefährliche, traumatische Lebenswelten, in denen die Unvorhersehbarkeit und Unzuverlässigkeit regiert. Trotz ihres Genies waren die russischen Dichter(innen) immer wieder in auffälliger, jenseits der natürlichen Weltfremdheit des Poeten liegenden Weise nicht in der Lage, gut durchs Leben zu navigieren. Gogol hätte seine Toten Seelen als Trilogie geplant, bei der, gleich der Göttlichen Komödie von Dante, der erste Band die „Hölle“ der russischen Verhältnisse beschreibt, der zweite das Fegefeuer/den Läuterungsberg und der dritte das Paradies. Verfasst hat Gogol eben nur den ersten Band. Er, der von allen russischen Dichtern zu den plastischsten Darstellungen fähig war, sah sich nicht in der Lage, Russland jenseits des Höllenkreishaften zu beschreiben – offenbar, weil die russische Realität dafür zu wenig Anschauungsmaterial lieferte. Stattdessen erblickte Gogol in der „inneren Läuterung“ des Individuums den Generalschlüssel zur Erneuerung Russlands. Zarendespotie, Leibeigenschaft, Rückständigkeit usw. seien unerheblich, wichtig sei allein die innere moralische Läuterung des Individuums, dann werde sich die Gesellschaft (auch innerhalb dieser Grenzen, die dann aber nicht mehr wichtig sind) von selbst zum Guten ordnen. Zwar hat er damit wohl recht, aber das ist dann keine politische Vision mehr, vielleicht auch keine moralische mehr, sondern eine esoterische. Spiritueller Schwulst aber ist etwas, worin sich die russische Seele gefällt. Auch heute noch begreift jemand wie Putin Russland als eine „spirituelle“ Supermacht, die mit ihrem einzigartigen spirituellen Empfinden die ganze Welt beglücken wird, ein Selbstverständnis, das mindestens aufs 19. Jahrhundert zurückgeht (beziehungsweise hinsichtlich der Vorstellung, der Nachfolger des oströmischen Reichs zu sein, auf noch viel früher). Spiritualität ist zwar was Gutes, bedeutet ein intensiveres Empfinden für das Sein und größere Sensibilität gegenüber den Dingen und gegenüber sich selbst. Doch sollte das auf der Basis eines klaren Geistes und einer transparenten Persönlichkeit geschehen. Spiritualität bedeutet Luzidität und dass man klare Unterscheidungen treffen kann und nicht eine bloße Selbstüberladung mit „Weltempfinden“ (oder Selbstempfinden). Transparenz ist aber etwas, was in der russischen Kultur fehlt, stattdessen herrscht die Opazität. Außerdem ist bei der russischen Spiritualität nicht klar, was sie sein soll. Anders als die Länder im Westen und Osten hat Russland kein eigenständigen, ausformulierten und systematischen spirituelle Lehren entwickelt oder konstruktiv übernommen; eher handelt es sich um eine übersteigerte Religiosität. Die herrschende Kirche in Russland ist die orthodoxe, die von allen christlichen Kirchen am wenigsten intellektuelle Wandlungen durchgemacht hat, am wenigsten mit der Aufklärung konfrontiert war und die in vergleichsweise starrer Ritualistik besteht. Orthodoxe Messen und ihre Gesänge, ich gestehe, haben eine charismatische, wohltuende Wirkung, man glaubt, dem Weltgeheimnis näher zu kommen und wähnt sich in einer tieferen Kommunion, aber nach einer gewissen Weile (und noch dazu dauern orthodoxe Messen beliebig lange) verliert man die Nerven. Ein genauer innerer Kern ist für mich nicht auszumachen; aber ich verstehe natürlich kein Russisch, kann das daher nicht beurteilen. Allerdings mag das spezifische russische Leben selbst eine spirituelle Erfahrung sein. Zugegebenermaßen muss es ein tiefes Empfinden sein, Russe zu sein. Russinnen fühlen sich im Ausland immer wieder nicht wohl und sie haben Sehnsucht nach dem „Mütterchen Russland“. Trotz aller Segmentierungen und Hierarchien in der Gesellschaft scheint ein starkes und gleichsam egalitäres Gemeinschaftsgefühl in der russischen Seele zu liegen. Vielleicht hätte ich so eine Empfindungsmöglichkeit auch gern (allerdings habe ich so etwas ja, nur halt in einer anderen Form). Russland ist im Vergleich zu Westeuropa aber auch eine vergleichsweise kollektivistische Gesellschaft (allerdings weniger kollektivistisch als die asiatischen). Deswegen zählt das Individuum weniger, das zu politischen Zwecken von den jeweiligen Herrschenden immer wieder verheizt wird. Die Menschenmassen, die Russland aus den unendlichen Weiten seines Inneren immer wieder von Neuem nach vorne an die Front werfen kann, erzeugen keinen Druck, Kriegsführung, Wirtschaft, Verwaltung etc. effizienter und menschenfreundlicher oder -schonender zu machen, der Mangel an Qualität kann durch Quantität, freilich mehr schlecht als recht, ausgeglichen werden. Die Ineffizienz in der Verwaltung und des Polizeiapparats führt zu einer gleichsam absichtlich idiotischen Brutalität von deren Methoden, um die Bevölkerung durch Erzeugung von Angst in Schach zu halten, man Effizienz also so durch Effektivität ersetzt. Dass in Russland alle gleich unterdrückt sind, muss dann tatsächlich für ein Gefühl der egalitären Verbundenheit unter den Russen sorgen. Gleich den endlosen Weiten des Landes erstreckt sich auch das entsprechende Gefühl, russisch zu sein ins Transzendente und uferlose, allumfassende. „Das russische Volk ist nicht bloß ein Volk, sondern eine Menschheit“, heißt es. Was aber soll ein Volk sein, das gleichzeitig eine ganze Menschheit ist? Es wird dann gleichsam eine Konkurrenz-Menschheit sein, die mit aller übrigen Menschheit in einem ständigen Reibeverhältnis steht. Oder so irgendwie. Einfach ist das sicher nicht. Ja, so gesehen ist Russland vielleicht sogar ein eigener Planet? Ist er vielleicht sogar immer wieder einmal in der Lage, gleichsam Signale aus der Zukunft auszusenden? Russland war das erste Land der Welt, das den Kommunismus in die Tat umsetzte! Aber was bedeutet das, wenn ein Land kommunistisch wird? Es kann nur bedeuten, dass es jahrhundertelang eine katastrophale Politik gemacht hat, aus der es keinen rationalen Ausweg gefunden hat! Mit seiner von Anfang an kompromisslosen und harten Linie stieß Lenin bei seinen westeuropäischen marxistischen Konterparts (wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg) einigermaßen auf Unverständnis. Doch diese war nur Ausdruck einer Unmoderiertheit des politischen Prozesses in Russland, wie man sie in Westeuropa schon lange nicht mehr kannte. In ihrer Haudrauf-Mentalität erzeugte die russische Obrigkeit eine Schlagzurück-Kultur bei den Unterdrückten. Die Obrigkeit war bemüht, Ordnung in ihrem Interesse herzustellen, nicht Konflikte zu schlichten. Auch wenn sie scheinbar reichhaltig war, war daher selbst die Geisteskultur Russlands relativ verarmt und reduziert gegenüber der von Westeuropa. Die russische Geisteskultur selbst kennt wenig logische Strenge, inneren Aufbau und deutliche Gliederung, bietet wenig Platz für Skeptizismus und Relativismus, sie kennt zwar den Spott, weniger aber die Ironie (Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.346f.). Von Rosa Luxemburg stammt die Formel „Sozialismus oder Barbarei“. Was aber, wenn die Sozialisten selbst erheblich noch in der geistigen Barbarei leben?  – An der Schwelle zum 20. Jahrhundert stand Zar Nikolaus II. an der Spitze des Russischen Reichs, ein phantasieloser, sehr durchschnittlicher Mann, der Gewalt an und für sich nicht mochte und der sein eigenes Amt als eine Bürde empfand, zu dessen wenigen Ideen aber die fixe Überzeugung gehörte, dass das Zarentum einer göttlichen Sendung entspreche und dass die Autorität des Zaren damit unverrückbar sei. Er war somit kein Reformpolitiker. Diese Einstellung kollidierte jedoch 1905 hart mit der Wirklichkeit. Im Russisch-Japanischen Krieg musste Russland in diesem Jahr eine demütigende Niederlage einstecken. Zum ersten Mal hatte eine asiatische Macht über eine europäische Macht triumphiert. Das Thema von Russlands Rückständigkeit bei der Modernisierung in allen Bereichen kam wieder aufs Tapet. (Tatsächlich war Russland zumindest wirtschaftlich gar nicht so rückständig. Sein industrieller Entwicklungsstand lag 1914 gleichauf mit dem von Österreich-Ungarn. 1910 lag es in seiner Wirtschaftskraft an der 10. Stelle in der Welt (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte, Berlin, VWF 2003 S. 3). Für eine Großmacht ist das aber natürlich nicht genug.) Im selben Jahr kam es zu sozialen Unruhen. Im Januar 1905 begaben sich Zehntausende Arbeiter und Arbeiterinnen, angeführt von dem Priester Georgi Gapon, auf den Weg zum Winterpalast des Zaren in Sankt Petersburg. Sie forderten eine Volksvertretung, Agrarreformen, Abschaffung der Zensur und menschenwürdige Bedingungen in den Betrieben. Es war als eine friedliche Demonstration gedacht, doch die Soldaten des Zaren schossen in die Menge. Als sich diese immer noch nicht zerstreute, richteten sie ein Blutbad an, bei dem es zu hunderten von Toten kam. Der „Petersburger Blutsonntag“ leitete tatsächlich eine Wende und eine Revolution ein – in den Köpfen und Herzen der Russen, die nunmehr breiter das Vertrauen in die Institution des Zarentums verloren. Ihnen wurde zunehmend klar, dass der Zar nicht ihr „Väterchen“ und ihr Beschützer sei. Als solcher sah sich Nikolaus II. aber dennoch. Es kam in den folgenden Jahren landesweit immer wieder zu Aufständen. Der Zar ließ diese niederschlagen, leitete aber auch Reformen ein, die aber halbherzig blieben und einem unentschlossenen Zickzack-Kurs folgten. Eine Duma (ein Parlament) wurde eingeführt, durfte aber selten tagen, bevor sie wieder abgeschafft wurde. 1906 setzte der Zar Pjotr Stolypin als Premierminister ein. Der reagierte auf die Aufstände im Land mit einer Welle von Repressionen, setzte jedoch auch umfangreiche Reformen in Gang. Doch Stolypin war ein einsamer (dafür aber umso selbstherrlicherer) Mann. Dass auch er schließlich einem Attentat zum Opfer fiel, kann man als tieferen Ausdruck dafür sehen, dass er in keiner Bevölkerungsschicht des Russischen Reiches breite Verbündete hatte, und er mit seiner an und für sich vernünftigen (und wirtschaftlich erfolgreichen) Politik dennoch zwischen allen Stühlen saß. Nikolaus II. zog die für ihn naheliegende Konsequenz, indem er alle Reformmaßnahmen zurücknahm und aller Reformpolitik eine Absage erteilte. Das war aus seiner Sicht auch nicht so irrational, wie es scheint. Erhebungen gegen repressive Regime sind in der Mehrheit der Fälle nicht erfolgreich, und speziell durch die russische Geschichte hindurch, inklusive der Sowjetära, konnte der Staat seine Autorität meistens gegenüber Aufständischen aller Art behaupten. Reformen können in einem solchen Fall zwar zu einer Befriedung der Gesellschaft führen, oder aber den Konflikt weiter anheizen und die Macht der Obrigkeit erodieren lassen. Es gibt, so gesehen, für die Herrschenden keine allgemeingültige rationale Blaupause, wie sie in einer solchen Lage reagieren sollen (zudem sie außerdem meistens von einer irrationalen Ideologie beherrscht sind, nach der sie zu erheblichen Teilen auch handeln). 1914 aber brach der Erste Weltkrieg aus, bei dessen Auslösung Russland eine der aggressiveren kriegstreibenden Parteien war. Zwar lagen die Hauptgründe für die Entfesselung des Großen Krieges woanders, jedoch erhoffen sich die gekrönten Häupter Europas, die in einer ständigen zumindest latenten Angst vor Umsturz und Revolution lebten, durch den Krieg und den Sieg nicht zuletzt auch eine Zementierung ihrer Herrschaft im Inneren. Sie gingen damit ein hohes Risiko ein. Russland war die erste Macht, die damit ihr Blatt überreizt und verspielt hatte. Die Soldaten und die Bevölkerung von Russland hatten schließlich genug von den Strapazen, die der Krieg ihnen auferlegte, und der Zar musste abdanken (er und seine Familie wurden später wegen ihrer „Verbrechen gegen das russische Volk“ von den Bolschewiki hingerichtet. Die Nachricht davon wurde von der russischen Bevölkerung dann angeblich „mit der größtmöglichen Gleichgültigkeit“ aufgenommen). Eine provisorische demokratische Regierung (unter der auch Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde) unter der Führung Alexander Kerenskis übernahm die Macht – das war die Februarrevolution von 1917. Doch die Regierung blieb schwach, korrupt, ohne Organisationstalent und ohne Konzept, wie es weitergehen sollte. Außerdem war Russland weiter im Krieg. Die Deutschen wollten daher den Druck auf Russland erhöhen und ein wenig Durcheinander in die Politik bringen, um sie so zum Kriegsaustritt zu bewegen. In dieser Intention (so zumindest der Mythos) ermöglichten sie auch einem außerhalb der eingeschworenen Zirkel an und für sich wenig bekannten Berufsrevolutionär, der auf der Flucht vor den zaristischen Behörden jahrelang im Ausland gelebt hatte, seine Heimreise nach Russland und schickten ihn in einem plombierten Zug nach Petrograd. Sie ahnten noch nicht, was für eine entscheidende Weiche sie damit für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt hatten.

Lenin, geboren 1870 in Simbirsk als Wladimir Iljitsch Uljanow, wurde im Alter von 17 Jahren radikalisiert, als sein älterer Bruder Alexander hingerichtet wurde. Alexander hatte sich als Student bei einer (dilettantischen) Verschwörung beteiligt, mit dem Ziel, den Zaren zu ermorden. Die Familie Uljanow hatte gehofft, der Zar würde Alexander zu einer Haftstrafe begnadigen, da er nur Mitläufer gewesen war. Doch dem wurde, wenig überraschend, nicht stattgegeben. Das entzündete in Lenin einen allumfassenden Hass gegen die russische Autokratie, oder überhaupt alle Autokratie. Dazu kamen die Abweisungen, die die (bürgerliche als auch neuadelige) Familie Uljanow anschließend seitens ihrer eigenen Klasse widerfuhr – was in Lenin auch einen Hass auf das Bürgertum erzeugte. Lenins Vater war ein hoher Beamter im Unterrichts- und Schulwesen gewesen und reformorientiert. Als sich schließlich alle Hoffnungen auf solche Reformen zerschlagen, formierte das einmal mehr im jungen Lenin die Anschauung, dass die russische Autokratie nicht reformfähig war und daher nur kompromisslos gestürzt werden konnte. Zum Marxismus fand Lenin erst einige Jahre nach der Hinrichtung seines Bruders. Der schien ihm schließlich ein konsistentes Paradigma zu offerieren, wie, warum und zu welchem Zweck „Revolution gemacht“ werden sollte. Lenin wurde daher ein marxistischer Revolutionär. Als reiner Revolutionär orientierte sich Lenin, wie viele andere russische Revolutionäre, stark an einer fiktiven Figur aus dem Roman Was tun? von Nikolai Tschernyschweski aus dem Jahr 1863 (den Titel sollte Lenin selbst für seine vielleicht berühmteste Schrift übernehmen). In Was tun? tritt ein Revolutionär namens Rachmetov auf, ein selbstloser, ultraaltruistischer, ganz in der Sache aufgehender Mann, der zum Prototyp für den „besseren sozialistischen Menschen“ wurde (Tschernyschewski wurde auch von Marx eifrig gelesen und geschätzt). Der wurde auch für Lenin zum Vorbild – denn das entscheidende Charakteristikum bei Lenin war, dass er sein ganzes Leben und seinen ganzen Charakter auf Revolution und Umsturz ausrichtete. Man könnte einen entkernten, unnatürlichen Fanatiker in ihm erblicken, wenn er nicht Verstand und Persönlichkeit genug gehabt hätte, die ihm auch noch transzendentere Qualitäten verliehen. Anders als Marx und Engels war Lenin kein Titan des Denkens, wohl aber ein höchstbegabter Intellektueller. Seine „philosophische“ Hauptschrift, Materialismus und Empiriokritizismus, ist das Werk eines mittelmäßigen Intellektuellen (allerdings mittelmäßig auf einem deutlich höheren Niveau, als das uns im täglichen Leben begegnet) und ein Dokument, dass Lenin nicht philosophisch dachte und offenbar auch Schwierigkeiten hatte, sich in Philosophie hineinzuversetzen. Materialismus und Empiriokritizismus ist vorwiegend eine polemische Schrift, die sich gegen eine philosophische Weltanschauung richtet, die mit dem Marxismus unvereinbar erscheint (trotzdem es einige revolutionär gesinnte Denker gegeben hat, die versuchten, das zu tun – was der Grund für Lenins Schrift war). Dabei ist Lenins gesamtes Werk von einem polemischen Stil durchzogen, wenn nicht sogar vom Wesen her Polemik. Einen neurotischen Schimpfstil hat man freilich auch erheblich in den Schriften von Marx und Engels selbst. Doch während Marx und Engels (innerhalb gewisser Grenzen) auch Humor besaßen und die Fähigkeit, die eigenen Anschauungen zu hinterfragen oder zu revidieren bzw. Fragestellungen aus einer sehr komplexen Perspektive heraus zu betrachten, fehlen solche Bereitschaften und Dispositionen bei Lenin weitestgehend. Die Lektüre von Lenins Schriften ist daher unangenehm und unheimlich (wobei noch unheimlicher ist, dass den meisten revolutionär orientierten Menschen dieses Unangenehme gar nicht als solches auffällt oder sie sich auch noch freuen darüber). Lenin verwendet eine dehumanisierende Sprache, deren Ziel die Verächtlichmachung des „Gegners“ ist (wenn nicht sogar, wie man meinen könnte, dessen Vernichtung). Außerdem ist Lenin in seinen gesamten Positionen absolut, apodiktisch und doktrinär, und warnt ständig vor allem, was davon „auch nur im Geringsten“ abweicht und sie damit „schwächt“. Man könnte meinen, Lenin sei ein Ungeheuer, das ganz aus Hass besteht – und das diesen Hass auch noch gutheißt (z.B.: Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischem Hass auf die bürgerlichen „Klassenpolitiker“ … Dieser Hass des Vertreters der unterdrückten und ausgebeuteten Massen ist wahrlich „aller Weisheit Anfang“, die Grundlage einer jeden sozialistischen und kommunistischen Bewegung und ihrer Erfolge. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus S.95)). (Auch Che Guevara sah im Hass ein produktives Agens, z.B.: Der Hass als Faktor des Kampfes, der unbeugsame Hass dem Feind, der den Menschen über die natürlichen Grenzen hinaus antreibt und ihn in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt. Unsere Soldaten müssen so sein, ein Volk ohne Hass kann über einen brutalen Feind nicht siegen.) Wenn man jetzt Hassenswertem wie der zaristischen Autokratie oder dem Kapitalismus in seinen übelsten Formen Hass entgegenbringt, könnte man das natürlich als logisch oder gerechtfertigt, wenn nicht als notwendig betrachten. Immer wieder wird bei solchen Kalkulationen aber übersehen, dass zwei Mal Unrecht nicht Recht ergibt, bzw. dass etwas Hassenswertes nicht notwendigerweise durch was Besseres abgelöst wird, wenn es in seiner Wurzel (ebenfalls, oder vielleicht noch mehr und noch genuiner) aus Hass besteht. Zorn, der aus dem Hass entspringt, gilt nicht zu Unrecht als eine der sieben Todsünden. War aber nun Lenin ein reiner, finsterer Hasser? Schon früh ist an Lenin aufgefallen, dass er mitleidlos sein konnte. Eine große Hungersnot in Russland im Jahr 1891 begrüßte er sogar, weil er hoffte, sie würde eine revolutionäre Stimmung befördern (so wie Marx wirtschaftliche Crashs oder die zerstörerischen Wirkungen des Freihandels und des Kapitalismus im Allgemeinen begrüßte und diese sogar Wirkung genug taten, um ihn aus Depressionen oder Zuständen der Krankheit empor zu heben). Allgemein ist Lenin mit seiner Hartherzigkeit zeit seines Lebens vielen Menschen (auch anderen Revolutionären) unangenehm aufgefallen. Dabei war Lenin (wie bei intellektuell Höchstbegabten allerdings üblich) aber auch zu großer Zärtlichkeit und Anteilnahme fähig, wobei sich solche Erfahrungen, die man mit Lenin machen konnte, allerdings auf seinen Familienkreis und engeren Bekanntenkreis beschränkten. Allgemein ist es nicht das Ziel des Kommunismus und der Kommunisten, Hass in die Welt zu setzen, sondern ihn zu überwinden. Und auch Lenin verfolgte nicht ein solches Ziel. Allerdings gehört es zu den Pathologien des Kommunismus und des Marxismus, dass sie in erheblichem Ausmaß aus Hass bestehen, der sich immer wieder erneuert – nicht zuletzt, wenn sie ihre unrealistischen Ziele nicht erreichen. Es ist schwierig, Menschen, die nicht eindeutig gut oder böse sind – also die meisten von ihnen – eindeutig zu bewerten und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielleicht versteht man Lenin am besten, wenn man sein Verständnis und sein Verhältnis zu Menschen im Allgemeinen als instrumentell begreift: als instrumentell im Sinne der Politik. Politik und Revolution zu machen war der eigentliche Inhalt von Lenins Leben und von seiner Weltsicht – und so betrachtete er Menschen vorwiegend als Instrumente, um Politik und Revolution zu machen, einschließlich sich selbst, so wie es für Revolutionäre wie ihn typisch ist. Lenin und seine Weggefährten hätten ein bequemes und ungefährliches Leben haben können, sie setzen sich jedoch permanenter Gefahr aus, der Revolution halber. Wie man am Beispiel von Lenin sieht, ist das Problem von Revolutionären, auch in allen anderen Menschen ihresgleichen sehen zu wollen, was sie potenziell für diese recht gefährlich macht. An und für sich wird Kapitalisten vorgeworfen, dass sie Menschen als rein instrumentell betrachten, aber bei Antikapitalisten mag das genauso sein. Lenins Säen von Hass und Verachtung folgte jedoch vorwiegend einem propagandistischen Kalkül. Der politische Gegner (eventuell auch in den eigenen Reihen) sollte lächerlich gemacht und desavouiert werden. Anders als Stalin war Lenin jedoch in der Lage, sich (zumindest innerhalb der eigenen Reihen) erstaunlich schnell wieder mit Opponenten zu versöhnen, wenn eine grundsätzliche Übereinstimmung wiederhergestellt war (was, wenn man so will, allerdings ebenfalls etwas Unpersönliches hatte). Bei Lenin kommen noch eine besondere Halsstarrigkeit und Dickköpfigkeit (und Ausschließlichkeit) in seinem revolutionären Bestreben dazu, was bei vielen anderen Revolutionären und Marxisten so dann doch nicht vorhanden war. Dieses war der Grund aber für seinen Erfolg (und auch sein Scheitern, nicht zuletzt in Bezug auf sein ganzes, letztendlich unreformierbares revolutionäres Projekt am Ende). Nachdenklich ist Lenin erst am Ende seines Lebens geworden. Sein Leben lang von der absoluten Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, wurde er erst am Schluss offenerer für die Bedachtnahme darauf, dass er auch im Irrtum sein könnte. Sicherlich ist es tragisch für die Sowjetunion, dass ihr Gründer so früh gestorben ist. Er hat sich buchstäblich für den Sowjetstaat zu Tode gearbeitet und starb nach mehreren Schlaganfällen, die ihn schon zuvor weitgehend handlungsunfähig gemacht hatten, im Januar 1924. Seinen Sowjetstaat hatte er nur gut ein halbes Jahrzehnt geleitet. Diese Leistung hatte jedoch gereicht, um das Gesicht des 20. Jahrhunderts in der entscheidendsten Weise zu verändern.

