Nachbemerkung zu Büchner vs Goethe

“I was within and without, simultaneously enchanted and repelled by the inexhaustible variety of life.“

F. Scott Fitzgerald

Das Universalgenie ist nicht notwendigerweise erleuchtet, und die Erleuchtete nicht notwendigerweise künstlerisch oder wissenschaftlich. Beides sind eher seltene Erscheinungen, und dass beides in einer (oder einem) zusammentrifft, eher noch seltener. Erleuchtet sein bedeutet: der Geist ist der offene Raum, das Subjekt verfügt über volle Manövrierfähigkeit und Navigationsfähigkeit über den offenen Raum, ist eins mit den Dingen, die Fähigkeit zur mentalen Rotation ist maximiert; außerdem kann man es mit Worten nicht ganz genau beschreiben oder definieren. Man erkennt es, wenn man es sieht. Erleuchtet sein ist Transzendenz, das Durchstoßen der materialen Hyle. Allerdings führt der (oder die) Erleuchtete in seinem Geist, der dem offenen Raum gleicht, nicht notwendigerweise analytische  bzw. wissenschaftliche oder künstlerische oder philosophische, vielleicht auch nicht mal explizite moralische Operationen durch. Erleuchtung ist ein anderer Zustand, der sich vom fragmentierten Normalbewusstsein unterscheidet. Er bezieht sich nicht auf die wissenschaftliche Physik und (eigentlich) auch nicht auf die Metaphysik (sondern er ist vor- wie meta-metaphysisch). Allerdings wird zumindest die Metaphysik viel interessanter, wenn sie aus einem Zustand der Erleuchtetheit betrieben wird. Goethe war Universalmensch und man sieht da eine scheinbar schön abgerundete Aura von großem Radius, wenn man (als Erleuchteter zumindest) auf ihn blickt. Allerdings stand er immer nur an der Schwelle zur Transzendenz. Weder seine Dichtung noch seine Wahrheit sind positiv entrückt und machen höhere Dimensionen (irgendwie) sichtbar. Aufgrund seiner extremen Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit ist Dichtung und Wahrheit so angefüllt mit Weltwahrnehmung, dass es mir noch gar nie gelungen ist, sie zu lesen. Die geistige und sprachliche Flexibilität des früh verstorbenen (daher auch nicht gut definitiv beurteilbaren) Büchner hatte Goethe aber nicht! Dessen Lenz ist eine Über-Dichtung und Über-Wahrheit hinsichtlich der Weltwahrnehmung und, anzunehmenderweise, auf seinen dreißig Seiten reichhaltiger und ungewöhnlicher als die vielen hundert Seiten von Dichtung und Wahrheit. Einfach, weil Büchner die Welt offenbar von einem deutlich höheren Blickwinkel aus betrachtet, als Goethe, von einem höheren Niveau der Analyse und der Integration von Wahrnehmung und von Wissen. Panoramic ability hat ein Engländer dem Goethe beschieden, wofür Goethe sich geschmeichelt schön zu bedanken wusste. Allerdings ist auch das Panorama, wenngleich nichts Fragmentiertes oder Segmentiertes, was Begrenztes. Im Lenz kommt zum Vorschein, was ich als das Einheits-Bewusstsein bezeichne. Eine vollständige, intensive, einheitliche Erfahrung des gesamten Wirklichkeitsfeldes, auch hinsichtlich seiner Illusionen, wie Hinter- und Überwirklichkeiten, seiner Träume und seiner Potenziale; seiner Virtualität und seiner Aktualität. Der Geisteszustand des schurkischen Joker wird dann und wann als „Super-Sanity“ bezeichnet. „I see it all! The whole game! Ahahahahaha!“, sagt der Joker an einer Stelle. So eine Perspektive hat man bei Büchner. Büchner beherrscht auch alle Dialekte innerhalb der „stammelnden Mannigfaltigkeit der Welt“ (F. Hebbel) – und zwar besser als Goethe, wenn es um die Sprache der niederen Schichten im Faust geht – er durchdringt sie intensiv und spiritualisiert sie (macht also eine „Kunstsprache“ aus ihnen, die allerdings gänzlich ungekünstelt ist). Jetzt ist es vielleicht seltsam, dass man einen symbolträchtigen Psychopathen wie den Joker hernimmt als Vorbild für eine bessere Wahrnehmung, die es anzustreben gilt – aber das Charisma des Joker liegt darin, dass er eine vollständig autonome, aus sich selbst heraus gebärende und von außen nicht beeinflussbare, allerdings scheinbar massiv unter ihren Eindrücken stehende und diese verarbeitende Figur ist. Lenz ist zwar auch