Wirklichkeitssinn (gemeinhin auch genannt „Intelligenz“) bezeichnet die Fähigkeit, die Wirklichkeit, wie sie sich objektiv darstellt, zu erfassen. Es gibt bei Menschen erhebliche Unterschiede in der Ausprägung ihres Wirklichkeitssinnes. Auf dem höchsten Niveau realisiert sich der Wirklichkeitssinn, wenn auf dem Level von theoretischen bzw. theoriefähigen Abstraktionen gedacht wird bzw. die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf diesem Level prozessiert wird – wobei „theoriefähig“ bedeutet, dass diese Abstraktionen auch konkret, intern differenziert und mannigfaltig und mobil sind, also eher dynamisch als statisch. Auf dem Level von Abstraktionen zu denken, ist nicht so herkömmlich unter Menschen; wenn es stattfindet, dann hat man meistens figurenhafte Abstraktionen wie „Kapitalismus“ oder „Patriarchat“ oder „Ausländer“ oder „Islam“, also Abstraktionen von Teileinsichten in die Wirklichkeit, die dann als Klammer verwendet werden um die Wirklichkeit vermeintlich als g/Ganzes zu begreifen. Aufgrund von Emotionen neigen Menschen dazu, bestimmten Weltanschauungen (bzw. Teileinsichten) anzuhängen, wobei einer bestimmten Weltanschauung anzuhängen bedeutet, den Wirklichkeitssinn einerseits zu verstärken, andererseits einzuschränken. Emotion und Reflexion stehen jedoch in einem Wechselverhältnis, und eine weiträumige und intelligente Weltsicht steht offensichtlich damit in Verbindung, dass einer weiträumige und intelligente Emotionen hat. Es ist vielleicht gar nicht möglich, die Wirklichkeit oder irgendwas zu fassen, ohne dass Emotionen involviert sind oder aber überhaupt die Grundlage dafür bilden. Das obstinate Beharren auf Heuristiken, die sich bereits als falsch oder inadäquat erwiesen haben, gehört zu den unheimlichsten Phänomenen, die in der menschlichen Wirklichkeit vorkommen. Das, was als „Ego“ bezeichnet wird, hat Schuld daran, allerdings auch die Grenzen des menschlichen Verstehens, innerhalb derer bestimmte, zur jeweiligen Weltanschauung inkongruente Wahrnehmungen sich nicht sinnvoll in die jeweilige Weltanschauung integrieren lassen, was die Grenzen der menschlichen Psychologie meistens sprengt und dem Menschen unverträglich erscheinen mag, oder aber einer Schwächung der eigenen, teilweise berechtigen Position im allgemeinen Machtspiel der Positionen gleichkäme, die man natürlich vermeiden will. Untersuchungen zufolge führt ein hoher IQ dazu, dass man mehr Aspekte einer Sache erfassen kann, man eine Sache auf einem höheren Niveau/Abstraktionslevel erfassen und man mehr Schlussfolgerungen aus einer Sache ziehen kann (was jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Generieren von originären Ideen ist), jedoch nicht, dass man dialektisch denkt, also dass man eine Sache dahingehend hinterfragt, ob ihre Wahrheit möglicherweise außerhalb des Bereiches der vorgefassten Weltanschauung liegen könnte. Ja, man mag sogar feststellen, dass ein hoher IQ gar nicht dazu führen muss, dass einer reflektiertere Rechtfertigungen zur Stützung seiner vorgefassten Weltanschauung heranziehen mag, sondern ohne Weiteres dieselben wie primitive Proleten mit einem niedrigen IQ (insofern raffinierte Begründungen für so einiges an Weltanschauungen und Ansichten gar nicht vorhanden sein mögen). Wenn man sich den Wirklichkeitssinn vorstellt, mag man das innere Bild eines schönen und verzweigten (allerdings nicht unübersichtlich, sondern linear verzweigten) Schaltplanes hervorheben (zumindest, wenn man mit einem gewissen Möglichkeitssinn begabt ist). Das, Schwester, ist der Wirklichkeitssinn. Ein sehr stark ausgeprägter Wirklichkeitssinn begreift wohl die Wirklichkeit als möglichst dynamisch und fluid und nimmt psychologisch Abstand davon, sich zu sehr bestimmten Weltanschauungen zu verschreiben. Dafür ist jedoch offensichtlich auch ein stark ausgeprägter Möglichkeitssinn vonnöten.