Lenin war keine Gestalt des intellektuellen Zuschnitts von Marx oder Engels. Warum spricht man dann vom Marxismus-Leninismus? Grob gesagt, geht der orthodoxe Marxismus davon aus, dass der Kapitalismus aufgrund von „inneren Widersprüchen“ schließlich von selbst zusammenbrechen würde. Während der frühe Marx davon ausgegangen war, dass der Kapitalismus mit einem revolutionären Proletariat seinen eigenen Totengräber schaffen würde, nahm der spätere Marx an, dass der Kapitalismus dereinst an einem Ende seiner Reproduktionsmöglichkeiten anlangen würde und er als eine Art „Hülle“ von einem wunderschönen sozialistischen Schmetterling, der sich derweil in ihr entfaltet hätte, gleichsam weggesprengt werden würde, der dann in den Äther flattert. Bereits Marx selbst dürfte sich am Ende seines Lebens aber wohl insgeheim die Frage gestellt haben, inwieweit auch zweitere Prognose richtig sein könnte (denn die empirischen Entwicklungen waren dazu gegenläufig). Sein Kapital hat er auf jeden Fall aus irgendwelchen Gründen nicht fertiggestellt. Stattdessen beschäftigte sich Marx gegen Ende seines Lebens mit Fragestellungen diversester Art – unter anderem auch – eingeladen dazu von der russischen Terroristin Vera Sassulitsch – mit der Frage, inwieweit in Russland eine Revolution möglich sein könne. Der orthodoxe Marxismus geht davon aus, dass eine sozialistische Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft nur auf der Basis einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft möglich seien. Das waren aber nicht die Bedingungen in Russland. Viele russische Revolutionäre träumten daher davon, dass in Russland stattdessen das kommunale Dorfleben eine Keimzelle für eine sozialistische Umgestaltung sein könnte. Die russischen Marxisten hingegen standen vor dem Problem, dass es in Russland keinen Kapitalismus als eindeutig dominierender Wirtschaftsform gab, und auch in keinem nennenswerten Sinn ein Bürgertum oder ein Proletariat. Lenin bemühte sich hinzuweisen, wie weit der Kapitalismus in Russland schon gediehen sei (Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland) bzw., vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, dass der Kapitalismus ein Stadium erreicht habe, dass sich die Frage nach seiner Überwindung im Weltmaßstab stelle (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus). Was vor allem auf Lenin zurückgeht, ist die Beschäftigung mit der politischen Organisation der Revolution und der Schaffung eines revolutionären Subjekts bzw. einer revolutionären Trägerschicht innerhalb der Gesellschaft. Während bestimmte Lesarten des Marxismus ein geradezu passives Hinwarten auf die Revolution ermöglichen, kann für Lenin die Revolution nur die höchst aktive Tat einer revolutionären Avantgarde, einer Partei von Berufsrevolutionären sein. Auch dem Proletariat spricht Lenin die Fähigkeit ab, ein tatsächliches revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln. Sich selbst überlassen, könne es allein ein „trade-unionistisches Bewusstsein“, also eines der eigenen, reformistisch orientierten Interessensvertretung innerhalb der Gesellschaft, aber nicht der revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft erlangen. Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. (Was tun?, Berlin, Manifest Verlag 2022 S.42f.) Zur Entwicklung einer revolutionären Perspektive benötige es Intellektuelle, zur Umsetzung der Revolution benötige es eingeschworener Berufsrevolutionäre. Zumindest ersteres wurde von den marxistischen Zeitgenossen Lenins nicht bezweifelt, und auch im Hinblick auf Zweiteres gab es grundsätzlich Übereinstimmung. Allein Rosa Luxemburg war von einem so großen, beinahe mythischen Glauben an die „Spontaneität“ der arbeitenden Massen und daran, dass diese wahre Wunder bewirken und Berge versetzen könne erfüllt, dass sie eine revolutionäre Partei als bestenfalls nachgelagertes Instrument und Erfüllungsgehilfen des Proletariats angesehen hat. Umgekehrt war es aber dann doch der recht unbedingt formulierte Wahrheitsanspruch, den Lenin mit seiner – hypothetischen oder  tatsächlichen – Partei gegenüber dem eigenen angeblichen Klientel (dem Proletariat) formulierte, der auch bei anderen Marxisten für breiteres Unbehagen sorgte. Lenins Verständnis wurde als übertrieben autoritär angesehen und als eines, das nicht nur zu einer tatsächlichen „Diktatur des Proletariats“, sondern vielmehr zu einer Diktatur der Partei (im Zweifelsfall auch gegenüber dem Proletariat) führen müsse. Lenin verweigerte sich solchen Bedenken und Angriffen, indem er die Interessen der Partei mit denen des Proletariats ganz einfach als identisch behauptete. Zwar bejahte er den Zustand einer „Diktatur des Proletariats“ (Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt. (Staat und Revolution, Wien, Eigenverlag 2014 S.29)). Dennoch ging er davon aus, dass am Ende der Revolution und mit der Verwirklichung des Kommunismus der Staat sowieso überflüssig werden würde: Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. (ebenda S.63) In seiner dichotomischen (oder egozentrischen) Weltsicht hat sich Lenin der dümmeren Lesart des Marxismus hinsichtlich der Frage nach dem Staat verschrieben, in der er im Staat allein ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse sah: Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und insofern die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhnlich sind. (ebenda S.10) (Es gibt auch komplexere marxistische Verständnisse von der Rolle des Staates.) Er ging also auch hier davon aus, dass mit der Revolution bzw. der Abschaffung von Klassengesellschaft und Kapitalismus Interessensgegensätze zwischen Menschen einfach verschwinden würden. Er hätte sich wohl gewundert, hätte sich herausgestellt, dass dem nicht so war. So hat sich Lenin über etliche Dinge schließlich wundern müssen, die an und für sich doch irgendwie klar waren. Er führte eine Diktatur ein, und wunderte sich, warum das Proletariat keine vitale „Kritik“ an der Partei mehr äußerte. Er schaffte Kapitalismus und Markt ab und führte eine Superbürokratie ein und wunderte sich über die „Papierflut“ und die Ineffizienz, die all das produzierte. Er unterdrückte die Bauern und requirierte ihre Produkte per Zwang und wunderte sich, warum sie dem Sowjetstaat feindlich gesonnen waren. Er schätzte den jungen Stalin, weil der sich mit seiner tatkräftigen Brutalität von seinen „teetrinkenden“ Genossen abhob, um am Ende verzweifelt festzustellen, dass ebenjener Stalin schließlich auch ihm und seiner Familie gegenüber brutal wurde und dabei drohte, sein Nachfolger zu werden. Kurios, könnte man meinen, waren vor allem seine ständigen Irrtümer und Fehleinschätzungen, wonach eine Revolution unmittelbar bevorstünde (was, zumindest hinsichtlich der Prognose, dass der Kapitalismus vor seinem unmittelbaren Ende stünde, noch kurioserweise bei etlichen Marxisten aber auch noch heute der Fall ist). Allerdings war es eben diese Erwartungshaltung, und Lenins gesamtes Durchdrungensein vom Gedanken an die Revolution, die Lenin schließlich zu einem erfolgreichen Revolutionär machte. Die meisten anderen Marxisten und Revolutionäre im In- und Ausland haben davor zurückgescheut, die Situation in Russland nach der Februarrevolution von 1917 als eine revolutionäre Situation im marxistischen Sinne, und als eine Situation, in der, eine bürgerlich-demokratische-kapitalistische Phase überspringend, unmittelbar eine sozialistische Revolution durchgeführt werden könnte, zu begreifen. Doch geistesgegenwärtig hat der, von der Februarrevolution an sich überraschte Lenin genau das getan, und in seinen Aprilthesen genau das proklamiert. Lescek Kolakowski sah das eigentliche politische Genie Lenins darin, in jeder Situation alle gesellschaftlichen Energien zur Machtübernahme und zur Revolution zu nutzen, und alle Kräfte auf diesen einen Punkt zu konzentrieren. Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an (und, wie ein antikes Sprichwort sagt: Wenn einer den ganzen Tag schießt, wie soll er dann nicht auch mal treffen?) Die Februarrevolution hatte schnell für allgemeine Konfusion und Richtungslosigkeit gesorgt. Lenin hatte Energie, Verwegenheit und innere Orientierung (und eine jahrelang darauf eingeschworene Partei) genug, um nur wenige Monate darauf seine eigene Revolution anzuzetteln.

Nur wenige Revolutionen (bzw. deren Versuche) sind mustergültig oder erfolgreich. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917 war zwar erfolgreich, dabei aber eher eine nächtliche Überraschungsaktion einiger weniger Revolutionäre, die inmitten einer allgemeinen Lethargie in der Bevölkerung und selbst bei den Herrschenden zunächst gelang. Wenig später ließen die Bolschewiki Wahlen durchführen, die ihre Herrschaft aber nicht bestätigten. Dennoch setzten sich die Bolschewiki über dieses Ergebnis hinweg und übernahmen die Herrschaft schließlich trotzdem. Die Arbeiter und die Bauern in Russland standen dabei zunächst hinter den Bolschewiki. Überhaupt gab es in der russischen Bevölkerung zu dieser Zeit einen grenzenlosen Hass gegen alle Privilegierten. Lenin war dabei klar, dass er mit dieser Entscheidung dennoch einen Bürgerkrieg riskierte, was dann auch eintrat. Er betrachtete den Bürgerkrieg aber als „notwendig“ auf dem Weg zur erfolgreichen Revolution und als Möglichkeit, die Macht der Bolschewiki zu vergrößern. Im Bürgerkrieg kämpften die bolschewistischen Roten gegen die reaktionären Weißen, die auch vom Ausland unterstützt wurden. Umgekehrt suchten die Bolschewiki ihre Revolution zu exportieren, und fielen z.B. in Polen ein (wurden dort aber zurückgeschlagen). Dass die Roten nach drei Jahren (1921) den Bürgerkrieg schließlich gewannen, zeugt davon, dass die Bolschewiki bereits mächtig genug im Land waren, um eine schlagkräftige Armee zu organisieren, und energisch und skrupellos genug, um sie zusammenzuhalten (unter anderem mit Mitteln des Terrors). Der Sieg ist auch dem militärischen Genie von Leo Trotzki zu verdanken. Und schließlich, dass die Weißen keine einheitliche Vision von der Zukunft des Landes hatten und nicht bereit dazu waren, den Bauern Zugeständnisse zu machen. Obwohl speziell die Bauern unter dem Bürgerkrieg und der Herrschaft der Bolschewiki stark zu leiden hatten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges herrschte im bolschewistischen Russland eine hohe Versorgungsknappheit und ein Mangel an allem. Schwarzmärkte und Tauschhandel machten sich breit und erfüllten eine vitale Funktion. Diese waren den Bolschewiki aber allein schon einmal aus ideologischen Gründen suspekt. Für die Festigung ihrer Staatsmacht und auch für den Bürgerkrieg erachteten es die Bolschewiki als entscheidend, die Lebensmittelversorgung zu kontrollieren. Noch mehr, zielte ihr Klassenkrieg auch darauf ab, die Bauernschaft zu unterwerfen. Der „Kriegskommunismus“ setzte ein. Da die Bauern nicht bereit waren, zu sehr niedrigen festgesetzten Preisen ihre Produkte an den Staat zu veräußern, begann der Sowjetstaat diese mit terroristischen Mitteln zu requirieren, um sowohl die Rote Armee als auch Arbeiter in den Städten damit zu versorgen bzw. die industrielle Produktion und die Bürgerkriegsführung zu sichern. Mehr noch, stärkte das Rationierungssystem die Macht der Regierung über die Bevölkerung. Die Bauern produzierten aus diesem Mangel an positiven Anreizen weniger, und in den Jahren 1921 und 1922 kam es zu einer gravierenden Hungersnot im Land, die die Versorgungslage ein weiteres Mal gefährdete. Dennoch blieben die Weißen reaktionär genug, um es zu verabsäumen, die Bauern mit ins Boot zu holen. Die Bauern hassten zwar, ihrer eigenen Logik zufolge, die Bolschewiki, nicht aber den Kommunismus, von dem sie sich eine bessere Zukunft erhofften. Die Weißen konnten nur eine Rückkehr zur noch mehr verhassten Vergangenheit anbieten. Und so wandten sich die Bauern gegen die Weißen – um sich nach deren Besiegung gegen die Bolschewiki zu wenden. Auch die Arbeiter waren mehr als unzufrieden. Genauso wie die Kommunisten selbst hatten auch die russischen Arbeiter von einem Sowjetsystem der umfassenden Selbstbestimmung geträumt. Dieses sorgte in der Realität allerdings nicht dafür, dass die selbstbestimmten Betriebe auch akkordiert und in gemeinsamem Interesse für gesamtwirtschaftliche Erfordernisse produzierten. Und so beschnitten die Bolschewiki die Selbstbestimmung und zentralisierten die Macht über wirtschaftliche Entscheidungen. Sie wollten die Gewerkschaften auflösen und diese dem Parteistaat unterordnen. Dies zunächst im Sinne des Kriegskommunismus. Wie die Bolschewiki aber erleben mussten, wurden sie diese unheilvolle – von ihnen selbst als unheilvoll durchschaute – Tendenz zur Zentralisierung über die gesamte Geschichte der Sowjetunion nie mehr los. Die Arbeiter erlebten das als krassen Verrat an den eigentlichen Idealen der Kommunisten – vor allem aber ganz unmittelbar nicht als „Diktatur des Proletariats“ sondern als eine Diktatur über das Proletariat – und rebellierten. Am exemplarischsten war das im Kronstädter Aufstand von 1921 der Fall, der von den Bolschewiki blutig niedergeschlagen wurde. Einmal mehr hatten die Bolschewiki triumphiert. Aber zu welchem Preis? Der Bürgerkrieg verursachte 10.8 Millionen Tote. Die Hungersnot von 1921/22 forderte 5 Millionen Menschenleben. Die Weißen waren niedergeschlagen worden, doch in weiten Teilen des Landes war die Sowjetmacht praktisch nicht mehr präsent. Vor allem über die Bauernschaft hatten die Bolschewiki die Kontrolle verloren. Die Arbeiter fühlten sich verraten, und tatsächlich war die Niederschlagung der Räte ein krasser Schönheitsfehler in einem kommunistischen System. Die erhofften Revolutionen im Ausland – oder gar die Weltrevolution – blieben aus, oder wurden, wie in Deutschland oder in Ungarn, rasch niedergeschlagen. Damals hatten die Bolschewiki noch keine Vorstellung davon, wie die Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat überlebensfähig bleiben könnte, wenn nicht auch in anderen Schlüsselländern Revolutionen stattfinden würden. Viele wirtschaftlich und administrativ fähige Russen, Wissenschaftler und Intellektuelle flohen ins Ausland. Der Bürgerkrieg hatte auch zu Terror der Bolschewiki gegen die orthodoxe Kirche geführt, der gegenüber Lenin ursprünglich eine zurückhaltende Politik verfolgt hat. Die Zahl der geöffneten Gotteshäuser war von 80.000 auf knapp 11.500 gesunken; 14.000 orthodoxe Geistliche waren erschossen worden. Trotzdem waren die Bolschewiki siegreich geblieben. Mehr noch, war es ihnen gelungen, einen Großteil der Territorien des Russischen Reiches wieder zu vereinen und als sozialistischer Vielvölkerstaat aufzutreten. Im Dezember 1922 wurde so die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet – oder eben kurz: die Sowjetunion. Sowieso nicht von Eigendünkel und einem missionarischen Selbstbewusstsein frei, verschaffte der Sieg im Bürgerkrieg den Bolschewiki ein neues Selbstbewusstsein. Das galt nicht nur für die Altbolschewiki, sondern auch für die vielen jungen Männer (und Frauen), die im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten gekämpft hatten und die nun eine privilegiertere Stellung in der Gesellschaft einnahmen. Mit der Konsolidierung der neuen Macht kehrten jedoch alte Phänomene in Russland wieder. So grassierte zum einen die Korruption (Lenin und die meisten seiner engen Mitstreiter lebten zwar vergleichsweise asketisch und waren nicht auf materiellen Vorteil bedacht, das galt jedoch dann doch nicht für eine Vielzahl anderer, vor allem der jüngeren bolschewistischen Funktionäre). Zum anderen begannen sich die Bolschewiki als eine Art neuer Adelsstand wahrzunehmen, der ja schließlich ursprünglich aus den Härten von Kriegen hervorgeht. Die erfolgreiche Verteidigung und Absicherung der Revolution gab den Bolschewiki das Gefühl, auch übermenschliche Anstrengungen unternehmen zu können (oder, in der Praxis, unmenschliche), wenn nur Willenskraft und ideologische Geschlossenheit das Handeln leiteten. Tatsächlich hatten die Bolschewiki auch übermenschliche Anstrengungen unternommen und würden es weiterhin tun – diese Anstrengungen allerdings auch dem Volk auferlegen. Trotzdem war das Land 1922 aber erschöpft, der Sieg der Bolschewiki war ein Pyrrhussieg gewesen. Neue Maßnahmen waren erforderlich, um das Land wieder auf die Beine zu bringen. Und vor allem die Bauernschaft und die Lebensmittelversorgung.