verrückt, aber er navigiert, während die Wogen der Wirklichkeitswahrnehmung auf und nieder gehen, durch diese Wirklichkeit; er selbst einmal größer als das All wird, dann wieder gegenüber dem All zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpft u. dergl. mehr. Der Geist von Büchner ist ohne Weiteres erleuchtet. Mich interessiert die Möglichkeit bzw. das eventuelle Vorhandensein der Möglichkeit, ohne Kasteiungen und Übungen in Zen-Koan den Zustand der Erleuchtung zu erreichen, und zwar eben nur, eigentlich, über das Studium der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Weltwahrnehmung. Das Studium des Koan hat etwas wissenschaftliches ja an sich, da es versucht, das Paradoxe zu begreifen, und damit die Facetten, die Mannigfaltigkeit, das ständige Wechseln der Perspektive zwischen Motiv und Hintergrund. Ein Geist, der das vollständig beherrscht, besitzt Satori. Er ist vollständig flexibel. Das Erreichen von Erleuchtung, Satori, des Einheits-Bewusstseins bedeutet das Durchstoßen der materialen Hyle der Dinge wie der Konzepte über die Dinge – und dieses Durchstoßen erfolgt,  mit Leibniz gesprochen, über die Reflexion der Reflexion, also über das absolute Denken. Zunehmende Intelligenz bedeutet auch, dass komplexe, systemisch zu begreifende Inhalte wie Wissenschaft oder Philosophie für einen einfach werden, das (scheinbar) Einfache, wie alltägliches Verhalten der Menschen, Sittlichkeit oder Politik, in der Wahrnehmung des Intelligenten zunehmend komplex erscheinen (er bisweilen eine Komplexität an ihnen wahrnimmt oder in ihnen vermutet, die gar nicht besteht). Das Komplexe wird für den (wirklich) Intelligenten einfach, das Einfache komplex. Ich habe gesagt, das Einheits-Bewusstsein bedeutet eine demokratische Wahrnehmung aller Dinge (bei gleichzeitigem Vorhandensein der Möglichkeit ihrer analytischen Unterscheidung und Trennung). Das ist wahrscheinlich so, weil auf der Ebene des Einheits-Bewusstseins alles gleich einfach und gleich komplex geworden ist. Es gibt nichts wirklich Gescheites und nichts wirklich Dummes mehr. Das Komplexe wird einfach und das Einfache komplex. Das ergibt, inmitten dieser Homogenität freilich auch immer wieder eine ungewöhnliche Perspektive, denn es bedeutet auch, dass man, gleichsam mit einem Auge wie mit einem Teleskop in die Welt blickt, und mit einem anderen wie mit einem Mikroskop (wenn man so will, hat man hier die Gleichzeitigkeit von analytischem und synthetischem Geist). Ständig steigt irgendwas auf, und fällt irgendwas ab. Flächen erheben sich, Plateaus senken sich. Dynamische Geysire brechen aus. Es ist somit eine wabernde Homogenität (die freilich teilweise durchaus unheimlich sein kann – wie es aber eben die Realität an sich ist). Diese wabernde Realität bzw. der Eingelassenheit des Subjektes in die objektive Welt hat man im Lenz. Einen solchen Geist – den des Einheits-Bewusstseins – hatte der Büchner, der sehr wissenschaftlich war. Bei Goethe hat man immer wieder Figuren – den Faust, den Werther, den Tasso – die sich in der Wirklichkeit auf erstaunliche Weise nicht zurechtfinden, und in eigentümlicher Disharmonie mit ihr leben (oder eben sterben). Sie sind neurotisch; als der krankhafte Ausdruck des normalen, fragmentierten Bewusstseins (Lenz und der Joker sind psychotisch, als der krankhafte Ausdruck des Einheits-Bewusstseins). Das Einheits-Bewusstsein hingegen bedeutet ewigen und absoluten Frieden, da man in der Überwirklichkeit angelangt ist, und die Welt beherrscht. Man sieht zwar das Chaos, vor allem aber unglaublich robuste, unzerstörbare Verstrebungen und Architekturen – das ist der Blick auf die Ewigkeit und das Absolute – und das ist der Blick auf den eigenen, ewig gewordenen transzendenten Geist. Das ist das Konx Om Pax, sind die elysischen Felder. Schau, wie autonom der Träger des Einheits-Bewusstseins geworden ist (oder eben die Trägerin)! Sie sind etwas ganz anderes als die immer wieder grotesken Figuren von Goethe. Das Einheits-Bewusstsein steht über aller Welt und ist stärker als alle Welt. Es ist unsterblich und ewig.