Möglichkeitssinn (gemeinhin auch genannt „Kreativität“) bedeutet ein Gespür für die facettenhafte Wesenhaftigkeit und Tiefe eines Gegenstandes und seiner Eingelassenheit in seine Umgebung. Im Unterschied zum Wirklichkeitssinn, der mit logischen Schlussfolgerungen arbeitet, funktioniert der Möglichkeitssinn über das Herstellen von („außerlogischen“) Assoziationen. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn sind, gemeinhin betrachtet, unterschiedliche Vermögen; ein hoher Wirklichkeitssinn muss nicht mit einem hohen Möglichkeitssinn gemeinsam auftreten, genauso wenig wie umgekehrt. Auf Facebook gibt es zahlreiche Seiten und Gruppen, die sich dem Möglichkeitssinn widmen wie Relax, it`s only Art, Unexpected Journeys to the Mind, Grosa & Nebulosa, Another Cool Page oder I Love My Bitch. Sie sind in der Regel hintergründig (bzw. betreiben ein fortwährendes Spiel zwischen Vordergrund und Hintergrund), tongue-in-cheek und off-the-wall und evozieren unterschiedliche Sinnfelder, in denen ein Gegenstand erscheint (zumindest für den, der mit einem gewissen Möglichkeitssinn begabt ist). Sie stellen den Möglichkeitssinn an sich und in Reinform dar, sind Signifikanten für den Möglichkeitssinn und für die Imagination. Ein gewisser Teil der Leute auf Facebook kann damit nichts anfangen, eine Mehrheit mag das nicht so schlecht finden, eine sehr kleine Minderheit hat einen genuinen und intensiven Bezug dazu. Raja meint, das liege daran, dass meisten Leute keinen genuinen Möglichkeitssinn haben (und ich bin ihr für diese spontane Bezeichnung dankbar, ohne sie hätte es diese Betrachtung nicht gegeben, daher sei diese Betrachtung ihr gewidmet) und so wüssten sie nicht, was sie darin sehen sollten – der Trick liegt darin, dass es eben nichts spezifisches darin zu sehen gibt, als den Abgrund der Imagination selbst. Den Möglichkeitssinn kann man sich vorstellen (wenn man einen gewissen Wirklichkeitssinn hat) als eine Art Gewässer oder Brunnen oder Teich, in dem so einiges passieren und hervor- und heraustreten kann oder über das ein Wasserläufer hüpft und dadurch Schwingungen erzeugt. Der Möglichkeitssinn mag bei dem einen eher ästhetisch ausgeprägt sein, bei einem anderen eher intellektuell. Genau gesagt bedeutet er nicht Kreativität oder Imagination an sich, sondern dass man empfänglich für was ist und damit die Grundlage für Kreativität und Imagination. Möglichkeitssinn, als genuine Grundlage für Kreativität gefasst, ist eine genuine Grundlage für Kunst, zur Kunst ist jedoch notwendig, dass der Möglichkeitssinn sich selbst reflektieren kann und eine Abstraktion über sich selbst bilden kann. Ein hoher Wirklichkeitssinn ist dabei notwendig, um die Eingebungen des Möglichkeitssinnes angemessen zu systematisieren und auf ein hohes Niveau zu heben bzw. auf das Niveau von theoriefähigen Abstraktionen (also z.B. auf das Niveau eines objektiven künstlerischen Stils, der, jenseits eines bloßen Personalstils, objektive kunstgeschichtliche Relevanz gewinnt). Möglichkeitssinn bedeutet, dass man eine Vielzahl von Perspektiven auf eine Sache richten kann und man daher idealerweise weniger von einer bestimmten Perspektive abhängig ist, er erscheint also potenziell als anti-egozentrisch, pluralistisch und öffnend. Realiter ist die individuelle Vision des Möglichkeitssinnes jedoch meistens beschränkt, was zum Beispiel dann dazu führen mag, dass Künstler andere Künstler ablehnen mögen oder sich durch deren jeweilige Vision bedroht fühlen oder ihr mit einem genuinen Unverständnis begegnen. Die tendenziell progressive Haltung, die mit dem Möglichkeitssinn einherzugehen scheint, geht möglicherweise mit einem zu geringen Verständnis für konservative Haltungen einher und verringert dadurch den Wirklichkeitssinn. Das, Schwester, ist der Möglichkeitssinn.
Wirklichkeitssinn kann man mit dem konvergenten Denken assoziieren, Möglichkeitssinn dem divergenten Denken. Wenn beide zusammenspielen, hat man Macht über alle die vier Himmelsrichtungen.