Die 1921 beschlossene „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) ersetzte die Zwangsrequirierungen der Produkte der Bauern durch eine Naturalsteuer und erlaubte den Bauern in begrenztem Umfang Handel zu treiben. Trotzdem sie ein Gebot der Stunde war, wurde sie von vielen Bolschewiki abgelehnt und Lenin musste sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um sie in der Partei durchzusetzen. Doch auch Lenin selbst wäre eigentlich gegen eine solche Politik gewesen. Noch 1920 schrieb er: Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner die Kleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völlig verschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände, Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen die proletarische Arbeit von außerhalb wie innerhalb der Arbeiterbewegung schädigen … in ausnahmslos allen kulturellen und politischen Wirkungskreisen (…) Man muss es lernen, alle Arbeits- und Tätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen, alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionen und Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eine andere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäre einfach eine Kinderei. (Der „linke Radikalismus“ als Kinderkrankheit des Kommunismus, Berlin, Manifest Verlag 2021, S.139) …. Es ist tausendmal leichter, die zentralisierte Großbourgeoisie zu besiegen, als die Millionen und aber Millionen der Kleinbesitzer „zu besiegen“, diese aber führen durch ihre tagtäglich, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende Tätigkeit eben jene Resultate herbei, welche die Bourgeoisie braucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert wird. Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (ebenso während seiner Diktatur) auch nur im Geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat. (ebenda S.50) Wieder einmal fällt die absolutistische Sprache auf („eiserne Disziplin“ der Partei, die „ausnahmslos“ „nicht im Geringsten geschwächt“ werden darf, ansonsten helfe man der „zersetzenden“ Bourgeoisie etc.). Wer so rigoros empfindet und solche zentralistischen Tendenzen hat, für den muss etwas so Lebhaftes und leicht Chaotisches wie der Handel tatsächlich etwas Störendes und Umstürzlerisches sein. Eine solche Perspektive, die auch den kleinen Handel und die selbständige Kleinproduktion als „im Kern bourgeois“ betrachtet, liegt allerdings in der Denkbahn des Marxismus, da das ja tatsächlich stimmt. Die meisten kommunistischen Regime haben daher beides, zumindest für lange Zeit, abgeschafft. Auch wenn dieses nicht notwendigerweise in der Denkbahn des Marxismus liegt, denn Marx betrachtet allein Produktion im großen Stil als genuin kapitalistisch und als sozialistisch zunächst nicht mehr als die Vergesellschaftung der großen Produktion. Zumindest heute würden auch die meisten Marxisten Handel und Kleinproduktion befürworten. Dennoch stehen sich hier zwei Welten annähernd unversöhnlich gegenüber, und dass dem so ist, verweist auf einen inneren Widerspruch in der Vision vom Kommunismus selbst, der sich schwertut, eine Vielzahl von an und für sich natürlichen (wirtschaftlichen) menschlichen Handlungsweisen zu tolerieren. Dennoch tat die NÖP ihre Wirkung. Mehr Produkte kamen auf den Markt, was letztendlich nicht nur die Bauern, sondern auch die Arbeiter zufriedenstellte. Die ökonomische Liberalisierung führte auch zu einer gewissen gesellschaftlichen Liberalisierung. Die Wirtschaft wuchs vor allem ansehnlich, was im Sinne der Partei war. Führende Bolschewiki, auch wenn sie der NÖP ursprünglich ablehnend gegenübergestanden waren, wie Nikolai Bucharin, begannen sich mit ihr anzufreunden, und priesen sie als ein neues Stadium auf dem Weg zum Kommunismus (der auf Requirierungen beruhende Kriegskommunismus sei nicht mehr notwendig, da der Krieg ja gewonnen und die Gesellschaft sozialistisch konsolidiert sei, so die neue Argumentation). Gleichzeitig dauerte es aber nicht lange, bis dass im Rahmen der NÖP „neureiche“ wirtschaftliche Gewinner, geschickte Bauern und Händler und Konjunkturritter, die das Umfeld zu ihrem ganz persönlichen Vorteil zu nutzen wussten, ans Tageslicht traten. Diese waren nicht nur den Bolschewiki, sondern auch der Bevölkerung zunehmend ein Dorn im Auge. 1928 sollte die NÖP wieder abgeschafft werden, wenngleich aus vorwiegend anderen Gründen (in erster Linie, um eine radikale Industrialisierung zu ermöglichen). Heute ist man geneigt zu sehen, dass die Sowjetunion wohl besser gefahren wäre, hätte man die NÖP und die damit verbundene wirtschaftliche Liberalisierung beibehalten. Schließlich war eine ähnliche Politik der Grundstein für den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung Chinas nach dem Ableben von Mao Zedong. Lenin, der diese Weichenstellungen hätte beeinflussen können, war zu deren Zeitpunkt aber nicht mehr am Leben. Was für Lehren er aus der NÖP gezogen hätte und wie er die Zukunft des Sowjetstaates gesehen hätte, ist ungewiss. Zu den Problemen bei (quasi-) monarchistischen Staatsoberhäuptern steht die oft schwierige Frage nach ihrer Nachfolge. Lenin war von seinem frühen Ausscheiden aus der Politik und seinem folgenden Tod überrascht worden. Die Frage nach seiner Nachfolge beziehungsweise wie es mit dem Sowjetstaat weitergehen solle, hatte er nicht geregelt. In seinem mit letzter Kraft diktierten „Testament“ musste er implizit einräumen, dass er auch die beiden begabtesten Männer, Trotzki und Stalin, letztendlich als für die Leitung des Sowjetstaates ungeeignet erachte: Trotzki sei zu eitel, Stalin sei zu grob. Er empfahl seinen Genossen, nach jemand anderen Umschau zu halten, konnte aber niemand benennen. Daher verwundert es auch nicht völlig, dass die Parteiführung Stalin von seinem damaligen Posten nicht entfernte (Stalin hatte auf das Testament Lenins hin seinen Rücktritt angeboten, der von seinen Genossen aber nicht angenommen wurde). Stalin war ein begabter und geschätzter Organisator, und er machte damals keine Anstalten noch den Eindruck, übermäßig nach der Macht zu streben. Er ordnete sich geradezu brav der Parteidisziplin unter und bezog in etlichen Fällen gemäßigte politische Positionen. Dass Stalin „grob“ und brutal, dabei aber auch entschlossen in seinem Handeln war, hat ursprünglich nicht nur Lenin durchaus gefallen. Lenin war umgekehrt wohl der einzige Mensch gewesen, zu dem der narzisstische Stalin je in seinem Leben aufgesehen hatte und dessen Überlegenheit er anerkannte und bewunderte (ansonsten blickte er auf andere Menschen immer nur mit mehr oder weniger großer Verachtung herab). Grobheiten (im Rahmen von politischen Meinungsverschiedenheiten) leistete er sich gegenüber Lenin und seiner Familie erst, als dieser krank geworden war (eine dieser Grobheiten sorgte sogar für den finalen Krankheitsschub bei Lenin). Dass Stalin nach Lenin an die Macht gekommen ist, ist ein ebenso folgenschweres Ereignis im letzten Jahrhundert wie die Begründung des Sowjetstaates durch Lenin selbst. Wie wäre die Geschichte der Sowjetunion verlaufen, wenn Lenin länger gelebt hätte (und Stalin hätte vermieden werden können)? Wodurch zumindest unterschieden sich Lenin und Stalin? Lenin war der intelligentere und intellektuellere der beiden, allerdings nicht in einem so gravierenden Ausmaß, wie es gemeinhin angenommen wird (oder wie es auch Lenin angenommen hat, der Stalin lange unterschätzt hatte). Lenin war (innerhalb gewisser Grenzen) ein produktiver Intellektueller, der zu neuen Gedanken fähig war, während Stalin mehr oder weniger ein reproduktiver Intellektueller blieb und wenig phantasievoll. Vielleicht wäre Lenin kreativer in der Bewältigung von Problemen gewesen, allerdings ist bei politischen Problemen immer fraglich, wie viel kreativen Spielraum sie einem eigentlich lassen (oder ob Kreativität nicht vielleicht sogar fehl am Platz ist). Während Lenin ein (sehr) neurotischer Mensch war, war Stalin ein schwer (an der Wurzel) gestörter Mensch, zumindest im übertragenen Sinn war er ein Psychopath. Wenn Lenin giftig gegenüber seinen Genossen werden konnte, beließ er es in der Hinsicht bei der Rhetorik und er versöhnte sich rasch wieder mit ihnen, wenn ein Streit ausgeräumt war. Säuberungen und Schauprozesse im großen Stil hätte Lenin wohl nicht veranstaltet. Lenin war – zumindest in der Hinsicht – nicht rachsüchtig und er behandelte Leute nicht verächtlich. Er war nicht, im krankhaften Sinn, paranoid, er war nicht eitel und er kannte kein großes persönliches Machtstreben. Lenin war zwar einigermaßen verliebt in den Terror, betrachtet ihn aber als vorübergehende Notwendigkeit (wenngleich man bei seiner Einstellung und Ideologie nie sagen könnte, wann dieses Vorübergehende tatsächlich vorübergegangen war oder immer wieder von neuem sein Haupt erheben würde), während es in Stalins Persönlichkeit lag, ein dauerhaftes Schreckensregime um sich herum zu errichten. Aber auch Lenins Bilanz unter seiner Herrschaft waren über 15 Millionen Tote gewesen. Die Errichtung einer Diktatur und eines allmächtigen zentralistischen Staates war sein Werk gewesen und ging auch aus seiner Theorie hervor. Die Politik Stalins war nur eine Fortsetzung dieses Weges. Stalin war auch lange kein Alleinherrscher gewesen. Die Kollektivierung, die Industrialisierung, der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ waren etwas, was von den führenden Bolschewiki beschlossen wurde, und nicht von ihm allein. Lenin hat am Schluss an Stalin kritisiert, dass dieser „zu grob“ sei – gegenüber seinen Genossen (was Lenin dann dämmerte, als Stalin zu ihm selber erstmals grob geworden war). Er har nicht gemeint: gegenüber der Sowjetbevölkerung (auch wenn Lenin das harte Vorgehen Stalins in der Nationalitätenfrage zum Beispiel nicht gefiel). Aber all diese „was wäre wenn“-Fragen erledigten sich eben mit Lenins Tod.

Josef Stalin gilt in seiner Destruktivität und Inhumanität gemeinhin als unergründlich. Dabei ist er ein Paradebeispiel für einen malignen Narzissten. Der maligne Narzissmus ist ein kombinierte Persönlichkeitsstörung, die sich aus drei Elementen zusammensetzt. Zum ersten sind maligne Narzissten paranoid. Paranoia bedeutet, dass eine hohe Aggressivität, die in einem selbst ist, in die Außenwelt projiziert wird, beziehungsweise einen Verfolgungswahn, der sozusagen spiegelbildlich zur eigenen Verfolgungswut ist. Paranoide Menschen wollen sich anderen Menschen gegenüber in einer dominanten Position erleben, und sehen sich über alle Maßen bedroht, wenn sie dieses Gefühl nicht haben können. Sie können mit Zurücksetzungen aller Art kaum umgehen, und entwickeln gegenüber ihren „Beleidigern“ einen lange anhaltenden, intensiven Groll und ein Revanchebedürfnis. Aufgrund ihres Misstrauens und ihrer Streitsucht sowie ihrer Unfähigkeit zu erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen vereinsamen sie im Laufe ihres Lebens immer mehr (was ihre Paranoia weiter befeuern dürfte). Zum zweiten sind maligne Narzissten narzisstisch. Allerdings nicht im grandiosen Sinn und in flamboyanter Erscheinungsweise. Vielmehr treten sie als durchschnittlich und bescheiden auf. Ihre narzisstische Gratifikation beziehen sie weniger aus der Vorstellung, sich über andere zu erheben und von ihnen bewundert zu werden, als andere unter sich zu sehen und sie abwerten zu können. In dem Sinn sind sie auch sadistisch. Zum dritten sind maligne Narzissten soziopathisch und antisozial. Es bereitet ihnen Lust, (Revolutionären gleich) Gesetze zu übertreten und Regeln zu brechen. In diesem Sinn sind sie risikofreudig und abenteuernd und haben kein Problem, sich außerhalb der konventionellen Gesellschaft zu stellen. Oder sie sind gewöhnliche habituelle Kriminelle. Mitleid, Empathie und Liebesfähigkeit kennen solche Menschen kaum. Gemäß einiger Experten ist der maligne Narzissmus die gefährlichste Persönlichkeitsstörung überhaupt. Alle diese Eigenschaften hat man bei Josef Stalin. Trotzdem gibt es ganz unterschiedliche Ansichten, wie er in seinem Handeln als Politiker zu bewerten sei. Während einige Forscher die Wurzel für seine Politik in seiner Persönlichkeit sehen wollen, will diese für andere Forscher kaum eine Rolle spielen: Stalins Politik sei im Wesentlichen durch die Umstände diktiert worden.  Zweiteres könnte man aber als Hinweis verstehen, dass die Umstände, in den Stalin agierte, und innerhalb derer er sich etablierte, pathologisch gewesen waren. Die Bolschewiki versuchten eine umfassende, über Jahrhunderte gewachsene soziale, politische, ökonomische, kulturelle und mentale Ordnung in einem gesamten Kulturraum zu zerstören und sie durch eine neue zu ersetzen, für die es nirgendwo in der Welt noch ein Beispiel gab. Es war ein extremes Unterfangen, das naheliegenderweise wohl extreme Mittel erfordert. Derart wurde der Einsatz von letzteren von vielen Kommunisten im In- und Ausland auch begrüßt oder zumindest akzeptiert. Mehr noch, gab es für diese neue Ordnung, den Kommunismus, aber auch keine theoretische Grundlage. Mit kritischem Blick hätte man aussortieren können, dass das wohl deswegen so war und ist, weil der Kommunismus eben auch gar keine rationale Grundlage hat, und er offensichtlich kaum eine rationale Wirtschafts- und Gesellschaftsform sein kann. Mit besonders triumphierendem und suggestivem Ton tritt der traditionelle Marxismus aber dann auf, wenn er dem Kapitalismus die Rolle des großen Irrationalen zuweist, und sich selbst die des großen rationalen Ordners und geradezu Heilsbringers, darin auch Verkünder unumstößlicher und absoluter Wahrheiten. (Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt dem Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat. (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, 1913)) Wenn ein derartiger Mangel an Reflexivität aber bereits in einem System immanent ist, was soll es dann anderes produzieren als große Pathologien? Ein solches Denksystem, und umgesetzt als politisches System, wird Erscheinungen, die ihm nicht entsprechen, als ärgerliche Aberrationen ansehen und Menschen, die sich ihm nicht konform verhalten, tendenziell als „Verräter“. Ein einigermaßen paranoides Denksystem ist der Marxismus auch in der Hinsicht, indem er wesentlich um ein Feindbild kreist (und um ein ebenso paranoides imaginäres Bild von seiner eigenen verheißungsvollen Größe und der seiner Lösungen). Er befördert die Idee, dass die Gesellschaft am maliziösen Wirken von klar definierten Feinden, gleich einer Krankheit leide, von der man diese Gesellschaft klinisch „säubern“ könne. Zwar sind auch andere Lesarten des Marxismus möglich, aber solche Säuberungsideen, umgesetzt in Politiken, kommen in kommunistischen Staatsgebilden immer wieder vor. Gerd Koenen nennt den Kommunismus gar eine „Utopie der Säuberung“. Mit seiner individuellen Paranoia fügte sich Stalin als diesbezüglicher Verstärker in die Paranoia eines kommunistischen Staatsgebildes ein. Tatsächlich war dieses sowjetische Staatsgebilde aber auch schwach und von inneren und äußeren Feinden zumindest latent bedroht. Insofern kann man die ganze paranoide Politik Stalins als rational begründet, oder gar als von genialer, profunder Einsicht und Voraussicht geleitet ansehen. Noch Jahrzehnte später begriffen seine damaligen Mitstreiter Stalin als „Genie, das die Fünfte Kolonne zerschlagen hat“, und der mit seiner üblen Politik nicht nur für die Sowjetunion sondern für die Welt noch größere Übel verhindert habe. Das Eigenartige ist, dass man das auch gar nicht ausschließen kann. Paranoia reflektiert auf eine tatsächlich vorhandene Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit in der Welt. Paranoiker sind oftmals tatsächlich gute Menschenkenner. Allerdings sind sie einseitige Menschenkenner. Sie haben meist ein scharfes Auge für die Schwächen und die Gefahren, die von anderen ausgehen – weniger aber für deren Stärken und dass von ihnen ja auch Gutes ausgehen könne. Unbestreitbar und welthistorisch sind die Leistungen und Erfolge der Sowjetunion bei der Industrialisierung und im Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg unter der jeweiligen Leitung Stalins. Auch der im Wesentlichen antikommunistische Herausgeber des Schwarzbuch des Kommunismus, Stéphane Courtois, vermutet, dass Stalin als größter Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Er habe aus dem unbedeutenden Agrarland, das die Sowjetunion anfänglich war, ein Industrieland gemacht, eine Weltmacht und eine Atommacht. Was freilich wäre gewesen, wenn die NÖP beibehalten worden wäre und eine sanftere Industrialisierungspolitik verfolgt worden wäre? Hätte das zu ähnlichen, geringeren oder gar größeren Erfolgen geführt? Diese Frage wird von der Forschung unterschiedlich beantwortet. Stalin war sehr intelligent, in seinem äußeren Auftreten sehr wandlungsfähig und charismatisch und konnte sich gut auf sein Gegenüber einstellen. Selbst Hitler bewunderte sein sowjetisches Diktatoren-Pendant und (der an und für sich antikommunistische) Churchill beschreibt in seinen Bestsellern über den Zweiten Weltkrieg plastisch die Klugheit und Geistesgegenwärtigkeit des Woschd und offeriert auch menschliche Einblicke in ihn. Roosevelt und Truman mochten den jovial und humorvoll sich gebenden „Uncle Joe“ sogar. Stalin gilt den einen als machthungriger Despot. Andere bewundern ihn für seine Lauterkeit. Er habe tatsächlich an den Kommunismus geglaubt und sich tatsächlich lange der Revolution und der Parteidisziplin untergeordnet, und nicht vorgehabt, in die Rolle des Diktators zu schlüpfen. Die Umstände hätten ihn dazu bewogen, es schließlich doch zu tun: um die Revolution zu retten. Großartige materielle Interessen hatte Stalin auch nicht und er war auch nicht korrumpierbar. Er arbeitete beinahe ständig und schien in dieser hingebungsvollen Tätigkeit für den Sowjetstaat und für die Revolution allein aufzugehen. All das schließt aber nicht aus, dass es Stalin in all seinen Unternehmungen tatsächlich um Macht ging, zumindest (unbewusst und) auf der emotionalen Ebene. Dass es ihm allein schon einmal bei Kommunismus und Revolution darum ging, seine (ihn scheinbar einengenden) „Feinde“ zu stürzen und den eigenen Aktionsradius und Machtkreis zu erweitern. Dass er bei seiner Persönlichkeit sich schließlich aus einer inneren Konsequenz heraus zum Diktator entwickelte. Dass nicht nur die Politik, sondern sämtliche menschliche Affären für ihn primär ein Machtspiel waren. Und seine auftrumpfende Industrialisierung- und Rüstungspolitik der Bestätigung der eigenen Macht bzw. der der Sowjetunion galt. In seiner inneren Verarmtheit galt vielleicht sein ganzes Arbeiten dem Bestätigen eines Machtgefühls (auch wenn ihm das, in eben dieser inneren Verarmtheit, so nicht notwendigerweise bewusst war). Das Land, das er so manisch zu gestalten suchte, schien ihn, der noch dazu doch alles wissen wollte und alle Informationen auf dem Tisch liegen haben wollte, in der Praxis dann nicht zu interessieren. Selbst so spektakuläre sowjetische Errichtungen wie der Stahlkomplex von Magnitogorsk besichtigte er nicht. Er verließ den Kreml oder seine Datschen kaum, und wenn, dann um, vor allem in seinen späteren Jahren, auf Urlaub zu fahren. Zwar entspricht das der zurückgezogenen, sich einigelnden Lebensweise von Paranoikern, ein irritierender Kontrast bleibt aber doch. Wenn man so will, ist der politische Erfolg des Woschd, des so bewunderten genialen Sowjetführers, vielleicht kein so großes Wunder: er hat ja alle, die nicht hart dafür arbeiteten, oder sich gar entgegenstellten, umbringen lassen, und alle restlichen permanent damit bedroht. Wie sollte das nicht zum Erfolg führen? Aber auch das ist wohl nicht so leicht, wie man sich vielleicht denkt. Und so bleibt Stalin, gleich Lenin, eine überdimensionale historische Gestalt, und mit der Sowjetunion und dem 20. Jahrhundert eng verwoben.