Jetzt ist es nun allerdings nicht so, dass das das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt wäre. Das Einheits-Bewusstsein steht über aller Welt und ist stärker als alle Welt. Es ist unsterblich und ewig. Das heißt nun aber nicht, dass es in der Welt herrscht und irgendeine Macht haben muss. Das Einheits-Bewusstsein ist gut, und mit den Worten von Bhagwan, hat der Träger des Einheits-Bewusstseins den Zustand des ewigen Werdens (also des produktiven, allerdings auch gehetzten Zustand des entwicklungsfähigen Menschen) unter sich gelassen, und ist in einem unerschütterlichen Sein angelangt – „der Alptraum ist zu Ende“. Das Ego, das die Perspektive verzerrt und verengt, ist abgefallen – da ist eben nur mehr der offene Raum. Allerdings ist das eine eben das Bewusstsein, das andere ist das Sein, und wie Goethes Freund Schiller (im Wallenstein) dichtet:

Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit

Leicht beieinander wohnen die Gedanken,

Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen

Da ist es nun allerdings doch so, dass das großartige Einheits-Bewusstsein, das die elysischen Felder sieht, in Wahrheit auf eine kompartmentalisierte Wirklichkeit blickt und sich bezieht, und wenn man die spiritualisierte Perspektive wegrechnet, worüber sich alles an ihr als eine schöne, farbenprächtige Mannigfaltigkeit und Vielheit ausnimmt, eben auf eine vielfach unangenehme, heterogene bis einander feindselige Wirklichkeit, eine empirisch-sittliche Wirklichkeit, von der Goethe (in den Maximen und Reflexionen) sagt:

Die empirisch-sittliche Welt besteht größtenteils nur aus bösem Willen und Neid.

Im Wallenstein heißt es weiter:

Dem bösen Geist gehört die Erde, nicht

Dem Guten. Was die Göttlichen uns senden

Von oben, sind nur allgemeine Güter,

Ihr Licht erfreut, doch macht es keinen reich

Von den Reichen heißt es immer wieder, ihr Leben sei dann doch nicht so beneidenswert; Alexander wusste einst (doch eher glaubwürdig) zu berichten, dass in der Welt der Hollywood-Stars, in der er sich eine Zeitlang aufgehalten habe, ein doch deutlich empfundenes Sinndefizit herrsche. David Bowie, der alles erreicht hatte, hat in späteren Jahren gemeint, wenn er noch einmal auf die Welt käme, würde er ein spirituelleres Leben führen wollen („ein Mönch sein, der allerdings viel Gitarre spielt“). Das Einheits-Bewusstsein ist das Höchste, was an diesseitiger Spiritualität erreichbar ist. Es ist wahrscheinlich das, was alle wollen. Allerdings halt einmal das Einheits-Bewusstsein allein zu haben, ist auch ungemütlich, noch dazu, wenn es den Neid und die gekränkte Eitelkeit unter den Mächtigen hervorruft, also dazu beiträgt, den Außenseiterstatus zu zementieren. Bhagwan hat gemeint, von seinem Rolls Royce aus (den ihm reiche Bewunderer geschenkt haben), der letzte Sinn liege nicht unbedingt in der Askese allein – der Sinn liege darin, ein materiell wie ideell reiches Leben zu führen. Bhagwan hat die Erleuchtung selbst erfahren. Sloterdijk nennt ihn einen „Wittgenstein der Religion“ Gegen Ende seines Lebens hat Bhagwan pessimistisch gemeint, dass er keine großen Hoffnungen für die Menschheit mehr habe. Mit einer großen Hoffnung habe er zu lehren angefangen, doch ganz allmählich habe die Menschheit diese Hoffnungen zerstört. Jetzt habe er nur mehr für einen kleinen Teil der Menschheit Hoffnung. „Ich nenne ihn: meine Leute“. Im Einheits-Bewusstsein kommen seltene und höchst qualitative Sachen und gute Eigenschaften zusammen. Das Problem ist, dass es einen in eine intensivere Verbindung mit der Welt bringt, allerdings eben auch von der empirisch-sittlichen Welt entfernt. Diese Paradoxie muss man dann doch erst einmal aushalten; vor allem für den Träger des Einheits-Bewusstseins mag das eine besondere Herausforderung sein (nicht allein, weil sein Empfinden ja allgemein viel intensiver ist, sondern eben auch, weil es ihn – und ihn ganz allein – ja auch persönlich betrifft). Was sind die Mächte der Geschichte? Das kann man nicht übergeschichtlich sagen, vielfach sind sie anonym. In seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen sagt Jacob Burkhardt:

Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen (Problem des Woyzek, Anm.); es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstreitenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge „geistig zu überwinden“ und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben.

Das Einheits-Bewusstsein ist überweltlich und überzeitlich. Durch seine überzeitliche, ewige Perspektive ist es in der späteren Zeit bereits heute angekommen. Also können ihm die Kämpfe der heutigen Zeit ein wenig egal sein (unter anderem auch, weil sie sowieso so dumm sind, und im Einheits-Bewusstsein gibt es eben keine Kämpfe). Es sieht allerdings auch – und empfindet vor allen Dingen auch – , dass die spätere Zeit der heutigen irgendwie ähneln wird. Allerdings kann man Einsicht in die Ewigkeit ja auch nur haben, wenn es ewiges, das heißt einigermaßen identisches gibt. Transzendenz und Erleuchtung bedeutet, dass es eben etwas niederer Ordnung geben muss, über das sich die Transzendenz erhebt, und auf das sich die Transzendenz, in einer schwer beschreibbaren und nicht eindeutigen höheren Dimension aus bezieht. Wenn jetzt einer in zusätzlichen räumlichen und zeitlichen Dimensionen lebt, lebt er aber eben doch auch in denselben Dimensionen wie alle anderen. Büchner ist erst Jahrzehnte nach seinem Tod bekannt geworden, sein Geist erst relativ spät vollkommen frei über solcher Vergangenheit geschwebt. Aber er hatte Recht, auch in seinen Einsichten in den geschichtlichen Gang, auch als zunächst radikaler, dann gemäßigter, reformerischer Revolutionär. Lemmy von Motörhead sagte einmal, er und John Lennon seien letztendlich darin gescheitert, die Welt zu verändern (zumindest bezogen auf ihren ursprünglichen, naiven Idealismus), denn sie wollten das Geld bekämpfen. Aber man kann das Geld nicht bekämpfen. Nun denn, aber das Geld und jegliche wirtschaftliche und politische Macht können auch das Einheits-Bewusstsein nicht bekämpfen und ihm nicht den geringsten Schaden zufügen, selbst wenn sie es wollten. Macht hat man letztendlich nur dann vollständig erlangt, wenn man die nicht allein die äußerliche, sondern die innere Freiheit des Anderen auslöscht oder korrumpiert. Das Einheits-Bewusstsein ist aber nicht mal allein unkorrumpierbare innere Freiheit, sondern die absolute Freiheit des chaosmotischen Prozesses der Welt. Es ist unbesiegbar, weil die Welt in ihrer Totalität, die es abbildet, unbesiegbar ist. Es ist so unbesiegbar wie das Geld. Es richtet sich auch nicht notwendigerweise gegen das Geld, so wie das Geld sich ja nicht notwendigerweise gegen das Einheits-Bewusstsein richtet. Sollten diese beiden Mächte gegeneinander kämpfen, geht es unentschieden aus; unter anderem, da sie ja zu einem guten Teil unterschiedlichen Sphären angehören. Schau, da oben, über der Erde, in der Exosphäre: da ist die Möbiusschleife des Einheits-Bewusstseins, und die Möbiusschleife des Laufs der Welt. Das ist das Sinnbild, wie sich, in Einsamkeit, die Welt und das Welt-Bewusstsein prozessiert. Das ist die Ewigkeit der Dinge. Büchner hat das alles verstanden; Goethe auch; jeder versteht das, aber die Vision bei Büchner finde ich am besten und am Intensivsten. Büchner war erleuchtet. Es kommt im Leben einfach darauf an, nicht bloß Universalgenie, sondern eben auch erleuchtet zu sein. Dann hat man ein gutes Beispiel gegeben; war allerdings auch eine prekäre Erscheinung.

31.1. + 2.2. + 4.2.2020