Mitte der 1920er Jahre mussten die Bolschewiki einsehen, dass auf die eigene Oktoberrevolution keine weiteren (erfolgreichen) Revolutionen im Ausland folgen würden, so wie sie es sich ursprünglich erhofft hatten. Stalin gab daher die Parole vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ aus. Das war auch eine Breitseite gegen Trotzki und seine Idee von der „permanenten Revolution“. In den folgenden Jahren sollte Stalin seinen verhassten Erzfeind innerhalb der Partei demontieren, was dieser in einer für ihn untypischen Willensschwäche über sich ergehen ließ. Trotzki wurde schließlich nach Kasachstan, und dann überhaupt aus der Sowjetunion verbannt. Er begann im Exil von einer „verratenen Revolution“ zu sprechen und zu schreiben, zog jedoch nicht in Betracht, dass am Aufbau des Sowjetstaates, so wie er eben war, und am Terrorapparat er wesentlich beteiligt gewesen war. Welche Entwicklung die Sowjetunion unter Trotzki genommen hätte, ist eine Frage, die kaum gestellt wird. Trotzki war, trotz seiner sektoriellen Brillanz, ein Mann von vielen verschrobenen Ansichten, und er war wohl vom Typ her kein Politiker. Dass Stalin Trotzki 1940 im fernen Mexiko ermorden ließ, kann als Beispiel seiner unversöhnlichen Rachsucht gelten (rational kann diese Tat allerdings gedeutet werden, dass Stalin 1940 niemanden mehr brauchen konnte, der auf der Weltbühne gegen die Sowjetunion und speziell gegen ihn Stimmung machte; wahrscheinlich wusste er, dass er vor allem die Amerikaner bald als Freunde benötigen würde). Was aber nun sah der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ vor? Zunächst eine massive Industrialisierung. Alle Ressourcen des Landes sollten in die Industrialisierung gesteckt werden. Das besiegelte das Ende der NÖP. Die Bauernschaft sollte wieder primär das städtische Proletariat versorgen. Die neureichen Konjunkturritter, die die NÖP hervorgebracht hatte, waren den Bolschewiki zunehmend ein Dorn im Auge. Ein noch größerer Dorn im Auge war ihnen aber wohl, dass der Sowjetstaat die Bauern kaum kontrollieren konnte und die Bauernschaft, wie sich gezeigt hatte, zur Rebellion neigte. Schließlich sah auch der orthodoxe Marxismus im Kleinbauerntum keine Klasse mit Zukunft. Die Zukunft sah er in der industriellen Bewirtschaftung in landwirtschaftlichen Großbetrieben. Die Partei beschloss daher, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Ihr Kampf, zu dem sie auch die Bauernschaft selbst anstachelte, richtete sich gegen „Kulaken“, wohlhabende und besitzende Bauern (die allerdings auch am effizientesten produzierten). Diese sollten enteignet werden. Die Festlegung, wer Kulak war und wer nicht, war allerdings einigermaßen willkürlich, folgte darin aber der Logik des Vorhabens, eine willkürliche Ordnung aus dem Boden zu stampfen und seiner intransigenten Vorgehensweise. Letztendlich gingen die Kommunisten immer wieder so vor – in China, in Vietnam, in Kambodscha, bis hin zum „Leuchtenden Pfad“ in Peru – dass sie „Klassenkonflikte“ auf dem Land provozierten oder postulierten, um so einen Fuß in die Bauernschaft und in die Dorfgemeinde hineinzubringen und als Ordnungsmacht auftreten zu können. Die Bauern wehrten sich gegen die Kollektivierung, die ihnen unnatürlich erschien, und gegen die erneuten Zwangsabgaben, und so kam es Anfang der 1930er Jahre erneut zu einer Hungerkatastrophe mit Millionen von Toten und noch mehr Millionen von Unterversorgten im Land. Das Territorium der Ukraine war besonders betroffen, und so vermuten zumindest ukrainische Nationalisten einen „Holodomor“, eine absichtlich provozierte Hungerkatastrophe, die sich gegen eine unbotmäßige Bevölkerung richtete. Obwohl die Kollektivierung derartige kriegsähnliche Züge hatte, kann dieser Verdacht aber dann doch nicht erhärtet werden. Missmanagement und Gleichgültigkeit von oben hatten die Katastrophe verursacht (wenig bekannt ist, dass Kasachstan damals noch stärker vom Hunger betroffen war als die Ukraine, wobei zwischen Kasachstan und Russland traditionell aber keine politischen Friktionen bestehen). Trotz des Hungers im eigenen Land exportierte die Sowjetunion weiterhin Getreide ins Ausland, da sie für die Industrialisierung Kapital und Maschinen importieren musste. Die Industrialisierung verlief ähnlich brutal. Mit oftmals einfachen Mitteln errichteten Arbeiter Industrieanlangen und Infrastrukturen. Für die oft gefährlichen Arbeiten in unwegsamen Territorien wurden Zwangsarbeiter und „Klassenfeinde“ herangezogen, die das Terrorsystem in großer Zahl produzierte. 1928 wurde der erste Fünfjahresplan verabschiedet, bis zu deren Ende das zentrale wirtschaftspolitische Steuerungsinstrument in der Sowjetunion. Tatsächlich gelangen in der Industrialisierung spektakuläre Erfolge. Allerdings waren, neben den unmittelbaren menschlichen Kosten, auch die Ineffizienzen groß: die Anlagen waren oftmals mit primitiven Mitteln errichtet worden und auf der Basis von willkürlichen Planvorgaben, die oftmals klammheimlich unterlaufen wurden. Die Nemesis einer Planwirtschaft und einer Top-Down Bürokratie ist die Schummelei, die sie an allen untergeordneten Instanzen produziert (oder aber das egoistische Erfüllen und Übererfüllen von Vorgaben auf Kosten anderer Bereiche). Auch in den kapitalistischen Ländern war die Geburt der Industrie gewalttätig und chaotisch gewesen; allerdings ging sie langsamer vor sich und entwickelte sich organischer (in die Gesellschaft hinein). Genau das aber glaubte Stalin ausgleichen zu müssen. Unter anderem in der ewigen russischen Besessenheit ob der eigenen Rückständigkeit, wollte Stalin die Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit an die vorderste Front der westlichen Industrieländer anschließen lassen. Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um fünfzig bis hundert Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zusammen, oder wir werden zermalmt. (vgl. z.B Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) 1931 ausgesprochen, wirkten diese Worte Stalins später geradezu prophetisch. Die Millionen von Opfern der Industrialisierung und der Kollektivierung erschienen so gerechtfertigt, da sie den Sieg über den Faschismus ermöglichten und eine Kolonialisierung und Versklavung riesiger sowjetischer Gebiete durch die Nazis verhinderten, die sich diesbezüglich in Auslöschungspläne von bis zu 30 Millionen Menschen verstiegen, um „Lebensraum“ für sich selbst zu schaffen. Aber hat Stalin das tatsächlich so genau vorhergesehen (so genau konnte er das natürlich gar nicht)? In seiner Paranoia witterte Stalin bekanntlich immer und überall Feinde. Dennoch: „Auch Paranoiker haben Feinde“, wie er selbst bonmotmäßig bemerkt haben soll. Der „Aufbau vom Sozialismus in einem Land“ bedeutet natürlich auch, dass dieses Land und dieser Sozialismus wehrfähig sein sollten, umso mehr, wenn Kapitalismus und Sozialismus als unversöhnliche Gegensätze angesehen werden, die letztendlich auf Konfrontation hinauslaufen. Auch ein sozialistisches Land wird Außenpolitik betreiben und versuchen, Beziehungen zu anderen Ländern im eigenen Interesse zu gestalten, wenn nötig auch mit miesen Tricks oder mit Gewalt. Auch wenn die Bolschewiki stets den Imperialismus der kapitalistischen Länder verdammten, waren ihnen ihre Revolution und ihr Sowjetstaat heilig, und sie kannten auch in ihren ausländischen Beziehungen wenig Skrupel, ganz vorwiegend in dessen eigenem Interesse zu handeln. Dermaßen gestalteten sie auch die Komintern, den internationalen Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien, die sie stets zur Übernahme von Politiken, die der Sowjetunion nützlich waren anhielten, auch wenn das ihren eigenen Interessen entgegenlief. In einer gewissen Weise (vielleicht sogar viel deutlicheren Weise, als man gemeinhin meint), waren der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, die Kollektivierung, die Industrialisierung und die Aufrüstung, auch ein imperialistisches Projekt. Imperialistisch wurde die Sowjetunion in jenen Jahren auf jeden Fall im Inneren. Es wurde eine umfassende Diktatur errichtet, freie Presse wurde verboten, Universitäten wurden an die Leine genommen. Während in den Anfangsjahren der Sowjetunion interessante und avantgardistische Kunst produziert wurde, wurde sie jetzt im Wesentlichen zu konservativen Formen und unmittelbaren politischen Inhalten verdonnert. Die Partei versuchte viel tiefer in das Leben ihrer Bürger einzudringen, als das die Faschisten, inklusive der Nationalsozialisten, taten. Im Dritten Reich wurde der Fachmann geschätzt und blieb der Bürger unbehelligt, wenn er politisch neutral blieb und sich nicht gegen die Regierung wandte. In der Sowjetunion arbeitete man auf ein aktives Bekenntnis aller zum Kommunismus und zum Sowjetstaat hin. Mehr noch, wollte man aus dem Sowjetbürger einen „neuen Menschen“, einen besseren sozialistischen Menschen schaffen. Während das in der Praxis auf die Konditionierung eines genügsamen Arbeitstieres, das sich für den Sowjetstaat aufopferte, hinauslief, war der utopisch-ideologische Überschuss dramatisch. Auch die traditionellen Familienbande versuchte man umzugestalten, um den Menschen ganz als Kollektivwesen aufgehen zu lassen. Später erkannten die Bolschewiki, dass sie mit all dem – und mit so vielem anderen – zu weit gegangen waren und zu weltfremd agiert hatten. Was jedoch andere Kommunisten nicht hinderte, dasselbe in teilweise noch extremerer Form zu versuchen, vor allem in China unter der Kulturrevolution und unter den Roten Khmer in Kambodscha. Gleichzeitig war diese Phase der Diktatur und die Kampagne vom „Neuen Menschen“ aber auch ein Instrument, um die Bevölkerung in der schwierigen Phase der Kollektivierung und des ersten Fünfjahresplans auf Spur zu halten. Als die ersten Etappen genommen worden waren, trat wieder eine Veränderung, und auch eine Erschöpfung in der Gesellschaft ein. Die Bolschewiki sahen ein weiteres Ziel im Klassenkampf und im Aufbau des Sozialismus erreicht. Tatsächlich hatte sich die Gesellschaft verändert, und sie hatte sich für viele Sowjetbürger zum Positiven verändert. Die Bolschewiki hatten von Anfang an das Schul- und Unterrichtswesen massiv ausgebaut. Abgesehen von der humanistischen Mission der aufklärerischen Kommunisten benötigte der Sowjetstaat Funktionäre für seinen riesigen Beamtenapparat, darüber hinaus Wissenschaftler, Ingenieure, Ökonomen und Agrarexperten. Millionen von jungen Menschen hatten während des Weltkrieges oder des Bürgerkrieges ihre Eltern verloren, oder es wurden während des Kriegskommunismus oder der Kollektivierung ihre dörflichen Gemeinschaften zerstört. Sie fanden jedoch im Bildungswesen und im Sowjetstaat Aufnahme und hatten die Möglichkeit, vom unteren Ende der Gesellschaft in respektable Positionen aufzusteigen. Dafür waren sie dem Sowjetstaat und seinen Führern dankbar und wurden loyale, wenn nicht begeisterte Sowjetbürger und überzeugte Kommunisten. Natürlich war auch die Ausbildung dieser Leute nicht perfekt. Kritiker meinten vielmehr, dass die neuen sowjetischen Funktionäre zwar alle Laster der Klassenfeinde – der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, der zaristischen Beamten – hatten, aber keine von deren Tugenden. Zudem waren viele dieser Funktionäre korrupt. Dennoch trafen sie paradoxerweise auf eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung und der Bauernschaft als die früheren zaristischen Beamten, da sie als „einer von ihnen, der es geschafft hatte“ angesehen wurden. Insgesamt war aber auch die Bildungspolitik der Sowjets ein Erfolg. Viele der hohen KPdSU-Funktionäre waren Kinder aus der Provinz, die so nie hätten studieren können oder in den Genuss einer höheren Ausbildung gekommen wären, hätte es den Sowjetstaat nicht gegeben: unter ihnen Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow. In den 1930er Jahren drang der Konsum in die urbanen Zentren ein, und Moskau wurde teilweise wieder mondän. Zu repräsentativen Zwecken wurden in Moskau Prachtbauten und Wolkenkratzer errichtet, sowie die Moskauer Metro. 1936 gab sich die Sowjetunion eine Verfassung. Während die kapitalistische Welt unter der Weltwirtschaftskrise ächzte, aus der sie scheinbar keinen Ausweg fand, und die auch den Rest der Welt in Mitleidenschaft zog, sah man im In- und Ausland die Sowjetunion bewundernd als immun dagegen an (aus irgendeinem Grund wurde übersehen, dass die Hungerkatastrophe und die Versorgungskrise Anfang der 1930 Jahre ja noch schlimmer waren, und das Versorgungsniveau allgemein sehr niedrig geblieben war). Doch wie immer unter Stalin ließ das nächste Unheil nicht lange auf sich warten.

Was der letztendliche Grund oder Auslöser für die Säuberungswelle und den Großen Terror von 1936 bis 1938 gewesen ist, ist (wie so vieles andere) ein Geheimnis, das der verschlossene Stalin mit ins Grab genommen hat. Obwohl dabei weniger Menschen umgekommen sind als bei anderen Aktionen der Sowjets (man geht von ca. einer Million Toter und 2,5 Millionen Verhafteter aus), irritiert der Große Terror besonders durch seine Bizarrerie und scheinbare Unerklärlichkeit, seine offenbar mangelnde Notwendigkeit. Tatsächlich hatte so etwas wie die Moskauer Schauprozesse, in denen sich altgediente Bolschewiki und Veteranen der Oktoberrevolution als jahrelange „Konterrevolutionäre“ und „Agenten des faschistischen Auslands“ entlarvten (und dafür zum Tode verurteilt wurden), die Welt noch nicht gesehen. Was war der Grund dafür, dass Stalin gegen die eigene Partei, und in weiterer Folge gegen die Rote Armee und gegen die einfache Bevölkerung vorging? Die Kollektivierung, überhastete Industrialisierung und die Hungerkatastrophe hatten Anfang der 1930er Jahre Widerstand gegen Stalin in der eigenen Partei hervorgerufen, der jedoch recht begrenzt geblieben war. Auf dem XVII. Parteitag der WKP im Februar 1934 wurde Stalin jedoch angeblich in einer Abstimmung in erheblichem Maße das Vertrauen entzogen. Ein hohes Vertrauen wurde jedoch dem allgemein beliebten und charismatischen hohen Funktionär Sergei Kirow zugesprochen. Stalin habe das Ergebnis geheim gehalten, es aber als akute Bedrohung seiner Macht betrachtet, außerdem habe es starke Neidgefühle in ihm gegenüber Kirow provoziert. Kirow, an und für sich ein Freund Stalins, wurde im Dezember desselben Jahres von einem Attentäter ermordet. Dass Stalin hinter dem Attentat gesteckt hätte, konnte bis heute nicht bewiesen werden; gewisse Gründe sprechen für eine solche Annahme, andere dagegen. Ebenso gibt es keinen Beweis für das Abstimmungsergebnis vom XXVI. Parteitag, so dass auch dieses mögliche Motiv im Dunklen bleibt. Auf jeden Fall nutzte Stalin die Ermordung Kirows aber, um eine umfassende Säuberung der Partei vor „inneren Feinden“ in Gang zu setzen. Damit beauftragt wurde Nikolai Jeschow, ein gnomenhafter, versteckt homosexueller Mann, in dem Stalin wohl den Minderwertigkeitskomplex erkannte und das Bedürfnis, sich auszuzeichnen. Fraktionsbildung (und damit freie Meinungsäußerung) innerhalb der KPdSU war bereits unter Lenin verboten worden und Parteimitglieder wie Trotzki oder Bucharin (der die NÖP verteidigte und daher als „Rechtsabweichler“ gebrandmarkt wurde) wurden zumindest aus der Partei ausgeschlossen. Jeschow betonte in Artikeln, wie wichtig und überlebensnotwendig Einigkeit in der Partei sei, und wie gefährlich jegliches Abweichlertum, das mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Besser sei es, auch Unschuldige zu liquidieren, als Schuldige unentdeckt zu lassen. Mit dieser Ideologie setzte Jeschow eine manische Verfolgungsjagd in Gang, die sich nicht nur auf die Partei, sondern auch auf die Armee und auf die einfache Bevölkerung erstreckte. Plansolle wurden ausgegeben und das Denunziantentum befördert, um in allen Bevölkerungsgruppen „Verräter“ ausfindig zu machen. Da man Dissidenten nicht über Plansolle ausfindig machen kann, liegt der Schluss nahe, dass die Einschüchterung sämtlicher Schichten der Sowjetbevölkerung gegenüber der politischen Führung das eigentliche Ziel der Kampagne gewesen war. Natürlich aber untergräbt eine solche Politik aber auch jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkt kumulativ zerstörerisch. Als Stalin das erkannte, enthob er Jeschow 1938 seines Postens. Der war mit dem Prozedere bekannt und wusste, dass seine eigene Verhaftung und Hinrichtung nur mehr eine Frage der Zeit sein würden, und so kam es dann auch. Wie schon zuvor, als er seinen Chefhenker Genrich Jagoda durch Jeschow absetzen und hinrichten ließ, „säuberte“ sich Stalin, indem er nun Jeschow fallen ließ, und ihn durch den noch schrecklicheren, aber methodischer vorgehenden Lawrenti Berija als Chef des NKWD ersetzen ließ. Das machte für Stalin auch Sinn, ebenso, wie dass er treue Altbolschewiki wie Bucharin oder Kamenev als „Verräter“ und „faschistische Agenten“ in den Schauprozessen vorführen ließ. Tatsächlich hielten weite Teile der Bevölkerung Stalin für einen „guten Zaren“ und wohlmeinenden Patriarchen, während für den Terror, die Korruption und die Repressalien, die sie erlebten, allein niederrangige Funktionäre verantwortlich seien. Weniger verständlich bleiben die Säuberungen bei weiten Teilen der Offiziere der Roten Armee, inklusive etlicher ihrer ranghöchsten Generäle. Stalin-Apologeten meinen, Stalin habe den Krieg gegen den Faschismus vorhergesehen, und die Gefahr einer illoyalen Armee als größere Gefahr eingeschätzt als die einer personell und intellektuell vorübergehend dezimierten. Allerdings gibt es keinen Grund anzunehmen, warum nicht das Umgekehrte eher der Fall sein sollte (wenngleich in den Augen eines Paranoikers wohl eher die erstere Kalkulation gilt). Wenn Stalin den nahenden Krieg gegen Deutschland (oder Japan) vorausgesehen hätte, warum hätte er die Rote Armee derart geschwächt? All das bleibt im Dunkeln – genauso wie die Frage, ob den Krieg denn tatsächlich vorhergesehen hat, und der ganze Große Terror nur der verzweifelte Versuch war, das Land auf den Krieg vorzubereiten und für Geschlossenheit in den eigenen Reihen zu sorgen, so wie (nicht nur) von Stalin-Apologeten behauptet. Am Ende der Säuberungen auf jeden Fall stand Stalin in der Fülle von absoluter Macht da. Vorher war er doch kein Alleinherrscher, sondern der Parteidisziplin unterworfen. Nunmehr gab es diese Partei so nicht mehr, all die Altbolschewiki, die Stalin einigermaßen auf Augenhöhe begegnen konnten, lebten nicht mehr. Stattdessen nahmen deren Posten nunmehr junge Funktionäre ein, die Stalin treu ergeben waren (auch in der Roten Armee war das so). Stalin konnte sich nicht nur allmächtig, sondern (zumindest für eine Weile) auch vor „Bedrohungen“ sicher fühlen, die er dauernd wo erblickte und die er tatsächlich als gleichsam tödliche Gefahr für die eigene psychologische Integrität wahrnahm. Man kann wohl sagen, dass jemand wie Stalin in eine solche Richtung gravitieren wird. Seine Pathologie wird ihn dazu führen, sein Umfeld, seine Lebenswelt und sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen dementsprechend zu gestalten. Glücklicherweise ist es selten, dass Individuen wie Stalin oder Hitler maßlose Machtmittel in die Hand bekommen und in einer gewissen Zeit und in bestimmten Situationen auftauchen, wo sie ganze Erdteile mit Verheerungen überziehen können.

Der Hitler-Stalin-Pakt löste den Zweiten Weltkrieg aus. Nazideutschland und die Sowjetunion fielen jeweils in Polen ein und teilten sein Territorium untereinander auf. Damit hatten sie nunmehr eine gemeinsame Grenze. Die Sowjetunion versuchte daher auch das Baltikum und Finnland unter seine militärische Kontrolle zu bringen. Stalin war vorher bemüht gewesen, mit England und Frankreich ein Anti-Hitler-Bündnis zu schließen, was von beiden Mächten aber abgewiesen wurde. Das wird vielerorts als Hinweis verstanden, dass die Westmächte eine Ableitung der Hitlerschen Aggression Richtung Sowjetunion erhoffen oder zumindest kalkulierten (allerdings stellte Stalin angeblich aber auch inakzeptable Forderungen an ein solches Bündnis). Mit dem Hitler-Stalin-Pakt dachte sich Stalin, er könnte die Hitlersche Aggression seinerseits von sich ablenken, zumindest für eine gewisse Zeit. Nachdem er Polen erobert hatte, wandte sich Hitler tatsächlich daraufhin nach Westen. Dass die Wehrmacht Frankreich so schnell einnehmen konnte, kam für Stalin als Schock. Nunmehr war es England und das britische Empire, das gegen Nazideutschland Widerstand leistete. Hitler, dessen Drittes Reich kein Empire hatte und unter Ressourcenknappheit litt, befürchtete, ein anhaltender Krieg gegen England würde ihn schwächen, und das würde schließlich die Sowjetunion dazu provozieren, ihn ihrerseits anzugreifen. Mehr noch, hatte er es auf die Ressourcen abgesehen, die im Osten lagen, vor allem die Kornkammern der Ukraine und die Ölquellen in Baku. „Lebensraum“ im Osten zu schaffen, war sowieso sein ursprüngliches Ziel gewesen, genauso wie die Ausrottung des Bolschewismus. Taktisch sah Hitler im Frühjahr 1941 eine „einmalige“ Gelegenheit gekommen, die Sowjetunion erfolgreich angreifen zu können und befahl den Start des „Unternehmen Barbarossa“ am 22. Juni des Jahres. Einem an und für sich zu späten Termin. Doch tatsächlich gelang es der Wehrmacht, in den folgenden Monaten bis an die Tore Moskaus vorzustoßen – dann erst stoppte sie der russische Winter. Stalins eigentümliche Weigerung, die Bedrohung rechtzeitig anzuerkennen, hatte zur Schwäche der Roten Armee, die von der Wehrmacht überrannt wurde, beigetragen. Im allgemeinen Verständnis war sich Stalin dessen bewusst, dass die Rote Armee noch zu schwach gewesen wäre, um der Wehrmacht begegnen zu können. Deshalb hoffte er den Angriff möglichst hinauszögern zu können und verhielt sich über alle Maßen passiv und wollte „Provokationen“ gegenüber der Wehrmacht vermeiden. Außerdem habe er sich, als klassischer Realpolitiker, nicht vorstellen können, dass Hitler tatsächlich eine zweite Front eröffnen würde. In dem Fall hätte Stalin nicht zur Kenntnis genommen, dass Hitler aber kein Realpolitiker war. Seine gesamte politische Karriere über war Hitler ein Hasardeur und ein Va Banque Spieler gewesen, der mit seiner Frechheit und seinem radikal unkonventionellen Vorgehen stets alle Welt überrumpelte, die auf so etwas mental nicht vorbereitet war. Gleichzeitig verstand sich Hitler als rationaler Akteur zu geben und auch dadurch anderen den Eindruck zu vermitteln, sein aktuelles Husarenstück sei sein letztes gewesen (alles andere wäre auch tatsächlich zu gefährlich und irrational gewesen). In dieser Hinsicht, und weil Kriege ihre eigenen Logiken mit sich bringen und ständig neue Dilemmata erzeugen, entschloss sich Hitler also zum Angriff auf die Sowjetunion. Was heute als so offensichtlicher Fehler erscheint, erschien kaum einem seiner Generäle damals als unmögliches Unterfangen (Ziel wäre es gewesen, die europäische Sowjetunion einzunehmen, die Russen hinter den Ural zurückzudrängen und die deutschen Positionen dementsprechend zu befestigen). Unkonventionell war auch die von Hitler befohlene Kriegsführung. Der Krieg gegen die Sowjetunion sollte ein Vernichtungskrieg sein. Zumindest als solcher war er bis zuletzt konsequent. Als die Wehrmacht Ende 1941 vor Moskau steckenblieb, konnte sich Hitler noch realistische Hoffnungen auf die erfolgreiche Fortsetzung der Offensive im Frühjahr 1942 machen. Doch auch diese blieb dann stecken. Der Hasardeur hatte sein Blatt überreizt, nun folgte umso konsequenter die Niederlage. Auch hatte sich Hitlers Menschenkenntnis vorwiegend darauf beschränkt, die Schwächen anderer Menschen gut zu erkennen, um sie in seinem Sinn manipulieren zu können. Weniger Sinn hatte er für die Stärken anderer Menschen, die nunmehr die Alliierten, und vor allem die Sowjetbürger(innen) und Sowjetsoldat(inn)en gegen ihn in Anschlag brachten. Die Tapferkeit, die die Sowjetunion und ihre Völker im Kampf gegen den Faschismus aufboten, gehört zum Glanzvollsten, was im 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist. Auch Stalin schien sich, nach seinen anfänglichen Fehlern, als oberster Befehlshaber verdient zu machen. Er wurde zum Marschall und schließlich zum Generalissimus ernannt, und es wird allgemein davon ausgegangen, dass er einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat. Er war aber auch ein grausamer Heerführer, setzte, wie immer, auf Terror und befahl zum Beispiel, dass jeder Soldat, der zurückweiche, erschossen zu haben werde (was die Offiziere an der Front jedoch meist nicht ausführten, da sie wussten, dass man so keine Armee führen konnte). Völker im Westen, die er der möglichen Kollaboration mit den Deutschen verdächtigte, ließ er in seiner üblichen rücksichtslosen Weise deportieren – und tatsächlich waren nicht wenige Sowjetbürger bereit, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, da der jahrzehntelagen Sowjetterror sie erschöpft hatte. Allerdings stellten sich die Deutschen schnell als noch schlimmer heraus. Gleichzeitig erlaubte Stalin während des Krieges eine Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft und eine freiere Atmosphäre, um den gewaltigen Druck, der auf ihr lastete ein wenig abzulassen. Auch wenn Hitler wohl gewusst hat, dass sich das Blatt entscheidend gegen ihn gewendet hat, setzte er den Krieg fort, da er in seiner eigenen paranoiden Emotionalität bis ganz zuletzt auf einen glanzvollen „Endsieg“ hoffte, auf ein Auseinanderbrechen der Alliierten, und weil er Rückschläge stets als Fehler (oder Verrat) seiner Generäle betrachtete, also als etwas, was an und für sich, und vor allem mit den nötigen „Willensstärke“, die er von allen einforderte, vermeidbar gewesen wäre (und nicht als ein Resultat der nunmehr veränderten Kräfteverhältnisse). Während Stalin als oberster Befehlshaber sein Volk zum Sieg führte, führten Hitlers irrationale Einmischungen in die eigene Kriegsführung zur Niederlage. Allerdings auch dazu, dass der Krieg bis ganz zuletzt mit unerbittlichster Härte geführt werden musste. Ihren Vernichtungskrieg führten die Deutschen im Osten unbeirrt. Nicht nur aus rassenideologischen und antisemitischen Gründen (als erstes und am Totalsten richtete der Vernichtungskrieg gegen jüdische Sowjetbürger), sondern auch, weil die Deutschen aufgrund ihrer Ressourcenknappheit die Bevölkerungen in den eroberten Territorien nicht ernähren konnten. Sie mussten ihre eigene Bevölkerung und die Wehrmacht versorgen und lenkten die Getreideexporte aus der Ukraine in ihre eigene Richtung. Damit schnitten sie erhebliche Teile der Sowjetbevölkerung, vor allem in Weißrussland, von der Lebensmittelzufuhr ab. In einem zynischen Plan kalkulierten die Nazi-Planer ganz offen mit Millionen von Toten, die diese Maßnahmen verursachen würden. Vor allem wollten die Deutschen riesige Gebiete für sich selbst urbar machen – unter Ausrottung der dortigen Bevölkerung. Zum Beispiel Göring entwickelte Visionen einer Kolonialisierungspolitik, die 30 Millionen Tote mit sich gebracht hätte. Tatsächlich forderte der Zweite Weltkrieg nach heutigem Erkenntnisstand 27 Millionen Tote in der Sowjetunion. Die Verheerungen, die der Krieg auf sowjetischem Territorium verursachte, entspricht der Zerstörungskraft von 200 Atombomben (der Größe der Bombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde). Trotzdem gelang es der Roten Armee, Hitler bis an die Tür seines Bunkers zu verfolgen, in dem er im letzten Moment Selbstmord begangen hatte; zuletzt in einem hoffnungslos-sinnlos von den Deutschen brutal geführten Häuserkampf um Berlin. Tatsächlich steht wohl die Moskauer Siegesparade von 24. Juni 1945 für den größten Tag in der Geschichte Russlands. Sie war auch eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die Sowjetbürger Stalin öffentlich zu sehen bekamen: wie immer nur bei solchen Gelegenheiten als kleine, winkende Figur auf einer hohen Tribüne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Machtfülle Stalins und der Personenkult, der um ihn im In- und Ausland betrieben wurde, ins Unermessliche. Darüber, wie die internen Prozesse in der Führung des Landes und seiner Armee während des Krieges waren und welche Kämpfe Stalin auszufechten gehabt hatte, bleibt vieles im Dunklen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass Stalin einen entscheidenden Beitrag zur Rettung seines Landes geleistet hat (anders war seine Machtfülle dann doch auch nicht zu erklären). Mehr noch, war die Rote Armee nach halb Europa vorgedrungen. Anfangs waren das Elend und die Entbehrungen in der Sowjetunion groß. 1946 kam es zu einer weiteren Hungersnot (die von Stalin ärgerlich ignoriert wurde, da er nicht wusste, wie er Abhilfe schaffen sollte), 1947 erfolgte eine Neubewertung der Währung, die die Kaufkraft der Bevölkerung massiv beschnitt. Dennoch schien sich das Land rasch zu erholen – nicht zuletzt auch deswegen, weil man in Europa, vor allem im besetzen Teil Deutschlands, massiv Industrieanlangen demontierte und übernahm. Stalin schien bei Sportparaden regelrecht aufzublühen, in denen er stellvertretend die Jugend und die Regenerationskraft des Landes, sein Athletentum und seine verheißungsvolle heroische Zukunft wahrzunehmen schien. Dennoch nahm Stalin die Maßnahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung während des Krieges schnell wieder zurück und etablierte wieder eine repressive Diktatur. Durch den Krieg war die Sowjetunion näher ans kapitalistische Ausland gerückt, und die vielen dort stationierten Sowjetsoldaten konnten den viel höheren Lebensstandard und die dort herrschenden politischen Freiheiten erleben. Mit der Folge, dass Stalin sie in großem Stil internieren ließ, als sie zurückkehrten. Trotzdem saß Stalin fester im Sattel denn je, nicht zuletzt auf der Weltbühne. Er hatte Osteuropa in seine Gewalt gebracht und betrachtete es nun als „sein“ Herrschaftsgebiet. Angeblich hatte er ursprünglich nicht vorgehabt, die Länder Osteuropas in kleine Spiegelbilder der Sowjetunion zu verwandeln, sondern hätte sich mit einer laxeren Form der Hegemonie zufriedengegeben. Doch die amerikanische Atombombe veränderte sein Kalkül und veranlasste ihn, die Zügel straffer anzuziehen. Der offiziellen Lesart zufolge beanspruchte die Sowjetunion Osteuropa als „Pufferzone“, um erneute Einmärsche durch westeuropäische Mächte abzuwehren. Dennoch war das Projekt klar (und nicht nur im defensiven Sinn) imperialistisch. Dass ein Eiserner Vorhang über Europa niederging, in dessen Folge Institutionen wie die Nato und der Warschauer Pakt geschaffen wurden, lag ursprünglich wohl nicht in der Intention der beteiligten Mächte. Aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sich, bei anderer personeller Besetzung, die kumulativen Dynamiken in eine grundsätzlich andere Richtung hätten entwickeln können. Damit stand Stalin aber vor einem Problem neuer Art: Nachdem die Bolschewiki ursprünglich auf eine Weltrevolution gehofft hatten, stellte sich jetzt die Frage, wie mehrere kommunistische Länder untereinander ihre Beziehungen regeln sollten, vor allem, wenn unterschiedliche Länder unterschiedliche Visionen vom Kommunismus hatten und diese umso leidenschaftlicher verteidigten. Damals wie heute träumen Kommunisten vom Weltfrieden unter ihrer Ägide, obwohl sie ja selbst in der Geschichte ihrer eigenen nationalen Parteien nicht zuletzt eine Geschichte der Fraktionskämpfe, der Streitigkeiten, bis hin zu fast kriegsähnlichen Auseinandersetzungen erblicken könnten. Stalin setzte, wie immer, auf eine Politik der politischen und ideologischen Geschlossenheit der kommunistischen Welt unter seiner Führung. Tito war seinerseits Kommunist und ein Bewunderer Stalins gewesen, dem er auch einiges zu verdanken hatte. Dennoch war er jemand, der Hitler und der Wehrmacht die Stirn geboten hatte und sein Land im Wesentlichen selber befreit hatte. Er sollte schließlich weder Lust noch Grund dazu verspüren, zu einer Marionette Stalins und der Sowjetunion zu verkommen, und schlug schließlich seinen eigenen, blockfreien Weg ein. Stalin schäumte seiner Natur gemäß enorm über diese Insubordination, umso mehr, als er gegen den verwegenen Partisanenführer letztendlich nichts ausrichten konnte. Tito hatte ihm die Grenzen seiner Macht, und der Macht der Sowjetunion, zu definieren, was Kommunismus sei und was nicht, aufgezeigt. Eine potenziell viel stärkere kommunistische Macht etablierte sich aber 1949 mit Rotchina unter Mao Zedong. Die Kommunisten Chinas waren von Anfang an von der Sowjetunion unterstützt worden (und verdankten ihr letztendlich alles), allerdings stets auch als Variable in deren eigene strategischen Gleichungen eingebaut gewesen. Zuletzt noch versuchte Stalin Mao von einem Vorpreschen auf dem schließlichen Weg zur Machtübernahme abzuhalten, da ihm das für die aktuellen geostrategischen Bedürfnisse der Sowjetunion günstiger erschienen war. Dennoch eroberte Mao 1949 die Macht, und das im Prinzip aus eigener Kraft. Mao war ein Bewunderer Stalins. Der jedoch begegnete ihm recht von oben herab (eine Marotte, die sich Stalin vor allem nach dem Krieg jedem Staatsoberhaupt gegenüber zulegte, um es „auszutesten“ und zu sehen, wie weit er gehen könnte). Stalin war bewusst, dass China mittelfristig eine ebenbürtige und längerfristig wohl eine überlegene kommunistische Hegemonialmacht werden dürfte. Umso mehr, als der Kommunismus nunmehr auch in Asien Fuß fasste, abermals einer Weltregion, in der es wenig Kapitalismus gab, und in der die Sozialstrukturen noch verschiedener waren als die von Marx für den Kommunismus vorausgesetzten, als es in Russland der Fall gewesen war. Stalin unterstützte das junge Rotchina zwar bei der industriellen und technologischen Entwicklung, war jedoch auch versucht, es in seinem Eifer zu bremsen. Nicht zuletzt führte er als Argument die Verwerfungen der eigenen Industrialisierungsgeschichte und die hohen menschlichen Kosten an, auch wenn er Mao mit einem solchen Argument nicht erreichte. Der war jedoch von der Sowjetunion einstweilen noch abhängig, und dass eine allzu überhastete Umgestaltung seines Landes wohl keine so gute Idee war, leuchtete ihm (damals) auch noch selber ein. Es war auch Stalin, der hauptsächlich den Koreakrieg anzettelte (um die Amerikaner, wie er meinte, von ihm selbst abzulenken), sich aber gleichzeitig offiziell aus dem Krieg heraushielt und vielmehr China dazu drängte, dort einen Stellvertreterkrieg zu führen. Im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion kurz davor gestanden, in Japan einzufallen. Dem allerdings kamen die Amerikaner mit dem Abwurf der beiden Atombomben zuvor, auf den hinauf Japan kapitulierte. Doch auch der Sowjetunion gelang es daraufhin, Atomwaffen zu entwickeln. Der Nahe Osten war eine weitere Weltregion, wo die Karten der Geostrategie neu gemischt wurden. 1948 kam es zur Gründung des Staates Israel. Stalin hatte das anfänglich begrüßt, da er annahm, dass Israel ein enges Verhältnis zur Sowjetunion eingehen würde. Als sich Israel aber schnell primär den USA zuwandte, brachte das bei Stalin seinen sowieso latent immer vorhanden gewesenen Antisemitismus zum Überlaufen, mit dem er die sowjetische Gesellschaft in seinen letzten Jahren überzog. Er klagte auch darüber, dass er die Juden in der Sowjetunion nicht assimilieren könne, was für jemand wie ihn, der so sehr auf Homogenität, Uniformität und Berechenbarkeit seiner Umgebung Wert legte, tatsächlich ein Ärgernis sein musste. Seine Entourage hielt Stalin in seinen letzten Jahren fest im Griff, indem er sie zu allnächtlichen Saufgelagen bei ihm verdonnerte, um sie daran zu hindern, mögliche Intrigen gegen ihn zu spinnen. Er schien mit ihr auch nicht zufrieden zu sein. Stalin war nunmehr ein alter Mann von schlechter Gesundheit. Er musste sich Gedanken darüber machen, wie es mit der Sowjetunion weitergehen sollte, wenn er nicht mehr da war. Es gibt Anzeichen, dass Stalin vor seinem Tod eine erneute Parteisäuberung in Gang setzen wollte, um erneut eine „junge“ Generation von entschlossenen Kommunisten an die Macht zu bringen, von der er sich die notwendige Intransigenz im weltweiten Klassenkampf und in der Führung des Sowjetimperiums erhoffte (er erachtete seine aus jahrzehntelang altgedienten Bolschewiki bestehende Entourage als „blind, blind wie junge Katzen“ für die angeblichen Ränkespiele der Feinde im In- und Ausland). Auf jeden Fall wurde eine (antisemitisch konnotierte) Kampagne hinsichtlich einer angeblichen „Ärzteverschwörung“ in Gang gesetzt (seine Leibärzte hatten den ungesund lebenden Stalin mit ihren Prognosen und Empfehlungen verunsichert und so vermutete er einen Anschlag auf sein Leben dahinter). War das ein isoliertes Phänomen oder wäre es als Auftakt einer neuen Säuberungswelle gedacht gewesen? Die Welt musste es nicht mehr in Erfahrung bringen.

Stalin starb am 6. März 1953 nach einigen Tagen der Agonie an einem Schlaganfall. Entgegen der Befürchtungen der Stalin-Verehrer im In- und Ausland, dass der Tod des genialen Woschd das Ende der Sowjetunion überhaupt bedeuten würde, passierte nichts dergleichen. Allerdings war sogleich die Frage nach der Nachfolge und nach der Richtung, in die sich die Sowjetunion nun bewegen sollte eröffnet. Obwohl man es gerade von ihm wohl am wenigsten erwartet hätte (oder am ehesten, da er kein Kommunist, sondern ein Karrierist gewesen war), sprach sich der sinistre Geheimdienstchef Beria für einen radikalen Umbau der Sowjetunion aus. Er wollte die Beziehungen zu den Westmächten harmonisieren und die Gesellschaft liberalisieren und löste zunächst weitgehend die Gulags auf, in denen die Menschen als politische Gefangene gehalten wurden (nicht zuletzt, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass das System der Zwangsarbeit teuer und unökonomisch war). Er glaubte, dass die Sowjetunion keine prosperierende wirtschaftliche Zukunft haben könne, wenn kein Privateigentum zugelassen würde. Wie Lenin schien auch Beria in Deutschland ein Land des Vorbildes zu sehen. Während es für Lenin allerdings die Diszipliniertheit, das Organisationstalent und die technologische Avanciertheit der Deutschen waren, für die er sich begeisterte, schien Beria die Sowjetunion insgesamt in einen „sozialdemokratisch“ organisierten Staat mit einem entsprechenden wirtschaftlichen Mischsystem transformieren zu wollen, so wie eben die Bundesrepublik. Wie wäre wohl die Geschichte verlaufen, wenn Beria sich durchgesetzt hätte?  Seinen Genossen ging das aber natürlich zu weit. Überhaupt hatte sie allen Grund, den grausamen und unappetitlichen Beria (der unter anderem habituell junge Frauen und eventuell auch Mädchen vergewaltige) zu fürchten. Also ließen sie ihn kurzerhand bestimmter Verbrechen wegen verurteilen und hinrichten, und Beria wurde schließlich zum Opfer von dem, was er selbst seine politische Karriere über so massenhaft veranlasst hatte. Auch hatten die Genossen Grund zu verhindern, dass jemals wieder ein einzelner so viel Macht über sie akkumulieren konnte wie Stalin. Aus den Fraktionskämpfen ging schließlich Nikita Chruschtschow siegreich hervor, ein impulsiver, etwas grobschlächtiger Mann aus der Provinz, der aber auch aufgeschlossen und neugierig war. Er war ein überzeugter Kommunist und ein Bewunderer Stalins, schämte sich jedoch auch für seine Verstricktheit in den Stalinschen Terror und hatte moralische Skrupel. In seiner „Geheimrede“ von 1956 klagte er Stalin posthum zahlreicher seiner Verbrechen an und verurteilte dessen „Personenkult“. Es war ein Signal an die Welt, nicht zuletzt an die kommunistische Welt, dass der sowjetische Hegemon in eine andere Richtung gehen wollte. Anders als Stalin ging Chruschtschow nicht von einer unvermeidlichen Konfrontation des kapitalistischen und des kommunistischen Weltlagers aus, sondern glaubte an die Möglichkeit einer „friedlichen Koexistenz“. Auch gegenüber Osteuropa wollte er die Zügel lockern und er wollte wieder auf Tito zugehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Stalinsche Arroganz schließlich nur alle gegen einen aufbringen würde. In dem Sinn begann er sich auch Mao Zedong beinahe übertrieben freundlich und großzügig zu nähern. Allerdings verfehlte er damit im weiteren Verlauf die gewünschte Wirkung, denn Mao war letztendlich selbst ein Stalin, und konnte allein schon einmal mit entgegenkommendem Verhalten wenig anfangen (er sah es als Zeichen von Schwäche, die er verachtete). Dass Chruschtschow Stalin demontierte und „Personenkult“ aus der kommunistischen Welt entsorgen wollte, kam Mao gar nicht entgegen. Vor allem konterkarierte es das Vorhaben einer eigenen Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung Chinas nach stalinistischem Vorbild, so wie Mao es vorhatte. Chruschtschow hingegen erklärte den Klassenkampf in der Sowjetunion als im Wesentlichen für beendet. Es war im klar, dass er endlich die Konsumgüterindustrie ausbauen müsse, um den Sowjetbürgern einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen. Vor allem wird ihm wohl klar gewesen sein, dass die Sowjetunion nunmehr, zumindest in den urbanen Zentren, ein modernes und durchgehend alphabetisiertes Land war, das man nicht mehr mit grobschlächtigen und groben stalinistischen Methoden führen konnte – vor allem, wenn man es wirtschaftlich diversifizieren wollte. Dieser „Revisionismus“ stieß nicht nur Mao, sondern vielen Marxisten und Kommunisten sauer auf. Als primitives, totalitäres, gleichzeitig umfassendes wie geschlossenes „Denksystem“ vermittelt der Stalinismus Menschen Geborgenheit, die Komplexitäten und Nuancen hassen oder fürchten, und bei denen wohl weniger die Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen, denn der ewige Klassenkampf und die totale Frontstellung gegen die „Bourgeoisie“, mit dem Ziel der absoluten Machtentfaltung ihres eigenen ideologischen Prinzips in der Welt der emotionale Inhalt ihres Lebens ist. In dem Sinn, und in seiner diesbezüglichen „Eleganz“, muss ihnen der Stalinismus auch als gleichsam „ästhetische“ Leistung erscheinen. Unter Chruschtschow begann, so gesehen, hingegen die Ära der „Formlosigkeit“ und der Uneindeutigkeit. Ähnlich wie alle anderen Kommunisten war Chruschtschow aber von der Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem Kapitalismus überzeugt. Er wollte mit der kapitalistischen Welt auf wirtschaftlichem und technologischem Gebiet konkurrieren, und glaubte, sie darin schließlich „einholen und überholen“ zu können. Mit dem Abschuss des ersten Satelliten, des ersten Lebewesens ins Weltall (der Hündin Laika) und des ersten Menschen ins Weltall (des Armeepiloten Juri Gagarin) Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre, verpasste die Sowjetunion der Welt tatsächlich den „Sputnik-Schock“. Der führte allerdings dazu, dass die USA ihre dann doch überlegenen Kapazitäten besser bündelten, und ihre folgende technologische Überlegenheit mit dem ersten Mann im Mond dann zunächst auch symbolisch zementierten. Einstweilen führten die wirtschaftspolitischen Reformen, um die Wirtschaft zu modernisieren und den Lebensstandard zu heben, nicht zum gewünschten Erfolg. Chruschtschow hatte in einem Kernbereich Versprechungen gemacht, von denen sich herausstellte, dass er bzw. das Sowjetsystem sie nicht halten konnte, was Unmut innerhalb der Parteiführung über ihn provozierte. Gleichzeitig fiel die Zeit der Auflösung der Kolonialreiche wesentlich in die Ära Chruschtschows. Naturgemäß unterstützte die Sowjetunion die Unabhängigkeitsbestrebungen, nicht zuletzt aus geostrategischen Gründen. Einige Länder wie Ghana, Mosambik oder Tansania wandten sich auch recht deutlich dem Sozialismus und der Sowjetunion zu. Die unterstützte auch linksgerichtete politische Führer wie Nasser in Ägypten, Sukarno in Indonesien oder Lumumba im Kongo. Das rief die USA auf den Plan, die ihrerseits überall auf der Welt ihnen genehme Regime errichten oder halten, und die Ausbreitung von kommunistischen oder sowjetfreundlichen verhindern wollte, und führte zur unappetitlichen Ära der Kalten Kriegsführung in der ganzen Welt, die ihren traurigen Höhepunkt im Vietnamkrieg fand. Überdies hinaus mussten die Sowjets im Lauf der Zeit feststellen, dass ihre großzügigen und kostspieligen finanziellen und militärischen Hilfeleistungen für diverse Länder und deren Führer dann doch nicht den gewünschten Erfolg brachten. Die zogen es dann doch vor, der Sowjetunion gegenüber relativ autonom zu bleiben. Derweil nahm die Verachtung, die Mao Zedong für Chruschtschow und die Sowjetunion entwickelte, annähernd irrationale und gefährliche Formen an. Es kam zu einem totalen Zerwürfnis der beiden kommunistischen Supermächte und auch zu einem Grenzkrieg zwischen ihnen. Ein strahlender Stern war in Kuba aufgegangen, als Fidel Castro dort das Batista-Regime gestürzt hatte. Ursprünglich kein Kommunist, wurde er aber schnell von den Amerikanern als ein solcher verdächtigt, was ihn dann tatsächlich zu einem machte und ihn in die Arme der Sowjetunion trieb. Die sollte Atomraketen auf Kuba stationieren, eine für die USA nicht hinnehmbare Bedrohung, auf wenn die ihrerseits in der Türkei Raketen stationiert hatte, die eine ähnliche Bedrohung für die Sowjetunion darstellten. Als der Kalte Krieg drohte, ganz heiß zu werden, einigten sich beide Seiten in geheimen Gesprächen auf der Topebene darauf, ihre Raketen jeweils abzuziehen, wobei die Sowjetunion allerdings Stillschweigen bewahren musste über die Nato-Raketen und deren Abzug aus der Türkei. Das ließ Chruschtschow vor den Kubanern und vor seinen eigenen Genossen wie ein Verlierer dastehen, der einseitige Zugeständnisse gemacht hatte. Insgesamt aber hatte Chruschtschows etwas zerfahrener Führungsstil keine so eindeutigen Resultate für die Sowjetunion mit sich gebracht. So wurde er von seinen Genossen 1964 gestürzt und in Pension geschickt. Als sein größtes Vermächtnis sah er es an, dass er ein Klima in der Sowjetunion geschaffen hatte, in dem er deswegen nicht erschossen worden war.

Die Sowjetunion propagierte sich als „friedliebend“, und tatsächlich scheinen die Aggressoren und Bellizisten über ihre Geschichte hinweg primär auf der anderen Seite gewesen zu sein. Aber wie friedliebend kann ein politisches Gebilde wohl sein, dessen ideologisches Fundament der (Klassen-) Kampf ist? Zwar sind diverse Verständnisse und Lesarten des Marxismus möglich, aber in erheblichen Teilen ist er militant und agonal und geht von großen Prinzipien aus, die einander unversöhnlich sind, und partiell oder total auf Konfrontation zusteuern. Den Kampf zwischen diesen beiden Prinzipen (Kapitalismus und Kommunismus) versteht er beinahe als etwas Metaphysisches und Eschatologisches, wenn nicht gar Chiliastisches. Der Marxismus hat großes Potenzial zu einer neurotischen Weltsicht und daher zu etwas Gefährlichem. Lenin selbst verstand sich durchaus nicht als Pazifist. Er, der Kriege im Inneren angezettelt hat, die den eigenen ideologischen Interessen dienten, hatte eine analoge Sicht auf Kriege nach außen hin. Diese könnten gerechtfertigt sein – und zwar unabhängig, ob es sich um einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg handelt – wenn nur die kriegsführende Partei den richtigen Klassenstandpunkt (im Sinne des Proletariats) einnehme. Dies betonte er nicht einmal, sondern immer wieder (Nicht der Angriffs- oder Verteidigungscharakter des Krieges, sondern die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats … (sind entscheidend…) Oder: Der Charakter eines Krieges …. hängt nicht davon ab, wer Angreifer ist und in wessen Land der „Feind“ steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik durch diesen Krieg fortgesetzt wird… vgl. LesceK Kolakowski: Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.553) Schließlich hatte Lenin während des Bürgerkrieges versucht, die Revolution mit kriegerischen Mitteln auch ins Ausland zu tragen. Nach dem diesbezüglichen Misserfolg stellte sich dann die Frage nach dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Dieser Aufbau musste natürlich auch den Aufbau von Wehrkapazitäten in sich schließen. Doch allein zu defensiven Zwecken, oder nicht doch vielleicht auch zu offensiven? Auch für Stalin war die entscheidende Qualität bei einem Krieg nicht, ob er Angriffs- oder Verteidigungscharakter hatte, sondern dessen „Klassencharakter“. Stalin lebte als Paranoiker noch dazu in einer quasi-apokalyptischen Welt, in der mit Krieg, Gewalt, Heimtücke und Verrat ständig zu rechnen ist (insofern das ja auch alles von einem selbst ausgeht). Zeit seines Lebens ging er davon aus, dass es zu Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten, oder der imperialistischen Mächte gegen die Sowjetunion kommen würde. An eine Welt der friedlichen Koexistenz glaubte er nicht. Sollte es auch zu Kriegen der imperialistischen Mächte untereinander kommen, würde sich die Frage stellen, wie sich die Sowjetunion dazu verhalten sollte. Stalin hoffte dabei, dass sich die imperialistischen Mächte gegenseitig schwächen würden, so dass sich die Sowjetunion dann aus einer Position der relativen Stärke in ihrem eigenen Interesse in das Gemengelage einmischen konnte – eventuell durch Kriegseintritt: Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können – wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte… (Vgl. Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Frankfurt/Main, Fischer 2000) Diese Idee formulierte Stalin schon in den 1920er Jahren. Inwieweit war sie auch das eigentliche Kalkül hinter dem Hitler-Stalin-Pakt? Hatte Stalin gehofft, die Sowjetunion zunächst aus einem Krieg heraushalten zu können, in dem sich die imperialistischen Mächte Europas gegenseitig schwächten – um dann „das entscheidende Gewicht in die Waagschale“ zu werfen, also Deutschland anzugreifen? Wäre somit der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zwar kein präventiver Krieg gewesen, aber ein präemptiver? Stalins eigentümlich halsstarrige und aggressive Weigerung, die Vorzeichen und Warnungen vor dem deutschen Einmarsch richtig zu interpretieren, könnte so erklärt werden (allerdings auch anders). Stalins narzisstische Psychologie hätte ihm dann auch ein Bein gestellt, insofern er wohl sehr stolz darauf war, alle ausgetrickst zu haben und sich von keinem austricksen lassen zu würden. Die Warnungen vor dem deutschen Einmarsch kamen auch aus England, das mit Deutschland im verzweifelten Krieg war. Stalin nahm eventuell an, dass England mit diesen Warnungen versuchen würde, die Sowjetunion in einen Krieg mit Deutschland zu treiben, um seine eigene Front zu entlasten. Aber er würde auf diesen Trick nicht hereinfallen – sondern darauf warten, bis sich das imperialistische Westeuropa geschwächt hätte – um dann was zu tun? Eine Frage der Geschichte, die sich nicht mehr beantworten lässt, da die Geschichte ihren eigenen Verlauf genommen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Stalin naturgemäß in der Erwartung eines dritten. In dem Sinn ermunterte er das kommunistische Nordkorea, in Südkorea einzufallen. Nicht nur, um das Territorium der kommunistischen Welt zu erweitern, sondern um die Amerikaner hineinverwickeln zu können, um sie so, wie er glaubte, eine Weile von der Sowjetunion selbst ablenken zu können. Als stellvertretende Macht zog er vor allem das junge Rotchina in den Krieg hinein. Dem kamen tatsächlich Bedenken, es könnte zu einem Dritten Weltkrieg kommen. Stalin antwortete (ob es ein Bluff war oder nicht, weiß man nicht), dass er mit dieser Möglichkeit tatsächlich rechnete; sollte es dazu kommen, käme es, inmitten der aktuellen Kräfteverhältnisse für die kommunistische Welt, für diese zumindest zu einem guten Zeitpunkt (Mao sollte später ähnlich denken, und abseits von seiner irritierenden und unklaren „Die Atombombe ist ein Papiertiger“-Rhetorik konkrete Provokationen gegen die USA setzen, die eventuell in einen Atomkrieg eskaliert wären – wie von ihm als Option vorbehalten). Der Koreakrieg war so blutig, dass alle Beteiligten bereits 1951 sein Ende verhandeln wollten. Nur Stalin nicht, der die Amerikaner weiter in Schach damit halten wollte. So kam es erst nach Stalins Tod zum Ende des Krieges. Chruschtschow leitete zwar eine Politik der „friedlichen Koexistenz“ ein, dennoch kam es während seiner Amtszeit zur Kubakrise. Mit solchen Krisen ist aber inmitten eines so kritischen Verhältnisses zweier sich feindlich gegenüberstehender Supermächte immer wieder zu rechnen. Auch Anfang der 1980er Jahre kam es wieder zu einer gefährlichen Zuspitzung, deren Eskalation auf einen Atomkrieg hinausgelaufen wäre. Bis zum Ende der Sowjetunion kam es im Verhältnis mit den USA zu wechselnden Phasen der Entspannung und der Zuspitzung, der Aufrüstung und der Abrüstung. Die meisten Strategen (und auch wir damals noch als Kinder in den 1980er Jahren) waren davon ausgegangen, dass inmitten dieses Gemengelages es früher oder später, irgendwann einmal, zu einem tatsächlichen Dritten Weltkrieg, einem Nuklearkrieg kommen würde. Vielleicht war das immer zu übertrieben gedacht, da die Atombombe ein zu schreckliches Mittel ist, um tatsächlich eingesetzt zu werden (vielleicht war sie sogar deshalb auch ein Garant für den Frieden). Vielleicht haben wir aber auch nur Glück gehabt. Einstweilen.

Mit der Ära Breschnew spätestens endet die „heroische“ Ära der Sowjetunion. Der Sowjetstaat und die Sowjetgesellschaft wurden als konsolidiert erachtet, und vor Experimenten sowohl in Richtung mehr Diktatur oder mehr in Richtung Liberalismus (wie unter Chruschtschow) wollte man Abstand nehmen. Allein schon der Zustand der ökonomischen „Basis“ der Gesellschaft, der Sowjetwirtschaft, zeigte, dass der Spielraum für Reformen an und für sich gering wahr (wenn man nicht das ganze System aus den Fugen geraten lassen wollte), und so setze man auch auf Konservatismus im Hinblick auf den gesellschaftlichen „Überbau“. Diejenigen, die die Sowjetunion erlebt haben, erinnern sich jedoch immer wieder positiv, wenn nicht nostalgisch, an die Breschnewzeit. Zumindest in den urbanen Zentren wurde ein gewisses Level des Wohlstands erreicht, der auch eine stabile Grundlage zu haben schien (tatsächlich wäre die Sowjetunion in den 1970er Jahren wohl Bankrott gegangen, wenn ihr nicht die Ölpreisschocks zu unerwartetem neuem Reichtum verholfen hätten). Über die kleinen Wohnungen beispielsweise der allermeisten Sowjetbürger mag man sich aus westlicher Sicht erstaunen. Doch bis weit in die Stalinzeit hinein hatten viele Sowjetbürger in einer überbelegten Gemeinschaftswohnung mit dementsprechend begrenzter Privatsphäre – einer sogenannten Kommunalka – gewohnt (anders wusste sich die Sowjetregierung auch nicht zu helfen: Die Landflucht in dieser Zeit war die größte, die die Menschheit jemals gesehen hatten; in den von Menschen überquellenden Städten konnte so rasch nicht genug Wohnraum geschaffen werden). Güter und Kulturgüter (wie Rock- und Popmusik) aus dem Westen drangen auch in die Sowjetunion vor und wurden schick. In eigenen Geschäften für die Nomenklatura gab es, zumindest unter dem Tisch und zu horrenden Preisen, alles zu haben. Dementsprechend informell verlief auch der Zugang zu diesen Gütern. Entgegen der Ideale des Kommunismus war die sowjetische Gesellschaft eine durchaus stratifizierte Gesellschaft. Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler, Funktionäre oder Ärzte hatten auch untereinander, je nach ihrer Funktion, einen zugewiesenen Status, aus dem sich auch der Zugang zu Privilegien oder eben bestimmten Gütern ergab. Das wiederum führte zu einer informellen Tauschgesellschaft, in der auch Beziehungen eine große Rolle spielten. Wenn man so will, brachte diese informelle Tauschgesellschaft auch die Sowjetmenschen einander näher, die so ein gewisses Maß an Zufriedenheit erreichten. Breschnew war ursprünglich ein wahres Arbeitstier gewesen. Alter und Krankheit forderten schließlich ihren Tribut und so schwelgte Breschnew mit der Zeit eher in Selbstherrlichkeit und – recht unkommunistisch – in einer Liebe für das luxuriöse Leben. Ansonsten gingen von ihm nunmehr wenig Initiativen aus. Weniger aufgrund des totalitären Charakters des Sowjetregimes, sondern aus Gründen der Eitelkeit wollte auch Breschnew im Leben und im Bewusstsein der Sowjetbürger stets präsent sein und nutzte jede Gelegenheit, um sich öffentlich oder im Fernsehen zu präsentieren. Nicht zuletzt aufgrund dieser menschlichen Schwächen war Breschnew bei der Sowjetbevölkerung aber auch relativ beliebt, die mit gutmütigen Witzen über seine Skurrilitäten eine liebevoll-ironische Sicht auf ihn pflegte. Dennoch blieb es gefährlich, sich mit der Sowjetmacht anzulegen. Der Spielraum für nonkonformistisches Verhalten blieb begrenzt, und tatsächliche oder vermeintliche Dissidenten wurden zwar nicht mehr liquidiert, aber es wurden ihnen praktisch die Lebensgrundlagen entzogen. Die sowjetischen Zensoren hatten wenig Toleranz für Individualismus (wahrscheinlich auch ein Ressentiment dagegen, da sie ihn ja selbst nicht ausleben durften), darunter hatten nicht zuletzt viele sowjetische Kulturschaffende zu leiden, denen gegenüber sich der Sowjetstaat nach wie vor teilweise beinahe idiotisch brutal verhielt. Normale Sowjetbürger mussten um ihren Arbeitsplatz besorgt sein, wenn sie zu sehr aus der Reihe tanzten. Da Menschen in der Regel aber auch nicht aus der Reihe tanzen, gab es in der Sowjetunion (und das nicht nur zu der Zeit) Raum für ein relativ amikales Verhältnis zwischen den Funktionären des Sowjetstaates und seinen Bürgern. Selbst in Fernsehserien wurden Sowjetfunktionäre, Betriebsführer oder Polizisten als beengte, überforderte, aber gutmütige Figuren karikiert. Das war freilich ein systemimmanenter Humor (der für die Träger des Systems auch die entgegenkommende Funktion hat, die Grenzen des Systems offener erscheinen zu lassen, als sie sind, und die Toleranz für das System zu erhöhen). Aber auch dazu, dass es systemimmanenten Humor zulässt, kommt ein System nicht von selber (der Gründer der Sowjetunion, Lenin, hatte praktisch keinen Humor, Stalin hatte einen zynischen und brutalen). In den 1970er Jahren erfolgte auch außenpolitisch eine Phase der Entspannung, der Détente. Zur selben Zeit profitierte die Sowjetunion von den Ölpreisschocks, die enorme Einnahmen auch in ihre Kassen sprudeln ließen. Auch die kommunistischen Satellitenländer des Ostblocks schienen davon zu profitieren, indem sie von westlichen Banken mit billig scheinenden Krediten überhäuft wurden. Die OPEC-Länder legten ihre riesigen Einkünfte bei westlichen, vor allem amerikanischen Banken an (was angeblich auch der Deal war, dass die westliche Welt die Ölpreiserhöhungen überhaupt erlaubt hat), so dass diese nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchten. Daher vergaben sie Kredite an Entwicklungsländer, auch solche in der kommunistischen Welt, die, im Gegensatz zunächst zur ressourcenreichen Sowjetunion, sich darauf angewiesen sahen, um die auch bei ihnen unproduktive Wirtschaft am Laufen zu halten und den eigenen Bürgerinnen und Bürgern einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Diese glückliche Kombination fand jedoch Anfang der 1980er Jahre ein Ende, als die USA zur Bekämpfung ihrer Inflation eine Zinswende einleiteten, mit der sie die ganze Welt in Mitleidenschaft zogen. Länder – auch solche des Ostblocks oder Jugoslawien – die die Kredite aufgrund der gestiegenen Kosten nicht mehr bedienen konnten, kamen unter die Fuchtel des IWF, sowieso keinem Befürworter sozialistischer Wirtschaftspraktiken, sondern vielmehr dessen Zerstörer. Breschnew starb 1982. Die massive Überalterung der politischen Führungsschicht, deren Gerontokratie, kam auch darin zum Ausdruck, dass Breschnews Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, jeweils nach nur wenig mehr als einem Jahr im Amt verstarben. Anzeichen für eine Liberalisierung des Systems gab es unter ihnen keine. Vielmehr gab es eher Bemühungen, das Andenken an die Stalinzeit wieder zu reaktivieren (so wie es freilich, gegenüber der Chruschtschow-Ära, schon unter Breschnew stattgefunden hatte). Der herrschende Zirkel der KPdSU suchte sein Glück nun in einem deutlich jüngeren und charismatischen Generalsekretär an der Spitze.

Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion zu seiner Zeit ein „Obervolta mit Atomraketen“ (ironischerweise sollte 1983 auch in Obervolta ein echter Revolutionär an die Macht kommen (der es dann in Burkina Faso umbenennen ließ: „aufrechter Mann“): Thomas Sankara, dessen Geschichte ebenso glorreich wie tragisch war). Damit war gemeint, dass die Sowjetunion zwar nach wie vor eine militärische (und militärtechnologische) Supermacht war, in allen anderen Bereichen der Produktion und der Distribution aber weit hinter die entwickelten kapitalistischen Länder zurückgefallen. Dabei war das nicht immer so gewesen. Chruschtschows Losung vom „Aufholen und Überholen“ gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern schien damals durch die Zahlen unterstützt zu werden. In der Stalinzeit war die Sowjetwirtschaft stark gewachsen, aufgrund der Industrialisierung, des Wohnungsbaus, des massiven Ausbaus der Infrastruktur und der Rüstungswirtschaft, durch die Kollektivierung wurde auch die Landwirtschaft industrialisiert. Das Wachstum war jedoch nicht nur extensiv, sondern auch intensiv. Auch bei den Produktivitätszuwächsen erzielte die Sowjetunion höhere Raten als die entwickelten kapitalistischen Länder. Das galt zunächst auch für die Länder des kommunistischen Osteuropa. Dann jedoch geriet der eigentlich entscheidende Indikator für den wirtschaftlichen Fortschritt, das Produktivitätswachstum, ins Stocken. Auf Produktivität und Effizienz war die Sowjetwirtschaft aber auch nie primär angelegt gewesen – sondern auf die zentrale Entscheidungsgewalt des Staates über die Wirtschaft und über die Verwendung der Ressourcen (auch wenn das so nicht stimmt. Die Kampagne rund um den „Neuen Menschen“ in den 1920er Jahren hatte auch die Stoßrichtung, einen effizienten sowjetischen Arbeiter heranzuzüchten, und nicht nur die Großindustrie in den USA, sondern auch die sowjetischen Wirtschaftsplaner interessierten sich sehr für den Taylorismus: die Wissenschaft, die darauf abzielte, „Humankapital“ möglichst produktiv einzusetzen). Die Zentralisierung der Wirtschaft, die Auflösung der Arbeiterräte und Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei waren ursprünglich als ungeliebte Methoden des Kriegskommunismus gedacht gewesen, und selbst der gnadenlose Felix Dserschinksi (der erste Geheimpolizeichef der Sowjetunion) sollte in ihnen nachher „ein höchst schädliches Überbleibsel“ aus dieser Zeit sehen. Dennoch wurde die Sowjetwirtschaft diesen Charakter nie mehr los. Wir wollen alle Dezentralisierung, aber in der Praxis zieht irgendein Magnet alles zur Zentrale … gegen unser aller Willen, klagte ein sowjetischer Funktionär in den späten 1920er Jahren (vgl. Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.21). Dieser zentrale Magnet war jedoch die als Fabrik (und auch militärmäßig) organisierte Sowjetwirtschaft und -gesellschaft. Der Kommunismus zielt auf die Befreiung der arbeitenden Menschen ab. Im Verständnis des Marxismus besteht das Leidwesen der Arbeiter im Kapitalismus darin, dass sie ihre Arbeitskraft wie eine Ware veräußern müssten. Deswegen schafften die Sowjets den Warencharakter des Arbeitskrafteinsatzes, der zu einem bestimmten Marktpreis veräußert wird, ab. Wenn dieses Motiv wegfällt, was bleibt dann aber als Grund, warum Menschen ihre (oftmals ungeliebte) Arbeit verrichten sollten (diese Frage behandelt der traditionelle Marxismus nicht ernsthaft, sondern hauptsächlich in der Form von utopischen Ausflüchten)? Bleibt nur mehr der Zwang. Und wenn weder Arbeiter noch Kapitalisten die Wirtschaft zum Zwecke des Gesamtwohls organisieren könnten, bleibt nur mehr der Staat. Der Sowjetstaat schaffte auch den Warencharakter der von ihm produzierten Produkte ab. Angebot und Nachfrage wurde also nicht mehr („anarchistisch“) über den Markt und den Marktpreis geregelt, sondern über den Plan. Zu den Absonderlichkeiten der sowjetischen Planwirtschaft zählte, dass das Plansoll von den Betrieben nur die Produktion einer bestimmten Menge (oder den Verbrauch einer bestimmten Menge an Ressourcen) regelte, aber nicht, wie effizient die Produkte produziert wurden oder ob die Produkte (z.B. als Zwischenprodukte an andere Betriebe) auch ausgeliefert oder konsumiert wurden. Marx und Engels hegten eine Verachtung für den Handel, und ihnen zufolge wird in der  Zirkulationssphäre kein eigentlicher „Wert“ geschaffen. Außerdem betrachtet der traditionelle Marxismus die arbeitenden Menschen immer nur als Produzenten und praktisch nie als Konsumenten. Trotzdem erscheint es unglaublich, dass die sowjetischen Wirtschaftsplaner so zentrale Aspekte kaum beachtet haben. Weil es keine Anreize gab, die Produkte in Zirkulation zu bringen und sie ihrem eigentlichen Zweck zuzuführen, kam es zur Mangelwirtschaft in der bekannten Form. Betriebe bekamen ihre nötigen Ressourcen oder Vorprodukte nicht, was dazu führte, dass sie diese, wenn sie dann doch verfügbar waren, horteten und dadurch den Mangel wiederum verschärften. Es kam zu einem umfassenden Tauschsystem. Auf informellen Wegen halfen sich die Betriebe ad hoc untereinander mit Ressourcen über Tauschgeschäfte aus, und auf der Ebene des Endverbrauchs dominierte der Schwarzmarkt: Das System der Planwirtschaft funktionierte in der Praxis über Märkte – allerdings über (weniger effiziente und transparente) Schwarzmärkte. Bis in die 1960er Jahre wurde die Planerfüllung zudem allein an der produzierten Menge gemessen, und nicht an der Qualität der Produkte. Neue Reformen sahen dann vor, dass die Betriebe auch profitabel zu wirtschaften hätten. Da es aber keine Marktpreise gab, sagte ein betriebliches Bilanzergebnis nichts über die eigentliche Rentabilität aus. Die Reformer suchten ihr Heil darin, dass sie ihr Plansystem fortwährend differenzierten und neue Kontrollziffern zur Planerfüllung einführten. Der erhoffte Gewinn an Rationalität und Praktikabilität wurde jedoch dadurch zunichte gemacht, indem das System vor lauter Planziffern vollkommen unübersichtlich wurde. Bis zuletzt hatten die klugen und gut ausgebildeten sowjetischen Wirtschaftsplaner das Prinzip von Angebot und Nachfrage, das über den Preis geregelt wird, tatsächlich nicht begriffen, es lag für sie außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten. Für die arbeitenden Menschen wurden zwar schon früh individuelle Leistungsanreize geschaffen. Diese waren nicht nur ideell (heldenhafter „Stachanow-Arbeiter“), sondern auch mit Privilegien verbunden, damit auch mit dem Zugang zu bestimmten Gütern und Ressourcen. Wie schon erwähnt, herrschte in der Sowjetunion diesbezüglich eine recht differenzierte Sozialstruktur. Allerdings fehlten die eindeutigen materiellen Anreize zur Mehrarbeit, zur Planübererfüllung, und auch die eigenen Produkte wurden als nicht attraktiv erachtet und daher wenig gekauft. Gute individuelle wirtschaftliche Leistungen wurden in der Sowjetunion nicht wirklich belohnt, schlechte Leistungen wurden nicht bestraft. Nicht nur individuelle Leistungsanreize wurden so auf Dauer erstickt, in dem strikten Top-Down-System verflüchtigte sich auch die Kreativität und damit die Innovationskraft der Sowjetwirtschaft auf allen Ebenen. Auf der Makroebene hat die Sowjetunion ursprünglich eine welthistorische Leistung bei der Industrialisierung erbracht (was jedoch keine eigentliche innovative Leistung war, da sie das Industriesystem von den fortgeschrittenen Ländern nur übernehmen musste). Den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, zur Informationsgesellschaft und zur „kreativen“ postindustriellen Gesellschaft hat sie jedoch nicht bewerkstelligt. Wahrscheinlich auch nicht angedacht, da das außerhalb der traditionellen marxistischen Industrialisierungsheilslehre gelegen ist. In ganz praktischem Sinne hätte eine derartige wirtschaftliche Transformation auch die Freisetzung von Arbeitskräften bedeutet (und einen Form- und Substanzverlust beim heroischen Trägersubjekt der Sowjetunion, dem traditionellen Industriearbeiter), dagegen wehrten sich die sowjetischen Gewerkschaften. Auf eine moderne Konsumgesellschaft hatten es die Sowjetplaner sowieso nicht abgesehen (zumindest als sie mit den Schwierigkeiten konfrontiert wurden, im Rahmen ihres Systems eine solche zu schaffen). Sie hielten an ihrem Bild vom Sowjetbürger als besserem sozialistischen Menschen fest, was in der Praxis bedeutet: ein idealistisch motiviertes Arbeitstier, das genügsam und bedürfnislos war. Versorgungsschwierigkeiten kamen immer wieder aus der Landwirtschaft. Gleichsam als Rache für die brutale Kollektivierung blieb die sowjetische Landwirtschaft ein chronisch ineffizientes System. Man hatte den Bauern eine Wirtschafts- und Lebensweise aufoktroyiert, die sie nicht wollten und in der sie sich nie wirklich zurechtfinden sollten (und in der es auch keine individuellen Leistungsanreize gab). Allgemein zeigte sich, wie zerstörerisch die Kollektivierung und die Industrialisierung, die ganze Sowjetisierung der Gesellschaft gewesen war. Aufgrund ihrer Brutalität und ihrer rasenden Geschwindigkeit führten sie nicht nur zu Fortschritt, sondern auch zu einem umfassenden Regress. Umfassendes, jahrhundertealtes und organisch gewachsenes traditionelles Wissen und dessen Verkörperung in Sozialstrukturen, die zerstört wurden, wurde vernichtet. Die Gesellschaft wurde nicht komplexer, sondern einfacher. Der Kommunismus brachte in erheblichem Maße keine Bereicherung in die Gesellschaft, sondern auch ein erhebliches Maß an Verarmung und Entdifferenzierung. Von enttäuschten linken Kritikern wurde das Sowjetsystem aber nicht als kommunistisch erachtet, sondern als eines des „Staatskapitalismus“. Diesbezüglich gibt es aber zunächst einmal zu viele Unterschiede zwischen einem kapitalistischen System und dem Sowjetsystem. Wenn man als „Kapitalisten“ aber jemand sieht, der andere zum Zwecke seiner eigenen Bereicherung arbeiten lässt, und der Arbeitsprozesse den Arbeitenden aufoktroyiert, anstatt sie diese selber gestalten lässt, dann ergeben sich Analogien. Auch in der Sowjetunion wurde den arbeitenden Menschen nachweislich Mehrwert abgepresst, und sie wurden vom Staat ausgebeutet. Vor allem soll das in noch viel stärkerem Maße der Fall gewesen sein als in kapitalistischen Ländern. Es lassen sich Berechnungen anstellen, wonach, bei einem hypothetisch angenommenen Mehrprodukt von 100 in den USA, das Mehrprodukt der Sowjetunion bei 164 gelegen wäre; die sowjetischen Arbeitenden hätten also 1,64 mal soviel Mehrprodukt geschaffen wie ihre US-amerikanischen Konterparts (Wal Buchenberg: Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion, Berlin, VWF 2003, S.92-96). Zwar ließe sich einwenden: dieses Mehrprodukt haben die sowjetischen Arbeitenden für das Gemeinwesen, für den Staat, und daher auch für sich selbst geschaffen (was sie allerdings auch im Kapitalismus nicht unwesentlich tun). Rein marxistisch ist aber jede Abpressung eines Mehrprodukts durch irgendwen anderen Ausbeutung. Was aber tat der Sowjetstaat erheblich mit diesem Mehrprodukt? Helmut Schmidt nannte die Sowjetunion ein „Obervolta mit Atomraketen“. Tatsächlich war es der Rüstungssektor und der militärtechnologische Sektor, der in der UdSSR unverändert stark geblieben war. Auf diesem Gebiet blieben die Sowjets konkurrenzfähig – allerdings nicht unbedingt innovativ, wie in den USA, wo Innovationen im Rahmen der Militärtechnologie viel weitere Kreise zogen und in die zivile Wirtschaft Eingang fanden, diese schließlich revolutionierten. In der Sowjetunion blieben solche Spillover-Effekte aus. Der Rüstungssektor war ein Teil der Produktionsgüterindustrie. Schon unter Lenin wurde der Ausbau der Produktionsgüterindustrie gegenüber der Konsumtionsgüterindustrie forciert worden. Auch das wurde damals als zeitweiliges Erfordernis angesehen. Doch auch dieses Ungleichgewicht wurde die Sowjetwirtschaft nie mehr los. Was wohl auch daran lag, dass das Zentrum der politischen Kontrolle der Sowjets über die Volkswirtschaft in der Produktionsgüterindustrie gelegen ist, der daher Schwerkraft genug hatte, um alle Ressourcen immer wieder vorwiegend auf sich zu ziehen. Schließlich waren die Produktionsgüterindustrie und der Rüstungssektor auch die Sektoren des sowjetischen Prestiges. Mit ihren teuren Militärparaden und den vielfältigen Zurschaustellungen ihrer imperialen Macht konnte sich die Sowjetunion selbst beweihräuchern. Mit ihrem Bedürfnis, sich selbst zu glorifizieren stellen kommunistische Regime auch den allfällig ausgeprägten Patriotismus in kapitalistischen Ländern wie den USA oder Frankreich deutlich in den Schatten. Für diese kostspielige Selbstglorifizierung haben die arbeitenden Menschen der Sowjetunion nicht zuletzt ihr Mehrprodukt an den Staat abgegeben.

Auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre soll es ein kleines Segment von gebildeten Sowjetbürgern gewesen sein, die einem liberalen Reformkurs positiv gegenüberstanden. Die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung hatte zwar alle möglichen Anliegen, war jedoch grundsätzlich konservativ. Auch Michail Gorbatschow hatte es ursprünglich nicht darauf abgesehen, die Sowjetunion grundlegend zu reformieren. Verschiedene Entwicklungen schienen das Sowjetsystem aber in eine entsprechende Richtung zu treiben. Im kommunistischen Osteuropa war es immer wieder zu antisowjetischen Erhebungen gekommen: 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und um die Wende der 1980er Jahre in Polen. Die Sowjetunion hatte letztendlich auch keine anderen Optionen gehabt, als diese Erhebungen gewaltsam niederzuschlagen, und in den jeweiligen Ländern die Diktatur zu verschärfen, wollte sie nicht riskieren, dass das ganze osteuropäische Imperium tatsächlich aus den Fugen geraten könnte. Der Fall Polen jedoch hatte zumindest einige ranghohe Funktionäre nachdenklich gemacht, inwieweit ein solches auf reiner Repression und eisernen Vorhängen beruhendes System eine große Zukunft haben könnte. 1986 kam es zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die die Sowjetregierung zunächst vertuschen und herunterspielen wollte und bei der sie zu langsam mit Hilfsmaßnahmen in die Situation eingriff. Die gefährliche Intransparenz und die Vertuschungskultur innerhalb des Sowjetsystems und seiner Parteidiktatur wurde entblößt und ins Scheinwerferlicht gerückt. Über die 1980er Jahre hinweg führte die Sowjetunion einen Krieg gegen Afghanistan, den sie dann auch noch verlor. Auch die Spirale des Rüstungswettlaufs, an der die US-Regierung diesbezüglich gezielt drehte, verursachte für die Sowjetunion kaum mehr noch tragbare Kosten. Allerdings war der US-Präsident Reagan kein reiner antikommunistischer Aufrüstungspolitiker gewesen. In seiner zweiten Amtszeit wurde vielmehr eine Abrüstung eingeleitet, und Gorbatschow und Reagan näherten sich einander an. Reagan wollte Gorbatschow von Reformen überzeugen und Gorbatschow dazu veranlassen, das Sowjetsystem zu liberalisieren (oder, schließlich, es überhaupt aufzugeben). Reagan selbst stand ja für einen (neoliberalen) Reformkurs, der, nach anfänglichen Härten, für Aufschwung, frischen Wind und ein Klima des Optimismus zu sorgen schien. Auf wirtschaftlichem Gebiet mussten die Sowjets einsehen, dass sie den Anschluss an die entwickelte kapitalistische Welt und deren neuartige Technologien verpasst hatten, und dass es offensichtlich das Sowjetsystem selber war, das sich daran hinderte, diesbezüglich aufzuholen. Moralische Skrupel kamen etlichen Sowjetfunktionären wohl auch, die die weitgehend unmoralische Kultur in der sowjetischen Führung, die dann auf die ganze Gesellschaft ausstrahlte, durchschauten und sie überwinden wollten. Der Geist des Marxismus und des Kommunismus ist insgesamt einer der Aufklärung und des ständigen Fortschritts, aber die Sowjetunion musste sich eingestehen, dass sie hinsichtlich dieser Prinzipien keine Leuchtfackel auf der Weltbühne mehr war. Tatsächlich blieb auch ein erheblicher Teil der Parteifunktionäre, bis in Führungskreise hinauf, konservativ oder wollte vielmehr noch das Rad der Zeit zurückdrehen. Aber Gorbatschow und sein Zirkel gravitierten aus all diesen guten Gründen eben in eine andere Richtung. Eine Politik der Perestroika (Reform) und der Glasnost (Transparenz) wurde in die Wege geleitet. Das Klima wurde im ganzen Sowjetimperium Ende der 1980er Jahre deutlich freier. Das allerdings führte dazu, dass nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den kommunistischen Ländern Osteuropas starker Unmut artikuliert wurde, den man in seiner Großflächigkeit nicht mehr eindämmen konnte. Der Politik der Glasnost war keine Politik der Perestroika, der wirtschaftlichen und politischen Reformen, vorausgegangen (China sollte den umgekehrten Weg gehen, und zuerst wirtschaftliche Reformen einleiten, um sich erst graduell politisch zu öffnen, was es bis heute weit weniger radikal tut). Und peinlicherweise kam es in den späteren 1980er Jahren abermals zu einer Versorgungskrise bei den Lebensmitteln. Die Sowjetbürger mussten sich einmal mehr stundenlang für Brot anstellen, und bekamen eventuell auch dann keines. Die stolze Industriemacht Sowjetunion hatte nach so vielen Jahrzehnten die Wirtschaft an der landwirtschaftlichen Basis, bei der Lebensmittelversorgung, noch immer nicht in den Griff bekommen. Das schien ihre Legitimität geradezu insgesamt in Frage zu stellen. Praktisch niemand, auch nicht von den westlichen Experten und Planern in den innersten Abteilungen des Pentagon, hatte einen Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesehen (mit der Ausnahme von Zbigniew Brzezinski, der eine solche Möglichkeit allerdings auch erst 1988 einräumte). Aber 1989 kam es in Deutschland zum Fall des großen Symbols für den Eisernen Vorhang, der Berliner Mauer. Der kommunistische Ostblock löste sich politisch auf. Und so verflüchtigte sich praktisch auch die Sowjetunion, nicht durch eine Revolution, sondern indem sie de facto implodierte. Die Macht war den Sowjetführern einfach entglitten. Nicht der Kapitalismus war, wie von Marx prophezeit, an seinen „inneren Widersprüchen“ zusammengebrochen, sondern der Kommunismus sowjetischer Prägung. Dennoch war da aber zunächst noch die Sowjetunion, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Aus dieser Union scherte jedoch der „kleine russische Bruder“, die Ukraine, aus, gefolgt von den baltischen Ländern. Sie wollten nicht mehr Teil eines erweiterten russischen Imperiums sein, sondern unabhängig. Der Schock darauf bei den großen russischen Brüdern war groß (mit den traumatischen Folgen bis heute). Vor allem die zentralasiatischen Sowjetrepubliken wären bei dem Gebilde aber gerne dabeigeblieben. Doch es war dann die Führung in Moskau selbst, die die Sowjetunion auflöste, und alle Sowjetrepubliken in die Unabhängigkeit entließ (weil sie sich ein solches Imperium – ohne die Ukraine – auch nicht mehr leisten konnte). Am 26. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion, die fast ein ganzes Jahrhundert in Atem gehalten und es so wesentlich mitbestimmt hatte, auf zu existieren.

Diese vollkommen unvereinbaren ideologischen Referenzen, die reinen Zitat- und Signalcharakter tragen, eröffnen vielleicht einen neuen, klareren Blick auf das, was der Kommunismus des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich gewesen ist und bedeutet hat … War das übergeordnete Ziel der Kommunisten überhaupt „der Kommunismus“ im Sinne einer schönen, unangreifbaren Marx´schen Vorstellung einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ wäre? Oder war die „kommunistische“, sprich: die kollektivistische, staatliche Zusammenfassung aller menschlichen und materiellen Ressourcen in den Händen einer angeblich wissenschaftlich erleuchteten, diktatorisch herrschenden Partei und Machtelite nicht eher nur ein Mittel zu anderen, viel handgreiflicheren sozialen, nationalen und imperialen Zielsetzungen, die diesen Parteien und Staaten auch den entscheidenden Teil ihrer historischen Binde- und Durchschlagskraft geliefert haben? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. (Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München, C.H.Beck 2017 S.1006) Nun ja, eine Frage, die sich stellt, ist vielleicht ein entscheidender Hinweis auf etwas, aber inkludiert noch nicht ihre eigene Beantwortung (der der Autor, so gesehen, damit dann ja ebenfalls ausweicht). War der sowjetische Kommunismus (primär ) ein Projekt der „Befreiung“ des Menschen, oder, in der Praxis, die selbstgenügsame Entfaltung eines alternativen Machtprinzips, in durchaus auch imperialistischer Absicht? War er überhaupt primär nur eine Methode zur Entwicklung des eigenen Landes (zumindest die asiatischen Kommunisten, von Mao Zedong über Ho Chi Minh bis zu Pol Pot, waren wesentlich, wenn nicht sogar in erster Linie daran interessiert, ihr eigenes darniederliegendes Land zu modernisieren und es renaissancehaft zu „alter Größe“ zurückzuführen: der Kommunismus erschien ihnen als brauchbarstes Mittel dazu). Oder war er (offensichtlich) all das gleichzeitig, beziehungsweise versuchte er all das gleichzeitig zu sein und kam sich dadurch erheblich selbst die Quere (bzw. führte sich selbst dadurch zunächst einmal zum Erfolg)? Beantworten können diese Frage in letzter Instanz nur diese dafür verantwortlichen Kommunisten selbst – oder auch nicht, denn es kann ja sein, dass sie hinsichtlich des Charakters ihres eigenen Systems und ihres eigenen Tuns einer Selbsttäuschung unterliegen – die sich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft des Sozialismus immer wieder perpetuiert? Auf den erregten Einwand einer Linksextremen (Ende der 1980er Jahre), warum er Lenin mit Stalin praktisch gleichsetze, wo doch die Perversion des Sowjetsystems auf Stalin zurückgehe, reagiert Noam Chomsky (in diesbezüglich einfach nur bemerkens- und bewundernswerter Weise) aus dem Stand mit einer langen, elaborierten und durchstrukturierten Antwort, wonach bereits Lenin ein „Rechtsabweichler“ gegenüber dem ursprünglichen sozialistischen Gedankengut gewesen sei: mit seiner Idee, die „Diktatur des Proletariats“ müsste praktisch von einer Partei errichtet werden, und nicht über die „Selbstorganisation“ des Proletariats selbst. Lenin habe genau diese Selbstorganisation der Gesellschaft überall ausgeschaltet und die ganze Gesellschaft dem Staat und der Partei untergeordnet. Der Stalinismus sei nur eine Fortsetzung dieser Politik gewesen. Dabei geht aber auch Chomsky, ein sozialistischer Anarchist, davon aus, dass es einen „ursprünglich reinen“ Sozialismus geben könne: der in der Selbstorganisation sozialer Einheiten liege, die ein solches Level an Kompetenz und Stringenz erreiche, dass keine dazu heteronom sich verhaltenden herrschenden und herrschaftlichen Instanzen mehr nötig seien. Das hat man in der („bürgerlichen“) Demokratie zwar, aber auch eine Demokratie schließt nicht aus, dass einige Mitglieder wesentlich mächtiger oder einflussreicher sind als andere. Der Sozialismus will auch diese Möglichkeit abschaffen (indem er dann allerdings auch die Möglichkeit, unbegrenzt Eigentum anzuhäufen – und anderes mehr – abschaffen müsste, was dann aber wiederum nicht demokratisch wäre). Immer wieder schwärmt der Sozialismus vom Vorbild einer „Kommune“ als Form der Selbstorganisation sozialer Einheiten. Zwar sind solche Kommunen bzw. solche Formen der sozialen Organisation nicht notwendigerweise instabil oder ohne größere Zukunft. Aber sie zerfallen immer wieder oder verändern sich im Lauf der Zeit bis zur Unkenntlichkeit. Vor allem aber auch: wie regeln diese Kommunen und selbstverwalteten sozialen Einheiten ihre mannigfachen Verhältnisse zueinander und untereinander? Ist das Konfliktpotenzial oder das zur Desorganisiertheit nicht möglicherweise höher, als wenn es stattdessen eine übergeordnete Instanz gäbe? Das Problem der ursprünglich selbstverwalteten Betriebe in der ganz frühen Sowjetunion war, dass sie nicht aufeinander akkordiert produzierten (und bis ans Ende und bis heute müssen auch kommunistische Regimes feststellen, dass nicht nur kapitalistische Betriebe egoistisch sind und auf Eigennutzmaximierung ausgerichtet, sondern dass es auch staatliche Unternehmen und Behörden sind). Märkte und Marktpreise hätten diese Akkordierung geregelt, aber das wollten die Bolschewiki aus ideologischen Gründen nicht, und so unterstellten sie die gesamte Wirtschaft unter staatliche Aufsicht und Planung. Allerdings eben nicht allein deswegen, sondern auch aus Gründen der Staatsräson. Der Staat, und zwar egal, wer ihn anführt, hat naturgemäß seine eigenen Logiken und Interessen und bringt Notwendigkeiten mit sich, die nicht mit denen aller seiner Bürger deckungsgleich sein müssen. Deswegen (allerdings meistens aus einer viel verengteren Perspektive heraus) wollen Anarchisten als auch Sozialisten/Kommunisten den Staat „abschaffen“: die einen unmittelbar und sofort, die anderen in einer (beliebig) längerfristigen Perspektive und als Endziel. Dann erst könne der Mensch, das Individuum, wirklich frei sein. Diese Vision übersieht, dass da neben dem Individuum aber eben immer noch die Gesellschaft ist, die sich auf verschiedenen Levels organisieren wird und sich über verschiedene, unter anderem auch untereinander konfligierende Instanzen manifestieren wird. Indem der Mensch ein Individual- als auch ein Kollektivwesen ist, sprich eines, das auf andere und anderes angewiesen ist, kann er nie wirklich „frei“ sein – und es gilt aufzupassen, inwieweit Freiheitsversprechungen und -utopien einlösbar sein können, oder nicht möglicherweise noch größere Unfreiheit mit sich bringen. Eine Gesellschaft hat notwendigerweise einen gewissen Zwangscharakter, und Gesetze sind keine „freiwillige Selbstbeschränkung“ des Menschen, sondern funktionieren als Zwang. Der Kommunismus versucht, so gesehen, das „Individuum vs Gesellschaft“-Problem zu lösen, indem er aus der Gesellschaft eine Art Gemeinschaft machen will (und sich eher noch für „Gleichheit“ interessiert, als möglicherweise für Freiheit). Allerdings ist eine Gemeinschaft eben etwas Verschiedenes von einer Gesellschaft. Sie ist kleinteiliger und besteht aus aufeinander eingeschworenen, sich irgendwie nahestehenden und ähnlich denkenden Mitgliedern. Eine Gemeinschaft ist egalitär – allerdings nur vom Prinzip her (in der Praxis mag es ganz anders sein). Eine Gemeinschaft ist nicht notwendigerweise liberal. Außenseiter mögen dort einen umso schwereren Stand haben: weswegen eine Gemeinschaft dann nicht notwendigerweise die große Keimzelle der Kreativität sein muss, so wie von Kommunisten vorgestellt, sondern eher deren Verhinderer. Vor allem aber ist eine Gemeinschaft etwas natürlich Gewachsenes und Organisches. Der Versuch, eine ganze Gesellschaft in eine Gemeinschaft umzuwandeln, wird daher letztendlich auf Gewalt beruhen. Vergemeinschaftungsutopien haben implizit etwas Totalitäres, das kann man bereits aus den utopischen Romanen von Thomas Morus oder Tommaso Campanella herauslesen (oder aber eben: schaffen Sozialisten aller Art das immer wieder nicht). (Dennoch sollte man nicht außer Acht lassen, wie wichtig Gemeinschaft, oder Illusion von Gemeinschaft, für das menschliche Wohl ist. „Wir waren damals alle Genossen“, ist eine immer wiederkehrende Begründung für die Nostalgie früherer Sowjetbürger. Dabei ist aber eben auch die russische Gesellschaft (gemeinsam mit sehr vielen anderen in der Welt) eine kollektivistische Gesellschaft, und keine individualistische wie die des Westens, in denen ein Genossesein wohl weniger dem allgemeinen Lebensverständnis und -gefühl entspräche.) Die Sowjetunion hat diese vergemeinschaftete Gesellschaft versucht herzustellen über Propaganda und radikaler sozialer Umgestaltung im gesellschaftlichen „Überbau“ und der Zentralisierung der Produktionsmittel an der ökonomischen „Basis“. Für einen orthodoxen Marxisten und Kommunisten ist die Enteignung der Produktionsmittel aus den privaten Händen der Kapitalistinnen bzw. der besitzenden Schichten bereits die eigentliche große Befreiung. Der orthodoxe Marxismus begreift aus irgendwelchen Gründen immer nur ökonomische Macht als entscheidendes Machtverhältnis zwischen Menschen, und steht anderen Machtformen relativ gleichgültig gegenüber oder ist bemüht, diese allesamt als Erscheinungsformen der ökonomischen Machtverhältnisse zu begreifen und sie so auf eine einheitliche Wurzel zurückzuführen – weswegen sich für einen orthodoxen Marxisten mit dem Ausreißen dieser Wurzel auch alle anderen Machtverhältnisse und überhaupt Probleme zwischen Menschen gleichsam erledigen. Für solche orthodoxen Marxisten im In- und Ausland war dann auch die Sowjetunion kein problematisches Gebilde, sondern vielmehr ein vorbildliches. Sozialistisch war die Sowjetunion tatsächlich: nur war es eben ein despotischer Sozialismus. Selbst begriffen sich ja alle kommunistischen Regime als „sozialistisch“ (und ursprünglich belegten sich die kommunistischen Parteien, auch die bolschewistische Partei Lenins, mit der heute so ganz anders konnotierten Qualifizierung „sozialdemokratisch“). Sie seien ein sozialistisches Übergangregime zum Kommunismus, der sich erst in der Zukunft, dafür dann aber eben aus dieser Form ganz sanft, organisch und folgerichtig ergeben würde. Archie Brown (Aufstieg und Fall des Kommunismus, Propyläen 2009) begreift die kommunistischen Regimes aber eben doch als kommunistisch. Alle entsprechenden Parteien hätten sich dem Kommunismus (zumindest als Endziel) verschrieben, Wirtschaft und Gesellschaft sozialistisch umstrukturiert und entsprechende andere Parteien im Ausland mit demselben Ziel – und dem insgesamten Ziel der „Weltrevolution“ – gefördert und die Welt entsprechend umzugestalten versucht. Sie mussten damit – entgegen von einem ganz abstrakten Ideal einer „Association, worin die freie Entfaltung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller“ – von den ganz konkreten Bedingungen ihres Landes und ihrer Kultur und deren Eingebettetheit in die größere Region, oder eben, im Fall von Supermächten wie Russland oder China, in den Weltmaßstab, ausgehen; sich in einer Umwelt behaupten, die ihnen im Inneren wie im Äußeren zumindest latent feindlich gesonnen war; und sie sahen sich mit Logiken und Notwendigkeiten – wie eben Staatsräsonen oder Verteidigungsdoktrinen – konfrontiert, die ganz allgemeiner Natur sind, und nicht bloß die Dichotomie von Kapitalismus vs Sozialismus betreffen. Dass der „Antiimperialismus“ der Kommunisten vielleicht nur ein „Anti-Imperialismus“, also ein bloßes Konkurrenzprojekt zum kapitalistischen Imperialismus ist, unter dem Banner der „Weltrevolution“, ist in einem solchen Zusammenfallen zumindest implizit möglich, wenn nicht sogar naheliegend. Sein ständiges, gleichsam neurotisches Kreisen um das Thema Macht und Machtverhältnisse legt nahe, dass hinter dem Marxismus selbst – zumindest zu einem guten Teil – ein „Wille zur Macht“ steckt, und er dem Bedürfnis nach – zumindest zu einem guten Teil – ein egomanischer und egozentrischer Hahnenkampf gegen einen (kapitalistischen) Gegner ist, dem man beweisen wolle, dass die eigene (kommunistische) Machtentfaltung die bessere Machtentfaltung sei. Damit ist er dann aber, aus dem Auge Gottes betrachtet, auch kein Endziel in der Geschichte, sondern eine relative Erscheinung innerhalb eines ewigen menschlichen Gerangels innerhalb von Raum und Zeit. In einer Dokumentation über die Thälmann-Pionierjugend in der DDR wird es so formuliert, dass die Jugend in der DDR schließlich keine Lust mehr dazu hatte, für starrsinnige alte Männer an der Staatsspitze ihre ewigen Klassenkämpfe zu führen (nur weil sie diese für das höchste Prinzip der Geschichte hielten), noch dazu, wo die Versprechungen der eignen Überlegenheit nicht eingehalten werden konnten. So kam es zum Untergang der DDR, des gesamten Ostblocks und der Sowjetunion. Und damit scheinbar auch zum welthistorischen ad acta Legen der Idee des Kommunismus. War das, was man in der Sowjetunion hatte, eine „verratene Revolution“ oder eine glorreiche Erfüllung ihrer? Aus linker Perspektive und aus den entsprechenden politischen Sehnsüchten heraus kann man es als das eine oder auch als das andere sehen (und sich, wie in diesem politischen Spektrum nicht unüblich, dann heftig in die Wolle kriegen, welche Sicht auf den Sozialismus denn nun die richtige sei). Allerdings präsentieren sich die diversen sozialistischen oder kommunistischen Regimes als etwas ziemlich Ähnliches und doch irgendwie Einheitliches. In ihren Exzessen, in ihren Kulturrevolutionen und ihren Kampagnen vom „Neuen Sowjetmenschen“ erscheinen die kommunistischen Länder als von einer ähnlich beklemmenden, irrationalen Ideologie und Pseudowissenschaft getragen wie der Faschismus und seiner Rassenlehre und einem noch darüber hinausgehenden Bedürfnis nach umfassenden Social Engineering. Allerdings ist das nicht bloß in den Exzessen der kommunistischen Regimes vorhanden, sondern immer schon latent an der Basis. Dennoch bleibt der Sozialismus eine Idee von erheblicher Strahlkraft. Freilich, weil er die Idee von einer endlich friedlichen und freundlichen Menschheit, für die alle Bedürfnisse befriedigt werden ist, die ja jede irgendwie sympathisch findet. Auch ich kann mich von der Hoffnung auf einen „Sozialismus“ irgendwann in der Zukunft gar nicht vollständig freimachen. Dennoch sollte der kritische Blick, den Sozialisten aller Art für sich beanspruchen, zur Frage führen, inwieweit aus etwas so Fadenscheinigem, Unausgereiften und vielfach offensichtlich innerlich Widersprüchlichen wie der marxistischen Theorie, der sozialistischen oder der anarchistischen Theorie jemals – ins Große gerechnet – etwas Gutes herauskommen könne.

Das Sowjetsystem war auf extremer Gewalt und extremem Betrug aufgebaut. So gut wie alles, was Lenin und die Leninisten taten, ging mit Mord und Totschlag einher; so gut wie alles, was sie sagten, basierte auf halb ausgegorenen Theorien, mangelnder Integrität und nackten Lügen. (Norman Davis: Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa, Darmstadt, WBG 2015, S. 805) So würde man das aus westlicher Sicht wohl sehen. Daher mag es die westliche Beobachterin erstaunen, wie ausgeprägt dennoch die Sowjetnostalgie im heutigen Russland (bzw. in weiten Teilen der Ex-Sowjetunion) noch ist. Diese Nostalgie bezieht sich vorwiegend auf die politisch vergleichsweise ruhige Breschnewzeit, die auch ökonomisch für die meisten Sowjetbürger einen gewissen Lebensstandard mit sich brachte. Heute stehen viele Betriebe und Fabriken in Russland leer, und viele Ortschaften sind verlassen. Sie existieren tatsächlich nur mehr in der Erinnerung. Was auf den Untergang der Sowjetunion und des kommunistischen Wirtschaftssystems folgte, war grausam. Die volkswirtschaftlichen Verheerungen, die nicht nur die Ex-Sowjetunion, sondern auch etliche osteuropäische Länder trafen, waren schlimmer als das, was der kapitalistische Westen in den langen Jahren der Großen Depression erleiden musste. Vielfach wirkten sie auf die dortigen Bevölkerungen traumatisch. Unter dem Kommunismus war der Staat zwar ein Verfolger, aber auch ein Beschützer gewesen, der außerdem eine klare Linie vorgab und für einen Orientierungsrahmen sorgte. Nunmehr fühlten sich Abermillionen von Menschen nur mehr noch schutzlos. In Russland traf die neoliberale Schocktherapie noch dazu auf einen Zustand einer allgemeinen Gesetzlosigkeit. Das ergab dann das Chaos der Jelzin-Jahre. Die führten zu der Ansicht, dass eine resolute Ordnung in Russland besser sei als das Chaos, das man mit der westlichen Lebensweise (und der offenbar heimtückischen Empfehlungen seitens westlicher Organisationen) nunmehr assoziierte – nicht nur bei weiten Teilen der Bevölkerung im Allgemeinen, sondern speziell auch bei einem entmachteten Ex-KGB-Agenten namens Wladimir Putin. Der charismatische Reformer Gorbatschow wurde zu einer der meistgehassten Figuren in Russland. Die Russen gaben ihm die Schuld daran, dass er die Sowjetunion und das Sowjetimperium verspielt hatte. Die Russen sind ein nach wie vor ein patriotisches Volk, das sich jedoch gleichzeitig nicht als Nation begreift, sondern als Imperium, mit erweiterbaren Außengrenzen. Ein solches war es nun nicht mehr. Nostalgisch blicken viele Russen auch auf die Stalinzeit. „Ein Mann des Volkes“ sei Stalin gewesen, der unermüdlich am Aufbau seines Landes gearbeitet habe (was so gesehen ja auch stimmt). Tatsächlich führten die sozialen Transformationen während der Stalinzeit, wo aus armen Bauern (denen in der Kollektivierung oftmals wenig genommen wurde, weil sie sowieso fast nichts hatten) bzw. deren Kindern vielfach Angehörige einer Art Mittelschicht wurden (und teilweise noch steilere Karrieren möglich waren). Die Anstrengungen, die der Sowjetbevölkerung in der Stalinzeit und im Großen Vaterländischen Krieg abverlangt wurden, waren enorm – aber sie waren auch heroisch. Dass sie unter Stalin so was geschafft haben, erfüllt bis heute viele Russinnen mit Stolz. Der obsessive Stalinkult in dessen letzten Lebensjahren hatte seine wahre Grundlage darin, dass Stalin als ein Symbol für eine große Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach all den Entbehrungen gesehen wurde. Deswegen verweigern sich viele Russinnen auch bis heute einer kritischen Sicht auf die Stalinzeit und einer Aufarbeitung ihrer Verbrechen: es würde ihnen psychologisch zu viel genommen werden dadurch. Und der Initiator von all dessen, bei dem alles seinen Ausgang nahm? Dessen sterbliche Überreste werden im Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau nach wie vor tagtäglich von vielen besucht. Er hatte ein Imperium geschaffen, das immerhin ein Menschenalter Bestand hatte. Heute erscheint der Untergang der Sowjetunion geradezu folgerichtig. Sie bezog ihre Legitimität dadurch, die entwickelte kapitalistische Welt „einzuholen und zu überholen“, im Rahmen des großen Systemwettbewerbs. Den hat sie verloren. Allerdings ist dieser Projektcharakter ja nicht die einzige Grundlage ihrer Legitimität und ihres Selbstverständnisses gewesen. Vielmehr ruhte die Sowjetunion ja auch in sich und für sich. Die Sowjetunion war ein totalitäres Regime mit einem raffiniert ausgebildeten Überwachungsstaat. Ganze Staatsbankrotte und wirtschaftliche Zusammenbrüche haben immer wieder auch dahingehend weniger kompetente Diktaturen überstanden. Wären Hardliner an der Macht gewesen, hätte die Sowjetunion wohl weiter Bestand gehabt und hätte die wirtschaftlich schwierigen 1980er und 1990er Jahre übertaucht, bevor ihr, wie dann dem Putin-Regime in den 2000er Jahren, der erneute Anstieg der Ölpreise wieder auf die Beine geholfen hätte. Oder was wäre geworden, wenn die Sowjetunion den Weg Chinas gegangen wäre: zuerst wirtschaftliche Reformen einführen, und dann eine graduelle gesellschaftliche Liberalisierung (die, falls sie den Herrschenden zu ungemütlich wird, dann auch wieder zurückgefahren werden kann)? Das hätte das Land, wie in China, bis zur Unkenntlichkeit verändert, mit der Konstante allerdings ebenfalls, dass der Staat und die Partei dort nach wie vor die Kommandohöhen über Wirtschaft und Gesellschaft innehaben. Was wäre umgekehrt passiert, wenn es Lenin nicht gegeben hätte, oder wenn die Bolschewiki die Wahlen nach der Oktoberrevolution anerkannt hätten, die ihnen kein Vertrauen ausgesprochen haben? Das Kerenski-Regime schien der Lage zwar nicht Herr zu werden, aber es wäre (so oder in einer ähnlichen Form) in Kraft geblieben. Vielleicht hätte Russland eine ähnliche Entwicklung genommen wie die Türkei, deren Osmanisches Reich ebenfalls im Ersten Weltkrieg zerbrach. Oder aber hätte es die Entwicklung Chinas genommen, das ebenfalls zu dieser Zeit, und immer wieder durch seine Geschichte hinweg, eine lange Phase des Chaos, des inneren Zerfalls und der „streitenden Staaten“ durchlebt hat? Das erscheint kaum beantwortbar, da Russland einfach ein Gebilde für sich ist. Immer wieder meint man, die Sowjetunion sei schließlich an der „unpraktischen“ und „weltfremden“ russischen Mentalität zugrunde gegangen. So gesehen ist sie dann aber auch aus einer solchen zunächst hervorgegangen, aus dem Zerfall einer anachronistischen Autokratie, die von einer demokratischen Regierung abgelöst wurde, die (naheliegenderweise) orientierungslos und verwirrt war. „Unpraktisch“ und „weltfremd“ waren auch die Bolschewiki gewesen, die ja gar nie angenommen hätten, in einer solchen Situation unmittelbar die Macht zu übernehmen, sondern dass die Gesellschaft zuerst eine Phase der kapitalistischen und bürgerlich-demokratischen Entwicklung und eines dementsprechenden Lernprozesses durchmachen müsste, um für den Sozialismus die nötige Reife zu erlangen. Sollte der Sozialismus so gesehen vor seiner Zeit sich versuchen zu etablieren, würde er von der Zeit zermalmt werden. Er hätte noch keine ausreichende Definitionsmacht über die herrschenden Verhältnisse, vielmehr laufe er in Gefahr den herrschenden Verhältnissen zum Opfer zu fallen und durch sie wesentlich definiert zu werden. Am XI. Parteitag der KPdSU von 1922, dem letzten, an dem er teilnahm, sinnierte ein nachdenklicher Lenin: Wenn das Eroberervolk eine höhere Kultur hat als das besiegte Volk, dann zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, dann kommt es vor, dass das besiegte Volk seine Kultur dem Eroberer aufzwingt. Ist nicht was Ähnliches in der Hauptstadt der RSFSR geschehen, ist hier nicht der Fall eingetreten, dass 4700 Kommunisten … einer fremden Kultur unterlegen sind? Allerdings könnte hier der falsche Eindruck entstehen, dass die Besiegten eine hohe Kultur besitzen. Nichts dergleichen. Ihre Kultur ist armselig, sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige. Lescek Kolakowski, bei dem sich diese Worte zitiert finden (Hauptströmungen des Marxismus 2, München, Piper 1978, S.584f.), führt weiter aus: Das ist eine der scharfsichtigsten Bemerkungen Lenins über den neuen Staat. Die Losung „bei der Bourgeoisie lernen“ wurde in tragischer und zugleich grotesker Weise Wirklichkeit. Die technischen Errungenschaften der kapitalistischen Welt übernahmen – und übernehmen sie noch immer – die Bolschewiki mit gewaltiger Mühe und nur mit halbem Erfolg. Die Herrschafts- und Regierungsmethoden, die sie den zaristischen Beamten absahen, machten sie sich dagegen mühelos, rasch und ohne Halbheiten zu eigen und verfeinerten sie beträchtlich. Von den revolutionären Träumen blieben Phrasen übrig, mit denen ein totalitärer Imperialismus sich schmückt. Vielleicht ist das auch eine der scharfsinnigsten Bemerkungen, die Kernwahrheit über dieses rätselhafte, charismatische Gebilde: die Sowjetunion.

29. September – 25. Oktober 2024

Nachbetrachtung zum 29. September 2024 in Österreich

Falls der destruktive Giftzwerg und Orban-Fan tatsächlich die Regierung übernimmt, tut er das immerhin in einer robusten und jahrzehntelang gewachsenen Demokratie, die ihm bestimmtes Handeln nicht so einfach machen sollte. Wahrscheinlich passen die Erzählungen von Orban zu Ungarn besser, als die Erzählungen von Kickl es zu Österreich tun. Den Übergang zur Demokratie hat Ungarn nicht gut bewältigt, seine Regierungen waren immer wieder sehr korrupt. Die Ungarn sind ein einsames Volk, das eine Sprache spricht, die von Ausländern praktisch nicht erlernt werden kann. Sie sind misstrauisch gegenüber dem Ausland, da sie über ihre Geschichte hinweg tatsächlich von ihren Bündnispartnern immer wieder betrogen und fallengelassen worden sind. Die Ungarn sind zugleich chauvinistisch als auch von einer Untertanen-Mentalität. Eventuell weil Ungarn zwar immer wieder hervorragende Individuen in allen Bereichen des menschlichen Könnens hervorgebracht hat, es dann aber doch nicht geschafft hat, sich als tatsächliche Kulturnation und als Zivilisation zu etablieren; eine Lücke, in die Orban mit seiner dann doch recht speziellen nationalistischen Beschwörungsrhetorik reinstößt. Vielleicht ist das deswegen so, weil die Ungarn keinen gut ausgeprägtern Gemeinsinn haben, was dann ein brauchbares Biotop abgibt für Parteien, die zwar einheits- und sinnstiftend in der Rhetorik sind, aber zersetzend in der Tätigkeit. Es wird darüber kaum berichtet, aber in ganz praktischem Sinne verteilt Orban ja vielleicht materielle Brosamen an die Bevölkerung, die außerhalb der gewöhnlichen Erwartungshaltung fallen. Für so was sind Bevölkerungen immer wieder ewig dankbar, selbst wenn die jeweilige Partei schließlich das gesamte Staatswesen und die Wirtschaft ruiniert (oder aber sie ist es auch nicht oder hört irgendwann auf, es zu sein). Vielleicht macht Kickl so was auch. Den „Depravierten“ (ideelle) Anerkennung zu vermitteln, ist es, was ja auch die FPÖ seit Langem schon tut.

Trotzdem ist es unerklärlich, warum sie damit jetzt so einen Erfolg hat. Vor allem, es wird auch nicht erklärt und nicht versucht zu erklären. Als die FPÖ angefangen hat, bei Wahlen die Ergebnisse von hinten aufzurollen, war ich in Südamerika (in der Zwischenzeit auch noch ein weiteres Mal); auf eine fundierte Analyse, warum das so ist, bin ich seitdem aber zuhause nie gestoßen. Klar ist, dass mehrere Faktoren dazu beitragen, unklar ist aber, warum sie das in dem Maße tun, und vor allem angesichts eines Parteiführers, der vor nicht allzu langer Zeit als besonders unmöglich erachtet worden ist. Haider und Strache hatten immerhin auch eine joviale Seite, und sie haben in regelmäßigen Abständen Kreide gefressen und sich dann staatsmännisch und verbindlich gegeben, bevor sie wieder zu ihrer Krawallrhetorik übergegangen sind, um ihr eigenes Wählerklientel zu bedienen. Bei Kickl hat man all das nicht (außerdem haben Haider und Strache einigermaßen gut ausgesehen, während Kickl das nicht tut). Dass aber reine Wutpolitiker wie Trump, Milei oder Bolsonaro gut punkten können, ist seit einiger Zeit in der Welt ein Phänomen. Es ist ein großes Versagen der Medien, dass sie die Ursachen für die Sympathie, die der FPÖ plötzlich entgegengebracht wird, nie systematisch betrachtet und elaboriert dargestellt haben und trotz ihrer allfälligen Großspurigkeit wie das Kaninchen vor der Schlange gestanden sind. Offenbar hätte es eine zu kritische Reflexion hin auf das Migrationsthema erfordert, was bei den Verantwortlichen eine zu große kognitive Distanz zwischen ihrer Erwartungshaltung, wie was zu sein hat und der Wahrnehmung, wie es tatsächlich ist produziert hat, und wofür sie noch keine Sprache gefunden haben, um sich auszudrücken (Kurz ist es gelungen, eine solche Sprache zu finden, und damit konnte er über Jahre hinweg praktisch tun, was er wollte. Als er dann doch zu viel getan hat, war aber glücklicherweise auf einmal die Luft aus ihm heraußen – wobei Orban in Ungarn im Hinblick auf Korruption und unlautere politische Manöver doch noch viel mehr auf dem Kerbholz haben müsste. Aus ihm ist die Luft aber immer noch nicht heraußen.) Bei mir im Zwanzigsten Bezirk setze ich mich hin und wieder in ein Beisl, das auch von etlichen FPÖ-Wählern aus der Unterschicht frequentiert wird, und habe das auch am letzten Sonntag gemacht, weil ich sehen wollte, was die an ihrem großen Glückstag wohl zu sagen hatten. Als der ORF dort im Fernseher verlautbart hat, die Coronapandemie, der Ukrainekrieg und die Inflation hätten zum Wahlsieg der FPÖ beigetragen, hat der M. gemeint: Na klar, und über die Ausländer sagen sie nichts. (Eigentlich sind diese Leute freundlich, gut gelaunt und sie gehen gut, beinahe liebevoll miteinander um. Gschissn zu den Frauen sind sie auch nicht. So zumindest der oberflächliche Eindruck.)

Die Grundlage für ein gut funktionierendes Gemeinwesen ist, ganz allgemein betrachtet, die Sozialdemokratie. Die konkrete Formulierung von sozialdemokratischen Positionen findet dabei in einem erheblichen Spielraum statt. Man hat gemeint, eine Rückbesinnung auf ihre traditionellen Werte wäre die richtige sozialdemokratische Antwort auf die Fragen der Gegenwart. Beziehungsweise, eine „anti-neoliberale“ Politik ist halt mal die große Hoffnung der Linken in Bezug auf alles; und warum auch nicht? Mir ist das ja auch zumindest sympathisch; auch wenn es mir nicht sehr wichtig ist, ob eine Politik neoliberal oder antineoliberal ist, eher, dass sie, möglichst umfassend betrachtet, mehr richtig ist als falsch (auch wenn es zu den Problemen der Politik gehört, dass man das nicht immer vorhersagen kann). Allerdings weiß ich nicht, wie neoliberal die Politik und die Zustände in Österreich eigentlich sind. Ich habe einige Jahre mal am Mikrozensus der Statistik Austria mitgearbeitet, und dort immer wieder erlebt, dass nur wenige Menschen hierzulande arbeitslos sind (was sowieso aus der Statistik hervorgeht) oder sich von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen, und dass viele Menschen seit Jahren, wenn nicht seit immer schon, im selben Betrieb arbeiten. Dass ein so rauer neoliberaler Wind weht, der alle durcheinanderrüttelt und verunsichert, scheint in erheblichem Maße also nicht der Fall zu sein (und wenn der Neoliberalismus von der Bevölkerung so umfassend als Problem angesehen wäre, hätte sie ja nicht so umfassend für Kurz gestimmt). Offenbar war es auch keine so berechtigte Hoffnung, dass ein Bürgermeister von Traiskirchen, der auch wie ein solcher daherredet, das Format für einen Kanzlerkandidaten überzeugend ausfüllen kann. Doskozil ist immerhin Landeshauptmann, und wie ich höre, soll er seine Sache nicht so schlecht machen. Aber leider ist Doskozil eine problematische Persönlichkeit. Ich kenne Leute aus der Meinungsforschung; die haben mir erzählt, dass Babler und sein Team, das sich auch innerhalb der SPÖ ziemlich abschottet, darauf verzichten würden, über Umfragen zu erheben, was die heimischen Wählerinnen denn wollen würden. Das würden die Bablerianer selber am besten wissen. Die kryptomarxistischen Sektierer, die in ihrer leidenschaftlichen Phantasiewelt vom Klassenkampf als der ganz großen Dominante leben, und die alle anderen sozialen Phänomene zwar irgendwie wahrnehmen, aber keine Heuristik dafür haben, als die man sie von außen betrachtet zu erkennen glaubt, scheinen sie im Inneren auch zu sein. (Im Beisl im Zwanzigsten Bezirk habe ich mich auch einmal mit alten Sozis von der Basis unterhalten, Gewerkschaftstypen und dergleichen, die sich da mal hinverirrt haben. Sie haben große Sympathien für Babler gehabt – der damals noch nicht Parteichef war – aber gemeint, dass die SPÖ mit einer solchen Politik, auch wenn sie ihnen selber am Herzen liege, hierzulande keine Wahlen gewinnen könne. Josef, der wortführende Obersozi, hat mir bei der Gelegenheit auch erzählt, sein Sohn sei kein Sozi, sondern de facto zum Nazi geworden, weil er als einer der wenigen Einheimischen in eine Brennpunktschule gegangen ist, die er schließlich hingeschmissen habe. Ich habe das mit den Brennpunktschulen, und was in denen zum Ausdruck kommt, auch nicht gut verstanden, bis ich die Bücher von Susanne Wiesinger gelesen habe (auch im Hinblick auf die Ignoranz seitens der SPÖ, die die Probleme dort nicht zugibt, aus Angst, das würde der FPÖ helfen (auch wenn es das jetzt endgültig getan hat) – vor allem, und das ist das Kernporblem des Ganzen, scheint sie die Lehrer nach wie vor dort allein zu lassen. Wäre sie damit gekommen, das Lehrpersonal in den Brennpunktschulen aufzustocken, weil nur so dort die Probleme zu bewältigen sind, hätten das die Wähler eventuell schon verstanden). Aber das ist wohl zu wienbezogen, wo die FPÖ ja nicht so stark gewählt wurde. Wahrscheinlich wurde sie überall anders deswegen so stark gewählt, weil sie dort keine „Wiener Verhältnisse“ haben wollen. Wie es ja auch der eine niederösterreichische FPÖ-Typ gesagt hat. Und sich dann alle darüber aufgeregt haben. Aber wie soll eine Gesellschaft das verkraften, wenn 53 Prozent von den Schülern die einheimische Sprache nicht mehr als Muttersprache haben? Es ist klar, dass das ständige Reibereien produzieren wird, die mal akuter, mal weniger akut sein werden. Was aber ist die Alternative dazu?)

Naja, einstweilen: Gott schütze Österreich.